tb-4 Simon KatzensteinRudolf E. MartinDomela Nieuwenhuis    
 
ALBERT R. PARSONS
Anarchisten vor Gericht
- der Haymarket-Prozeß Chicago 1886 -
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"Ich sah mit meinen eigenen Augen die schrecklichen Mißstände, - sah, wie Mädchen der Prostitution verfielen, bevor sie es noch recht wußten, - stand dabei, wie kleine Kinder hingemetztelt, Arbeiter Stück für Stück langsam ermordet wurden, - ich sah wie Elend, Verbrechen, Heuchelei, Korruption, Armut, Schmutz, Unwissenheit, Brutalität und Hunger überall hausen. Ich erkannte, daß all diese Dinge die legitimen Kinder des kapitalistischen System sind, eines Systems, welches einzelnen Personen das Recht gibt, die Produktionsmittel und das Land mit Beschlag zu belegen, und die Volksmassen ins Elend bringt, und ich wurde ein  Unzufriedener.  Für einen ehrlichen und ehrenhaften Mann gibt es nur eins, und so wurde auch ich ein Gegner der bestehenden Verhältnisse, - und bald nannte man mich einen Anarchisten."


Michael Schwabs Ansprache

Die Verhandlungen des Prozesses  Gerechtigkeit  zu nennen, wäre der reine Hohn. Gerechtigkeit ist nicht geübt worden, und was schlimmer ist, konnte nicht geübt werden. Wenn eine Klasse der anderen gegenübersteht, ist es müßig und heuchlerisch, von Gerechtigkeit und Ehrlichkeit zu sprechen. Der Anarchismus wurde prozessiert, wie es der Staatsanwalt in seiner Schlußrede selbst sagte. Eine Lehre, eine Meinung, der brutalen Gewalt feindlich, dem gegenwärtigen mörderischen System der Produktion und Verteilung feindlich. Ich werde zum Tod verurteilt, weil ich Zeitungsartikel geschrieben und Reden gehalten habe. Der Staatsanwalt weiß so gut wie ich, daß jene vorgebliche Unterredung zwischen SPIESS und mir nie stattgefunden hat. Er weiß bedeutend mehr als das. Er weiß von der schönen Arbeit seines Einfädlers FURTHMANN. Als ich vor der Koroners-Jury war, schworen zwei oder drei Geheimpolizisten ganz positiv, daß sie mich auf dem Heumarkt gesehen haben, als PARSONs seine Rede beendete. Ich nehme an, daß man mir zu dieser Zeit das Werfen der Bombe anhängen wollte, denn die ersten Depeschen nach Europa besagten, daß MICHAEL SCHWAB mehrere Bomben nach der Polizei geworfen hat. Später sandten sie Detektive nach Lake View und fanden, daß das nicht gut möglich ist und dann war SCHNAUBELT der Mann.

Der Anarchismus wurde prozessiert. Es machte wenig aus, wer die Personen waren, welche durch die Verfolgung beehrt wurden; der Schlag war gegen die Bewegung geführt. Er war gegen die Arbeiterbewegung gerichtet, gegen den Sozialismus, denn heute muß jede Arbeiterbewegung notgedrungen sozialistisch sein.

Da spricht man von einer riesigen Verschwörung! Eine Bewegung ist keine Verschwörung. Alles, was wir taten, wurde bei hellem Tageslicht getan. Es gab keine Geheimnisse. Wir sagten in Wort und Schrift das Kommen einer großen Revolution voraus, eine Änderung im Produktionssytem aller industriellen Länder des Erdballs. Und die Änderung wird kommen und muß kommen. Ist es nicht absurd, anzunehmen, wie es der Staatsanwalt und seine Gehilfen getan haben, diese soziale Revolution, ein Umschwung von derart kolossalen Dimensionen, soll am ersten Mai in der Stadt Chicago durch eine Bekriegung der Polizei herbeigeführt werden! Der Einfädler FURTHMANN durchschnüffelt hunderte von Nummer der "Arbeiterzeitung" und des "Alarm", und mußten die Ankläger daher sehr gut wissen, was wir unter der kommenden Revolution verstanden; jedoch zogen die Ankläger es vor, diese erklärenden Artikel zu ignorieren. Die als Beweismaterial vorgebrachten Artikel waren sorgfältig ausgesucht und wurden als Proben einer heftigen Sprache vorgeführt; doch war die Sprache dieselbe, welche in allen Zeitungen gegen uns und ihre Feinde gebraucht wurde. Sogar gegen die Polizeit und deren Praktiken benutzten sie Worte derselben Art wie wir.

Nach der letzten Erwählung von Bürgermeister HARRINGTON hielt EDWIN LEE BROWN, der Präsident des Bürgervereins, an der Nordseite der Turnhalle eine Rede, in der er alle guten Bürger aufforderte, gewaltsam Besitz vom Rathaus zu nehmen, selbst wenn sie durch Ströme von Blut waten müßten. Es scheint mir, daß die heftigsten Redner nicht in den Reihen der Anarchisten zu finden sind.

Es ist auch nicht die Heftigkeit in Wort oder Schrift, gegen welche die Anwälte des Staates und deren Treiber kämpfen, es ist unser Prinzip - der Anarchismus.

Wir streben den Kommunismus und den Anarchismus an - warum?

Wenn wir geschwiegen hätten, würden die Steine geredet haben. Morde wurden Tag für Tag begangen. Kinder wurden getötet, Frauen zu Tode gearbeitet, Männer Zoll für Zoll abgeschlachtet; und diese Verbrechen werden nie vom Gesetz bestraft. Die Grundlage des bestehenden Systems ist unbezahlte Arbeit. Diejenigen, welche Reichtümer anhäufen, Paläste bauen und im Luxus schwelgen, tun dies auf Rechnung unbezahlter Arbeit. Da sie direkt oder indirekt die Besitzer des Landes und der Maschinerie sind, diktieren sie dem Arbeiter ihre Bedingungen. Dieser ist gezwungen, entweder seine Arbeitskraft billig zu verkaufen oder zu verhungern; der ihm bezahlte Preis steht immer tief unter dem wirklichen Wert. Er handelt unter Zwang, und sie nennen das einen freien Kontrakt. Dieser höllische Zustand hält ihn arm und unwissend, ein leichtes Opfer der Ausbeutung.

Ich weiß, was das Leben den Massen bringt. Ich war einer derselben. Ich habe in ihren Dachkammern geschlafen und in ihren Kellern gewohnt. Ich sah sie arbeiten und sterben. Ich habe mit Mädchen in derselben Fabrik gearbeitet, es waren Prostituierte, weil sie nicht genügenden Lohn erhielten, um davon leben zu können. Ich sah weibliche Personen an Überarbeitung erkrankt. Ich sah Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren für beinahe garnichts arbeiten, ich hörte, wie ihre Moral durch die schmutzige gemeine Sprache und das schlechte Beispiel ihrer unwissenden Mitarbeit getötet wurde, wie sie auf denselben Pfad des Elends geführt wurden, und ich, als Einzelner, konnte nichts dagegen tun. Ich sah Familien verhungern und starke Männer zu Tode gearbeitet. Das war in Europa. Als ich in die Vereinigten Staaten kam, fand ich gewisse Klassen von Arbeitern, die eine bessere Bezahlung erhielten, als die europäischen Arbeiter, aber ich sah ebenfalls, daß der Zustand in einer großen Zahl von Industrie-Zweigen noch schlimmer war, und daß die sogenannten besser bezahlten geschickten Arbeiter schnell zu rein automatischen Maschinenteilen erniedrigt wurden. Ich fand, daß sich das Proletariat in den großen Industriestädten in einem Zustand befand, der nicht schlimmer sein konnte. In Chicago wohnen Tausende von Arbeitern in Räumlichkeiten, welche ihnen nicht genügenden Schutz gegen die Witterung gewähren, ohne gehörige Ventilation, wo kein Sonnenstrahl hineindringt. Es sind vier Hütten, wo zwei, drei und vier Familien in einem Zimmer hausen. Wie diese Zustände auf die Gesundheit und die Moral dieser Unglücklichen wirken, ist unnötig zu sagen. Und wie leben dieselben! Aus den Abfallfässern suchen sie halbfaules Gemüse hervor, in den Fleischerläde kaufen sie sich für einige Cents Fleischabfälle, und diese köstlichen Bissen tragen sie nach Hause, umd daraus ihre Mahlzeiten zu bereiten.

Die baufälligen Häuser, in welchen diese Klasse Arbeiter wohnen, bedürfen sehr der Reparatur, aber der gierige Hausherr wartet in den meisten Fällen, bis er von der Stadt gezwungen wird, dieselben vornehmen zu lassen. Ist es da ein Wunder, daß Krankheiten aller Art in solchen Pätzen Männer, Frauen und Kinder massenhaft hinwegraffen, besonders Kinder? Ist dies nicht schrecklich in einem sogenannten zivilisierten Land, wo Nahrungsmittel und Reichtümer in Hülle und Fülle sind? Vor einigen Jahren wurde diese Sache von einem Komitee der Bürgerliga untersucht und ich war einer der Berichterstatter, welche sie begleiteten.

Was diese gewöhnlichen Tagelöhner heute sind, werden die geschickten Arbeiter morgen sein. Verbesserte Maschinerie, die für jeden Arbeiter ein Segen sein sollte, ist unter den jetzigen Zuständen für sie ein Fluch. Die Maschinerie multipliziert die Armee der gewöhnlichen Arbeiter, macht den Arbeiter mehr abhängig von denjenigen, welche das Land und die Maschinen besitzen, und das ist der Grund, warum Sozialismus und Kommunismus in diesem Land Fuß fassen konnten. Das Geschrei, daß Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus das Glaubensbekenntnis von Ausländern sind, ist ein großer Irrtum. In diesem Land gibt es mehr Sozialisten amerikanischer Geburt als Ausländer, und das heißt viel, wenn wir in Betracht ziehen, daß beinahe die Hälfte aller industriellen Arbeiter keine geborenen Amerikaner sind. Es gibt sozialistische Blätter in sehr vielen Staaten, von Amerikanern und für Amerikaner redigiert. Die kapitalistischen Zeitungen verschweigen diese Tatsache aber vorsichtig.

Der Sozialismus, wie wir ihn verstehen, meint, daß das Land und die Maschinerie vom Volk gemeinschaftlich benutzt werden soll. Die Güterproduktion soll von Produktionsgruppen, welche die Bedürfnisse des Volkes befriedigen, geleitet werden. Unter einem solchen System würde jedes menschliche Wesen die Gelegenheit haben, nutzbringende Arbeit zu verrichten und würde von dieser Gelegenheit unzweifelhaft Gebrauch machen. Vier Stunden Arbeit jeden Tag würden genügen, um all das, was den Statistiken gemäß, nötig wäre, um behaglich leben zu können, zu produzieren. Mußestunden zur Ausbildung des Geistes und zur Pflege der Wissenschaften und Künste würden jedem zur Verfügung stehen.

Das ist, was die Sozialisten vorschlagen. Einige sagen, es sei unamerikanisch! Nun denn, ist es amerikanisch, Leute verhungern und in Unwissenheit sterben zu lassen? Ist die Ausbeutung und Beraubung der Armen amerikanisch?

Was haben die großen politischen Parteien für die Armen getan? Versprochen haben sie viel, getan nichts, außer daß sie dieselben korrumpiert haben, indem sie ihre Stimmen am Wahltag kauften. Ein armer Mann hat kein Interesse an der Wohlfahrt des Staates. Es ist ganz natürlich, daß in einer Gesellschaft, in welcher Frauen zum Verkauf ihrer Ehre gezwungen werden, Männer ihre Stimmen verkaufen. Aber wir sind nicht nur Sozialisten und Kommunisten, wir sind Anarchisten.

Was ist Anarchismus?

Ist es nicht sonderbar, daß, während der Anarchismus prozessiert wurde, niemand darlegte, was Anarchismus ist? Ja, als ich auf dem Zeugenstand war und den Staatsanwalt um eine Definition des Anarchismus anging, lehnte er es ab, dieselbe zu geben. Jedoch kamen er und seine Gehilfen in ihren Reden oft darauf zu sprechen und es schien, als ob sie sich unter Anarchismus etwas Schreckliches vorstellten: Brandstiftung, Schändung, Mord. Bei einem solchen Sprechen sagten Herr GRINNELL und seine Gehilfen nicht die Wahrheit. Sie durchsuchten den "Alarm" und die "Arbeiter-Zeitung" und entnahmen denselben Artikel, welche Jahre lang vor dem Monat Mai 1886 geschrieben wurden. In den Spalten dieser Blätter wurde sehr oft klargelegt, was wir - die Anarchisten - unter der Bezeichnung "Anarchismus" verstehen; und  wir  sind die einzigen befugten Sachverständigen in dieser Sache. Sobald das Wort auf uns und unser Prinzip angewandt wird, trägt es die Bedeutung mit sich, die  wir  - die Anarchisten - demselben beilegen. Anarchie ist griechisch und bedeutet wörtlich: ohne Herrschaft, Herrschaftslosigkeit. Unserem Wörterbuch gemäß ist Anarchie, eine Gesellschaftsform, in welcher die  Vernunft  die einzige Regierung ist. Ein Gesellschaftszustand, in welchem alle menschlichen Wesen Recht üben aus dem einfachen Grund, weil es Recht ist, und das Unrecht gehaßt wird, weil es Unrecht ist. In einer solchen Gesellschaft werden keine Gesetze, wird kein Zwang nötig sein. Der Staatsanwalt war im Irrtum, als er ausrief: "Der Anarchismus ist tot!" Bis zum heutigen Tag hat der Anarchismus nur als ein Prinzip existiert, und Herr GRINNELL hat nicht die Macht, irgendein Prinzip zu töten. Sie mögen sagen, daß der Anarchismus, wie von uns definiert, nur ein vager Traum ist, jedoch wurde dieser Traum von GOTTHOLD EPHRAIM LESSING, einem der drei größten deutschen Dichter und dem berühmtesten deutschen Kritiker des letzten Jahrhunderts, geträumt. Wenn der Anarchismus das wäre, wozu der Staatsanwalt ihn gerne stempeln möchte, wie könnte es dann sein, daß solche hervorragende Gelehrte, wie Fürst KROPOTKIN und der größte jetzt lebende Geograph ELISEE RECLUS ausgesprochene Anarchisten sind und sogar anarchistische Zeitungen redigieren? Der Anarchismus ist nur gegenwärtig ein Traum. Derselbe wird realisiert werden, denn die Vernunft wird sich Bahn brechen. Wer ist der Mann, der die Frechheit besitzt, uns zu sagen, daß die menschliche Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht hat? Ich weiß, daß unser Ideal weder dieses noch nächstes Jahr ausgeführt wird; aber ich weiß auch, daß es eines Tages in der Zukunft so genau wie möglich zur Ausführung gelangen wird. Es ist vollständig unrichtig, das Wort  Anarchismus  als gleichbedeutend mit Gewaltanwendung zu benutzen. Gewaltanwendung ist ein Ding und Anarchismus ein anderes. Im gegenwärtigen Gesellschaftssystem wird auf allen Seiten Gewalt angewandt, und darum befürworteten wir die Anwendung von Gewalt gegen Gewalt, aber  nur  gegen Gewalt, als ein nötiges Verteidigungsmittel.

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"Wenn ich das Leben nicht in seiner wahren Gestalt hätte kennen gelernt, würde ich heute nicht imstande sein, den kommenden Sturz dieses mörderischen Systems vorauszusagen, ich würde vielmehr mit dem gebildten und ungebildeten Mob ausrufen. "Hängt die Anarchisten." So aber stehe ich unter dem Galgen. Ich sah mit meinen eigenen Augen die schrecklichen Mißstände, - sah, wie Mädchen der Prostitution verfielen, bevor sie es noch recht wußten, - stand dabei, wie kleine Kinder hingemetztelt, Arbeiter Stück für Stück langsam ermordet wurden, - ich sah wie Elend, Verbrechen, Heuchelei, Korruption, Armut, Schmutz, Unwissenheit, Brutalität und Hunger überall hausen. Ich erkannte, daß all diese Dinge die legitimen Kinder des kapitalistischen System sind, eines Systems, welches einzelnen Personen das Recht gibt, die Produktionsmittel und das Land mit Beschlag zu belegen, und die Volksmassen ins Elend bringt, und ich wurde ein "Unzufriedener". Für einen ehrlichen und ehrenhaften Mann gibt es nur eins, und so wurde auch ich ein Gegner der bestehenden Verhältnisse, - und bald nannte man mich einen Anarchisten. Was meine Ansichten sind? Würden wir Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten Ansichten vertreten, wie sie uns heimtückische und dumme Mietlinge in ihren Schreibereien unterschieben, so wären wir einfach Geisteskranke und verdienten für immer in ein Irrenhaus gesteckt zu werden. Ist es aber wahr, daß der moderne Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus ein methodischer Wahnsinn ist, wie kommt es dann, daß diese Doktrinen so rasch die ganze Welt erobern? Niemals hat eine Lehre ihren weg durch die Welt in so kurzer Zeit gemacht, niemals in so wenigen Jahren so viele zu ihren Jüngern gemacht und bekehrt. Hunderte und Tausende sind in einer kurzen Spanne Zeit den Märtyrer tod gestorben - Männer, Frauen, ja selbst Kinder. Kugeln, Galgen, Schwert und Guillotine mordeten sie; im Kerker, in der Wildnis, im Schnee und in den Bergwerken Sibiriens, unter der tropischen Sonne gingen sie zugrunde; von Stadt zu Stadt, von Land zu Land gehetzt, von ihren Familien verstoßen, endeten manche von ihnen im Wahnsinn, den die moderne Zivilisation mit ihren erfinderischen Verfolgungsmethode über sie brachte. Mädchen, deren Wiege in Palästen stand, die vor sich ein Leben voll Genuß und Luxus sahen, junge Söhne reicher vornehmer Eltern arbeiteten als gewöhnliche Fabrikarbeiter, führten ein Leben voll Elend, ohne Hoffnung jemals belohnt zu werden, oft verachtet und verraten von der Klasse, für die sie all das auf nahmen - nur um das Evangelium der Menschenbefreiung, den Sozialismus, den Anarchismus, den Kommunismus zu predigen. Manche dieser Helden sind nicht einmal dem Namen nach bekannt. Selsbt einer der berühmtesten amerikanischen Dichter - JOAQUIN MILLER - konnte nicht umhin, in einem Gedicht die edle Anarchistin SOPHIA PEROVSKAYA, die man gehängt hatte, zu verherrlichen und zu sagen, daß er lieber mit ihr am Galgen sterben, denn als russischer Zar leben wollte. In einer Idee, welche solche Märtyrer hervorbringt, muß sicherlich Wahrheit sein. Sind unsere Lehren falsch, so würde es für unsere Feinde verhältnismäßig leicht sein, durch Tatsachen die Absurdität derselben zu beweisen. Seit 13 Jahren Sozialist, kann ich mich nicht entsinnen, daß auch nur einmal eine kapitalistische Zeitung unsere Ansichten korrekt wiedergegeben hätte. Sie fabrizierten Windmühlen, nennen sie Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus, und beginnen den Kampf.

"Der moderne Kommunist glaubt, daß Arbeit die Quelle allen Reichtums, aller Kultur ist, und daß die Früchte der Arbeit der gesamten Menschheit zufallen sollen, da nützliche Arbeit nur durch ein Zusammenwirken der Menschheit möglich wird. Kein leerer Bauplatz in der Stadt würde auch nur den geringsten Wert repräsentieren, hätte die Arbeit nicht ringsherum Straßen und Häuser gebaut, würden sich nicht in der Nähe des Bauplatzes Geschäfte aufgetan haben.

"Wir wissen weiter, daß Arbeit nicht seinen vollen Lohn erhält; wäre dies der Fall, so würde es nicht einträglich sein, Arbeit zu beschäftigen, mithin auch nicht getan werden. Laßt jemanden allein für sich selbst arbeiten, er wird niemals reich werden und dabei ist auch hier sein Wissen die Frucht fremder Arbeit. Deshalb will der Kommunist Erziehung, Kultur und Wissen für alle haben. Das Land war tausend und tausende von Jahren Gemeingut, und das System des Privateigentums ist - historisch gesprochen - erst von gestern. Wie kam es in die Welt? Könige, das so hoch gefeierte Ungeheuer von Lust und Brutalität, hatten z. B. während ihrer Regierung zwei Millionen Irländer auf dem gewöhnlichen Weg, durch Kugeln oder am Galgen, hinmetzeln lassen, deren Ländereien konfisziert und sie an ihre Lieblinge verschenkt. Es ist nicht meine Aufgabe, die Geschichte, wie Gemeingut in England gestohlen und geraubt wurde, hier wiederzugeben, es ist aber eine geschichtliche Tatsache, daß es von den Vorfahren der jetzigen Besitzer durch Mord, Gift, Diebstahl und kleinere Verbrechen erworben wurde. Ich überlasse es den Mietlingen der Presse, ihren Spalten mit der Geschichte der Verbrechen des Landraubs auszufüllen, wenn sie es wagen. Der Satz: "Eigentum ist Diebstahl" ist buchstäblich richtig, wenn man Diebstahl nennt, was das Gesetz dafür ansieht und vom Eigentum der britischen Landbesitzer spricht. Die Sozialisten und Kommunisten wissen auch, daß das kapitalistische System sich auszudehnen strebt. Der sogenannte Profit - das ist nichts anderes als die Arbeitsfrucht, welche der Lohnherr zurückhält, - verwandelt sich in Kapital, um für jenen neue Profite zu erzeugen. Neue Fabriken entstehen, die Zahl der Maschinen wird vermehrt, man sucht neue Absatzgebiete auf, wenn es nötig ist, durch Kampf. Mehr und mehr Völker treten in die Konkurrenz ein. Es wird schwierig, Käufer für die Waren zu finden; Völker, Körperschaften, Kapitalisten bekriegen einander, um die Oberherrschaft zu erringen. Wer am billigsten verkauft, kontrolliert den Markt. Doch nicht allein das; wer der erste auf dem Markt ist, wer die Nachfrage im Fall dringender Not am schnellsten und billigsten befriedigen kann, gewinnt die Schlacht.

"So wird die Spekulation geboren. Die Nachfrage am Markt ist nur beschränkt, die Kapitalisten aller industriellen Länder aber sind eifrig bemüht, ihn zu überfüllen, ihn mit den Produkten ihrer Fabriken zu überschwemmen. Um Sieger in diesem wahnwitzigen Ringen nach Geld zu bleiben, müssen sie natürlich ihren Konkurrenten durch ein billiges und rasches Angebot den Rang ablaufen. Je größer das Etablissement, je besser die Maschine und je billiger die Arbeitskräfte, umso leichter der Sieg. Der Kleinfabrikant ist bald vom Kampfplatz verdrängt; er sieht sich gezwungen, sein Etablissement zu schließen. Neue Erfindungen auf dem Gebiet der Arbeit ersparenden Maschinerie machen Arbeiter beschäftigungslos und zwingen jene Kräfte sich nach neuer Arbeit umzusehen, denn die Maschinen bewirken die Umwandelung geschulter Handfertigkeit in gewöhnliche mechanische Arbeit. Die Konkurrenz unter den Arbeitern nimmt gefährliche Dimensionen an und setzt die Löhne auf ein Minimum herab. Die Produktion wird ebenfalls davon berührt und der Kampf wogt heftiger denn je. Jetzt tritt die Reaktion ein. Millionen von Arbeitern verhungern und werden zu Landstreichern. Selbst der unwissende Lohnsklave beginnt, über seine Lage nachzudenken. Das gemeinsame Elend verbindet sie zu gemeinsamem Handeln. Die Maschinen, welche die Nivellierungsarbeiten besorgen, haben den Zünftestolz der alten Zeit gebrochen. Der Zimmermann und der Ackerknecht, der Setzer und der Handlanger, der Deutsche und der Neger, der Franzose und der Amerikaner, sie alle haben ein gemeinsames Interesse und fühlen es. Es ist dies, ich will das hier nebenbei bemerken, meiner Meinung nach das größte Verdienst, das sich der Orden der Arbeitsritter erworben hat, indem er diesen Grundgedanken in Amerika verbreitete. Die Arbeiter verstehen, daß das Kapital, so notwendig es auch für eine Zeit war, dem universalen kooperativen System Platz machen muß, daß Land und Produktionsmittel aus den Händen der Spekulanten und Privatpersonen an die produzierenden Massen übergehen muß; das ist Kommunismus.

"Jeder Denkende wird zugeben, daß Streiks, Boykotte, Kooperation in kleinem Maßstab mit anderen derartigen Mitteln die Lage der arbeitenden Klasse nicht bessern wird und kann, selbst dann nicht, wenn sogenannte Fabrikgesetze das gewünschte Resultat erzeugen. Wohl wahr, oft genug kann der Arbeiter nicht umhin, zu diesen unzureichenden Mitteln zu greifen; oft genug werden sie ihm aufgezwungen. Sie sind jedoch nur als Erziehungsmittel zu betrachten. Der Mensch lernt aus Mißerfolgen. Ein kleines Kind, das laufen lernt, fällt mehr als einmal, bevor seine Glieder stark genug sind zum Gehen. Wie oft versucht es nicht, aufzustehen, bis endlich die große Tat vollbracht ist. In all diesen Kämpfen, beim Streik und Boykott, durch sein Eintreten in die Tagespolitik, ja selbst im Straßenkampf, sammelt der junge HERKULES Kräfte, die Schlange - das kapitalistische System - zu erdrosseln. Die Arbeiter mögen sich manchmal auf dem Irrweg befinden; wie sollte es auch anders sein. Auch das Kind versucht manchmal sich am Tischtuch aufzurichten und reißt dabei das Geschirr herunter; sein Impuls, aufzustehen, aber ist berechtigt. So sollten auch die Arbeiter nicht nachlassen, im Versuch, sich aufzurichten, selbst wenn sie manchmall das Geschirr herunterreißen.

"Und nun zum Anarchismus. Anarchismus bedeutet Ordnung ohne Regierung. Wir Anarchisten sagen, daß Anarchismus die natürliche Verschmelzung zu allgemeiner Kooperation (Kommunismus) ist; wir sagen, daß, wenn die Armut verschwindet und die Erziehung Gemeingut des Volkes ist, daß dann die Vernunft regieren wird. Wir sagen, daß dann Verbrechen zu den gewesenen Dingen gehören und die irrenden Brüder auf einem anderen Weg zurechtgewiesen werden können, als auf jenem von heute. Viele der Verbrechen unserer Tage entspringen direkt aus dem heutigen System, welches Unwissenheit und Elend erzeugt.

"Wir Anarchisten glauben ferner, daß die Zeit nah ist, wenn das arbeitende Volk seine Rechte von denen verlangen wird, die sie ihm entzogen haben und daß die Sklavenhalter von heute einst rebellieren werden gegen die Majorität des Volkes, unterstützt durch ihre käuflichen Anhänger in den Städten und das dupierte Volk auf dem Land.

Dieser Kampf ist unserer Ansicht nach unausbleiblich.


Oskar Neebes Ansprache

Ich habe den Bäckern täglich 5 - 8 Stunden erspart, was ihnen Zeit gab, sich zu bilden. Die Sozialisten sind alle darin einig, daß sich die Arbeiter gegenseitig ausbilden und nicht unwissende Massen bleiben sollen, als was sie von manchen Leuten bezeichnet werden. Die Verkürzung der Arbeitszeit, die Organisation der Arbeiter hatte ich mir zur Aufgabe gemacht und habe mich bemüht, dieselbe zu erfüllen. Ich bin schon seit 1865 in der Arbeiterbewegung, Euer Ehren. Ich habe von Jahr zu Jahr gesehen, wie die Polizei das Volk und besonders die Arbeiterorganisationen mit Füßen tritt. Ich habe von Jahr zu Jahr gesehen, wie man sie niedertrat, wie man sie vergewaltigte, wie man sie "in die Löcher trieb", wie Mr. GRINNELL sagt: "Sie werden täglich mehr in die Löcher getrieben und können nicht aus denselben herauskommen!" - Aber wenn sie nun doch herauskommen?! - Bald sind es hundert Jahre her, daß die französische Revolution begann, und als dieselbe begonnen hatte, da wurden die französischen Gesetze gedehnt wie Gummi, und so lange gedehnt, bis der Gummi riß, und das kostete einer beträchtlichen Anzahl von Staatsanwälten den Hals, und die Hälse einer guten Anzahl von anderen ehrenwerten Leuten gingen mit in den Kauf!

Wir Sozialisten hoffen, daß solche Zeiten niemals wiederkommen werden; wir tun unser Bestes, es zu verhindern, indem wir die Arbeitsstunden zu vermindern und die Löhne zu erhöhen suchen. Ihr Kapitalisten aber verwehrt es uns. Ihr benutzt Eure Macht, ein System dauernd zu erhalten, daß es Euch Geld bringt, die Lohnarbeit aber in Armut beläßt. Ihr macht sie elend und unwissend, Ihr tragt die Verantwortung dafür. Ihr wollt nicht, daß der Arbeiter ein anständiges Leben führt.

Wir wollen die Massen erziehen und sie davon abhalten, Leben und Eigentum zu zerstören. Wenn aber der Hunger diese Massen wie Ratten hervortreibt aus ihren Löchern, dann können wir sie nicht halten. Ich bin die Clark Street entlang gegangen und habe des Nachts diese Ratten zu Hunderten in den Löchern gesehen, wo sie für ein Lager im Keller 5 und 10 Cents bezahlen. Ich habe diese verkommenen Unglücklichen dort liegen sehen. Am Tag erbetteln sie sich ein Stück Brot, Nachts liegen sie dort in einer Luft, in der sich kaum atmen läßt. Ich bin dort drin gewesen um 10, 12 und 2 Uhr Nachts. Wenn diese Ratten dereinst "herauskommen aus ihren Löcher", ich wollte dann nicht in ihrer Nähe sein, das kann ich Ihnen versichern. Aber die Zeit wird kommen, in der Ihr sehen werdet. Ihr wollt ja keine Erziehung der Massen. Ihr wollt ja nicht, daß irgendwer gebildet ist. Ihr wollt sie am Boden halten, unten halten in Schmutz und Elend, damit Ihr ihnen den letzten Blutstropfen aus den Adern saugen könnt. Wenn wir die Kapitalisten ersuchen - wie wir es bei einer Versammlung taten, zu der auch der ehrenwerte Herr GARY eingeladen war - die Arbeiterfrage mit uns zu besprechen, dann kommt niemand. Sie wollen über diese Frage nicht disputieren, sie geben nicht das Geringste darum. Diskussionen? gibt es nicht! Aber dafür Gatling-Kanonen, mehr Miliz, 300 Polizisten mehr! - Wofür das alles? Soll die Miliz etwa Diebe einfangen? Ich lese die täglichen Zeitungen und sehe, daß jeden Tag in der ganzen Stadt Einbrüche verübt werden. Es gibt in Chicago 1200 und einige Polizisten, und trotzdem so viele Einbrüche? Vielleicht gebrauchen sie die Einbrecher, um hin und wieder einen "Case" zu machen, aber sie verhaften sie nicht. Wenn es aber heißt, einen armen Arbeiter wegzufangen, dann sind sie alle da.

Als ich am 9. Mai nach Hause kam, sagte mir meine kränkliche Frau, daß 25 Polizisten auf einem Patrouillewagen dagewesen wären und eine Haussuchung bei uns durchgeführt hätten. Ich muß ein sehr gefährlicher Mann sein, daß es so vieler Büttel bedurfte. Sie durchsuchten das ganze Haus und fanden einen Revolver. Gut, das ist eine tödliche Waffe, eine höchst gefährliche Waffe. Ich glaube, daß überhaupt niemand, außer Anarchisten, Sozialisten und Arbeiter-Agitatoren, Revolver mit sich führt, sonst gar niemand! Und außerdem fand man eine rote Flagge (zeigend, daß dieselbe etwa einen Quadratfuß groß war), mit der mein kleiner Junge zu spielen pflegte, und die meine Frau auf einem Maskenball gebraucht hatte. Das fanden sie, und meine Frau sagte zu mir, daß die Polizisten - diese ehrenwerten Leute, die Gesetz und Ordnung beschützen - auf den Patrouillewagen gestiegen sind, die Flagge geschwenkt und dazu gebrüllt haben wie eine Bande Apachen, - und tatsächlich, wie Apachen haben sich die Kerle benommen. Sie durchsuchten Hunderte von Häusern. Sie kehrten das Unterste zuoberst. Bei diesen Haussuchungen wurde Geld gestohlen, Uhren wurden gestohlen, ob die Haussucher Polizisten waren oder nicht, das konnte niemand genau sagen. Sie drangen einfach ein und stürmten durch die Häuser. Captain SCHAACK weiß das. Seine Bande war eine der schlimmsten in der Stadt. (An den Luxemburger Polizisten gewendet): Sie brauchen darüber nicht zu lachen. Sie sind selber einer von der Bande. Sie selber sind, im bösen Sinne des Wortes, "Anarchist", und solche "Anarchisten" seid Ihr alle!

Alle von mir begangenen Verbrechen wären also: Man fand einen Revolver in meiner Wohnung und man fand dort auch eine rote Flagge. Ich organisierte Gewerkschaften. Ich war für die Verkürzung der Arbeitszeit, für die Erziehung der Arbeiter und für den Wiederaufbau der "Arbeiterzeitung". - Es ist kein Beweis dafür vorhanden, daß ich mit dem Bombenwurf irgendetwas zu tun hatte; daß ich in der Nähe des Heumarkts gewesen wäre oder sonst etwas der Art.

Euer Ehren, nur eins tut mir leid; wenn es noch geändert werden kann, wenn es noch möglich ist: Lassen Sie auch mich hängen! Ich denke, daß es ehrenvoller ist, mit einem Ruck zu sterben, als zollweise getötet zu werden. Ich habe eine Familie, ich habe Kindert; falls diese wissen, daß ihr Vater tot ist, werden sie ihn begraben. Sie können dann zum Grab gehen und an demselben niederknien, aber sie können nicht nach Joliet gehen, um dort ihren, wegen eines Verbrechens, mit dem er nichts zu tun hatte, verurteilten Vater zu besuchen.

Das, Euer Ehren, ist alles, was ich zu sagen habe. Es tut mir leid, daß ich nicht mit den andern gehängt werde."


Adolph Fischers Ansprache

Da ich von frühester Jugend an mit den Lehren des Sozialismus vertraut war, so habe ich es stets für meine Pflicht gehalten, diese meine teuren Prinzipien zu verbreiten, wo immer mir das möglich gewesen ist. Man mag fragen, wie ich zum Sozialisten geworden bin? Das will ich in kurzen Worten erzählen.

Während meines letzten Schuljahres begab es sich, daß unser Geschichtslehrer zufällig den Sozialismus erwähnte, der zu jener Zeit mächtig an Boden zu gewinnen anfing. Der Mann erklärte, daß der Sozialismus die "Teilung des Eigentums" anstrebt. Ich glaube jetzt, daß die "patriotischen" Erzieher damals von der Regierung angewiesen waren, ihren älteren Schülern den Sozialismus von Zeit zu Zeit in möglichst abschreckender Gestalt zu schildern, gerade so, wie man kurz vor Ausbruch und während des deutsch-französischen Krieges jeden Franzosen als einen Schuft, wenn nicht als einen Verbrecher hinstellte. Die Könige andererseits wurden uns als Halbgötter hingestellt, denen treu und gehorsam zu sein als höchste Tugend gelten muß. So wird das Gemüt der Kinder systematisch vergiftet, und wenn dieselben zu Männern und Frauen herangewachsen sind, dann schlägt man aus dieser Praxis Kapital. Doch genug! Bei der erwähnten Gelegenheit also erklärte unser Lehrer die Sozialisten als ein Pack von Trunkenbolden, Bummlern und Faulenzern, die nicht arbeiten wollen. "Die Zeit rückt heran", sagte der Edle und legte den Zeigefinger bedeutsam an die Nase, "in der Ihr Euer täglich Brot im Schweiße Eures Angesichts verdienen werdet müssen. Einige von Euch mögen sich Reichtümer erwerben, während andere vielleicht nicht so glücklisch sein werden. Diese Sozialisten nun - merkt wohl auf - sind faules Pack und beabsichtigen, Euch gewaltsam dazu zu zwingen, am Ende jeden Jahrs alles mit Euch zu teilen, was Ihr besitzt. Angenommen, Ihr besäßet zwei Paar Stiefel, so würden diese sozialistischen Schurken Euch sorgsame eins davon abnehmen. Wie würde Euch das gefallen?" - Natürlich dachten wir, daß uns das gar nicht gefallen würde, und auch heute würde ich zu dergleichen meine Zustimmung ganz entschieden verweigern. Ich war der Meinung, daß eine solche Einrichtung unvernünftig sein würde. Aber - ich wußte gleichzeitig, daß mein Vater sehr häufig sozialistische Versammlungen besuchte, und ich wunderte mich an jenem Tag darüber, daß er - den ich doch für so gut hielt - mit Leuten verkehren sollte, die zu faul wären, selbst zu arbeiten, und nur immer mit den Fleißigen teilen wollte.

Als ich nach Hause kam, sagte ich ihm, was der Lehren von den bösen Sozialisten gesagt hatte. Zu meinem Erstaunen fing mein Vater laut an zu lachen. "Lieber Adolph", rief er, mich umarmend, "wenn das, was dir der Lehrer erzählt hat, Sozialismus wäre, dann wären gerade die Einrichtungen sozialistische, unter denen wir gegenwärtig leben." Der Vater erzählte mir sodann, wieviele Faulenzer und untätige Personen es in der gegenwärtigen Gesellschaftsform gibt, die in Palästen wohnen und auf Kosten der fleißigen Arbeiter herrlich und in Freuden leben. Der Sozialismus aber hätte die Mission, dieser ungleichen Verteilung der Erzeugnisse ein Ende zu machen. Von diesem Tag an begleitete ich meinen Vater in sozialistische Versammlungen und wurde gar bald von der Wahrheit dessen überzeugt, was er mir gesagt hatte. Ich begann zu beobachten. Durch die Straßen der Stadt wandernd, sah ich häufig Gruppen von Männern mit schwieligen Fäusten, die in Steinbrüchen und anderen Stätten der Arbeit beschäftigt waren, und die vom frühen Morgen bis zum späten Abend schwere Hacken und ungefüge Schaufeln handhabten. Nicht weit davon bemerkte ich auch wohl elegant gekleidete Individuen, die Havanna-Zigarren rauchten und anscheinend Interesse an der Beschäftigung der Arbeiter nahmen. Die Hände dieser Faulenzer staken in Glace-Handschuhen, an ihrem schneeweißen Hemdbusen glitzerten Diamanten, an den Westen baumelten ihnen wertvolle goldene Ketten. Wer diese Herren waren? - Nun, die "Arbeitgeber". - Die geschäftigen Arbeiter konnten trotz angestrengten vielstündigen Schaffens kaum genug verdienen, um sich und ihre Familien vor Mangel zu schützen.

Ich sah sie in elenden Hütten wohnen, die Vergnügungen und Bequemlichkeiten des Lebens waren ihnen unbekannt.

Ihre Kinder waren hohläugig und glichen mehr mit Menschenhaut überzogenen Zaunpfählen, als menschlichen Lebewesen. Bald darauf sah ich einmal einen der vorerwähnten Müßiggänger in ein wunderschönes Haus, in einen Palast treten. Kostbare Bildert schmückten innen die Wände des Salons, wertvolle Teppiche bedeckten den Boden, goldene oder vergoldete Kronleuchter hingen von den Decken herab. Die Schränke und Gelasse bersten fast von ihrem lockenden Inhalt, und die Tische beugen sich unter der Last des Weines und der schmackhaften Speisen. Hier genießt man alles Gute und Angenehme im Überfluß. Dieser Kontrast zwischen den geschäftigen Arbeitern und Müßiggängern verfehlte nicht, Eindruck auf mein Denken auszuüben, besonders als ich entdeckte, daß überall und in allen Zweigen der Industrie dieselben Verhältnisse herrschten. Ich sah, daß die Arbeitsbienen, die fleißigen, nimmermüden, welche alle Werte schaffen, und die Lagerhäuser mit Nahrungsmitteln, Kleidungsstoffen und Brennmaterial füllen, nur den geringsten Teil ihrer Produkte genießen und ein verhältnismäßig elendes Leben führen, während die Drohnen, die Faulenzer, die Magazine verschlossen halten und in Wohlleben und Luxus schwelgen.

War nun ich im Unrecht oder war es die Welt? Ich sah Leute, die Schuhe und Stiefel fabriziert und seit ihrer Kindheit geholfen hatten, die Warenspeicher mit diesen Produkten zu füllen, die sich scheuen mußten, an regnerischen Tagen ihre Hütten zu verlassen, um nicht nasse Füße zu bekommen und in vielen Fällen kamen bei ihren Kindern die Zehen aus den Spitzen der abgetragenen Schuhe heraus. Ich sah Männer, die Jahrzehnte lang von Morgens bis Abends Häuser zu bauen geholfen hatten, und doch waren es ihrer nur Wenige, die eigene Häuser besaßen. Sie mußten Miete bezahlen für die Benutzung der von ihnen gebauten Häuser. Ich wußte, daß die Kleider-Magazine, die Tuchläden voller Waren von oben bis unten lagen, aber es war in meiner Vaterstadt nichts Seltenes, einen Schneider durch die Straßen gehen zu sehen mit derartig flickenübersäten Hosen, daß diese aussahen wie ein Damebrett. Während die Bäckereiarbeiter in ihren Werkstätten sechzehn bis zwanzig Stunden lang täglich fast geröstet wurden, wußten ihre Frauen nicht, woher sie einen Laib Brot nehmen sollten. Meines Vaters Nachbar arbeitete in einer Fleischerei, aber sein Lohn war so gering, daß seine Famiie nur einmal in der Woche - am Sonntag - ein Pfund Fleisch auf dem Tisch sah. All das überzeugte mich, daß "etwas faul war im Staate Dänemark", und es erforderte nicht einmal einen großen Denken oder Magier, um zu erkennen, daß die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen auf der Ausbeutung einer Klasse durch die andere beruth.

Die kapitalistischen Blätter dieses Landes machten sich über einen gewissen Indianerhäuptling lustig; ich glaube es war "Rote Wolke", der gesagt haben soll: "Was wir wollen, ist einfach das: Die weißen Männer sollen unsere Äcker bestellen, sollen unser Getreide einbringen und es für uns in Scheunen aufbewahren, die sie zu bauen haben." Ich verstehe nicht recht, warum die kapitalistischen Blätter diesen Ausspruch von "Rote Wolke" als etwas so besonderes auffassen. Haben nicht die Kapitalisten dieselebe Idee praktisch verwirklicht? Sehen wir einmal nach. Man setze für "weiße Männer" "Arbeiter" und man liest: "Was wir, (die Kapitalisten, die privilegierte Klasse) wollen, ist einfach das: Die Arbeiter sollen unsere Äcker bestellen, unser Getreide in Scheunen einbringen, unsere Scheunen bauen." Nichtsdestoweniger existieren diese Verhältnisse heutzutage. Die Lohnsklagen produzieren tatsächlich alles und speichern ihre Produkte in den Warenhäusern auf, welche sie für ihre Herren bauen; sie errichten Paläste, von denen nicht einmal "Rote Wolke" etwas sagte. Ja, und die Arbeiter tun sogar noch mehr. Sie behängen ihre Herren und Meister mit Diamanten, sie überhäufen sie mit Luxus und Reichtum, sie gehen weit über die Forderungen von "Rote Wolke" hinaus.

Folgende Fabel wird vielleicht die bestehenden Verhältnisse am besten illustrieren: In alten Zeiten hauste in den Tropenwäldern eine fröhliche Affenherde. Sie lebten beeinander wie eine große Familie, Streit und Unzufriedenheit war ihnen unbekannt. Die Umgebung lieferte ihnen und ihren Jungen Nahrung, welche sie in Eintracht und ohne Mißgunst miteinander teilten. Sie waren glücklich. Eines Tages heckten einige schlauen Affen einen klugen Plan aus, umzäunten die besten Teile des Waldes und verboten ihren Mitaffen, innerhalb der Gehege nach Nahrung zu suchen. Diese Länderstriche nannten sie "Eigentum". Die besitzlosen Affen waren der Verzweiflung nahe, wußten sie doch nicht, woher Nahrung für sich und ihre Familien zu nehmen. Sie gingen zu den Grundeigentümern und beklagten sich darüber, daß es ihnen unmöglich ist, sich zu ernähren. Darauf antwortetn ihnen die besitzenden Affen; "Wir wollen Euch die Erlaubnis geben, auf unserem Eigentum nach Nahrung zu suchen, ihr müßt uns aber die Hälfte der Erträge Eurer Arbeit abgeben." Was wollten sie machen? Die armen, besitzlosen Affen sahen sich gezwungen, das Anerbieten anzunehmen, wenn sie leben wollten. Es bliebt ihnen ja nur die Wahl, anzunehmen oder zu verhungern. Die besitzlosen Affen hatten große Warenhäuser für ihre "Arbeitsherren" zu bauen und ihre Produkte darin aufzuspeichern. Als Vergütung für ihre Dienste erhielten sie genausoviel, um sich und ihre Familien am Leben zu erhalten. Das nannte man "Lebensmittel". Die besitzenden Affen wurden sehr reicht und lebten in Faulheit und Luxus. Warum sollten sie auch nicht? Arbeiten nicht die armen Affen für sie, gaben sie ihnen nicht die Mittel an die Hand, trotz Reichtum sich im Überfluß zu wälzen?

Die arbeitenden Affen fügten sich für eine lange Zeit und murrten nicht. Geschlechter waren dahingegangen und die Affen glaubten, die "sozialen Institutionen" könnten gar nicht anders sein, es müßte reiche und arme Affen geben, da diese Verhältnisse schon bestanden, als sie geboren wurden.

Die Arbeitsherren wurden immer reicher und reicher, während sie den Anteil an den Produkten der Arbeiter, welchen diese als Vergütung erhielten, so weit wie möglich herabdrückten. Die Folge davon war, daß die armen Arbeitsaffen in Not und Elend lebten, obgleich die Warenhäuser mit Proviant angehäuft waren. Kein Wunder, daß die Arbeiter unzufrieden waren, da sie sahen, wie auf der einen Seite der Reichtum immer mehr anwuchs, während auf der anderen Seite die Armut sich beständig vergrößerte. Um die aufrührerischen Affen in Unterwürfigkeit und Ehrerbietung gegen die bestehenden Verhältnisse, die man "law and order" (Gesetz und Ordnung) nannte, zu halten, stellten die besitzenden Klassen eine Anzahl kräftiger Affen aus den Reihen der besitzlosen Klassen in ihren Dienst und legten ihnen die Namen "Polizei", "Sheriffs", "Miliz" usw. bei.

Die unzufriedenen Affen kamen nun häufig zusammen, um zu beraten, wie man den bestehenden Mißständen abhelfen könnte. Die Ansichten über Mittel und Wege zur Besserung der Lage waren sehr verschieden, und so bildete man mancherlei Vereinigungen. Einige wollten "höhere Löhne", andere strebten nach einer Verkürzung der Arbeitsstunden, wieder andere waren dafür, das "Lohnsystem" ganz und gar abzuschaffen. Sie machten geltend, daß die besitzenden Affen ihre Reichtümer zusammengescharrt haben, indem sie die Arbeiter des größten Teils ihrer Arbeitserträge beraubten. Weiter behaupteten sie, daß die wohlhabenden Klassen kein Recht haben, die von der Natur gebotenen Existenzmittel zu monopolisieren und sich dadurch ihre Mitaffen dienstbar zu machen; sie erklärten vielmehr, daß Mutter Erde und ihre Erzeugnisse dem gesamten Affengeschlecht gehört. Die Affen, die solche Ansichten aussprachen, wurden von der privilegierten Klasse für äußerst gefährlich gehalten. "Gesetz und Ordnung ist bedroht", riefen die Wohlhabenden; "diese Anarchisten sinnen auf Umsturz unserer glorreichen Institutionen und wollen das Unterste zu oberst kehren." Die besitzenden Klassen traten also dem Teil der arbeitenen Affen, welche eine gerechtere Vergütung für ihre Arbeit verlangten, entgegen; sie waren von glühendem Haß gegen die, welche ihre Privilegien insgesamt aufheben wollten, beseelt.

Die kapitalistische Presse, ja sogar zahlreiche Arbeiter-Organe, stellen den Anarchismus als eine Lehre von Mord, Gift und Verbrechen gegen die Gesellschaft im Allgemeinen hin. Diese "gelehrten" Journalisten, oder zumindest die Mehrzahl unter ihnen, behaupten, das sei Anarchismus bedeutet nicht Raub und Verbrechen an der Gesellschaft - nein, im Gegenteil, seine Mission ist, dem systematischen Ausplündern der großen Masse durch verhältnismäßig Wenige - der Arbeiter durch Kapitalisten - ein Ende zu machen. Sein Ziel ist, Gewalttätigkeiten, welche die herrschenden Klassen an den Lohnsklaven im Namen von "Gesetz und Ordnung" begehen, auszurotten. Mord, Raub, Diebstahl, Gewalttätigkeiten. "Ist ein Anarchist denn wirklich die Verkörperung alles Verbrecherischen, Feigen und Verabscheuungswürdigen?" Die  Internationale Arbeiter-Assoziation,  die Organisation der Anarchisten, nahm auf ihrem Kongreß in Pittsburgh, im Oktober 1883, folgendes Programm an. Dieses Programm mag als Antwort auf obige Frage gelten:
    1. Zerstörung der bestehenden Klassenherrschaft mit allen Mitteln, d. h. durch tatkräftiges, unbeugsames, revolutionäres und internationales Handeln.

    2. Errichtung einer auf genossenschaftlicher Organisation der Produktion beruhenden freien Gesellschaft.

    3. Freier Austausch der gleichwertigen Produkte durch die produktiven Organisationen selbst und ohne Zwischenhandel und Profitmacherei.

    4. Organisation des Erziehungswesen auf religionsloser, wissenschaftlicher und gleichheitlicher Basis für beide Geschlechter.

    5. Vollkommene Gleichberechtigung aller ohne Unterschied von Geschlecht und Rasse.

    6. Regelung aller öffentlichen Angelegenheiten durch freie Gesellschaftsverträge der autonomen (unabhängigen) Kommunen und Genossenschaften.
Klingt das wie Gewalttat und Verbrechen?

Im Verlauf meiner Betrachtungen werde ich noch eingehender über die Ziele und Bestrebungen des Anarchismus sprechen.

Viele Leute wissen ohne Zweifel, welches die Beziehungen zwischen Anarchismus und Sozialismus sind, und ob diese beiden Lehren etwas miteinander gemein haben. Manche behaupten, ein Anarchist könne nicht Sozialist und ein Sozialist kein Anarchist sein. Das ist falsch. Die Philosophie des Sozialismus ist eine allgemeine und umfaßt mehrere untergeordnete Lehren. Ich will das am Wort "Christenheit" veranschaulichen. Katholiken, Lutheraner, Methodisten, Baptisten, Kongregationalisten und verschiedene andere religiöse Sekten, alle nennen sich Christen. Obwohl jeder Katholik ein Christ ist, so wäre es falsch, zu behaupten, daß jeder Christ an den Katholizismus glaubt.  Webster's Dictionary  definiert  Sozialismus:  "Besser geordnete, gleichmäßigere und einträchtlichere Einrichtungen in der Gesellschaft, als bisher geherrscht haben." Der Anarchismus erstrebt gerade das, der Anarchismus sucht eine Gesellschaft auf gerechter Basis zu begründen. Deshalb ist jeder Anarchist auch Sozialist, aber nicht jeder Sozialist notwendigerweise auch Anarchist. Auch die Anarchisten sind in zwei Lager gespalten: Die kommunistischen Anarchisten und die PROUDHON- oder Mittelklassen-Anarchisten. Auf politischem Gebiet sind wir Anarchisten, auf wirtschaftlichem Kommunisten oder Sozialisten. Was die politische Organisation anbetrifft, so verlangen die kommunistischen Anarchisten die Abschaffung der politischen Autorität des Staates; wir gestehen keiner einzelnen Klasse und noch weniger einem einzelnen Individuum das Recht zu, über eine andere Klasse oder ein anderes Individuum zu herrschen. Wir sind der Ansicht, daß von Freiheit nicht die Rede sein kann, solange ein Mann unter der Diktatur eines andern steht, solange ein Mensch den andern auf irgendeine Weise unterjochen kann, solange die Lebensmittel von einem bestimmten Individuum oder von einer gewissen Klasse monopolisiert werden können. Wir befürworten, daß die Gesellschaft ihren Wirtschaftsbetrieb auf kommunistischer oder kooperativer Produktionsbasis einrichtet.

Was die Verteilung der Produkte betrifft, so würde in der von uns angestrebten Gesellschaft ein freier Austausch durch die produktiven Organisationen ohne Profitmacherei Platz greifen. Maschinen und Produktionsmittel im Allgemeinen würden zum Gebrauch für  alle  herangezogen werden und die Produkte natürlich Gemeingut der Gesamtheit sein. Wo ist nun der Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten? Die Staatssozialisten wollen nicht die Abschaffung des Staates, sie befürworten vielmehr die Zentralisierung der Produktionsmittel in den Händen der Regierung; mit anderen Worten, sie verlangen, daß die Regierung die Kontrolle über die Industrie erhalten soll. Ein Sozialist, der kein Staatssozialist ist, muß notgedrungen ein Anarchist sein. Es ist im höchsten Grad lächerlich, wenn Leute wie Dr. AVELING behaupten, sie seien weder Staatssozialisten noch Anarchisten. Dr. AVELING hat sich für das eine oder andere zu entscheiden, ein Drittes gibt es nicht.

Die Bezeichnung "Anarchismus" ist griechischen Ursprungs und bedeutet "ohne Regierung" oder in anderen Worten, ohne "Unterdrückung". Ich wollte nur, ein jeder Arbeiter hätte die wahre Bedeutung dieses Wortes erfaßt. Es ist eine alberne Lüge, wenn die Kapitalisten und ihre Schreibknechte behaupten, Anarchismus sei gleichbedeutend mit Unordnung und Verbrechen. Im Gegenteil, der Anarchismus will gerade die jetzt bestehende gesellschaftlich Unordnung aufheben, und an deren Stelle die wahre - die natürliche - Ordnung setzen. Jeder denkende Mensch sollte meiner Ansicht nach einsehen, daß da, wo es Herrschaft gibt, auch Unterwerfung ist, der Gegensatz von Herrschaft. Der Anarchismus lehrt, daß das Recht der Selbstbestimmung jedem Mitglied der Menschenfamilie von der Natur verliehen ist. Wenn eine zentrale Macht - Regierung - über die Massen herrscht (ganz gleichgültig, ob diese Regierung "den Willen der Volksmehrheit" vertritt oder nicht), so versklavt sie auch dieselben, und ds ist eine direkte Verletzung des Naturgesetzes. Gesetzgebung setzt das Vorhandensein gewisser Interessen, welche den Anstoß zu derselben geben - Verbrechen - kann auch die Institution des Privateigentums zurückgeführt werden. Der Staat schützt die Interessen der Besitzer von Privateigentum (die wohlhabende Klasse) und will und kann deshalb nicht gut die Interessen der Besitzlosen (Lohnarbeiter) wahren, denn die beiderseitigen Interessen stehen sich feindlich gegenüber. Die Kapitalistenn, welche über die Produktionsmittel - Fabriken, Maschinen, Land etc. - verfügen, sind die Herren und die Arbeiter, welche die Kapitalisten um den Gebrauch dieser Produktionsmittel ansprechen müssen und eine kleine Vergütung, - gerade ausreichend, um zu leben, - für die Produktion erhalten, sind Sklaven. Die Interessen der kapitalistischen Klasse sind durch den Staat (Militär, Sheriffs und Polizei) gedeckt, während die Interessen der Besitzlosen unbeschützt bleiben. Nach den Anarchisten darf es keine Klasseninteressen geben, sondern für jeden Menschen sollen die Existenzmittel erreichbar und die Speisekammer von Mutter Erde für alle ihre Kinder zugänglich sein. Ein Teil der großen Menschenfamilie hat kein Recht, ihren Brüdern und Schwestern den rechtmäßigen Platz an der gemeinsamen Tafel, welche so reichlich für alle von der hochherzigen Mutter Natur bedacht ist, zu rauben.

Die Anarchisten wie andere denkende Menschen erheben die Anklage, daß die heutige Gesellschaft einer großen Anzahl Menschen ein anständiges Leben versagt. Wir verlangen, daß die Enterbten wieder in ihre Rechte eingesetzt werden. Ist das ein Verbrechen? Heißt das, die Gesellschaft vergewaltigen? Sind wir deshalb gefährliche Verbrecher, die im Interesse des Gemeinwohls des Lebens beraubt werden müssen?

Ja, die Anarchisten verlangen, daß die enterbten Mitglieder der großen Menschenfamilie wieder in ihre Rechte eingesetzt werden. Es ist daher ganz natürlich, daß die privilegierten Klassen sie hassen. Hassen aber nicht die, welche im Unrecht sind, immer diejenigen, welche ihre Machenschaften aufdecken und ihren blinden Opfern die Augen öffnen? Die Anarchisten werden von den Leuteschindern bitter gehaßt; doch sie sind stolz auf diesen Haß; er ist ihnen Beweis dafür, daß sie auf dem richtigen Weg sind. Die herrschende Klasse spielt ihnen gegenüber die Rolle jenes Diebes, welcher, als man ihn entdeckte, im Davonlaufen selbst schrie: "Haltet den Dieb!" und infolgedessen entkam.

Die Anarchisten haben bewiesen, daß die gegenwärtige Form menschlicher Gesellschaft auf gesetzlichem Raub begründet ist. Sie sagen, daß einige wenige Personen nicht das Recht haben, alle Produktionsquellen der Natur zu monopolisieren, und sie verlangen, daß die Opfer derselben, die Arbeiter, von den Produktionsmitteln, dem ganzen Volk gehören, Besitz ergreifen und so den vollen Ertrag ihrer Arbeit erhalten. Anarchisten wollen den Kapitalisten nicht ihre Existenz rauben, aber sie protestieren dagegen, daß die Kapitalisten den Arbeitern das Recht auf ein anständiges Dasein absprechen. Kommt der Kommunismus zur Geltung, so werden die jetzigen Kapitalisten auch nicht zu verhungern brauchen. Vorausgesetzt, daß sie sich entschließen können, mit zu arbeiten, und sich zufrieden geben mit einem Anteil am Ertrag der Arbeit, die sie gemeinsam mit ihren Brüdern verrichten, würden sie ebenso gemütlich und ebenso glücklich leben können, wie irgendein anderer Mensch.

Das stärkste Bollwerk des kapitalistischen Systems ist die Unwissenheit seiner Opfer. Der Durchschnittsarbeiter schüttelt sein Haupt wie der ungläubige THOMAS, wenn es jemand versucht, ihm seine wirtschaftliche Lage plausibel zu machen. Und es ist doch so leicht zu erkennen, wenn jemand nur ein bißchen nachdenken will. Ich pflegte meinen Kameraden, mit denen ich zusamme in meinem Handwerk arbeitete, um sie von meinen Ideen zu überzeugen, folgende Geschichte von den Füchsen zu erzählen: "Mehrere Füchse, die hin und her überlegten, wie sie wohl Nahrung finden könnten, ohne danach suchen zu müssen, fanden schließlich einen Ausweg, indem sie sich in den Besitz aller Quellen und Schwemmen setzten. Kamen nun die übrigen Tieren, um ihren Durst zu stillen, so sagten die Füchse zu ihnen: "Die Schwemmen gehören uns; wenn ihr trinken wollt, so müßt ihr uns eine Entschädigung geben. Bringt uns Nahrung als Vergütung für unser Wasser." Die anderen Tiere waren töricht genug, sich zu fügen, und um trinken zu können, jagten sie den ganzen Tag nach Nahrung für die Füchse, sodaß sie selbst äußerst dürftig leben mußten." Ich frage einen meiner Kameraden, einen hervorragenden Gegner des Sozialismus, was er von dieser Geschichte hält. Er antwortete mir, daß die Tiere, die sich auf solche Weise von den Füchsen übers Ohr hauen ließen, und sich ihnen fügten, Narren sind, - daß sie jene von den Wasserplätzen fortjagen sollten. Machte ich ihn aber darauf aufmerksam, daß die moderne Gesellschaft sich einer ähnlichen Taktik bedient, mit dem einzigen Unterschied, daß die Kapitalisten die Rolle der Füchse spielen und die Quellen durch die Produktionsmittel ersetzt werden; wies ich meinen Kameraden darauf hin, wie inkonsequent er handelt, wenn er das  eine  verdammt und das andere verteidigt, dann blieb er mir die Antwort schuldig. Ist das nicht Beispiel genug, um die Unwissenheit und die Gleichgültigkeit der Durchschnittsmenschen unter den Arbeitern zu illustrieren? In der Geschichte der Füchse sehen sie nichts als Ausbeutung in den Praktiken derselben, während sie die Handlungsweise der Kapitalisten billigen.

Viele widersprechende Einwände werden gegen den Anarchismus von seinen Gegnern gemacht. Gar mancher hat die Vorstellung, daß in einer anarchistischen Gesellschaft, wo niemand regiert und niemand regiert wird, ein jeder für sich selbst leben müßte. Das ist falsch. Die Natur gab dem Menschen den Trieb, sich mit seinen Brüdern zu vereinigen. In einer freien Gesellschaft würden die Menschen geradeso wirtschaftliche wie gesellschaftliche Verbindungen eingehen, nur werden alle Organisationien freiwillig und nicht gezwungen geschlossen. Wie gesagt, Gesetze und Gesetzesverletzungen sind die Folge von Privateigentum, der ungleichen Verteilung der Existenzmittel, sind der Ausfluß von Zurücksetzung und Not. Wenn Privateigentum abgeschafft sein wird, wenn ökonomische und soziale Gleichheit gelten wird, wenn Not und Elend der Vergangenheit angehören werden, dann wird es keine Verbrecher mehr geben, und  Gesetze werden überflüssig sein.  Die Behauptung, daß die Menschen von Natur aus zum Verbrechen neigen, ist falsch. Der Mensch ist ein Produkt der ihn umgebenden Verhältnisse. In einer Gesellschaft, welche der freien Entwicklung der Menschheit keine Hindernisse in den Weg legt, welche jedem in gleichem Maße Gelegenheit gibt, sich ein glückliches Dasein zu schaffen; in einer solchen Gesellschaft gibt es für den Menschen keinen Grund, schlecht zu werden. Das gesetzlich erlaubte Privateigentumssystem gebiert das Verbrechen und bestraft es, sobald es an die Oberfläche kommt. Die Mutter straft ihr eigenes Kind, weil es geboren wurde. Entfernt das System, das die Übelstände erzeugt, und diese werden von selbst verschwinden. Die Ursachen beseitigen heißt auch die Wirkungen aufheben. Diese Krankheiten der Gesellschaft aber werden niemals geheilt werden, wenn man auf der einen Seite die Opfer derselben bekämpft und andererseits die Ursachen welche jene erzeugen, verteidigt. Der Blatternkranke wird nicht geheilt, wenn man den Ausschlag abkratzt. In unserem Fall ist das Privateigentumssystem die Krankheit, und der Ausschlag sind dessen schlimme Folgen.

Wie die Anarchisten ihre Ideale verwirklichen wollen? Welche Mittel sie anwenden wollen, eine freie Gemeinschaft in der Menschheit zu schaffen? Gar manches ist darüber geschrieben und gesagt worden; als ausgesprochener Anarchist will ich in wenigen Worten meine eigene persönliche Anschauung den Lesern dieser Blätter geben. "Anarchismus" bedeutet an und für sich nicht Gewalt, im Gegenteil bedeutet er Friede. Ich hin jedoch der Ansicht, und ich glaube, daß jeder, der den wahren Charakter der heutigen kapitalistischen Gesellschaft erkannt hat, mit mir übereinstimmt, daß die herrschende Klasse sich nie und nimmer ihrer Privilegien auf friedliche Weise entäußern wird. Anarchismus verlangt eine gründliche Umgestaltung der Gesellschat, die Abschaffung des Privateigentums.

Die Geschichte zeigt uns, daß sogar einfache Reformen im Rahmen der bestehenden Gesellschaft niemals ohne Waffengewalt durchgesetzt wurden. Dem Feudalismus wurde durch die große französische Revolution am Ende des vorigen Jahrhunderts der Todesstoß versetzt. Der Kapitalismus schreitet mit Riesenschritten seiner extremsten Form, dem Monopolismus, zu. Der Reichtum konzentriert sich immer mehr und mehr in den Händen Weniger und in demselben Maß vergrößert sich das Elend und die Armut der großen Volksmasse. Die Reichen werden jeden Tag reicher und die Armen jeden Tag ärmer. Die regierenden Klassen werden jeden Tag reicher und die Armen jeden Tag ärmer. Die regierenden Klassen der Gegenwart sind jetzt ebenso blind und taub für Elend, Erniedrigung, Klagen und Warnungen der Enterbten, wie es jene am Ende des vorigen Jahrhunderts waren. Die natürliche Folge wird sein, daß vielleicht noch bevor das Ende des 19. Jahrhunderts herannaht, das Volk sich in Masse erheben, die Privilegierten aus dem Besitz ihrer Privilegien vertreiben und der Menschheit die Freiheit verkünden wird.

Es ist ungerecht, die Anarchisten für die zu erwartende Revolution verantwortlich machen zu wollen. Nein, die "Drohnen" der menschlichen Gesellschaft werden es sein, auf welche die Schuld der Volkserhebung fallen wird, aber die Reichen und Mächtigen haben Ohren und wollen nicht hören, sie haben Augen und wollen nicht sehen. Ein langer blutiger Krieg tobte in diesem Land, um die Abschaffung der Sklaverei durchzusetzen. Obgleich man den Sklavenhaltern eine Vergütung für ihre etwaigen Verluste anbot, wollten jene ihre Sklaven nicht frei lassen. Wer da glaubt, daß die heutigen Sklavenhalter - die Kapitalisten - freiwillig ihre Vorrechte aufgeben und ihre Lohnsklaven freilassen würden, der kennt, meiner Ansicht nach, die Weltgeschichte nicht. Die Kapitalisten sind zu selbstsüchtig, als daß sie der Stimme der Vernunft Gehör schenken könnten. Die Selbstsucht ist so gewaltig groß, daß sie selbst untergeordnete und unwesentliche Konzessionen nicht zugestehen wollen. Kapitalisten und Syndikate verlieren lieber Millionen von Dollar, als daß sie das Achstundensystem annehmen wollen. Wäre eine friedliche Lösung der sozialen Frage möglich, die Anarchisten würden die Ersten sein, die sie mit Freuden begrüßen.

Ist es etwa nicht wahr, daß bei fast allen Streiks die "lieben Kinder" des Privateigentums - Miliz, Polizei, Sheriffs, ja sogar Bundestruppen - auf den Kampfplatz, auf dem Kapital und Arbeit ringen, gerufen wurden, um die Interessen des Kapitals zu beschützen? Zu welchen friedlichen Mitteln soll dann der Arbeiter seine Zuflucht nehmen? Da ist z. B. der Streik. Wenn die herrschende Klasse das "Gesetz" streng durchführen will, kann sie jeen Streiker verhaften und wegen "Einschüchterung" und Verschwörung bestrafen lassen. Ein Streik kann nur erfolgreich sein, wenn die ausständigen Arbeiter es verhindern können, daß ihre Plätze von anderen eingenommen werden. Dieses Verhindern ist jedoch in den Augen des Gesetzes ein Verbrechen. Boykott! Der "Gerichtshof" hat in mehreren Staaten entschieden, daß der Boykott eine Gesetzesverletzung ist und die Folge davon war, daß eine Anzahl der Boykotteure das Vergnügen hatte, sich "wegen Verschwörung" gegen die Interessen des Kapitals das Innere eines Gefängnisses näher anzusehen. "Aber", sagen die Apostel des Friedens, "es gibt doch noch etwas, das uns helfen kann, der Stimmkasten." Ohne Zweifel glauben sie an das, was sie sagen.

Aber kaum hatten die Arbeiter als Klasse an der Wahl teilgenommen, als auch schon Vertreter von "law and order" für eine Beschränkung (in vielen Fällen sogar für die gänzliche Abschaffung) des Wahlrechts der Proletarier eintraten. Leute, welche die  Chicago Times  oder  Tribune  lesen, werden dies zugeben. Die Propaganda unter den Kapitalisten, das Wahlrecht auf die Steuerzahler - die Grundbesitzer - zu beschränken, macht Fortschritte und wird zur Tatsache werden, sobald die politische Arbeiterbewegung den Interessen des Kapitals wirklich gefährlich wird. Die kürzlich über das ganze organisierte "Law and Order League" der Kapitalisten, welche die Bekämpfung der Forderungen organisierter Arbeiter bezweckt, hat es offen erklärt, daß man die Arbeiter nicht Gewalt über den Stimmkasten bekommen lassen darf. Das war die Losung überall.

Die Anarchisten sind nicht blind. Sie sehen die Entwicklung der Dinge und sagen voraus, daß ein Zusammenstoß zwischen den Plebejern und Patriziern unvermeidlich ist. Zu den Waffen also! Bereitet Euch vor für den kommenden Kampf. Wenn sich drohende Wolken am Horizont zeigen, so gebe ich meinem Mitmenschen den Rat, einen Regenschirm mitzunehmen, damit er nicht naß wird. Bin ich deshalb die Ursache des Regens? Nach meiner Meinung, um es kurz zu sagen, können die Lohnsklaven sich nur mit Waffengewalt aus der Knechtschaft des Kapitalismus befreien.

Der Richter sowohl wie der Staatsanwalt haben offen zugestanden, daß das Todesurteil erlassen wurde, um die anarchistische und sozialistische Bewegung zu unterdrücken. Ich bin indessen der festen Zuversicht, daß sie durch ihre barbarische Maßregel gerade das Gegenteil von dem bewirken, was ihre Absicht war. Tausende von Arbeitern sind durch unsere "Verurteilung" bewogen worden, den Anarchismus zu studieren, und wenn wir hingerichtet werden, können wir das Schaffot mit der Genugtuung betreten, daß wir durch unseren Tod mehr zur Erreichung eines edlen Ziels beigetragen haben, als wir lebend hätten beitragen können, wären wir auch so alt geworden wie METHUSALEM.


Louis Linggs Rede

Gerichtshof! Mit demselben Hohn, den man mir bei meinem Bestreben, ein menschenwürdiges dasein in diesem freien Land Amerika zu verschaffen, entgegenbrachte, mit demselben Hohn gestattet man mir jetzt, nachdem ich zum Tod verurteilt bin, die Freiheit, noch einmal zu sprechen. Wenn ich von dieser Freiheit Gebrauch mache, so tue ich es nur, um die Ungerechtigkeit, die Lügen und Gemeinheiten, die man auf mich gehäuft hat, an den Pranger zu stellen. Man hat mich des Mordes angeklagt und verurteilt. Welche Beweise hat man gegen mich vorgebracht? Man hat den Menschen SELIGER hierhergebracht, um gegen mich auszusagen.

Diesem Mann habe ich geholfen Bomben zu bauen. Man hat weiter hier bewiesen, daß ich dieselben mit Hilfe eines anderen nach 58 Clybourn Avenue gebracht habe. Aber man hat selbst nicht mit dem Staatszeugen SELIGER, der dabei geholfen hat, beweisen können, daß eine dieser Bomben zum Heumarkt gebracht wurde. Zwei Chemiker wurden als Sachverständig hierher gebracht, doch konnten dieselben nur konstatieren, daß das Metall, aus dem die Heumarktbombe bestand, mit demjenigen meiner Bomben etwas  Ähnlichkeit  hatte. Herr INGHAM versuchte hier vergeblich zu leugnen, daß die Bomben ganz verschieden waren.

Er mußte zugeben, daß ein Unterschied im Durchmesser von ½ Zoll besteht, er verschwieg aber, daß der Unterschied in der Wandstärke ¼ Zoll beträgt.

Dies sind die Beweise, auf die hin ich des Mordes beschuldigt wurde.

Aber ich bin nicht wegen Mordes verurteilt, der Richter hat dies erst noch heute Morgen in seinem Resume konstatiert, GRINNELL hat es x-mal erklärt, daß wir nicht wegen Mord, sondern wegen Anarchismus prozessiert werden, und ich bin verurteilt, weil ich Anarchist bin.

Was ist Anarchismus? Meine Vorredner haben sich klar darüber ausgesprochen, und es ist unnötig für mich, auch noch darauf zurückzukomme. Meine Genossen haben Ihnen deutlich genug gezeigt, wohin wir treiben.

Der Staatsanwalt hat Ihnen dies nicht gesagt, sondern hat nur unsere Taktik kritisiert und verdammt. Aber daß wir durch die Handlungen der Polizei zu dieser Taktik gezwungen wurden, hat man wohlweislich verschwiegen.

GRINNELL hat uns auf die Wahl verwiesen, auf die Gewerkschaftsbewegung. INGHAM hat sogar eine 6-Stunden-Bewegung für richtig gehalten.

Aber bei jeder Ausdehnung irgendeiner Wahl- oder Gewerkschaftsbewegung hat man die rohe Gewalt, den Polizeiknüppel angewandt.

Und deshalb habe ich rohe Gewalt anempfohlen, um die noch rohere Gewalt der Polizei zu verhindern.

Man hat mir vorgeworfen, das Gesetz, die Ordnung zu verachten. Was hat es mit dieser Ordnung auf sich?

Sie wird repräsentiert von einer Polizei, welche  Diebe  in ihren Reihen hat. Hier sitzt Captain SCHAACK. Er selbst hat mir zugestanden, daß ihm in seinem Office mein Hut und meine Bücher gestohlen worden sind, gestohlen von Polizisten.

Das sind die Beschützer des Eigentums!

Die Detektive, die mich verhaftet haben, sind wie Einbrecher in meine Wohnung eingedrungen; unter falschen Vorspiegelungen - als Schreiner LORENZ von der Burlington Street, stellte sich der eine vor. Sie haben geschworen, daß ich allein im Zimmer war. Das waren Meineide. Man hat Frau KLEIN, die anwesend war, nicht vorgeladen, sie hätte bezeugen können, daß die betreffenden Detektive unter falschen Vorspiegelungen in meine Wohnung eingedrungen sind, daß ihre Aussagen Meineide sind. Doch lassen Sie uns weitergehen.

Captain SCHAACK ist ein Hauptmann der Polizei.

Er hat  Meineide  geschworen.

Er hat geschworen, ich hätte ihm zugestanden, in der Montagsversammlung gewesen zu sein, und ich habe ihm deutlich auseinandergesetzt, daß ich in einer Schreinerversammlung in ZEPFs Halle war.

Er hat  geschworen,  ich hätte zu ihm gesagt, ich habe die Herstellung der Bomben aus MOSTs Buch gelernt. Das ist wieder ein Meineid.

Gehen wir eine Stufe höher mit den Vertretern dieser Ordnung.

GRINNELL und Konsorten haben Meineide schwören lassen,  wissentlich  sage ich.

Den Beweis haben meine Herren Verteidiger erbracht.

Ich selbst habe gesehen, wie GRINNELL den GILMER acht Tage bevor derselbe in den Zeugenstand kam, ihn hier mit den betreffenden Personen bekannt machte, über die er aussagen sollte.

Ich habe vorhin gesagt, daß ich für Gewalt bin, um mir und meinen Mitbrüdern ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen.

GRINNELL hat durch seine Polizei und sonstigen Schufte wissentlich Meineide schwören lassen. Er ist der Mörder von sieben Männern, worunter ich mich befinde.

GRINNELL hatte den traurigen Mut, mich hier im Gerichtssaal, wo ich nichts dagegen tun konnte, einen Feigling zu nennen. Ein solcher Schuft, der sich mit gekauften niedrigen Subjekten verbündet hat, um mich an den Galgen zu bringen! Und weshalb? Aus gemeiner Selbstsucht. Um eine höhere Stelle zu erhalten, des Geldes wegen. Und ein solcher Schurke, der sieben Männer durch Meineide anderer Schufte ermorden will, ein solcher Schurke nennt mich einen Feigling. Und solche Ordnungsvertreter, solche Schufte zu  verachten,  rechnet man mir als Verbrechen an!

Anarchie heißt Herrschaftslosigkeit; man legte das hier als Unordnung aus. Ein System, ohne eine solche "Ordnung", vertreten durch Schurken, Diebe usw., nennt man hier Unordnung. Der Richter selbst hat zugeben müssen, daß es dem Staatsanwalt nicht gelungen ist, mich mit dem Bombenwurf in Verbindung zu bringen. Aber man weiß sich zu helfen. Man beschuldigt mich der Verschwörung. Und wie beweist man dieselbe? Man erklärt einfach die "Internationale Arbeiter-Assoziation" zu einer Verschwörung. Ich war ein Mitglied derselben - folglich bin ich der Verschwörung überführt. Ja, es geht nichts über die Gescheitheit eines Staatsanwaltes!

Es ist für mich kaum nötig, darauf zurückzukommen, in welchen Beziehungen ich zu meinen Leidensgenossen gestanden habe. Mein Freund SPIESS hat schon angeführt, wie wir miteinander bekannt sind. Ich kann offenen Blickes sagen, ich kenne meine Leidensgenossen nicht viel mehr als Captain SCHAACK.

Das allgemeine Elend, das Wüten der kapitalistischen Hyäne hat uns verbündet in unserer Agitation, nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern im gleichen Wirken. Das ist die Verschwörung, deren man mich beschuldigt. -

Ich protestiere gegen das Urteil, gegen die Entscheidung des Richters. Ich erkenne das Gesetz nicht an, das vor Hunderten von Jahren von irgendjemand gemacht worden ist. Ich erkenne die heutige Entscheidung des Richters nicht an!

Meine Verteidiger haben mit Entscheidungen von vielleicht noch höheren Gerichten das Gegenteil bewiesen, und ich bin überzeugt, wenn in einem anderen Prozeß diese Entscheidung mit Hilfe von 15 anderen Bänden angeführt würde, man würde 100 Bände bringen, die das Gegenteil beweisen, wenn Anarchisten in einem Prozeß zu verurteilen sind.

Und nicht einmal einem solchen Gesetz nach, das ein Schulbube verachten muß, nicht einmal mit solchen Mitteln hat man mich gesetzlich schuldig befinden können, man brauchte dazu Meineide.

Ich wiederhole, daß ich ein Feind der heutigen "Ordnung" bin, und ich wiederhole, daß ich mit allen Kräften, solange noch ein Atemzug in mir ist, diese "Ordnung" bekämpfe.

Ich erkläre hiermit nochmals frei und offen, daß ich für die Anwendung von Gewalt bin. Ich habe Captain SCHAACK erklärt und dabei bleibe ich: "Wenn man uns mit Kanonen bedroht, werden wir mit Dynamit antworten."

Sie lächeln! Sie denken wohl: "Du wirfst keine Bomben mehr!" Aber ich versichere Ihnen, ich sterbe freudig am Galgen, weil ich überzeugt bin, daß die Hunderte und Tausende, zu denen ich gesprochen habe, sich meiner Worte erinnern werden, und wenn Ihr uns hingemordet habt, dann, das bin ich sicher, werden  sie  die Dynamitbomben anwenden!

In dieser Hoffnung rufe ich Euch zu: Ich verachte Euch, ich verachte Eure Gesetze, Eure "Ordnung", Eure Gewaltherrschaft!

Hängt mich deswegen! Hängt mich!


Georg Engel über den Anarchismus

Dies ist das erste Mal, daß ich vor einem amerikanischen Gerichtshof steht und zwar bin ich des Mordes angeklagt. Und aus welchen Gründen stehe ich hier, bin ich des Mordes angeklagt? Es sind dieselben, die mich veranlaßten, von Deutschland fort zu gehen - die Not, das Elend des arbeitenden Volkes!

Auch hier, in dieser "freien Republik", im reichsten Land der Welt, gibt es zahlreiche Proletarier, für die kein Tisch gedeckt ist, die, als Ausgestoßene der Gesellschaft, freudlos durch ihr Leben irren. Ich habe Menschen gesehen, die ihr tägliches Brot den Straßenabfällen entnahmen, um damit ihren Heißhunger zu stillen. Ich las Vorkommnisse in den täglichen Zeitungen, welche mir bewiesen, daß auch hier in diesem großen "freien Land" die Menschen dazu verdammt sind, am Hunger zu sterben. Dies brachte mich zum Nachdenken und zu der Frage: Welcher Art sind die Ursachen, die einen solchen Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse zu zeitigen vermögen? Ich begann dann den politischen Einrichtungen etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wie früher. Die von mir gemachte Entdeckung brachte mich zur Erkenntnis, daß hier dieselben gesellschaftlichen Übel bestehen, wie in Deutschland. - Ich habe durch die vorstehenden Ausführungen gezeigt, was mich dazu trieb, die soziale Frage zu studieren, Sozialist zu werden. Und ich begann, mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln, mich mit der neuen Lehre vertraut zu machen. Als ich im Jahre 1878 von Philadelphia nach hier übersiedelte, war ich bestrebt, hier meine Lage zu verbessern und glaubte, daß es hier leichter sein würde, eine Existenz zu gründen, als in Philadelphia, wo ich vergebens versuchte, meinen Lebensunterhalt zu erwerben.

Aber auch hier fand ich mich getäuscht. Ich kam zu der Erkenntnis, daß es für den Proletarier egal ist, ob er in New York, Philadelphia oder Chicago lebt. In der Fabrik, in welcher ich hier arbeitete, hatte ich Gelegenheit einen Mann kennen zu lernen, der mir die Ursachen zeigte, die Schuld daran waren und sind, am schweren und erfolglosen Kampf ums Dasein des Arbeiters. Er zeigte mir, mittels der Logik der sozialen Wissenschaft, daß ich mich in einem Irrtum befand, zu glauben, daß ich mir eine unabhängige Existenz mittels meiner Hände Arbeit zu verschaffen vermag, solange wie die Maschinen, Rohprodukte etc. seitens des Staates den Kapitalisten als Privateigentum garantiert werden. Um mir hierüber weitere Aufklärung zu verschaffen, kaufte ich mit dem von mir und meiner Familie verdienten Geld sozialwissenschaftliche Werke, darunter die von LASALLE, MARX und HENRY GEORGE. Nach dem Studium dieser Werke wurde es mir klar, warum ein Arbeiter in diesem reichen Land nicht zu existieren vermochte. Ich begann nun, über die Mittel der Abhilfe nachzudenken. Ich verfiel auf den Stimmkasten. Es war mir oft gesagt worden, daß dies das Mittel sei für den Arbeiter, um seine Lage zu verbessern.

Ich nahm an der Politik teil, mit dem vollen Ernst eines guten Bürgers. Aber gar bald fand ich heraus, daß die Lehre vom "freien Stimmkasten" ein Märchen, daß ich wiederum betrogen wurde. Ich kam zu der Ansicht, daß der Arbeiter, solange er ökonomisch unfrei ist, auch politisch nicht frei zu sein vermag.

Es wurde mir klar, daß es dem Arbeiter mittels des Stimmkastens nie gelingen würde, solche gesellschaftliche Zustände zu schaffen, die ihm und den Seinen Arbeit und Brot und ein glückliches Dasein garantieren. Ehe ich meinen Glauben an den Stimmkasten verlor, ereignete sich folgender Vorfall, der mir bewies, daß die Politik hierzulande durch und durch korrupt ist. Als im 14. Bezirk, in dem ich wohnte und das Recht zum Stimmen besaß, die sozialdemokratische Partei so wuchs, daß sie für die demokratische und republikanische Partei gefährlich zu werden drohte, vereinigten sich die beiden letztgenannten Parteien sofort, um gegen die Sozialdemokraten Stellung zu nehmen. Dies war auch ganz natürlich, haben doch beide die gleichen Interessen. Und als trotzdem die Sozialdemokraten siegreich waren und ihren Kandidaten erwählten, da wurden sie durch die korruptesten Mittel seitens der alten Parteien um die Früchte ihres Sieges betrogen. Die Stimmkästen wurden gestohlen und das Votum so "korrigiert", daß es der Opposition möglich wurde, ihre Kandidaten als erwählt zu proklamieren. Die Arbeiter versuchten dann mittels der Gerichte Gerechtigkeit zu erlangen, aber es war alles umsonst. Der Prozeß kam sie auf 1500 Dollar zu stehen, aber ihr gutes Recht bekamen sie doch nicht.

Und bald fand ich heraus, daß die politische Korruption auch die Reihen der Sozialdemokraten zu durchfressen begann und ich verließ diese Partei und schloß mich der  "Internationalen Arbeiter-Assoziation"  an, die damals gerade reorganisiert wurde. Die Anhänger der Letzteren sind der Überzeugung, daß sich die Arbeiter nur durch Gewalt von der Tyrannei des Kapitals zu befreien vermögen; wie überhaupt alle Fortschritte, die uns die Geschichte aufzählt, nur durch Gewalt errungen wurden. Wir sehen aus der Geschichte dieses Landes, daß die ersten Kolonisten nur durch Gewalt ihre Freiheit erlangten; daß der Sklaverei nur durch Gewalt ein Ende gemacht wurde; und derselbe Mann, welcher gegen die Sklaverei dieses Landes agierte, mußte den Galgen besteigen, wie wir es müssen. Wer heute für die Arbeiter spricht, muß hängen. Warum? Weil diese Republik nicht von Leuten geleitet wird, die durch eine ehrliche Wahl ihr Amt erlangen. Wer sind die Leiter in Washington, welche die Interessen dieser Nation wahren sollen? Sind sie durch das Volk erwählt oder durch ihr Geld? Sie haben kein Recht uns Gesetze vorzuschreiben, weil das Volk sie nicht gewählt hat. Das ist der Grund, weshalb ich die Achtung vor den amerikanischen Gesetzen verloren habe.

Der Umstand, daß durch die verbesserte Maschinerei so viele Arbeiter beschäftigungslos sind, und kaum die halbe Zeit Arbeit haben, bringt dieselbe zum Nachdenken. Sie haben Zeit dazu, und sinnen darüber nach, wie diese Zustände geändert werden können. Es fallen ihnen die Schriften, die in ihrem Interesse geschrieben sind, in die Hand, und wenn ihre Schulkenntnisse auch nur mangelhaft sind, finden sie doch bald die Wahrheiten, die in diesen Schriften enthalten sind, heraus.

Dies ist allerdings nicht angenehm für die kapitalistische Klasse, aber sie kann es nicht verhindern. Und es ist meine feste Überzeugung, daß in ganz kurzer Zeit die große Masse der Proletarier begriffen haben wird, daß nur der Sozialismus sie aus ihren Banden befreien kann. Man muß bedenken, daß vor noch nicht acht Jahren KARL SCHURZ gesagt hat: In diesem Land ist kein Raum für Sozialismus, und heute steht der Sozialismus vor den Schranken des Gerichts; deswegen ist es meine feste Überzeugung, daß, wenn die wenigen Jahre genügten, den Sozialismus zur brennenden Tagesfrage zu machen, es nur noch kurze Zeit dauern wird, ihm zum Sieg zu verhelfen. Was ich in Bezug auf meine Verurteilung zu sagen habe, so gestehe ich, daß ich mich nicht darüber gewundert habe. Es war ja von jeher so, daß man die Männer, die versuchten, ihre Mitarbeiter aufzuklären und ihnen die Wahrheit sagten, in den Kerker geworfen oder gehängt hat, wie dies ja auch der Fall war mit JOHN BROWN. Schon lange habe ich herausgefunden, daß der Arbeiter hier wie auch überall sonst keine Rechte hat.

Der Staatsanwalt hat hier darauf aufmerksam gemacht, daß wir keine Bürger sind. Ich bin schon lange Bürger, doch fällt es mir nicht ein, mich auf mein Bürgerrecht zu berufen, weiß ich doch ganz genau, daß dies nicht den geringsten Unterschied macht. Ob Bürger oder nicht, als Arbeiter bin ich doch rechtlos, und deshalb achte ich weder diese Rechte noch die Gesetze, welche von  einer  Klasse gegen die  andere,  die Arbeiterklasse, gemacht und gerichtet sind. Worin besteht mein Verbrechen? Daß ich dafür gearbeitet habe, eine Gesellschaftsform herbeizu führen, in welcher es keinem Einzelnen gestattet sein soll, aus den Fortschritten der Technik Millionen zu ziehen, während die große Masse verelendet. So gut wir Luft und Wasser Gemeineigentum sind, sollten auch die Erfindungen wissenschaftlicher Männer zum Besten aller angewendent werden.

Die Gesetze, die wir haben, widersprechen den Natur-Gesetzen, indem sie einer großen Masse Menschen das Recht zum Leben absprechen. Ich bin zuviel Gefühlsmensch, als daß ich solche Zustände wie sie heute existieren, nicht bekämpfen sollte. Ein jeder einsichtige Mensch muß ein System bekämpfen, welches es einem einzelnen Individuum möglich macht, in wenigen Jahren hunderte von Millionen Dollar zusammenzuraffen, während auf der andreen Seite Tausende zu Bettlern werden.

Ist es da zu verwundern, wenn unter solchen Umständen Männer erstehen, die versuchen andere Zustände zu schaffen, unter welchen die Menschlichkeit als erster Grundsatz gilt. Und dies will der Sozialismus, zu dem ich mich freudig bekenne. Der Staatsanwalt sagt hier, daß der Anarchismus prozessiert wird.

Anarchismus und Sozialismus sind meiner Ansicht nach so ähnlich, wie ein Ei dem andern, nur die Taktik ist verschieden. Die Anarchisten haben es aufgegeben, auf  dem  Weg die Menschheit zu befreien, auf welchem dies die Sozialisten tun wollen. Ich sage: Glaubt nicht mehr an den Stimmkasten und benutzt alle anderen Mittel, die  Euch  zu Gebote stehen. Weil wir das getan haben, stehen wir hier, - weil wir den Leuten den richtigen Weg gezeigt haben.

Die Anarchisten werden deshalb in allen Ländern gehetzt und verfolgt, und trotzdem gewinnt der Anarchismus immer mehr Anhänger. Und wenn man uns den Weg abschneidet, öffentlich zu agitieren, so geschieht es eben im Geheimen.

Wenn der Staatsanwalt denkt, daß er den Anarchismus ausgerottet hat, nachdem er sieben von uns gehängt und den anderen auf 15 Jahre ins Zuchthaus geschickt hat, so ist er in einem schweren Irrtum befangen. Die Taktik wird einfach geändert - das ist alles.

Keine Macht der Erde kann den Arbeiter die Kenntnis nehmen, wie Bomben gemacht werden, und diese Kenntnis besitzen sie. Ich wünsche Staatsanwalt GRINNELL und seinem Helfer FURTHMANN nicht das Schicksal des Polizeirates RUMPFF!

Wenn der Anarchismus ausgerottet werden könnte, wäre dies schon lange in anderen Ländern geschehen. An dem Abend, wo die erste Bombe in diesem Land geworfen wurde, war ich zu Hause in meiner Wohnung.

Ich habe nichts von einer Verschwörung gewußt, welche der Staatsanwalt entdeckt haben will. Es ist wahr, ich kenne mehrere meiner Mitangeklagten, die meisten jedoch nur sehr oberflächlich, nicht mehr als daß ich sie in Versammlungen sah und sprechen hörte. Ich bestreite nicht, daß auch in Meetings gesprochen und gesagt hat, wenn jeder Arbeiter eine Bombe in der Tasche hätte, daß es dann bald mit der kapitalistischen Herrschaft zuende wäre. Das war meine Ansicht und mein Wunsch. Dies wurde meine Überzeugung, als ich das Fluchwürdige der heutigen kapitalistischen Zustände einsah.

Wenn in einem Bergwerk Hunderte von Arbeitern zugrunde gingen infolge schadhafter Vorrichtungen, welche auszubessern die Eigentümer zu geizig waren, so wurde von den kapitalistischen Zeitungen kaum Notiz davon genommen.

Mit welcher Genugtuung und Kaltblütigkeit aber berichten sie, wenn hier oder dort auf die Arbeiter gefeuert wird, sobald dieselben für einige Cents mehr Lohn streiken, um notdürftig ihr Leben fristen zu können. Kann man Achtung vor einer Regierung haben, welche nur der privilegierten Klasse Rechte einräumt, und den Arbeitern keine? Wir haben erst kürzlich gesehen, daß die Kohlenbarone zusammenkamen und eine Verschwörung bildeten, um den Preis der Kohlen zu erhöhen, während sie ihren Arbeitern den ohnehin schon kärglichen Lohn noch mehr herabsetzten. Klagt man sie deswegen der Verschwörung an? Wagen es aber ihre Arbeiter, eine Aufbesserung ihres Lohns zu verlangen, dann schickt man die Miliz und die Polizei aus, und läßt sie zusammenschießen. Vor einer solchen Regierung habe ich keine Achtung und ich bekämpfe sie, trotz ihrer Macht, trotz ihrer Polizei, trotz ihrer Spione! Ich hasse und bekämpfe nicht den einzelnen Kapitalisten, sondern das System, welches denselben privilegiert. Mein größter Wunsch ist, daß die Arbeiter erkennen mögen, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde sind.

Über meine Verurteilung, welche durch kapitalistischen Einfluß herbeigeführt wurde, habe ich kein Wort zu sagen.


Samuel Fielden
über Sozialismus und Anarchismus

Im Jahre 1868 kam ich in die Vereinigten Staaten. In Ohio habe ich gepredigt, nach Chicago kam ich 1869. Hier, in dieser blühenden und schnell wachsenden Stadt ist kaum eine Straße, die nicht vom Schweiß meiner Arbeit betropft wurde. Lassen Sie mich das sagen: Unter den Anklagen, die hier gegen mich und meine Kameraden erhoben wurden, hat mich nichts so tief gekränkt, als die Behauptung, daß diese Angeklagten die Arbeiter betören, um Geld an ihnen zu machen. Der einzige Mann, der das Gegenteil bezeugen konnte, war ZELLER, der Sekretär der "Central Labor Union"; und es wurde uns hier verweigert, ihn deshalb zu befragen, nur um das Vorurteil gegen uns wach zu halten. Nichts in der Welt wirft ein so schlechtes Licht auf einen Mann, als der Vorwurf, "für Geld" andere hintergangen zu haben. - Wir werden hier von Jury verurteilt, die ihrerseits auch vor einem Gericht steht, das sie verurteilen wird.

Meine Natur zwingt mich, den Dingen auf den Grund zu gehen, und nachdem ich einsehen lernte, daß etwas faul ist in unserem sozialen System, hatte ich bald Gelegenheit, Arbeiterversammlungen beizuwohnen. Ich hörte, ich verglich, ich beobachtete. Ich wußte, daß etwas verkehrt war, aber noch waren meine Ideen nicht reif genug, das Erlösungsmittel zu erkennen. Aber als es in mir tagte, brachte ich der neuen Lehre dieselbe Energie und dieselbe Entschlossenheit entgegen, mit der ich Jahre vorher andere Ideen vertreten hatte. Im Leben eines jeden Menschen gibt es seine Zeit, wo eine sympathische Saite in seinem Innern angeschlagen wird. Das ist das "Sesam, öffne Dich", das überzeugt. Der Boden mag gut vorbereitet, zahlreiche Argumente mögen geltend gemacht sein, doch das Kind ist noch nicht geboren, dem Gedanken fehlt die Form. So ging es mir in meinen politisch-ökonomischen Untersuchungen. Ich sah die Krankheit, aber ich wußte das Heilmittel nicht. Da hörte ich eines Tages in einer Unterhaltung über die Lage der Dinge, über verschiedene Remeduren [Abschaffungen - wp] das Wort "Sozialismus", ich erfuhr, daß Sozialismus "Gleichheit für alle und in allem" bedeutet - und die Saite war berührt, ich wurde Sozialist und lernte täglich mehr und mehr das Wesen desselben kennen. Ich war mir bewußt, das rechte Heilmittel für die Krankheiten der Gesellschaft gefunden zu haben, und sobald ich das wußte, hatte ich auch ein Recht, es zu verkünden. Ich tat das. Die Konstitution der Vereinigten Staaten gibt jedem Mann das Recht, seine Ansichten auszusprechen, wenn es heißt "Das Recht der freien Rede soll nicht geschmälert werden." Ich habe die Prinzipien des Sozialismus, die soziale Wirtschaftslehre verteidigt; deshalb stehe ich hier. Das ist der Grund und kein anderer, darum bin ich zum Tod verurteilt. Was ist Sozialismus? Einem Anderen sein Eigentum wegzunehmen? Man hört wohl Unwissende derartiges sprechen. Nein, das ist es nicht. Soll ich ebenso kurz sein wie unsere Gegner, dann heißt Sozialismus, "verhindern, daß Andere Euch Euer Eigentum nehmen." Sozialismus ist Gleichheit. Der Sozialismus rechnet mit der Tatsache, daß niemand in der Gesellschaft für das, was er ist, verantwortlich gemacht werden kann; er lehrt, daß alle Krankheiten der heutigen Gesellschaft durch die Armut entstehen. Der wissenschaftliche Sozialismus verlangt, daß man dem Übel auf den Grund geht. Jede Statistik der Verbrechen muß zu dem Schluß kommen, daß das Verbrechen überhaupt, wenn gründlich auf seine Herkunft untersucht, seinen Ursprung einzig und allein aus der Armut herleitet.

Man hat mir meine aufreizende Sprache zum Vorwurf gemacht, wenn ich sagte, daß jetzige Gesellschaftssystem würdige die Menschen zum Tier herab. Durchwandern Sie die Stadt, gehen Sie in die gewöhnlichen Logierhäuser, wo die Menschen in einen engen Raum eingepfercht sind, sie eine von Tod und Krankheit geschwängerte Luft atmen, und ich möchte sehen, wie ängstlich Sie Ihr seidenes Kleid, Ihren kostbaren Rock an sich raffen, um diesen Menschen nicht zu nahe zu kommen. Halten Sie es für möglich, daß diese Menschen freiwillig, mit voller Kenntnis ihres Tuns und Lassens einen derartigen Zustand tierischen Daseins gewählt haben? Keiner von ihnen. Sie alle sind das Produkt der Verhältnisse; sie sind durch Geburt und Umstände widerstandslos in eine solche Lage gebracht worden. Wir haben die Mittel, das zu ändern. Was es ist? Nehmen Sie diese Menschen, wenn sie noch Kinder sind, bringen Sie in eine Umgebung, wo sie die besten Früchte der Zivilisation genießen können und sie werden sich niemals freiwillig in eine derartige Lage drängen. Das wäre ja ein schönes Ding für diese Menschen, dürfte der Zyniker uns höhnisch zurufen. Aber die Gesellschaft mit ihrer Fähigkeit, die Existenzmittel in größter Fülle und Schnelligkeit zu produzieren, ist imstande, das zu tun, ohne irgendeinem Einzelnen Unrecht zu tun. Die Reichtümer dieses Landes konnten nur dadurch in einzelne Hände gelangen, indem der andere Teil der Menschheit entwürdigt wurde. Ich behaupte nicht, daß jeder Kapitalist, jeder reiche Mann mit Wissen und Willen und boshafterweise bestrebt war, diesen Zustand herbeizuführen. Aber derselbe existiert, und ich behaupte, daß die Gesellschaft verpflichtet ist, das Übel zu heilen.

Das sind meine Gedanken über den Sozialismus. Das patriotische Gefhl des amerikanischen Volkes ist der Überzeugung, daß es in diesem Land keine Armut geben darf; und dasselbe Gefühl ist in England, Frankreich und Deutschland vorherrschend. Die Klasse, welche noch nicht arm ist, denkt so, und die Klasse, welche bereits arm geworden ist, fängt an zu denken, daß es unter den bestehenden Verhältnissen unmöglich ist, daß das Volk nicht immer noch ärmer und ärmer wird.

Wie kommt es, daß wir an "Überproduktion" kranken, wie kommt es, daß unsere Warenhäuser mit Waren angehäuft sind, während unsere Werkstätten geschlossen, unsere Arbeiter aus Mangel an Arbeit auf die Straße geworfen werden? Ich will Ihnen zeigen, wie sich in Boston innerhalb 40 Jahre die Dinge geändert haben. Als CHARLES DICKENS, ein Mann von scharfer Beobachtungsgabe, vor vierzig Jahren dieses Land besuchte, war das Erscheinen eines Bettlers auf den Straßen Bostons etwas Seltenes, rief es gerade so viel Erstaunen hervor wie die Erscheinung eines Engels mit dem gezückten Schwert.

Eine Bostoner Zeitung erzählt uns im Winter 1884 - 1885, daß es einige Stadtviertel in Boston gibt, wo der Besitz eines Ofens ein aristokratischer Luxus ist und die Armen, welche in der Nachbarschaft leben, bezahlen eine gewisse Pacht an die aristokratischen Ofenbesitzer, ums sich ab und zu die Hände wärmen zu dürfen. Das ist die Veränderung in der Lage der arbeitenden Klasse in vierzig Jahren. Kaum ein Drittel der wirklichen Farmer sind Eigentümer des Grund und Bodens, den sie bebauen. In den letzten 20 Jahren haben im Staate Jllinois die Hypotheken auf Grund und Boden um ein Drittel zugenommen. Ist das nicht genug, um einen denkenden Menschen zu der Frage zu veranlassen, ob da nicht irgendetwas nicht in Ordnung ist? Ja, der Mensch hat das Recht zu fragen, aber um Gotteswillen dürft Ihr nicht glauben, daß der Sozialismus etwas daran ändern könnte. Wer das glaubt, muß aufgehängt werden. Du hast das Recht, zu denken, aber Du wirst bestraft für Deine Schlußfolgerungen.

Im Winter 1884 auf 1885 hat Herr PARSONS das Zeugnis abgegeben, das er am 4. Mai auf dem Heumarkt wiederholte: er erklärte, die soziale Frage sei nicht nur eine europäische, sie sei eine amerikanische Frage, obgleich die patriotischen Demagogen dem Volk vorreden, sie müßten die amerikanische Fahne hochhalten, während sie selbst die Hände in die Tasche stecken und ihre Opfer ausbeuten, obgleich sie diese Frage für eine rein europäische erklärten.

Die nahe Berührung und die Kameradschaft der Nationen, welche die Transport- und Kommunikationserleichterungen von selbst herbeiführen, bringen auch den europäischen und amerikanischen Arbeiter in die nächsten Beziehungen, und ihre Interessen werden in allen Ländern dieselben. Die soziale Frage ist auch eine amerikanische Frage: Der europäische Arbeiter und Lohnherr stehen sich genau in demselben Verhältnis gegenüber wie der amerikanische Arbeiter und Lohngeber.

Im Winter 1884 auf 1885 wurden 210 amerikanische Mädchen im zarten Alter von 14 - 16 Jahren durch eine Schließung der Fabriken in Neu-England aus ihrer Heimat vertrieben und irrten nach einer Zuflucht im Schnee umher, bis sich zuletzt eine große Zahl unzweifelhaft einem Leben der Schande ergeben mußte. Ich behaupte daher an dieser Stelle, daß derjenige, der solche Zustände sieht und nicht begreifen kann, daß uns dieselben einer entsetzlichen Krisis entgegentreiben, blind sein muß. Und wer diese Dinge ansehen kann und dadurch nicht zu Taten angefeuert wird, um solche Zustände zu ändern, ein solcher Mensch hat kein Herz im Busen, der besitzt die Natur eines beutegierigen Tigers.

In der Stadt Chicago arbeiten Kinder im zartesten Alter. Als ich an einem sehr kalten Winterabend 1884 einmal zwei kleinen Mädchen, die sich vor jemandem zu flüchten suchten, begegnete, baten sie mich, mit mir gehen zu dürfen. Ich frage sie, warum. Ein Mann hatte sie verfolgt und ihnen Geld geboten. Weiter fragte ich, warum sie so spät draußen sind; es war 7 Uhr, kalt und Schneegestöber. "Wir haben in dem und dem Laden gearbeitet" - hieß es. Kleine Kinder, fortgerissen vom Busen ihrer Mutter, müssen Geld verdienen! Vielleicht sind ihre Eltern tot. Eine nette Zivilisation, welche eine Witwe nicht davor bewahren will oder kann, ihre Kinder solchen Versuchungen Preis zu geben! Ein Mann, der nicht das Bestreben hat, solche Zustände zu ändern, der ist kein Mensch.

Jedermann, der dieser Frage jemals Aufmerksamkeit gezollt hat, kennt die unumstößliche Tatsache, daß es für ein junges Frauenzimmer, das keinen Gatten, keinen Vater, keinen Bruder hat, der ihr beistehen kann, fast unmöglich ist, ihren Erwerb auf anständige Art zu verdienen. Ein Freund von mir, ein Arbeiter-Agitator und Handwerker, wurde einst von einem jungen Mädchen ersucht, ihr zur Erlangung einer Stellung behilflich zu sein. Er ging zu einem unserer großen Läden. "Ja, wir können ihr eine Stellung geben; aber sie muß sich anständig, geschmackvoll und hübsch kleiden können, muß gut aussehen; dann soll sie in der Woche 3 bis 5 Dollar haben." So liegt die Sache. Und Sie glauben, die Zustände beseitigen zu können, indem sie diejenigen heraussuchen und einkerkern, die gezwungen sind, mit derart äußersten Mitteln ihre Existenz zu fristen, ihre Zuflucht zu nehmen? Nur wenige Punkte erwähne ich, um Ihnen zu zeigen, daß die Arbeitsfrage eine amerikanische Frage ist. Sie ist  die  Frage des 19. Jahrhunderts.
LITERATUR: Albert Richard Parsons, Anarchismus - seine Philosophie und wissenschaftliche Grundlage, Chicago 1887