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WLADIMIR ILJITSCH LENIN
(1870-1924)
Staat und Revolution

"Die in Jahrzehnten einer verhältnismäßig friedlichen Entwicklung angesammelten Elemente des Opportunismus haben die in den offiziellen sozialistischen Parteien der ganzen Welt herrschende Strömung des Sozialchauvinismus geschaffen. Diese Strömung - Sozialismus in Worten, Chauvinismus in der Tat - ist gekennzeichnet durch die niederträchtige, lakaienhafte Anpassung der Führer des Sozialismus an die Interessen nicht nur ihrer nationalane Bourgeosie, sondern namentlich auch ihres Staates, denn die meisten sogenannten Großmächte beuten seit langem eine ganze Reihe kleiner und schwacher Völkerschaften aus und unterjochen sie."

"Alle [sogenannten] Sozialrevolutionäre und Menschewiki sind mit einem Schlag gänzlich zur kleinbürgerlichen Theorie der Versöhnung der Klassen durch den Staat herabgesunken. Die zahllosen Resolutionen und Artikel der Politiker dieser beiden Parteien sind völlig von dieser kleinbürgerlichen und philisterhaften Theorie der Versöhnung durchdrungen. Daß der Staat das Organ der Herrschaft einer bestimmten Klasse ist, die mit ihrem Antipoden (der ihr entgegengesetzten Klasse) nicht versöhnt werden kann, das vermag die kleinbürgerliche Demokratie nie zu begreifen. Das Verhältnis zum Staat ist eines der anschaulischsten Zeugnisse dafür, daß unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki gar keine Sozialisten sind (was wir Bolschewiki schon immer nachgewiesen haben), sondern kleinbürgerliche Demokraten mit einer beinahe-sozialistischen Phraseologie."

"Beamtentum und stehendes Heer, das sind die Schmarotzer am Leib der bürgerlichen Gesellschaft, Schmarotzer, die aus den inneren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben Parasiten, die die Lebensporen verstopfen. Der jetzt in der offiziellen Sozialdemokratie herrschende kautskyanische Opportunismus hält die Anschauung, die im Staat einen parasitären Organismus erblickt, für ein besonderes und ausschließliches Attribut des Anarchismus. Diese Entstellung des Marxismus paßt natürlich den Kleinbürgern ausgezeichnet."


Vorwort zur ersten Auflage

Die Frage des Staates gewinnt gegenwärtig besondere Bedeutung sowohl in theoretischer als auch in praktisch-politischer Hinsicht. Der imperialistische Krieg hat den Prozeß der Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in staatsmonopolistischen Kapitalismus außerordentlich beschleunigt und verschärft. Die ungeheuerliche Knechtung der werktätigen Massen durch den Staat, der immer inniger mit den allmächtigen Kapitalistenverbänden verschmilzt, wird immer ungeheuerlicher. Die fortgeschrittenen Länder verwandeln sich - wir sprechen von ihrem "Hinterland" - in Militärzuchthäuser für die Arbeiter.

Die unerhörten Greuel und Unbilden des sich in die Länge ziehenden Krieges machen die Lage der Massen unerträglich und steigern ihre Empörung. Sichtbar reift die internationale proletarische Revolution heran. Die Frage nach ihrem Verhältnis zum Staat gewinnt praktische Bedeutung.

Die in Jahrzehnten einer verhältnismäßig friedlichen Entwicklung angesammelten Elemente des Opportunismus haben die in den offiziellen sozialistischen Parteien der ganzen Welt herrschende Strömung des Sozialchauvinismus geschaffen. Diese Strömung (PLECHANOW, POTRESSOW, BRESCHKOWSKAJA, RUBANOWITSCH und Co. in Rußland; SCHEIDEMANN, LEGIEN, DAVID u. a. in Deutschland; RENAUDEL, GUESDE, VANDERVELDE in Frankreich und Belgien; HYNDMAN und die Fabier in England usw. usf.) - Sozialismus in Worten, Chauvinismus in der Tat - ist gekennzeichnet durch die niederträchtige, lakaienhafte Anpassung der "Führer des Sozialismus" an die Interessen nicht nur "ihrer" nationalane Bourgeosie, sondern namentlich auch "ihres" Staates, denn die meisten sogenannten Großmächte beuten seit langem eine ganze Reihe kleiner und schwacher Völkerschaften aus und unterjochen sie. Der imperialistische Krieg ist ja gerade ein Krieg um die Teilung und Neuverteilung dieser Art von Beute. Der Kampf um die Befreiung der werktätigen Massen vom Einfluß der Bourgeoisie im allgemeinen und der imperialistischen Bourgeoisie im besonderen ist ohne Bekämpfung der opportunistischen Vorurteile in Bezug auf den "Staat" unmöglich.

Wir betrachten zunächst die Lehre von MARX und ENGELS vom Staat und wollen besonders eingehend bei den in Vergessenheit geratenen oder opportunistisch entstellten Seiten dieser Lehre verweilen. Dann werden wir uns insbesondere mit dem Hauptvertreter dieser Entstellungen befassen, mit KARL KAUTSKY, dem bekanntesten Führer der II. Internationale (1889-1914), die in diesem Krieg einen so jämmerlichen Bankrott erlitten hat. Schließlich werden wir die Hauptergebnisse der Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 und besonders der von 1917 zusammenfassen. Die letztere schließt anscheinend gegenwärtig (Anfang August 1917) die erste Phase ihrer Entwicklung ab, jedoch kann diese ganze Revolution überhaupt nur verstanden werden als ein Glied in der Kette der sozialistischen proletarischen Revolutionen, die durch den imperialistischen Krieg hervorgerufen werden. Die Frage des Verhältnisses der sozialistischen Revolution des Proletariats zum Staat gewinnt somit nicht nur eine praktisch-politische, sondern auch eine höchst aktuelle Bedeutung als eine Frage der Aufklärung der Massen darüber, was sie zu ihrer Befreiung vom Joch des Kapitals in der nächsten Zukunft zu tun haben.


I. Kapitel
Klassengesellschaft und Staat

1. Der Staat - ein Produkt der
Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze

Mit der Lehre von MARX geschieht jetzt dasselbe, was in der Geschichte wiederholt mit den Lehren revolutionärer Denker und Führer der unterdrückten Klassen in ihrem Befreiungskampf geschah. Die großen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütendstem Haß begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tod versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem  Namen  einen gewissen Ruhm zu zur "Tröstung" und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des  Inhalts  beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert. Bei einer solchen "Bearbeitung" des Marxismus findet sich jetzt die Bourgeoisie mit den Opportunisten innerhalb der Arbeiterbewegung zusammen. Man vergißt, verdrängt und entstellt die revolutionäre Seite der Lehre, ihren revolutionären Geist. Man schiebt in den Vordergrund, man rühmt das, was für die Bourgeoisie annehmbar ist oder annehmbar erscheint. Alle Sozialchauvinisten sind heutzutage "Marxisten" - Spaß beiseite! Und immer häufiger sprechen deutsche bürgerliche Gelehrte, deren Spezialfach gestern noch die Ausrottung des Marxismus war, vom "nationaldeutschen" MARX, der die zur Führung des Raubkrieges so glänzend organisierten Arbeiterverbände erzogen haben soll!

Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster Linie in der  Wiederherstellung  der wahren MARXschen Lehre vom Staat. Dazu wird es notwendig sein, eine ganze Reihe langer Zitate aus den Werken von MARX und ENGELS selbst anzuführen. Gewiß, die langen Zitate werden die Darstellung schwerfällig machen und ihrer Gemeinverständlichkeit keineswegs förderlich sein. Es ist aber absolut unmöglich, ohne sie auszukommen. Alle oder zumindest alle entscheidenden Stellen aus den Werken von MARX und ENGELS über die Frage des Staates müssen unbedingt möglichst vollständig angeführt werden, damit sich der Leser ein selbständiges Urteil bilden kann über die gesamten Auffassungen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und über die Entwicklung dieser Auffassungen, dann aber auch, um deren Entstellung durch das heute herrschende "Kautskyanertum" dokumentarisch nachzuweisen und anschaulich vor Augen zu führen.

Wir beginnen mit dem verbreitetsten Werk von FRIEDRICH ENGELS: "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", das 1894 in Stuttgart bereits in sechster Auflage erschienen ist. Wir sind gezwungen, die Zitate selber aus dem deutschen Original zu übersetzen, da die russischen Übersetzungen, so zahlreich sie sind, zum größten Teil entweder unvollständig oder äußerst unbefriedigend sind.
    "Der Staat", sagt  Engels  bei der Zusammenfassung seiner geschichtlichen Analyse, "ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er  die Wirklichkeit der sittlichen Idee, das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft,  wie  Hegel  behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in einem fruchtlosen Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der  Ordnung  halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat." (Seite 177/178 der sechsten deutschen Auflage)
Hier ist mit voller Klarheit der Grundgedanke des Marxismus über die historische Rolle und die Bedeutung des Staates zum Ausdruck gebracht. Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der  Unversöhnlichkeit  der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätze objektiv  nicht  versöhnt werden  können.  Und umgekehrt: Das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind.

Gerade in diesem wichtigsten und grundlegenden Punkt beginnt die Entstellung des Marxismus, die in zwei Hauptlinien verläuft.

Auf der einen Seite pflegen bürgerliche und besonders kleinbürgerliche Ideologen - die sich unter dem Druck unbestreitbarer geschichtlicher Tatsachen gezwungen sehen, anzuerkennen, daß der Staat nur dort vorhanden ist, wo es Klassengegensätze und Klassenkampf gibt - MARX in der Weise "zu verbessern", daß der Staat sich als Organ der Klassen versöhnung  erweist. Nach MARX hätte der Staat weder entstehen noch bestehen können, wenn eine Versöhnung der Klassen möglich wäre. Bei den kleinbürgerlichen und philisterhaften Professoren und Publizisten kommt es - oft unter wohlwollenden Hinweisen auf MARX! - so heraus, daß der Staat gerade die Klassen versöhnt. Nach MARX ist der Staat ein Organ der Klassen herrschaft,  ein Organ zur  Unterdrückung  der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen "Ordnung", die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft. Nach Ansicht der kleinbürgerlichen Politiker ist die Ordnung gerade die Versöhnung der Klassen und nicht die Unterdrückung der einen Klasse durch die andere; den Konflikt dämpfen bedeutet versöhnen und nicht, es den unterdrückten Klassen unmöglich machen, bestimmte Mittel und Methoden des Kampfes zum Sturz der Unterdrücker zu gebrauchen.

Alle Sozialrevolutionäre und Menschewiki zum Beispiel sind während der Revolution 1917, als sich die Frage nach der Bedeutung und der Rolle des Staates gerade in ihrer ganzen Größe erhob, sich praktisch erhob als Frage der sofortigen Aktion, und zudem der Massenaktion - alle sind sie mit einem Schlag gänzlich zur kleinbürgerlichen Theorie der "Versöhnung" der Klassen durch den "Staat" herabgesunken. Die zahllosen Resolutionen und Artikel der Politiker dieser beiden Parteien sind völlig von dieser kleinbürgerlichen und philisterhaften Theorie der "Versöhnung" durchdrungen. Daß der Staat das Organ der Herrschaft einer bestimmten Klasse ist, die mit ihrem Antipoden (der ihr entgegengesetzten Klasse)  nicht  versöhnt werden  kann,  das vermag die kleinbürgerliche Demokratiewbecker_demokratie.html nie zu begreifen. Das Verhältnis zum Staat ist eines der anschaulischsten Zeugnisse dafür, daß unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki gar keine Sozialisten sind (was wir Bolschewiki schon immer nachgewiesen haben), sondern kleinbürgerliche Demokraten mit einer beinahe-sozialistischen Phraseologie.

Auf der anderen Seite ist die "kautskyanische" Entstellung des Marxismus viel feiner. "Theoretisch" wird weder in Abrede gestellt, daß der Staat ein Organ der Klassenherrschaft ist noch daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind. Außer acht gelassen oder vertuscht wird aber folgendes: Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine  über  der Gesellschaft stehende und "sich ihr  mehr und mehr entfremdende"  Macht ist, so ist es klar, daß die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist nicht nur ohne gewaltsame Revolution,  sondern auch ohne Vernichtung  des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese "Entfremdung" verkörpert. Diese theoretisch von selbst einleuchtende Schlußfolgerung hat MARX, wie wir weiter unten sehen werden, aufgrund einer konkreten historischen Analyse der Aufgaben der Revolution mit größter Bestimmtheit gezogen. Und gerade diese Schlußfolgerung hat KAUTSKY, wir werden das ausführlich in unserer weiteren Darlegung nachweisen, ... "vergessen" und entstellt.


2. Besondere Formationen
bewaffneter Menschen, Gefängnisse u. a.

"Gegenüber der alten Gentilorganisation", fährt ENGELS fort, "kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet."

Uns kommt diese Einteilung "natürlich" vor, sie hat aber einen langwierigen Kampf gegen die alte Organisation nach Geschlechtern und Stämmen erfordert.
    "Das zweite ist die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondere, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen ... Diese öffentliche Gewalt existiert in jedem Staat; sie besteht nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art, von denen die Gentilgesellschaft nichts wußte."
ENGELS entwickelt nun den Begriff jener "Macht", die man als Staat bezeichnet, der Macht, die aus der Gesellschaft hervorgegangen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr entfremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderen Formationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben.

Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentliche Gewalt "nicht mehr unmittelbar zusammenfällt" mit der bewaffneten Bevölkerung, mit ihrer "selbsttätigen bewaffneten Organisation".

Wie alle großen revolutionären Denker sucht ENGELS die Aufmerksamkeit der klassenbewußten Arbeiter gerade auf das zu lenken, was dem herrschenden Spießertum am wenigsten beachtenswert, am gewohntesten erscheint, auf das, was nicht nur durch fest eingewurzelte, sondern man kann sagen, durch verknöcherte Vorurteile geheiligt ist. Das stehende Heer und die Polizei sind die Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber - kann denn das anders sein?

Vom Standpunkt der ungeheuren Mehrheit der Europäer am Ausgang des 19. Jahrhunderts, an die sich ENGELS wandte und die keine einzige große Revolution selbst miterlebt oder aus der Nähe beobachtet hatten, kann das nicht anders sein. Für sie ist es völlig unverständlich, was das für eine "selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung" ist. Auf die Frage, warum besondere, über die Gesellschaft gestellte und sich ihr entfremdende Formationen bewaffneter Menschen (Polizei, stehendes Heer) nötig geworden seien, ist der westeuropäische und der russische Philister geneigt, mit ein paar bei SPENCER oder MICHAILOWSKI entlehnten Phrasen zu antworten, auf die Komplizierung des öffentlichen Lebens, die Differenzierung der Funktionen und dgl. hinzuweisen.

Ein solcher Hinweis hat den Anschein der "Wissenschaftlichkeit" und schläfert den Spießbürger vortrefflich ein, da er das Wichtigste und Grundlegende vertuscht: die Spaltung der Gesellschaft in einander unversöhnlich feindliche Klassen.

Ohne diese Spaltung würde sich die "selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung" zwar durch ihre Kompliziertheit, die Höhe ihrer Technik usw. von der primitiven Organisation der mit Baumästen bewaffneten Affenherde oder der des Urmenschen oder der in der Gentilgesellschaft zusammengeschlossenen Menschen unterscheiden, aber eine derartige Organisation wäre möglich.

Sie ist unmöglich, weil die zivilisierte Gesellschaft in feindliche und noch dazu unversöhnlich feindliche Klassen gespalten ist, deren "selbsttätige" Bewaffnung zu einem bewaffneten Kampf unter ihnen führen würde. Es bildet sich der Staat heraus, es wird eine besondere Macht geschaffen, besondere Formationen bewaffneter Menschen entstehen, und jede Revolution, die den Staatsapparat zerstört, zeigt uns sehr deutlich, wie die herrschende Klasse die  ihr  dienenden besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu erneuern sucht und wie die unterdrückte Klasse danach strebt, eine neue Organisation dieser Art zu schaffen, die fähig ist, nicht den Ausbeutern, sondern den Ausgebeuteten zu dienen.

ENGELS wirft in der angeführten Betrachtung theoretisch dieselbe Frage auf, die uns jede große Revolution in der Praxis anschaulich un zudem im Ausmaß der Massenaktion stellt, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den "besonderen" Formationen bewaffneter Menschen und der "selbsttätigen bewaffneten Organisation der Bevölkerung". Wir werden sehen, wie diese Frage durch die Erfahrungen der europäischen und der russischen Revolutionen konkret illustriert wird.

Doch kehren wir zur Darstellung von ENGELS zurück.

Er weist darauf hin, daß zuweilen, zum Beispiel hier und dort in Nordamerika, diese öffentliche Gewalt schwach ist (es handelt sich um eine für die kapitalistische Gesellschaft seltene Ausnahme und um diejenigen Teile Nordamerikas in seiner vorimperialistischen Periode, wo der freie Kolonist vorherrschte), daß sie sich aber, allgemein gesprochen, verstärkt:
    "Sie" (die öffentliche Gewalt) "verstärkt sich aber in dem Maß, wie die Klassengegensätze innerhalb des Staates sich verschärfen und wie die einander begrenzenden Staaten größer und volkreicher werden - man sehe nur unser heutiges Europa an, wo Klassenkampf und Eroberungskonkurrenz die öffentliche Macht auf eine Höhe emporgeschraubt haben, auf der sie die ganze Gesellschaft und selbst den Staat zu verschlingen droht."
Das ist nicht später als Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben worden. Das letzte Vorwort von ENGELS datiert vom 16. Juni 1891. Damals nahm die Wendung zum Imperialismus - sowohl im Sinne der völligen Herrschaft der Trusts und der Allmacht der größten Banken als auch im Sinne einer grandiosen Kolonialpolitik usw. - in Frankreich gerade erst ihren Anfang, noch schwächer war sie in Nordamerika und in Deutschland. Seitdem hat die "Eroberungskonkurrenz" Riesenschritte vorwärts getan, umso mehr, als zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts der Erdball endgültig unter diese "konkurrierenden Eroberer", d. h. die räuberischen Großmächte, aufgeteilt war. Seit dieser Zeit sind die Rüstungen zu Lande und zu Wasser ins Ungeheure gewachsen, und der Raubkrieg 1914-1917 um die Beherrschung der Welt durch England oder Deutschland, um die Teilung der Beute hat das "Verschlingen" aller Kräfte der Gesellschaft durch die räuberische Staatsmacht in einem solchen Maß gesteigert, daß eine völlige Katastrophe naht.

ENGELS vermochte schon 1891 auf die "Eroberungskonkurrenz" als auf eines der wichtigsten Merkmale der Außenpolitik der Großmächte hinzuweisen; doch in den Jahren 1914-1917, als gerade diese um ein vielfaches verschärfte Konkurrenz den imperialistischen Krieg hervorgerufen hat, bemänteln die Halunken des Sozialchauvinismus die Verteidigung der Raubinteressen "ihrer" Bourgeoisie mit Phrasen über "Verteidigung des Vaterlandes", über "Schutz der Republik und der Revolution" und dgl. mehr!


3. Der Staat - ein Werkzeug zur
Ausbeutung der unterdrückten Klasse

Zur Aufrechterhaltung einer besonderen, über der Gesellschaft stehenden öffentlichen Gewalt sind Steuern und Staatsschulden nötig.
    "Im Besitz der öffentlichen Gewalt und des Rechts der Steuereintreibung", schreibt  Engels,  "stehen die Beamten nun da als Organe der Gesellschaft  über  der Gesellschaft. Die freie, willige Achtung, die den Organen der Gentilverfassung gezollt wurde, genügt ihnen nicht, selbst wenn sie sie haben könnten ..." Es werden Ausnahmegesetze über die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der Beamten geschaffen. Der lumpigste Polizeidiener ... hat mehr  Autorität  als alle Organe der Gentilgesellschaft zusammengenommen; aber der mächtigste Fürst und der größte Staatsmann oder Feldherr der Zivilisation kann den geringsten Gentilsvorsteher beneiden um die unerzwungene und unbestrittene Achtung, die ihm gezollt wird."
Hier wird die Frage nach der privilegierten Stellung der Beamten als Organe der Staatsgewalt aufgeworfen. Als das Grundlegende wird hervorgehoben: Was stellt sie  über  die Gesellschaft? Wir werden sehen, wie die Pariser Kommune 1871 diese theoretische Frage praktisch zu lösen suchte und wie KAUTSKY sie 1912 reaktionär vertuschte.
    "Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die mittels seiner auch politisch herrschenden Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse."
Nicht nur der antike und der Feudalstaat waren Organe zur Ausbeutung der Sklaven und leibeigenen und hörigen Bauern, sondern es ist auch
    "der moderne  Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeutung  der Lohnarbeit durch das Kapital. Ausnahmsweise kommen jedoch Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält."
So die absolute Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts, so der Bonapartismus des ersten und des zweiten Kaiserreichs in Frankreich, so BISMARCK in Deutschland.

Und so - fügen wir von uns hinzu - die Regierung KERENSKI im republikanischen Rußland, nachdem sie dazu übergegangen ist, das revolutionäre Proletariat zu verfolgen, in einem Moment, da die Sowjets infolge der Führung der kleinbürgerlichen Demokraten  schon  machtlos sind und die Bourgeoisie  noch  nicht stark genug ist, um sie ohne weiteres auseinanderzujagen.

"In der demokratischen Republik", fährt  Engels  fort, "übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber umso sicherer aus", und zwar erstens durch die "direkte Beamtenkorruption" (Amerika) und zweitens durch die "Allianz von Regierung und Börse" (Frankreich und Amerika).

Heute haben Imperialismus und Herrschaft der Banken diese beiden Methoden, die Allmacht des Reichtums in jeder beliebigen demokratischen Republik zu behaupten und auszuüben, zu einer außergewöhnlichen Kunst "entwickelt". Wenn beispielsweise schon in den ersten Monaten der demokratischen Republik Rußland, sozusagen im Honigmond des Ehebundes der "Sozialisten" - der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki - mit der Bourgeoisie, Herr PALTSCHINSKI in der Koalitionsregierung alle Maßnahmen zur Zügelung der Kapitalisten und ihrer Raubgier, ihrer Plünderung der Staatskasse durch Heereslieferungen, sabotierte, wenn dann der aus dem Ministerium ausgetretene PALTSCHINSKI (der natürlich durch einen anderen, ebensolchen PALTSCHINSKI ersetzt worden ist) von den Kapitalisten durch ein Pöstchen mit einem Gehalt von 120 000 Rubel jährlich "belohnt" wurde - wie nennt man das dann? Direkte Korruption oder indirekte? Allianz der Regierung mit den Syndikaten oder "nur" freundschaftliche Beziehungen? Welche Rolle spielen die TSCHERNOW und ZERETELI, die AWKSENTJEW und SKOBELEW? Sind sie "direkte" Bundesgenossen der Millionäre, die den Staat bestehlen oder nur indirekte?

Die Allmacht des "Reichtums" ist in der demokratischen Republik deshalb  sicherer,  weil sie nicht von einzelnen Mängeln des politischen Mechanismus, von einer schlechten politischen Hülle des Kapitalismus abhängig ist. Die demokratische Republik ist die denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus, und daher begründet das Kapital, nachdem es (durch die PALTSCHINSKI, TSCHERNOW, ZERETELI und CO.) von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat, seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, daß  kein  Wechseln, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann.

Es muß noch hervorgehoben werden, daß ENGELS mit größter Entschiedenheit das allgemeine Stimmrecht als Werkzeug der Herrschaft der Bourgeoisie bezeichnet. Das allgemeine Stimmrecht, sagt er unter offensichtlicher Berücksichtigung der langjährigen Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie, ist
    "... der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse. Mehrkann und wird es nie sein im heutigen Staat ..."
Die kleinbürgerlichen Demokraten vom Schlag unserer Sozialrevolutionäre und Menschewiki sowie ihre leiblichen Brüder, alle Sozialchauvinisten und Opportunisten Westeuropas, erwarten eben vom allgemeinen Stimmrecht "mehr". Sie sind in dem falschen Gedanken befangen und suggerieren ihn dem Volk, das allgemeine Stimmrecht sei "im  heutigen  Staat" imstande, den Willen der Mehrheit der Werktätigen wirklich zum Ausdruck zu bringen und seine Realisierung zu sichern.

Wir können hier diesen falschen Gedanken nur anführen, nur darauf hinweisen, daß die vollkommen klare, genaue, konkrete Erklärung von ENGELS in der Propaganda und Agitation der "offiziellen" (d. h. opportunistischen) sozialistischen Parteien auf Schritt und Tritt entstellt wird. Wie völlig falsch dieser Gedanke ist, den ENGELS hier verwirft, wird in unseren weiteren Darlegungen der Auffassungen von MARX und ENGELS über den  "heutigen"  Staat ausführlich klargelegt.

ENGELS faßt seine Auffassungen in seinem populärsten Werk in folgenden Worten zusammen:
    "Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung hatten. Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit Spatung der Gesellschaft in Klassen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird. Sie werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt."
Man trifft dieses Zitat in der Propaganda- und Agitationsliteratur der heutigen Sozialdemokratie nicht oft an. Aber selbst dann, wenn dieses Zitat vorkommt, gebraucht man es meistenteils so, als machte man eine Verbeugung vor einem Heiligenbild, d. h. als offizielle Bekundung der Ehrerbietung vor ENGELS, ohne jeden Versuch, zu erfassen, einen wie weittragenden und tiefgreifenden Aufschwung der Revolution dieses "Versetzen der ganzen Staatsmaschine ins Museum der Altertümer" voraussetzt. Meistenteils fehlt sogar das Verständnis für das, was ENGELS als Staatsmaschine bezeichnet.


4. Das "Absterben" des Staates und
die gewaltsame Revolution

Die Worte ENGELS' über das "Absterben" des Staates sind weit und breit so bekannt, sie werden so oft zitiert, zeigen so plastisch, worin die Quintessenz der landläufigen Verfälschung des Marxismus zum Opportunismus besteht, daß es geboten erscheint, eingehend bei ihnen zu verweilen. Wir zitieren die ganze Betrachtung, der sie entnommen sind:
    "Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heißt eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebenen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unserer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren [unterdrücken - wp], das eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machen würde. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft -, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht  abgeschafft, er stirbt ab.  Hieran ist die Phrase vom  freien  Volksstaat zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agitatorischen Berechtigung wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heut auf morgen abgeschafft werden." - "Anti-Dühring", Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, dritte deutsche Auflage, Seite 301-303
Ohne zu fürchten fehlzugehen, darf man sagen, daß von dieser wunderbar gedankenreichen ENGELS'schen Betrachtung nur so viel wirkliches Gemeingut des sozialistischen Denkens in den heutigen sozialistischen Parteien geworden ist, daß der Staat nach MARX "abstirbt", im Unterschied zur anarchistischen Lehre von der "Abschaffung" des Staates. Den Marxismus so zurechtzustutzen heißt ihn zu Opportunismus herabmindern, denn bei einer solchen "Auslegung" bleibt nur die vage Vorstellung von einer langsamen, gleichmäßigen, allmählichen Veränderung übrig, als gebe es keine Sprünge und Stürme, als gebe es keine Revolution. Das "Absterben" des Staates im landläufigen, allgemein verbreiteten Sinn, im Massensinn, wenn man so sagen darf, bedeutet zweifellos eine Vertuschung, wenn nicht gar eine Verneinung der Revolution.

Indessen bedeutet eine solche "Auslegung" die gröbste, nur für die Bourgeoisie vorteilhafte Entstellung des Marxismus, die theoretisch auf dem Außerachtlassen der wichtigsten Umstände und Erwägungen beruth, wie sie allein schon in der gleichen, von uns vollständig zitierten "zusammenfassenden" Betrachtung von ENGELS dargelegt sind.

Erstens.  Ganz zu Anfang dieser Betrachtung sagt ENGELS, daß das Proletariat, indem es die Staatsgewalt ergreift, "den Staat als Staat aufhebt". Darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hat, ist "nicht üblich". Gewöhnlich wird dies entweder ganz ignoriert oder für eine Art "hegelianische Schwäche" von ENGELS gehalten. In Wirklichkeit drücken dies e Wort kurz die Erfahrungen einer der größten proletarischen Revolutionen, die Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 aus, worüber an entsprechender Stelle ausführlicher gesprochen werden soll. In Wirklichkeit spricht ENGELS hier von der "Aufhebung" des Staates der  Bourgeoisie  durch die proletarische Revolution, während sich die Worte vom Absterben auf die Überreste des  proletarischen  Staatswesens  nach  der sozialistischen Revolution beziehen. Der bürgerliche Staat "stirbt" nach ENGELS nicht "ab", sondern er wird in der Revolution vom Proletariat  "aufgehoben".  Nach dieser Revolution stirbt der proletarische Staat oder Halbstaat ab.

Zweitens.  Der Staat ist "eine besondere Repressionsgewalt". Diese großartige und überaus tiefe Definition legt ENGELS hier ganz klar und eindeutig dar. Aus ihr folgt aber, daß die "besondere Repressionsgewalt" der Bourgeoisie gegen das Proletariat, einer Handvoll reicher Leute gegen die Millionen der Werktätigen, abgelöst werden muß durch eine "besondere Repressionsgewalt" des Proletariats gegen die Bourgeosie (die Diktatur des Proletariats). Darin eben besteht die "Aufhebung des Staates als Staat". Darin eben besteht der "Akt" der Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft. Und es ist ohne weiteres klar, daß eine  solche  Ablösung der einen (bürgerlichen) "besonderen Gewalt" duch eine andere (proletarische) "besondere Gewalt" unter keinen Umständen in Form des "Absterbens" erfolgen kann.

Drittens.  Vom "Absterben" und noch plastischer und bildhafter vom "Einschlafen" spricht ENGELS ganz klar und eindeutig in Bezug auf die Epoche  nach  der "Besitzergreifung der Produktionsmittel durch den Staat im Namen der ganzen Gesellschaft", d. h.  nach  der sozialistischen Revolution. Wir wissen alle, daß die politische Form des "Staates" in dieser Zeit die vollkommenste Demokratie ist. Doch keinem der Opportunisten, die den Marxismus schamlos verzerren, kommt es in den Sinn, daß hier bei ENGELS somit vom "Einschlafen" und "Absterben" der  Demokratie  die Rede ist. Auf den ersten Blick mag das sehr sonderbar erscheinen. Doch "unverständlich" bleibt das nur dem, der nicht bedacht hat, daß die Demokratie  auch  ein Staat ist und daß folglich auch die Demokratie verschwinden wird, sobald der Staat verschwindet. Den bürgerlichen Staat kann nur die Revolution "aufheben". Der Staat überhaupt, d. h. die vollkommenste Demokratie, kann nur "absterben".

Viertens.  Nachdem ENGELS seinen berühmten Satz "Der Staat stirbt ab" aufgestellt hat, erläutert er sofort konkret, daß dieser Satz sich sowohl gegen die Opportunisten als auch gegen die Anarchisten richtet. Dabei steht bei ENGELS an erster Stelle diejenige Folgerung aus dem Satz vom "Absterben des Staates", die gegen die Opportunisten gerichtet ist.

Man könnte wetten, daß von 10 000 Menschen, die vom "Absterben" des Staates gelesen oder gehört haben, 9990 überhaupt nicht wissen oder sich nicht entsinnen, daß ENGELS seine Schlußfolgerungen aus diesem Satz  nicht nur  gegen die Anarchisten richtete. Und von den übrigen zehn Menschen wissen neun sicherlich nicht, was der "freie Volksstaat" ist und warum im Angriff auf diese Losung ein Angriff auf die Opportunisten steckt. So wird Geschichte geschrieben! So wird die große revolutionäre Lehre unmerklich dem herrschenden Spießbürgertum angepaßt. Die Schlußfolgerung gegen die Anarchisten wurde Tausende Male wiederholt, banalisiert und möglichst versimpelt in die Köpfe eingehämmert und gewann die Festigkeit eines Vorurteils. Die Schlußfolgerung gegen die Opportunisten aber wurde vertuscht und "vergessen"!

Der "freie Volksstaat" war eine Programmforderung und landläufige Losung der deutschen Sozialdemokraten der siebziger Jahre. Irgendeinen politischen Inhalt, außer einer kleinbürgerlich schwülstigen Umschreibung des Begriffs  Demokratie,  hat diese Losung nicht. Soweit in ihr legal die demokratische Republik angedeutet wurde, war ENGELS bereit, aus agitatorischen Gründen "zeitweilig" die "Berechtigung" dieser Losung gelten zu lassen. Diese Losung war aber opportunistisch, denn sie brachte nicht nur eine Beschönigung der bürgerlichen Demokratie, sondern auch ein Verkennen der sozialistischen Kritik an jedwedem Staat überhaupt zum Ausdruck. Wir sind für die demokratische Republik als die für das Proletariat unter dem Kapitalismus beste Staatsform, aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch in der allerdemokratischsten bürgerlichen Republik Lohnsklaverei das Los des Volkes ist. Ferner. Jedweder Staat ist "eine besondere Repressionsgewalt" gegen die unterdrückte Klasse. Darum ist ein  jeder  Staat  un frei und  kein  Volksstaat. MARX und ENGELS haben das ihren Parteigenossen in den siebziger Jahren wiederholt auseinandergesetzt.

Fünftens.  Im gleichen Werk von ENGELS, in dem die Betrachtung über das Absterben des Staates enthalten ist - an die sich alle erinnern -, finden sich Ausführungen über die Bedeutung der gewaltsamen Revolution. Die geschichtliche Bewertung ihrer Rolle wird bei ENGELS zu einer wahren Lobrede auf die gewaltsame Revolution. Dessen "erinnert sich niemand"; über die Bedeutung dieses Gedankens zu reden, ja auch nur nachzudenken, ist in den heutigen sozialistischen Parteien nicht üblich, in der täglichen Propaganda und Agitation unter den Massen spielen diese Gedanken gar keine Rolle. Sie sind jedoch mit dem "Absterben" des Staates untrennbar zu einem harmonischen Ganzen verbunden.

Hier diese Ausführungen von ENGELS:
    "Daß die Gewalt aber noch eine andere Rolle" (als die einer Vollbringerin des Bösen) "in der Geschichte spielt, eine revolutionäre Rolle, daß sie in  Marx ' Worten, die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht, daß sie das Werkzeug ist, womit sich die gesellschaftliche Bewegung durchsetzt und erstarrte, abgestorbene politische Formen zerbricht - davon kein Wort bei Herrn  Dühring.  Nur unter Seufzen und Stöhnen gibt er die Möglichkeit zu, daß zum Sturz der Ausbeutungswirtschaft vielleicht Gewalt nötig sein wird - leider! denn jede Gewaltanwendung demoralisiert den, der sie anwendet. Und das angesichts des hohen moralischen und geistigen Aufschwungs, der die Folge jeder siegreichen Revolution war! Und das in Deutschland, wo ein gewaltsamer Zusammenstoß, der dem Volk ja aufgenötigt werden kann, wenigstens den Vorteil hätte, die aus der Erniedrigung des Dreißigjährigen Krieges in das nationale Bewußtsein gedrungene Bedientenhaftigkeit auszutilgen. Und diese matte, saft- und kraftlose Predigerdenkweise macht den Anspruch, sich der revolutionärsten Partei aufzudrängen, die die Geschichte kennt?" (Seite 193, dritte deutsche Auflage, Schluß des IV. Kapitels, Zweiter Abschnitt)
Wie läßt sich diese Lobrede auf diese gewaltsame Revolution, die ENGELS beharrlich von 1878 bis 1894, d. h. bis zu seinem Tod, den deutschen Sozialdemokraten darbot, mit der Theorie vom "Absterben" des Staates in einer Lehre vereinen?

Gewöhnlich vereint man beides mit Hilfe des Eklektizismus, eines ideenlosen oder sophistischen Herausgreifens willkürlich (oder den Machthabern zu Gefallen) bald der einen, bald der anderen Betrachtung, wobei in 99 von 100 Fällen, wenn nicht noch öfter, gerade das "Absterben" in den Vordergrund geschoben wird. Die Dialektik wird durch Eklektizismus ersetzt. Das ist, was den Marxismus anbelangt, die allgemein übliche, am weitesten verbreitete Erscheinung in der offiziellen sozialdemokratischen Literatur unserer Tage. Ein solches Ersetzen ist natürlich nichts Neues, es war sogar in der Geschichte der klassischen griechischen Philosophie zu beobachten. Bei der Verfälschung des Marxismus in Opportunismus pflegt die Verfälschung der Dialektik in Eklektizismus die Massen am leichtesten zu täuschen, sie gewährt eine scheinbare Befriedigung, berücksichtigt scheinbar alle Seiten des Prozesses, alle Entwicklungstendenzen, alle widerspruchsvollen Einflüsse usw., während sie in Wirklichkeit gar keine einheitliche, keine revolutionäre Auffassung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses gibt.

Wir haben schon oben davon gesprochen und werden in der weiteren Darstellung ausführlicher zeigen, daß die Lehre von MARX und ENGELS von der Unvermeidlichkeit der gewaltsamen Revolution sich auf den bürgerlichen Staat bezieht. Dieser  kann  durch den proletarischen Staat (die Diktatur des Proletariats)  nicht  auf dem Weg des "Absterbens" abgelöst werden, sondern, als allgemeine Regel, nur durch eine gewaltsame Revolution. Die Lobrede, die ENGELS auf die gewaltsame Revolution hält und die den vielfachen Erklärungen von MARX durchaus entspricht (erinnern wir uns an den Schluß des "Elends der Philosophie" und des "Kommunistischen Manifests" mit der stolzen und offenen Erklärung, daß die gewaltsame Revolution unausbleiblich ist; erinnern wir uns an die Kritik des Gothaer Programms aus dem Jahr 1875, fast dreißig Jahre später, in der MARX den Opportunismus dieses Programms schonungslos geißelte) - diese Lobrede ist durchaus keine "Schwärmerei", durchaus keine Deklamation, kein polemischer Ausfall. Die Notwendigkeit, die Massen systematisch in  diesen,  gerade in diesen Auffassungen über die gewaltsame Revolution zu erziehen, liegt der  gesamten  Lehre von MARX und ENGELS zugrunde. Der Verrat an ihrer Lehre durch die heutzutage vorherrschenden sozialchauvinistischen und kautskyanischen Strömungen kommt besonders plastisch darin zum Ausdruck, daß man hier wie dort  diese  Propaganda, diese Agitation vergessen hat.

Die Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen ist ohne gewaltsame Revolution unmöglich. Die Aufhebung des proletarischen Staates, d. h. die Aufhebung jeglichen Staates, ist nicht anders möglich als auf dem Weg des "Absterbens".

Eine ausführliche und konkrete Entwicklung dieser Auffassungen lieferten MARX und ENGELS, indem sie jede einzelne revolutionäre Situation studierten, die Lehren aus den Erfahrungen jeder einzelnen Revolution analysierten. Wir gehen nunmehr zu diesem fraglos wichtigsten Teil ihrer Lehre über.

II. Kapitel
Die Erfahrungen der Jahre 1848-1851

1. Der Vorabend der Revolution

Die ersten Werke des reifen Marxismus, "Das Elend der Philosophie" und das "Kommunistische Manifest", stammen ausder Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch der Revolution von 1848. Infolgedessen besitzen wir hier neben einer Darlegung der allgemeinen Grundlagen des Marxismus bis zu einem gewissen Grad ein Spiegelbild der damaligen konkreten revolutionären Situation, und so wäre es zweckmäßig, zu untersuchen, was die Verfasser dieser Werke über den Staat ausführten, unmittelbar bevor sie ihre Schlußfolgerungen aus den Erfahrungen der Jahre 1848-1851 zogen.
    "Die arbeitende Klasse", schreibt  Marx  im  Elend der Philosophie,  "wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist." (Seite 182 der deutschen Ausgabe von 1885)
Es ist lehrreich, dieser allgemeinen Darlegung des Gedankens über das Verschwinden des Staates nach der Aufhebung der Klassen die Ausführungen gegenüberzustellen, die in dem einige Monate später, nämlich im November 1847, von MARX und ENGELS verfaßten "Kommunistischen Manifest" enthalten sind:
    "Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder weniger versteckten Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt, wo er in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeosie das Proletariat seine Herrschaft begründet."

    "Wir sahen schon oben, daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.

    Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, die Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräft möglichst rasch zu vermehren." (Seite 31 und 37, siebente deutsche Ausgabe 1906)
Hier haben wir die Formulierung einer der bedeutsamsten und wichtigsten Ideen des Marxismus in der Frage des Staates, nämlich der Idee der "Diktatur des Proletariats" (wie MARX und ENGELS nach der Pariser Kommune sich auszudrücken begannen), ferner eine höchst interessante Definition des Staates, die gleichfalls zu den "vergessenen Worten" des Marxismus gehört.  "Der Staat, das heißt das als herrschende Klasse organisierte Proletariat."  Nicht nur, daß diese Definition des Staates niemals in der herrschenden Propaganda- und Agitationsliteratur der offiziellen sozialdemokratischen Parteien erläutert worden ist. Mehr als das. Sie ist geradezu vergessen worden, da sie mit dem Reformismus völlig unvereinbar ist, da sie den landläufigen opportunistischen Vorurteilen und kleinbürgerlichen Jllusionen über eine "friedliche Entwicklung der Demokratie" ins Gesicht schlägt.

Das Proletariat braucht den Staat - das wiederholen alle Opportunisten, Sozialchauvinisten und Kautskyaner, wobei sie beteuern, dies sei die Lehre von MARX, sie  "vergessen"  aber hinzuzufügen, daß erstens das Proletariat nach MARX nur einen absterbenden Staat braucht, d. h. einen Staat, der so beschaffen ist, daß er sofort abzusterben beginnt und zwangsläufig absterben muß. Und zweitens brauchen die Werktätigen den "Staat", "das heißt das als herrschende Klasse organisierte Proletariat".

Der Staat ist eine besondere Machtorganisation, eine Organisation der Gewalt zur Unterdrückung einer Klasse. Welche Klasse aber muß vom Proletariat unterdrückt werden? Natürlich nur die Ausbeuterklasse, d. h. die Bourgeosie. Die Werktätigen brauchen den Staat nur, um den Widerstand der Ausbeuter niederzuhalten, aber dieses Niederhalten zu leiten, in die Tat umzusetzen ist allein das Proletariat imstande als die einzige konsequent revolutionäre Klasse, als einzige Klasse, die fähig ist, alle Werktätigen und Ausgebeuteten im Kampf gegen die Bourgeosie, im Kampf um deren völlige Beseitigung zu vereinigen.

Die ausbeutenden Klassen bedürfen der politischen Herrschaft im Interesse der Aufrechterhaltung der Ausbeutung, d. h. im eigennützigen Interesse einer verschwindend kleinen Minderheit gegen die ungeheure Mehrheit des Volkes. Die ausgebeuteten Klassen bedürfen der politischen Herrschaft im Interesse der völligen Aufhebung jeder Ausbeutung, d. h. im Interesse der ungeheuren Mehrheit des Volkes gegen die verschwindend kleine Minderheit der modernen Sklavenhalter, d. h. der Gutsbesitzer und Kapitalisten.

Die kleinbürgerlichen Demokraten, diese Pseudosozialisten, die den Klassenkampf durch Träumereien von Klassenharmonie ersetzten, stellten sich auch die sozialistische Umgestaltung träumerisch vor, nicht als Sturz der Herrschaft der ausbeutenden Klasse, sondern als friedliche Unterordnung der Minderheit unter die sich ihrer Aufgaben bewußt gewordene Mehrheit. Diese mit der Anerkennung eines über den Klassen stehenden Staates unzertrennlich verbundene kleinbürgerliche Utopie führte in der Praxis zum Verrat an den Interessen der werktätigen Klassen, wie dies z. B. die Geschichte der französischen Revolutionen von 1848 und 1871, wie dies die Erfahrungen der Beteiligung von "Sozialisten" an bürgerlichen Regierungen in England, Frankreich, Italien und anderen Ländern am Ausgang des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt haben.

MARX bekämpfte sein ganzes Leben lang diesen kleinbürgerlichen Sozialismus, der jetzt in Rußland durch die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki zu neuem Leben erweckt worden ist. MARX hat die Lehre vom Klassenkampf konsequent bis zur Lehre von der politischen Macht, vom Staat, entwickelt.

Die Herrschaft der Bourgeoisie stürzen kann nur das Proletariat als besondere Klasse, deren wirtschaftliche Existenzbedingungen es darauf vorbereiten, ihm die Möglichkeit und die Kraft geben, diesen Sturz zu vollbringen. Während die Bourgeoisie die Bauernschaft und alle kleinbürgerlichen Schichten zersplittert und zerstäubt, schließt sie das Proletariat zusammen, einigt und organisiert es. Nur das Proletariat ist - kraft seiner ökonomischen Rolle in der Großproduktion - fähig, der Führer  aller  werktätigen und ausgebeuteten Massen zu sein, die von der Bourgeoisie vielfach nicht weniger, sondern noch mehr ausgebeutet, geknechtet und unterdrückt werden als die Proletarier, aber zu einem  selbständigen  Kampf um ihre Befreiung nicht fähig sind.

Die Lehre vom Klassenkampf, von MARX auf die Frage des Staates und der sozialistischen Revolution angewandt, führt notwendig zur Anerkennung der  politischen Herrschaft  des Proletariats, seiner Diktatur, d. h. einer mit niemand geteilten und sich unmittelbar auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützenden Macht. Der Sturz der Bourgeoisie ist nur zu verwirklichen durch die Erhebung des Proletariats zur  herrschenden Klasse,  die fähig ist, den unvermeidlichen, verzweifelten Widerstand der Bourgeoisie niederzuhalten und für die Neuordnung der Wirtschaft  alle  werktätigen und ausgebeuteten Massen zu organisieren.

Das Proletariat braucht die Staatsmacht, eine zentralisierte Organisation der Macht, eine Organisation der Gewalt sowohl zur Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter als auch zur  Leitung  der ungeheuren Masse der Bevölkerung, der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der Halbproletarier, um die sozialistische Wirtschaft "in Gang zu bringen". Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und  das ganze Volk  zum Sozialismus  zu führen,  die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens ohne die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie. Der heute herrschende Opportunismus dagegen erzieht in der Arbeiterpartei die Vertreter der besser bezahlten Arbeiter, die sich den Massen entfremden und sich unter dem Kapitalismus leidlich "einzurichten" wissen, die ihr Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkaufen, d. h. auf die Rolle revolutionärer Führer des Volkes gegen die Bourgeosie verzichten.



"Der Staat, das heißt das als herrschende Klasse organisierte Proletariat" - diese Theorie von MARX ist untrennbar verbunden mit seiner ganzen Lehre von der revolutionären Rolle des Proletariats in der Geschichte. Die Vollendung dieser Rolle ist die proletarische Dikatur, die politische Herrschaft des Proletariats.

Wenn aber das Proletariat den Staat als eine  besondere  Organisation der Gewalt  gegen  die Bourgeoisie braucht, so drängt sich von selbst die Frage auf, ob es denkbar ist, eine solche Organisation zu schaffen ohne vorherige Abschaffung, ohne Zerstörung der Staatsmaschine, die die Bourgeoisie  für sich  geschaffen hat. Zu dieser Schlußfolgerung führt uns unmittelbar das "Kommunistische Manifest", und von ihr spricht MARX, wenn er das Fazit aus den Erfahrungen der Revolution von 1848 bis 1851 zieht.


2. Die Ergebnisse der Revolution

In der uns interessierenden Frage des Staates zieht MARX das Fazit der Revolution von 1848 bis 1851 in folgenden Ausführungen seines Werkes "Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte":
    "Aber die Revolution ist gründlich. Sie ist noch auf der Reise durch das Fegefeuer begriffen. Sie vollbringt ihr Geschäft mit Methode. Bis zum 2. Dezember 1851" (dem Tag des Staatsstreichs Louis Bonapartes) "hatte sie die eine Hälfte ihrer Vorbereitung absolviert, sie absolviert jetzt die andere. Sie vollendete erst die parlamentarische Gewalt, um sie stürzen zu können. Jetzt, wo sie dies erreicht, vollendet sie die  Exekutivgewalt,  reduziert sie auf ihren reinsten Ausdruck, isoliert sie, stellt sie sich als einzigen Vorwurf gegenüber,  um alle ihre Kräfte der Zerstörung gegen sie zu konzentrieren"  (von uns hervorgehoben). "Und wenn sie diese zweite ihrer Vorarbeit vollbracht hat, wird Europa von seinem Sitz aufspringen und jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!

    Diese Exekutivgewalt mit ihrer ungeheuren bürokratischen und militärischen Organisation, mit ihrer weitschichtigen und künstlichen Staatsmaschinerie, ein Beamtenheer von einer halben Million neben einer Armee von einer anderen halben Million, dieser fürchterliche Parasitenkörper, der sich wie eine Netzhaut um den Leib der französischen Gesellschaft schlingt und ihr alle Poren verstopft, entstand in der Zeit der absoluten Monarchie, beim Verfall des Feudalwesens, den er beschleunigen half." Die erste französische Revolution entwickelte die Zentralisation, "... aber zugleich den Umfang, die Attribute und die Handlanger der Regierungsgewalt.  Napoleon  vollendete dieses Staatsmaschinerie. Die legitime Monarchie und die Julimonarchie fügten nichts hinzu als eine größere Teilung der Arbeit ..."

    "Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihrem Kampf gegen die Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken.  Alle  Umwälzungen vervollkommneten diese Maschine statt sie zu brechen" (von uns hervorgehoben). "Die Parteien, die abwechselnd um die Herrschaft rangen, betrachteten die Besitznahme dieses ungeheuren Staatsgebäudes als die Hauptbeute des Siegers." - Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Seite 98 und 99, vierte Auflage, Hamburg 1907.
In diesen großartigen Ausführungen macht der Marxismus im Vergleich zum "Kommunistischen Manifest" einen gewaltigen Schritt vorwärts. Dort wird die Frage des Staates noch äußerst abstrakt, in ganz allgemeinen Begriffen und Wendungen behandelt. Hier wird die Frage konkret gestellt, und es wird eine äußerst genaue, bestimmte, praktisch-greifbare Schlußfolgerung gezogen: Alle früheren Revolutionen haben die Staatsmaschinerie vervollkommnet, man muß sie aber zerschlagen, zerbrechen.

Diese Folgerung ist das Hauptsächliche, das Grundlegende in der Lehre des Marxismus vom Staat. Und gerade dieses Grundlegende ist von den herrschenden offiziellen sozialdemokratischen Parteien nicht nur total  vergessen,  sondern auch (wie wir weiter unten sehen werden) vom prominentesten Theoretiker der II. Internationale, KARL KAUTSKY, direkt  entstellt  worden.

Im "Kommunistischen Manifest" sind die allgemeinen Ergebnisse der Geschichte zusammengefaßt, die uns veranlassen, im Staat ein Organ der Klassenherrschaft zu sehen, und uns zu dem unbedingten Schluß führen, daß das Proletariat die Bourgeoisie nicht stürzen kann, ohne vorher die politische Macht erobert, ohne die politische Herrschaft erlangt und den Staat in das "als herrschende Klasse organisierte Proletariat" verwandelt zu haben, und daß dieser proletarische Staat sofort nach seinem Sieg beginnen wird abzusterben, denn in einer Gesellschaft ohne Klassengegensätze ist der Staat unnötig und unmöglich. Hier wird nicht die Frage aufgeworfen, wie - vom Standpunkt der historischen Entwicklung aus gesehen - diese Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen erfolgen soll.

Eben diese Frage stellt und löst MARX im Jahr 1852. Getreu seiner Philosophie des dialektischen Materialismus, nimmt MARX als Grundlage die historische Erfahrung der großen Revolutionsjahre 1848 bis 1851. Die Lehre von MARX ist wie stets, so auch hier, eine von tiefer philosophischer Weltanschauung und reicher Kenntnis der Geschichte durchdrungene  Zusammenfassung der Erfahrung. 

Die Frage des Staates wird konkret gestellt: Wie ist der bürgerliche Staat, diese für die Herrschaft der Bourgeoisie notwendige Staatsmaschinerie, historisch entstanden? Welcherart sind ihre Veränderungen, welches ist ihre Evolution im Verlauf der bürgerlichen Revolutionen und angesichts der selbständigen Aktionen der unterdrückten Klassen? Welches sind die Aufgaben des Proletariats in Bezug auf diese Staatsmaschinerie?

Die der bürgerlichen Gesellschaft eigentümliche zentralisierte Staatsgewalt entstand in der Epoche des Niedergangs des Absolutismus. Zwei Institutionen sind für diese Staatsmaschinerie besonders kennzeichnend: das Beamtentum und das stehende Heer. Wie diese Institutionen durch tausenderlei Fäden namentlich mit der Bourgeoisie verknüpft sind, davon ist in den Werken von MARX und ENGELS oft die Rede. Die Erfahrungen der größten Anschaulichkeit und Eindringlichkeit. Die Arbeiterklasse lernt diesen Zusammenhang am eigenen Leib kennen, deshalb erfaßt sie auch so leicht die Wissenschaft von der Unvermeidlichkeit dieses Zusammenhangs und eignet sie sich so gründlich an, eine Wissenschaft, die die kleinbürgerlichen Demokraten entweder aus Unwissenheit und Leichtfertigkeit ablehnen oder noch leichtfertiger "im allgemeinen" anerkennen, wobei sie vergessen, die entsprechenden praktischen Konsequenzen zu ziehen.

Beamtentum und stehendes Heer, das sind die "Schmarotzer" am Leib der bürgerlichen Gesellschaft, Schmarotzer, die aus den inneren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben Parasiten, die die Lebensporen "verstopfen". Der jetzt in der offiziellen Sozialdemokratie herrschende kautskyanische Opportunismus hält die Anschauung, die im Staat einen  parasitären Organismus  erblickt, für ein besonderes und ausschließliches Attribut des Anarchismus. Diese Entstellung des Marxismus paßt natürlich den Kleinbürgern ausgezeichnet, die den Sozialismus bis zu der unerhörten Schmach einer Rechtfertigung und Beschönigung des imperialistischen Krieges herabgewürdigt haben, indem sie den Begriff der "Vaterlandsverteidigung" auf diesen Krieg anwandten, aber dennoch bleibt es unbedingt eine Entstellung.

Durch alle bürgerlichen Revolutionen hindurch, die Europa seit dem Verfall des Feudalismus in großer Anzahl erlebt hat, zieht sich die Entwicklung, Vervollkommnung und Festigung dieses Beamten- und Militärapparates. Insbesondere wird gerade das Kleinbürgertum auf die Seite der Großbourgeoisie hinübergezogen und ihr weitgehend unterworfen mittels dieses Apparates, der den oberen Schichten der Bauernschaft, der kleinen Handwerker, Händler u. a. verhältnismäßig bequeme, ruhige und ehrenvolle Pöstchen verschafft, die deren Inhaber  über  das Volk erheben. Man betrachte, was in Rußland während des halben Jahres nach dem 27. Februar 1917 vor sich gegangen ist: Beamtenstellen, die früher vorzugsweise den Schwarzhunderten zufielen, sind zum Beuteobjekt der Kadetten, Menschewiki und Sozialrevolutionäre geworden. An irgendwelche ernste Reformen dachte man im Grunde genommen nicht, man war bemüht, sie "bis zur Konstituierenden Versammlung" hinauszuschieben - die Einberufung der Konstituierenden Versammlung aber so sachte bis zum Kriegsende zu verschleppen! Mit der Teilung der Beute, mit der Besetzung der Posten der Minister, der Vizeminister, der Generalgouverneure usw. usf. zögerte man dagegen nicht und wartete man auf keine Konstituierende Versammlung! Das Spiel mit den verschiedenen Kombinationen bei der Bildung der Regierungen war im Grunde lediglich der Ausdruck dieser Teilung und Neuverteilung der "Beute", die sowohl oben als auch unten, im ganzen Land, in der ganzen zentralen und lokalen Verwaltung vor sich geht. Das Ergebnis, das objektive Ergebnis des halben Jahres vom 27. Februar bis zum 27. August 1917 steht fest: Die Reformen sind zurückgestellt, die Verteilung der Beamtenpöstchen hat stattgefunden, und die "Fehler" in der Verteilung wurden durch einige Neuverteilungen wiedergutgemacht.

Doch je mehr im Beamtenapparat "Neuverteilungen" der Posten unter die verschiedenen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien (unter die Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki, wenn man das russische Beispiel nimmt) stattfinden, umso klarer wird den unterdrückten Klassen und dem Proletariat an ihrer Spitze ihre unversöhnliche Feindschaft gegenüber der  ganzen  bürgerlichen Gesellschaft. Hieraus ergibt sich für alle bürgerlichen Parteien, selbst für die demokratischsten und darunter für die "revolutionär-demokratischen", die Notwendigkeit, den Repressalien gegen das revolutionäre Proletariat zu verschärfen, den Repressionsapparat, d. h. diese selbe Staatsmaschinerie zu verstärken. Dieser Gang der Ereignisse zwingt die Revolution,  "alle ihre Kräfte der Zerstörung zu konzentrieren"  gegen die Staatsgewalt, zwingt sie, sich nicht die Verbesserung der Staatsmaschinerie, sondern ihre  Zerstörung,  ihre  Vernichtung  zur Aufgabe zu machen.

Nicht logische Erwägungen, sondern die tatsächliche Entwicklung der Ereignisse, die lebendige Erfahrung der Jahre 1848-1851 haben dazu geführt, daß diese Aufgabe so gestellt wurde. Wie streng sich MARX an die der geschichtlichen Erfahrung zugrunde liegenden Tatsachen hält, geht daraus hervor, daß er 1852 noch nicht konkret die Frage stellt,  wodurch  die zu vernichtende Staatsmaschinerie zu ersetzen sei. Die Erfahrung gab damals noch keine Unterlagen für diese Frage, dievon der Geschichte später, im Jahre 1871, auf die Tagesordnung gesetzt wurde. 1852 konnte man mit der Genauigkeit einer naturgeschichtlichen Beobachtung lediglich feststellen, daß die proletarische Revolution an die Aufgabe  herangekommen  war, "alle ihre Kräfte der Zerstörung zu konzentrieren" gegen die Staatsgewalt, an die Aufgabe, die Staatsmaschinerie "zu zerbrechen".

Hier kann die Frage auftauchen, ob eine Verallgemeinerung der Erfahrung, der Beobachtungen und Schlußfolgerungen von MARX, ob ihre Übertragung auf umfassendere Gebiete als das der Geschichte Frankreichs während der drei Jahre 1848-1851 richtig ist. Zur Untersuchung dieser Frage erinnern wir zunächst an eine Bemerkung von ENGELS und gehen dann zu den Tatsachen über.
    "Frankreich", schrieb  Engels  in der Vorrede zur dritten Auflage des "Achtzehnten Brumaire", "ist das Land, wo die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung durchgefochten wurden, wo also auch die wechselnden politischen Formen, innerhalb deren sie sich bewegen und in denen ihre Resultate sich zusammenfassen, in den schärfsten Umrissen ausgeprägt sind. Mittelpunkt des Feudalismus im Mittelalter, Musterland der einheitlichen ständischen Monarchie seit der Renaissance, hat Frankreich in der großen Revolution den Feudalismus zertrümmer und die reine Herrschaft der Bourgeoisie begründet in einer Klassizität wie kein anderes europäisches Land. Und auch der Kampf des aufstrebenden Proletariats gegen die herrschende Bourgeoisie tritt hier in einer, anderswo unbekannten, akuten Form auf." (Seite 4 der Auflage von 1907)
Die letzte Bemerkung ist veraltet, da seit 1871 im revolutionären Kampf des französischen Proletariats eine Unterbrechung eingetreten ist, obgleich diese Unterbrechung, wie lange si auch dauern möge, keineswegs die Möglichkeit ausschließt, daß sich Frankreich in der kommenden proletarischen Revolution als das klassische Land des Klassenkampfes bis zur Entscheidung erweisen wird.

Werfen wir jedoch einen allgemeinen Blick auf die Geschichte der fortgeschrittenen Länder am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir sehen, daß sich langsamer, vielgestaltiger und auf einem viel weiterem Schauplatz der gleiche Prozeß abspielte: einerseits der Ausbau der "parlamentarischen Macht" sowohl in den republikanischen Ländern (Frankreich, Amerika, Schweiz) als auch in den monarchistischen (England, bis zu einem gewissen Grad Deutschland, Italien, die skandinavischen Länder usw.), andererseits der Kampf um die Macht zwischen den verschiedenen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien, die bei unveränderter Grundlage der bürgerlichen Ordnung die "Beute", die Beamtenpöstchen aufteilten und neu verteilen, und schließlich die Vervollkommnung und Festigung der "Exekutivgewalt", ihres Beamten- und Militärapparats.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß dies gemeinsame Züge der ganzen neueren Entwicklung der kapitalistischen Staaten überhaupt sind. Frankreich zeigte in den drei Jahren 1848-1851 in rascher, ausgeprägter, konzentrierter Form dieselben Entwicklungsprozesse, die der ganzen kapitalistischen Welt eigen sind.

Inbesondere aber weist der Imperialismus, weist die Epoche des Bankkapitals, die Epoche der gigantischen kapitalistischen Monopole, die Epoche des Hinüberwachsens des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine ungewöhnliche Stärkung der "Staatsmaschinerie" auf, ein unerhörtes Anwachsen ihres Beamten- und Militärapparates in Verbindung mit verstärkten Repressalien gegen das Proletariat in Verbindung mit verstärkten Repressalien gegen das Proletariat sowohl in den monarchistischen als auch in den freiesten, republikanischen Ländern.

Die Weltgeschichte führt jetzt zweifellos in ungleich größerem Ausmaß, als das 1852 der Fall war, zur "Konzentrierung aller Kräfte" der proletarischen Revolution auf die "Zerstörung" der Staatsmaschinerie.

Was das Proletariat an ihre Stelle setzen wird, darüber hat die Pariser Kommune höchst lehrreiches Material geliefert.


3. Marx' Fragestellung im Jahr 1852

Im Jahr 1907 veröffentlichte FRANZ MEHRING in der "Neuen Zeit" (XXV, 2, 164) Auszüge aus einem Brief von MARX an WEYDEMEYER vom 5. März 1852. In diesem Brief findet sich unter anderem folgende bemerkenswerte Betrachtung:
    "Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphase der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet."
In diesen Worten ist es MARX gelungen, mit erstaunlicher Prägnanz erstens den Haupt- und Grundunterschied seiner Lehre von der Lehre der führenden und tiefsten Denker der Bourgeoisie und zweitens das Wesen seiner Lehre vom Staat zum Ausdruck zu bringen.

Das Wesentliche der Lehre von MARX sei der Klassenkampf. Das wird sehr oft gesagt und geschrieben. Doch das ist unrichtig, und aus dieser Unrichtigkeit ergibt sich auf Schritt und Tritt eine opportunistische Entstellung des Marxismus, seine Verfälschung in einem Geist, der ihn für die Bourgeoisie annehmbar macht. Denn die Lehre vom Klassenkampf ist  nicht  von MARX,  sondern vor  ihm von der Bourgeoisie geschaffen worden und ist, allgemein gesprochen, für die Bourgeoisie  annehmbar.  Wer  nur  den Klassenkampf anerkennt, ist noch kein Marxist, er kann noch in den Grenzen des bürgerlichen Denkens und bürgerlicher Politik geblieben sein. Den Marxismus auf die Lehre vom Klassenkampf beschränken heißt den Marxismus stutzen, ihn entstellen, ihn auf das reduzieren, was für die Bourgeoisie annehmbar ist. Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der  Diktatur des Proletariats erstreckt.  Hierin besteht der tiefste Unterschied des Marxisten vom durchschnittlichen Klein- (und auch Groß-)Bourgeois. Das muß der Prüfstein für das  wirkliche  Verstehen und Anerkennen des Marxismus sein. Und es ist nicht verwunderlich, daß, als die Geschichte Europas  praktisch  die Arbeiterklasse vor diese Frage stellte, nicht nur alle Opportunisten und Reformisten, sondern auch alle "Kautskyaner" (Leute, die zwischen Reformismus und Marxismus pendeln) sich als erbärmliche Philister und kleinbürgerliche Demokraten erwiesen, die die Diktatur des Proletariats  ablehnen.  KAUTSKYs Broschüre "Die Diktatur des Proletariats", die im August 1918, d. h. lange nach der ersten Auflage des vorliegenden Buches, erschien, ist ein Musterstück kleinbürgerlicher Entstellung des Marxismus, der niederträchtigen Verleugnung des Marxismus  in der Tat,  bei heuchlerischer Anerkennung des Marxismus  in Worten  (siehe meine Broschüre "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky", Petrograd und Moskau 1918).

Der heutige Opportunismus, verkörpert in der Person seines Hauptvertreters, des früheren Marxisten KARL KAUTSKY, fällt voll und ganz unter die angeführte MARXsche Charakteristik der  bürgerlichen  Haltung, denn dieser Opportunismus beschränkt das Gebiet der Anerkennung des Klassenkampfes auf das Gebiet bürgerlicher Verhältnisse. (Und innerhalb dieses Gebietes, im Rahmen dieses Gebietes, wird es kein einziger gebildeter Liberaler ablehnen, den Klassenkampf "prinzipiell" 
anzuerkennen!) Der Opportunismus  macht  in der Anerkennung des Klassenkampfes gerade vor der Hauptsache  halt,  vor der Periode des  Übergangs  vom Kapitalismus zum Kommunismus, vor der Periode des  Sturzes  der Bourgeoisie und ihrer völligen  Vernichtung.  In Wirklichkeit ist diese Periode unvermeidlich eine Periode unerhört erbitterten Klassenkampfes, unerhört scharfer Formen dieses Kampfes, und folglich muß auch der Staat dieser Periode unvermeidlich  auf neue Art  demokratisch (für die Proletarier und überhaupt für die Besitzlosen) und  auf neue Art  diktatorisch (gegen die Bourgeoisie) sein.

Weiter.  Das Wesen der MARXschen Lehre vom Staat hat nur erfaßt, wer begriffen hat, daß die Diktatur  einer  Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist, nicht nur für das  Proletariat,  das die Bourgeoisie gestürzt hat, sondern auch für die ganze  historische Periode,  die den Kapitalismus von der "klassenlosen Gesellschaft", vom Kommunismus, trennt. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine  Diktatur der Bourgeosie.  Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus muß natürlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigeit der politischen Formen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei unbedingt das  eine  sein:  die Diktatur des Proletariats. 
LITERATUR Wladimir Iljitsch Lenin, Staat und Revolution, Lenin, Werke Bd. 25, Berlin 1974