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PETER L. BERGER / THOMAS LUCKMANN
Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit

[Eine Theorie der Wissenssoziologie]
[3/7]
"Eine biologische Natur des Menschen, die als solche sozio-kulturelle Gebilde und ihre Mannigfaltigkeit bestimmt, gibt es nicht. Die jeweilige Eigenart, in der Menschenhaftigkeit sich ausprägt, wird bestimmt durch sozio-kulturelle Schöpfungen und gehört zu deren zahlreichen Varianten. So kann man zwar sagen: der Mensch  hat  eine Natur. Treffender wäre jedoch: der Mensch  macht  seine eigene Natur - oder, noch einfacher:  der Mensch produziert sich selbst." 

Die Institutionen, welche sich nun herauskristallisiert haben - Vaterschaft zum Beispiel -, die die ersten Kinder bereits vorfinden, werden als über und jenseits der Personen, welche sie  zufällig im Augenblick verkörpern, daseiend erlebt. Mit anderen Worten: Institutionen sind nun etwas, das seine eigene Wirklichkeit hat, eine Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres, zwingendes Faktum gegenübersteht."

"In den Frühphasen seiner Sozialisation ist das Kind unfähig, zwischen der Objektivität natürlicher und gesellschaftlicher Phänomene zu unterscheiden. Die Sprache erscheint dem Kind als zur  Natur der Dinge gehörig. Es kann nicht erkennen, daß es sich um eine Übereinkunft handelt. Ein Ding  ist, was es heißt, und es kann nichts anderes sein. Auch Institutionen wirken gegeben, unveränderlich und selbstverständlich."

"Die Institutionen stellen dem Individuum gegenüber den Anspruch auf Autorität und müssen ihn stellen, ungeachtet des subjektiv gemeinten Sinnes, den der Einzelne mit einer Situation verbindet. Die Priorität der institutionalen Definition von Situationen über individuelle Versuche, sie um- und neuzubestimmen, muß unbedingt gewahrt bleiben."


II. Gesellschaft als objektive Wirklichkeit

1. Institutionalisierung

a) Organismus und Aktivität

Der Mensch hat eine eigenartige Stellung im Reich der Tiere (1). Im Unterschied zu den anderen höheren Säugetieren hat er keine artspezifische Umwelt (2), keine Umgebung, deren Struktur ihm sein eigener Instinktapparat sichert. Es gibt keine Welt des Menschen in dem Sinne, wie man von einer Welt des Hundes oder des Pferdes sprechen kann. Ungeachtet eines individuellen Spielraumes der Lernfähigkeit und Speicherungsmöglichkeit für Gelerntes haben der einzelne Hund oder das einzelne Pferd zu einer gemeinsamen Umwelt aller Artgenossen weitgehend fixierte Beziehungen. Daher sind Hunde und Pferde offenbar geographisch gebundener als der Mensch. Dennoch ist die Spezifität der Umwelt der Tiere weit mehr als eine geographische Begrenzung. Sie entspricht dem biologisch fixierten Charakter tierischer Umweltsbeziehung selbst bei geographischen Abweichungen. In diesem Sinne leben alle nichtmenschlichen Lebewesen in geschlossenen Welten, deren Strukturen durch die biologische Ausrüstung jeder Spezies im Voraus bestimmt sind.

Im Gegensatz dazu ist die Umweltbeziehung des Menschen durch "Weltoffenheit" charakterisiert (3). Nicht nur hat er sich erfolgreich auf dem größten Teil der Erdoberfläche einzurichten verstanden, sondern seine Beziehung zur jeweiligen Umgebung wird überall äußerst unzureichend durch die eigene biologische Konstitution reguliert. Zwar erlaubt ihm seine Konstitution, sich sehr verschieden zu betätigen. Aber die Tatsache etwa, daß er auf dem einen Gebiet der Erde Nomade geblieben ist und in einem anderen zum Ackerbau überging, kann nicht durch biologische Vorgänge erklärt werden. Das soll natürlich nicht heißen, daß es keine biologischen Grenzen in der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt gäbe. Sein artspezifisches Sensorium und seine motorische Ausrüstung setzen dem Spektrum seiner Möglichkeiten deutliche Schranken. Die Besonderheit der biologischen Verfassung des Menschen liegt jedoch im Bereich seiner Instinkte. (3)

Verglichen mit dem Instinktapparat der anderen höheren Säugetiere kann der des Menschen als geradezu unterentwickelt bezeichnet werden. Auch der Mensch hat selbstverständlich Triebe. Aber seine Triebe sind höchst unspezialisiert und ungerichtet. Der menschliche Organismus ist dadurch fähig, seine konstitutionell gegebenen Fähigkeiten auf einer sehr breiten und noch dazu ständig schwankenden Skala immer auswechselbarer Tätigkeit einzusetzen. Diese Eigenart des menschlichen Organismus beruth auf seine ontogenetischen Entwicklung (4). Von der allgemeinen Entwicklung des Organismus höherer Tiere her gesehen, kann man sagen, daß die fetale [vorgeburtliche - wp] Periode des menschlichen Lebewesens sich ungefähr noch über das ganze erste Jahr nach der Geburt erstreckt (5). Wichtige organische Vorgänge, welche beim Tier im Mutterleib abgeschlossen werden, finden beim Menschen erst nach seiner Trennung von der mütterlichen Hülle statt. Zu dieser Zeit ist jedoch das Kind nicht nur schon in der Außenwelt, sondern es steht bereits zu ihr in Wechselbeziehungen verschiedenster und kompliziertester Art.

Biologisch entwickelt sich der Organismus des Menschen also noch, während er schon Kontakte zu seiner Umwelt hat. Mit anderen Worten: Der Vorgang der Menschwerdung findet in Wechselwirkung mit einer Umwelt statt. Die Feststellung gewinnt besondere Bedeutung, bedenkt man, daß diese Umwelt sowohl als eine natürliche als auch eine menschliche ist. Das heißt, der sich entwickelnde Mensch steht in Verbindung nicht nur mit einer besonderen natürlichen Umwelt, sondern auch mit einer besonderen kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung, welche ihm durch "signifikante Andere" (6) vermittelt wird, die für ihn verantwortlich sind. Nicht nur das Leben und Überleben des Säuglings hängt von gewissen gesellschaftlichen Vorkehrungen ab, sondern auch die Richtung seiner organischen Entwicklung ist gesellschaftlich determiniert. Vom Augenblick seiner Geburt an ist die organische Entwicklung des Menschen, ja, weitgehend seine biologische Existenz überhaupt, dauernd auch dem Eingriff gesellschaftlich bedingter Faktoren ausgesetzt.

Obwohl der Vielfalt an Möglichkeiten der Menschwerdung in so einer zweifachen umweltlichen Wechselbeziehung offenbar physiologische Grenzen gesetzt snd, entfaltet der menschliche Organismus in seinen Reaktionen auf die Umweltkräfte, welche auf ihn einwirken, eine außerordentliche Elastizität. Besonders klar zeigt sich das in der Flexibilität seiner biologischen Konstitution gegenüber der Vielfalt kultureller Bedingungen, denen sie ausgesetzt ist. Für die Völkerkunde ist es ein Gemeinplatz, daß die Arten und Weisen, Mensch zu werden und zu sein, so zahlreich sind wie die menschlichen Kulturen. Menschsein ist sozio-kulturell variabel. Mit anderen Worten: Eine biologische Natur des Menschen, die als solche sozio- kulturelle Gebilde und ihre Mannigfaltigkeit bestimmt, gibt es nicht. Menschliche Natur gibt es nur in Form anthropologischer Konstanten - zum Beispiel  Weltoffenheit  und  Bildbarkeit  des Instinktapparates. Die anthropologischen Konstanten machen die sozio-kulturellen Schöpfungen des Menschen möglich und beschränken sie zugleich. Die jeweilige Eigenart, in der Menschenhaftigkeit sich ausprägt, wird umgekehrt aber bestimmt durch eben diese sozio-kulturellen Schöpfungen und gehört zu deren zahlreichen Varianten. So kann man zwar sagen: der Mensch hat eine Natur. Treffender wäre jedoch: der Mensch macht seine eigene Natur - oder, noch einfacher: der Mensch produziert sich selbst (7).

Die Prägbarkeit des menschlichen Organismus und seine Empfänglichkeit für gesellschaftliche Eindrücke stellt sich am besten an völkerkundlichem Material auf dem Gebiet der Sexualität dar (8). Die sexuellen Triebe des Menschen sind zwar mit denen der übrigen höheren Säugetiere vergleichbar. Jedoch ist für die menschliche Sexualität die besonders große Anpassungsfähigkeit charakteristisch. Sie ist nicht nur verhältnismäßig unabhängig von Rhythmen der Zeit, sondern auch flexibel in der Wahl ihres Objekts und den Modalitäten ihres Ausdrucks. Die Ethnologie hat bewiesen, daß der Mensch auf sexuellem Gebiet nahezu zu allem fähig ist. Zu welchen Gelüsten er seine Phantasie auch steigert - es ist unwahrscheinlich, daß er ein Bild beschwört, das nicht in einer anderen Kultur die Regel oder zumindest ein ganz geläufiges Vorkommnis wäre. Wenn der Begriff "normal" irgendetwas anthropologisch Fundamentales oder kulturell Universales bezeichnen soll, so kann weder dieser Begriff selbst noch sein Gegenteil auf die zahllosen Formen menschlicher Sexualität rechtens angewendet werden. Dabei wird die menschliche Sexualität natürlich in jeder Kultur gesteuert, ja, manchmal straff reguliert. Jede Kultur hat eine für sie bezeichnende Auffassung von Sexualität, mit eigenen Spielregeln für sexuelles Verhalten und eigenen "anthropologischen" Voraussetzungen. Die Relativität dieser Auffassungen, ihre große Vielfalt und ihr Reichtum an Erfindungen verweisen darauf, daß sie eher Produkte sozio-kultureller Schöpfungen als einer biologisch fixierten Natur des Menschen sind (9). Der Zeitraum, in dem die Entwicklung des Organismus in Wechselwirkung mit der Umwelt ihren Abschluß findet, ist derselbe, in der das menschliche Selbst entsteht. Die Bildung des Selbst muß also auch als Vorgang gesehen werden, der sowohl mit der organischen Weiterentwicklung als auch mit jenem gesellschaftlichen Prozeß verknüpft ist, mittels dessen eine natürliche und menschliche Umwelt von "signifikanten Anderen" vermittelt werden (10). Die genetischen Voraussetzungen für das Selbst sind mit der Geburt gegeben. So aber, wie es später in subjektiv und objektiv erkennbarer Identität erlebt wird, ist es nicht gegeben. Die gesellschaftlichen Vorgänge, die auch die Vollendung des Organismus bestimmen, produzieren das Selbst in seiner besonderen und kulturrelevanten Eigenart. Als Produkt der Gesellschaft beschränkt sich sein Charakter nicht auf die jeweilige Figur, als die sich der Einzelne, etwa als "Mann" im Sinne der jeweiligen Kultur, selbst identifiziert. Dazu kommt vielmehr die gesamte psychologische Ausstattung der betreffenden Vorstellung - "männliche" Gefühle und Einstellungen zum Beispiel, bis hin zu somatischen Reaktionen. Zweifelsohne können weder der Organismus noch gar das Selbst losgelöst vom gesellschaftlichen Gebilde, in dem sie Gestalt angenommen haben, wirklich verstanden werden.

Die generelle Entwicklung von Organismus und Selbst in einer gesellschaftlich bestimmten Umwelt hängt mit der eigenartigen Beziehung zwischen beiden zusammen. Diese Beziehung ist "exzentrisch" (11). Einerseits  ist  der Mensch sein Körper, ganz wie andere animalische Organismen. Andererseits  hat  er einen Körper. Das heißt, daß der Mensch sich selbst als Wesen erfährt, das mit seinem Körper nicht identisch ist, sondern dem vielmehr dieser sein Körper zur Verfügung steht. Die menschliche Selbsterfahrung schwebt also immer in der Balance zwischen Körper-Sein und Körper-Haben, einer Balance, die stets von Neuem wiederhergestellt werden muß. Diese Exzentrizität der Erfahrung des Menschen von seinem Körper hat gewisse Konsequenzen für die Analyse seiner Aktivität "im Benehmen" mit der konkreten Umwelt und als Externalisierung, das heißt Entäußerung von subjektiv gemeintem Sinn. Ein wirkliches Verständnis jedes menschlichen Phänomens muß beide Aspekte in Betracht ziehen, da es sich dabei um fundamentale anthropologische Fakten handelt.

Damit dürfte deutlich geworden sein, daß die Behauptung, der Mensch produziere sich selbst, nichts mit einer prometheischen Vision vom einsamen Individuum zu tun hat. (12) Die Selbstproduktion des Menschen ist notwendig und immer eine gesellschaftliche Tat.  Zusammen  produzieren die Menschen eine menschliche Welt mit der ganzen Fülle ihrer sozio-kulturellen und psychologischen Gebilde. Keines dieser Gebilde darf als Produkt der biologischen Verfassung des Menschen aufgefaßt werden - die, wie gesagt, dem produktiven Tun des Menschen lediglich die äußeren Grenzen setzt. So unmöglich es dem Menschen ist, sich in völliger Vereinzelung zum Menschen zu entwickeln, so unmöglich ist es ihm auch, in der Vereinzelung eine menschliche Umwelt zu produzieren. Vereinzeltes Menschsein wäre ein Sein auf animalischem Niveau -, das der Mensch selbstverständlich mit anderen Lebewesen gemein hat. Sobald man spezifisch menschliche Phänomene untersucht, begibt man sich in den Bereich gesellschaftlichen Seins. Das spezifisch Menschliche des Menschen und sein gesellschaftliches Sein sind untrennbar verschränkt.  Homo sapiens  ist immer und im gleichen Maßstab auch  Homo socius. (13)

Dem menschlichen Organismus mangelt es am nötigen biologischen Instrumentarium für die Stabilisierung einer menschlichen Lebensweise. Seine Existenz wäre, würde sie zurückgeworfen auf ihre rein organischen Hilfsmittel, ein Dasein im Chaos. Ein solches Chaos ist theoretisch vorstellbar, empirisch aber nicht nachweisbar. Empirisch findet menschliches Sein in einem Geflecht aus Ordnung, Gerichtetheit und Stabilität statt. Damit stellt sich die Frage, woher denn dann die Stabilität humaner Ordnungen kommt. Die Antwort kann auf zwei verschiedenen Ebenen gegeben werden. Einmal ist es ein unübersehbares Faktum, daß aller individuellen organischen Entwicklung eine Gesellschaftsordnung vorgegeben ist. Das heißt, daß auch Weltoffenheit, die zwar genuin zum biologischen Kostüm des Menschen gehört, immer schon seitens der Gesellschaftsordnung antizipiert worden ist. Man kann geradezu sagen, daß die ursprüngliche biologische Weltoffenheit der menschlichen Existenz durch die Gesellschaftsordnung immer in eine relative Weltgeschlossenheit umtransponiert wird, ja, werden muß. Diese nachträgliche Geschlossenheit erreicht zwar niemals die der animalischen Existenz - und sei es nur, weil sie vom Menschen hervorgebracht und daher "künstlicher Natur" (14) ist. Aber sie ist doch fähig, der menschlichen Lebensführung - im Wesentlichen jedenfalls und meistens - Richtung und Bestand zu sichern. Damit erreicht die Frage eine andere Dimension, nämlich: auf welche Weise entsteht gesellschaftliche Ordnung überhaupt?

Die allgemeinste Antwort wäre, daß die Gesellschaftsordnung ein Produkt des Menschen ist, oder genauer: eine ständige menschliche Produktion. Der Mensch produziert sie im Verlauf seiner unaufhörlichen Externalisierung. Gesellschaftsordnung ist weder biologisch gegeben noch von irgendwelchen biologischen Gegebenheiten ableitbar. Auch in der natürlichen Umwelt des Menschen ist sie nicht angelegt, obgleich allerdings gewisse Merkmale der natürlichen Umwelt bestimmende Faktoren für gewisse Merkmale von Gesellschaftsordungen sein können - zum Beispiel für wirtschaftliche oder technische Einrichtungen. Gesellschaftsordnung ist kein Teil der "Natur der Dinge" und kann nicht aus "Naturgesetzen" abgeleitet werden. (15) Sie besteht einzig und allein als ein Produkt menschlichen Tuns. Will man ihre empirischen Erscheinungen nicht hoffnungslos verdunkeln, so kann ihr kein anderer ontologischer Status zugesprochen werden. Sowohl nach ihrer Genese (Gesellschaftsordnung ist das Resultat vergangenen menschlichen Tuns) als auch in ihrer Präsenz in jedem Augenblick (sie besteht nur und solange menschliche Aktivität nicht davon abläßt, sie zu produzieren) ist Gesellschaftsordnung als solche ein Produkt des Menschen.

Zwar haben die gesellschaftlichen Produkte menschlicher Externalisierung ihrem organischen und umweltlichen Zusammenhang gegenüber einen Charakter  sui generis [aus sich selbst heraus - wp]. Aber die Externalisierung ist schon als solche eine anthropologische Notwendigkeit (16). Menschliches Leben wäre nicht möglich im verschlossenen Raum schweigender Innerlichkeit. Es muß sich ständig äußern und durch Aktivität verkörpern. Diese Notwendigkeit beruth auf der biologischen Verfassung des Menschen (17). Die eingeborene Instabilität seines Organismus zwingt den Menschen dazu, sich eine stabile Umwelt zu schaffen, um leben zu können. Selbst muß der Mensch seine Triebe spezialisieren und richten. Diese biologischen Fakten sind die notwendigen Voraussetzungen für das Entstehen einer gesellschaftlichen Ordnung. Mit anderen Worten: wenngleich keine bestehende Gesellschaftsordnung biologisch abgeleitet werden kann, ist doch die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung überhaupt in der biologischen Verfassung des Menschen angelegt.

Sucht man über biologische Konstanten hinaus nach Gründen für das Entstehen, den Bestand und die Überlieferung einer Gesellschaftsordnung, so muß man sich auf eine Analyse, die auf eine Theorie der Institutionalisierung hinausläuft, einlassen.


b) Ursprünge der Institutionalisierung

Alles menschliche Tun ist dem Gesetz der Gewöhnung unterworfen. Jede Handlung, die man häufig wiederholt, verfestigt sich zu einem Modell, welches unter Einsparung an Kraft reproduziert werden kann und dabei vom Handelnden  als  Modell aufgefaßt wird. Habitualisierung in diesem Sinne bedeutet, daß die betreffende Handlung auch in Zukunft ebenso und mit eben der Einsparung an Kraft ausgeführt werden kann. Das gilt für nichtgesellschaftliche wie für gesellschaftliche Aktivitäten. Noch der einsame Mann auf der sprichwörtlichen einsamen Insel habitualisiert sein Tun. Wenn er am Morgen erwacht und in Gedanken seine Bemühungen, ein Boot aus Streichhölzern zu basteln, rekapituliert, so brummelt er wohl vor sich hin: "Das wär's also wieder einmal." Und er beginnt bei Stufe eins einer Prozedur von, sagen wir, zehn Stufen. So hat noch der Einsiedler zumindest die Gesellschaft seiner Einsiedler-Gewohnheiten.

Habitualisierte Tätigkeiten behalten natürlich ihren sinnhaften Charakter für jeden von uns, auch wenn ihr jeweiliger Sinn als Routine zum allgemeinen Wissensvorrat (18) gehört, zur Gewißheit geworden und dem Einzelnen für eine künftige Verwendung zuhanden ist. Gewöhnung bringt den psychologisch wichtigen Gewinn der begrenzten Auswahl. In der Theorie mag es hundert Möglichkeiten, ein Boot aus Streichhölzern zu basteln, geben. Die Gewöhnung verringert sie bis hinunter zu einer einzigen. Das befreit den Einzelnen von der "Bürde der Entscheidung" und sorgt für biologische Entlastung, deren anthropologische Voraussetzung der ungerichtete Instinktapparat des Menschen ist. Habitualisierung sorgt für eben die Richtung und Spezialisierung des Handelns, die der biologischen Ausstattung des Menschen fehlen und baut auf diese Weise Spannungen ab, welche von ungerichteten Trieben kommen (19). Dadurch, daß sie einen gesicherten Hintergrund bietet, vor dem sich menschliche Tätigkeit abspielen kann - meistens mit einem Minimum an Entscheidungen -, setzt sie außerdem Energien für gewisse Gelegenheiten frei, bei denen Entscheidungen nun einmal unumgänglich sind. Mit anderen Worten: vor dem Hintergrund habitualisierten Handelns öffnet sich ein Vordergrund für Einfall und Innovation (20).

Eingefahrene Bedeutungen, die der Mensch seiner Tätigkeit verliehen hat, erübrigen es, daß jede Situation Schritt für Schritt neu bestimmt werden muß (21). Eine Menge an Situationen läßt sich unter ihre Vorherbestimmung subsumieren. Was bei solchen Gelegenheiten getan wird, kann also antizipiert werden. Sogar für alternatives Verhalten gibt es noch Standardvorschriften.

Habitualisierungsprozesse gehen jeder Institutionalisierung voraus und gelten ansich sogar noch für unseren hypothetischen Einsamen, der auf seiner Insel abgeschieden von jeder menschlichen Interaktion lebt. Wenn wir übrigens voraussetzen, daß er ein fertiges Selbst ist, das wir von unserem brummelnden Bootsbauer annehmen dürfen, so wird auch er seine Handlungen gemäß den Erfahrungen mit einer ganzen Welt von Institutionen, die er vor seiner Einsamkeit gemacht hat, habitualisieren, worauf wir jedoch nicht eingehen können. Wichtiger für den Empiriker ist vielmehr jene Habitualisierung menschlicher Tätigkeit, die normalerweise mit der Institutionalisierung zusammenfällt. Es erhebt sich also die Frage: Wie entstehen Institutionen?

Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok [wechselseitig - wp] typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution (22). Für ihr Zustandekommen wichtig sind die Reziprozität der Typisierung und die Typik nicht nur der Akte, sondern auch der Akteure. Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut. Sie sind für alle Mitglieder der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe  erreichbar.  Die Institution ihrerseits mach aus individuellen Akteuren und individuellen Akten Typen. Institution postuliert, daß Handlungen des Typus  X  von Handelnden des Typus  X  ausgeführt werden. Die Institution "Gesetz" kann zum Beispiel postulieren, daß das Köpfen nur auf bestimmte Weise und unter bestimmten Umständen vorgenommen werden darf, und ferner, daß nur bestimmte Typen köpfen dürfen - Henker, Angehörige einer "unreinen" Kaste, Jungfrauen bis zu einem gewissen Alter oder Leute, die ein Orakel dazu ausersehen hat, und so weiter. Institutionen setzen weiter Historizität und Kontrolle voraus. Wechselseitige Typisierungen von Handlungen kommen im Lauf einer gemeinsamen Geschichte zustande. Sie können nicht plötzlich entstehen. Institutionen haben immer eine Geschichte, deren Geschöpfe sie sind. Es ist unmöglich, eine Institution ohne den historischen Prozeß, der sie heraufgebracht hat, zu begreifen. Durch die bloße Tatsache ihres Vorhandenseins halten Institutionen menschliches Verhalten unter Kontrolle. Sie stellen Verhaltensmuster auf, welche es in eine Richtung lenken, ohne "Rücksicht" auf die Richtungen, die theoretisch möglich wären. Dieser Kontrollcharakter ist der Institutionalisierung als solcher eigen. Er hat Priorität vor und ist unabhängig von irgendwelchen Zwangsmaßnahmen, die eigens zur Stütze einer Institution eingesetzt werden oder worden sind. Derartige Sanktionsmechanismen, deren Gesamtheit das ist, was man ein soziales Kontrollsystem nennt, gibt es selbstverständlich in vielen Institutionen und in all den Institutionsballungen, die wir  Gesellschaften  nennen. Die Wirksamkeit einer solchen Kontrolle ist jedoch sekundär bzw. nachträglich. Die primäre soziale Kontrolle ergibt sich, wie wir später noch sehen werden, durch die Existenz von Institutionen überhaupt. Wenn ein Bereich menschlicher Tätigkeit institutionalisiert ist, so bedeutet das  eo ipso [schlechthin - wp], daß er unter sozialer Kontrolle steht. Zusätzliche Kontrollmaßnahmen sind nur erforderlich, sofern die Institutionalisierungsvorgänge selbst zum eigenen Erfolg nicht ganz ausreichen. Nehmen wir z. B. an, ein Gesetz sieht vor, daß ein jeder, der das Inzesttabu bricht, geköpft wird. Die Vorkehrung mag nötig gewesen sein, weil das Tabu manchmal verletzt worden war. Daß eine solche Schreckenssanktion dauernd aufrechterhalten wird, ist jedoch unwahrscheinlich - außer, wenn die Institution selbst, für die das Inzesttabu steht, vom Zerfall bedroht ist, eine Sondersituation, die uns jetzt nicht zu kümmern braucht. Es wäre barer Unsinn zu sagen, die menschliche Sexualität steht unter sozialer Kontrolle im Sinne und Verlauf der für ihre Institutionalisierung jeweils zuständigen Geschichte. Hinzuzufügen wäre dem nur, daß das Inzesttabu selbst nichts anderes ist als das Negativ eines Sammelsuriums von Typisierungen, die positiv bestimmen, was inzestuös ist und was nicht.

Was wir heute an Institutionen erleben, stellt sich uns in Kollektiven dar, die eine beachtliche Menge Menschen umfassen. Theoretisch wichtig ist jedoch, daß ein Institutionalisierungsprozeß wechselseitiger Typisierung auch dann stattfinden könnte, wenn nur zwei Menschen wiederholt zusammen dasselbe tun. Institutionalisierung steht am Anfang jeder gesellschaftlichen Situation, die ihren eigenen Ursprung überdauert. Nehmen wir an, zwei Personen aus völlig verschiedenen Gesellschaften treten in Interaktion. Wir sagen "Personen" und setzen damit voraus, daß beide "sie selbst" sind, das heißt, in einem - wenngleich verschiedenen - gesellschaftlichen Prozeß geformt worden sind. Von  Adam  und  Eva  oder zwei "wilden" Kindern, die in einer Urwaldlichtung aufeinanderstoßen, sehen wir also für den Augenblick ab. Doch unterstellen wir, daß unsere beiden aus gesellschaftlichen Welten kommen, die in einer historischen Trennung voneinander entstanden sind, und daß ihre Interaktion in einer Situation stattfindet, welche für keinen von ihnen institutionell vorgeprägt ist. Denken wir etwa an "Freitag" und unseren Streichholz-Schiffsbauer auf der einsamen Insel und stellen uns die beiden als einen Papua und einen Amerikaner vor. Dabei bestünde allerdings die Wahrscheinlichkeit, daß der Amerikaner  Robinson Crusoe  gelesen oder zumindest von ihm gehört hat, was die Situation zumindest für ihn bis zu einem gewissen Grad vorprägen würde. Nennen wir unsere beiden also lieber einfach  A  und  B. 

Sobald  A  und  B  wie auch immer interagieren, produzieren sie sehr bald Typisierungen.  A  beobachtet genau, was  B  wie tut. Er unterstellt  Bs  Handlungen Beweggründe und typisiert diese, sobald er sieht, daß die Handlung wiederkehrt, ebenalls als wiederkehrend. Agiert  B  weiter, so ist  A  bald in der Lage, sich zu sagen: "Das wär's also wieder einmal." Gleichzeitig kann  A  dasselbe von  B  im Hinblick auf sich,  A,  annehmen. Von Anbeginn nehmen  A  und  B  die Reziprozität ihrer Typisierungen an. Im Verlauf des Verkehrs miteinander kommen ihre beiderseitigen Typisierungen in typischen Verhaltensmustern zum Ausdruck. Das heißt,  A  und  B  beginnen, ihre Vis-á-vis-Rollen zu spielen. Dazu muß es kommen, selbst wenn keiner von beiden von Handlungen abläßt, die anders sind als die des anderen. Die Möglichkeit, in die Rolle des anderen zu schlüpfen, taucht erst auf, wenn beide dieselben Handlungen vollziehen möchten. Das heißt, daß  A  sich innerlich  Bs  Rollen zu eigen macht und zum Vorbild für sein eigenes Rollenspiel nimmt.  Bs  Rolle zum Beispiel beim Zubereiten von Speisen wird nicht nur als solche von  A  typisiert, sondern sie hält Einzug in  As  eigene Rolle als Zubereiter von Speisen, und zwar als ein grundlegendes Element gewohnheitsmäßigen Verfahrens. So entsteht allmählich eine ganze Kollektion wechselseitig typisierter Handlungen, die sich zu einem Rollenspiel verdichten, wobei einige Rollen getrennt, andere wiederum miteinander gespielt werden (23). Diese wechselseitige Typisierung ist zwar noch keine Institutionalisierung, da bei nur zwei Personen keine Möglichkeit zu einer Typologie der Akteure besteht. Aber immerhin befinden wir uns im Vorhof der Institutionalisierung.

Bei einem solchen Stand erhebt sich die Frage nach dem Gewinn, den unsere beiden aus dieser Entwicklung der Dinge ziehen. Das Wichtigste ist, daß jeder von ihnen nun befähigt ist, des anderen Handlungen vorauszusehen. Aus dem "Das wär's wieder einmal" wird: "Da wären wir wieder einmal". Das entlastet die beiden Personen von beträchtlichen Spannungen. Sie sparen Zeit und Kraft nicht nur für beliebige äußere Aufgaben, die sie getrennt oder gemeinsam haben, sondern für ihre ganze seelische Ökonomie. Ihr Zusammenleben hat nun in einer ständig sich erweiternden Welt der Routinegewißheit seine Form gefunden.

Viele Tätigkeiten bedürfen noch eines geringen Grades an Achtsamkeit. Die einzelne Handlung des einen ist für den anderen nicht mehr Quelle der Verwunderung, ja, drohender Gefahr. Stattdessen nimmt so manches, was vor sich geht, für beide die Trivialität dessen an, was beider Alltagsleben sein wird. Auf diese Weise bauen zwei Personen einen Horizont in eben dem Sinne auf, von dem wir oben sprachen - einen Hintergrund, vor dem sich sowohl ihre getrennten als auch die gemeinsamen und wechselseitigen Handlungen stabilisieren können. Das Entstehen eines solchen Hintergrundes der Routine ermöglicht dann wiederum eine Arbeitsteilung und erschließt den Weg für Neuerungen, die einen höheren Grad geistiger Wachheit verlangen. Arbeitsteilung und Neuerungen führen zu neuen Habitualisierungen, die den gemeinsamen Hintergrund beider Personen wiederum erweitern. Mit anderen Worten: Eine gesellschaftliche Welt wird allmählich konstruiert, in der die Fundamente einer expansiven institutionalen Ordnung schon vorhanden sind.

Grundsätzlich steckt in jeder ein oder mehrere Male wiederholten Handlung eine gewisse Neigung zur Habitualisierung. Damit es jedoch zu der soeben beschriebenen Typisierung kommen kann, muß eine dauerhafte gesellschaftliche Situation vorhanden sein, in die sich die habitualisierten Tätigkeiten von zwei oder mehr Einzelpersonen einfügen können. Welche Tätigkeiten nun werden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf diese Weise wechselseitig typisiert?

Die allgemeine Antwort lautet: Solche, die für  A  und  B  in ihrer gemeinsamen Situation relevant sind. Die Bereiche möglicher Relevanz sind natürlich für verschiedene Situationen verschieden. Einige ergeben sich aus der Auseinandersetzung von  A  und  B  mit ihrem bisherigen Lebenslauf, andere aus natürlichen, vorgesellschaftlichen Umständen der betreffenden Situation. Habitualisiert werden muß in jedem Fall der Vorgang der Kommunikation von  A  und  B.  Auch ihre Arbeit, Sexualität und Territorialität geben Anlaß zu Typisierung und Habitualisierung. Die Situation von  A  und  B  auf allen diesen Gebieten ist paradigmatisch für die Institutionalisierung im größeren gesellschaftlichen Rahmen.

Treiben wir unser Schulbeispiel noch einen Schritt weiter und stellen uns vor,  A  und  B  hätten Kinder. Das verändert die Lage qualitativ. Das Auftauchen Dritter verwandelt den Charakter der ständigen gesellschaftlichen Interaktion zwischen  A  und  B,  der sich noch weiter wandeln wird, je mehr Personen dazukommen (24). Die institutionale Welt, in der ursprünglichen Situation von  A  und  B  noch  in statu nascendi [im Zustand der Geburt - wp] wird nun an andere weitergereicht. Mit diesem Vorgang vollendet die Institutionalisierung sich selbst. Die gemeinsamen Habitualisierungen und Typisierungen von  A  und  B,  die bislang noch den Charakter von ad-hoc-[für diesen Zweck - wp]Konzeptionen zweier Individuen hatten, sind von nun an historische Institutionen. Durch die erreichte Historizität ergibt sich - oder genauer gesagt: vollendet sich - noch eine andere entscheidende Qualität, welche von Anfang an da war, seit  A  und  B  mit der reziproken Typisierung ihres Verhaltens begonnen hatten: Objektivität. Die Institutionen nämlich, welche sich nun herauskristallisiert haben - Vaterschaft zum Beispiel -, die die ersten Kinder bereits vorfinden, werden als über und jenseits der Personen, welche sie "zufällig" im Augenblick verkörpern, daseiend erlebt. Mit anderen Worten: Institutionen sind nun etwas, das seine eigene Wirklichkeit hat, eine Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres, zwingendes Faktum gegenübersteht. (25)

Solange entstehende Institutionen lediglich durch die Interaktion von  A  und  B  aufrechterhalten werden, bleibt ihr Objektivitätszustand spannungsvoll, schwankend, fast spielerisch, obgleich sie schon durch ihr bloßes Zustandekommen einem gewissen Objektivitätsgrad erhalten. Etwas anders ausgedrückt: der Routinehintergrund für die Aktivität von  A  und  B  bleibt für ihre eigene Intervention aufgrund von Überlegung leicht erreichbar. Obgleich die einmal etablierten Routinen als solche die Tendenz zu Dauer und Bestand haben, gibt es doch für das Bewußtsein noch die Möglichkeit, sie zu verändern oder gar abzuschaffen. Nur  A  und  B  sind für die Konstruktion dieser Welt verantwortlich, und  A  und  B  behalten die Macht, sie zu verändern oder gar zu vernichten. Für sie, die selbst dieser Welt im Verlauf gemeinsamen Lebens Gestalt gegeben haben, eines Lebens, an das sie sich erinnern können, ist diese ihre Welt zudem noch durchschaubar. Sie verstehen, was sie selbst geschaffen haben. Das ändert sich jedoch mit der Weitergabe an eine neue Generation. Die Objektivität der institutionalen Welt "verdichtet" und "verhärtet" sich, nicht nur für die Kinder, sondern - mittels eines Spiegeleffektes - auch für die Eltern. Aus dem "Da wären wir wieder einmal" wird ein "So macht man das". Eine Welt, so gesehen, gewinnt Festigkeit im Bewußtsein. Sie wird auf massivere Weise wirklich und kann nicht mehr so einfach verändert werden. Für die Kinder in der Frühphase ihrer Sozialisation wird sie "die Welt". Für die Eltern verliert sie ihre spielerischen Qualitäten und wird "ernst". Den Kindern ist die von den Eltern überkommene Welt nicht mehr ganz durchschaubar. Sie hatten nicht Teil daran, ihr Gestalt zu geben. So steht sie ihnen nun als gegebene Wirklichkeit gegenüber - wie die Natur und wie diese vielerorts undurchschaubar.

Jetzt erst wird es überhaupt möglich, von einer gesellschaftlichen Welt im Sinne einer in sich zusammenhängenden, gegebenen Wirklichkeit zu sprechen, die dem Menschen wie die Wirklichkeit der natürlichen Welt gegenübersteht. Nur so,  als  objektive Welt, können die sozialen Gebilde an eine neue Generation weitergegeben werden. In den Frühphasen seiner Sozialisation ist das Kind unfähig, zwischen der Objektivität natürlicher und gesellschaftlicher Phänomene zu unterscheiden (26). Um mit dem wichtigsten Gegenstand der Sozialisation zu beginnen: die Sprache erscheint dem Kind als zur "Natur der Dinge" gehörig. Es kann nicht erkennen, daß es sich um eine Übereinkunft handelt. Ein Ding  ist,  was es heißt, und es kann nichts anderes sein. Auch Institutionen wirken gegeben, unveränderlich und selbstverständlich. Sogar für unser - unwahrscheinliches - Beispiel des Elternpaares, das eine institutionale Welt  neu  begründet, gilt, daß die Objektivität dieser seiner Welt durch die Sozialisation ihrer Kinder stärker in Erscheinung tritt, weil die Gegenständlichkeit, wie sie ihre Kinder erleben, auf das elterliche Welterleben zurückreflektiert wird. Natürlich hat die institutionale Welt, die die meisten Eltern an ihre Kinder weitergeben, schon längst den Charakter historischer und objektiver Wirklichkeit. Der Prozeß der Weitergabe bekräftigt nur den elterlichen Wirklichkeitssinn, und sei es nur, weil man, wenn man oft genug sagt: "So macht man das", schließlich selbst daran glaubt. (27)

Eine institutionale Welt wird also als objektive Wirklichkeit erlebt. Sie hat eine Geschichte vor der Geburt des Individuums, die sich einer persönlich-biographischen Erinnerung entzieht. Sie war da, bevor der Mensch geboren wurde, und sie wird weiter nach seinem Tod da sein. Diese Geschichte hat selbst, als Tradition bestehender Institutionen, objektiven Charakter. Der Lebenslauf des Einzelnen wird als eine Episode aufgefaßt, die ihren Ort in der objektiven Geschichte der Gesellschaft hat. Die Institutionen stehen dem Individuum als objektive Faktizitäten unabweisbar gegenüber. Sie sind  da,  außerhalb der Person, und beharren in ihrer Wirklichkeit, ob wir sie leiden mögen oder nicht. Der Einzelne kann sie nicht wegwünschen. Sie widersetzen sich seinen Versuchen, sie zu verändern oder ihnen zu entschlüpfen. Sie haben  durch ihre bloße Faktizität zwingende Macht  über ihn, sowie auch durch die Kontrollmechanismen, die zumindest den wichtigsten Institutionen beigegeben sind. Wenn der Mensch den Sinn oder die objektive Wirkung nicht begreift, wird ihre objektive Wirklichkeit nicht geringer. Weite Teile der gesellschaftlichen Welt mögen uns in ihrer Undurchsichtigkeit unbegreiflich, ja, bedrückend erscheinen. Wirklich aber sind sie nichtsdestoweniger für uns. Da Institutionen objektive Wirklichkeit sind, kann der Einzelne sie nicht durch eine einsame Selbstbetrachtung begreifen. Er muß "ausgehen" und lernen - genauso wie mit der Natur -, mit ihnen umzugehen. Das gilt, obwohl die soziale Welt als von Menschen produzierte Wirklichkeit potentiell in einer Weise verstehbar ist, die für die natürliche Welt nicht gegeben ist. (28).

Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, daß die Gegenständlichkeit der institutionalen Welt, so dicht sie sich auch dem Einzelnen darstellen mag, eine von Menschen gemachte, konstruierte Objektivität ist. Der Vorgang, durch den die Produkte tätiger menschlicher Selbstentäußerung objektiven Charakter gewinnen, ist  Objektivation das heißt  Vergegenständlichung (29). Die institutionale Welt ist vergegenständlichte menschliche Tätigkeit, und jede einzelne Institution ist dies ebenso. Mit anderen Worten: trotz ihrer Gegenständlichkeit für unsere Erfahrung gewinnt die gesellschaftliche Welt dadurch keinen ontologischen Status, der von jenem menschlichen Tun, aus dem sie hervorgegangen ist, unabhängig wäre. Das Paradoxon, daß der Mensch fähig ist, eine Welt zu produzieren, die er dann  anders  als ein menschliches Produkt erlebt, wird uns noch beschäftigen. Im Augenblick ist zu betonen, daß die Beziehung zwischen dem Menschen als dem Hervorbringer und der gesellschaftlichen Welt als seiner Hervorbringung dialektisch ist und bleibt. Das bedeutet: der Mensch - freilich nicht isoliert, sondern inmitten seiner Kollektivgebilde - und seine gesellschaftliche Welt stehen miteinander in Wechselwirkung. Das Produkt wirkt zurück auf seinen Produzenten. Externalisierung und Objektivation - Entäußerung und Vergegenständlichung - sind Bestandteile in einem dialektischen Prozeß. Mit dem dritten Element, der Internalisierung, das heißt buchstäblich einer Einverleibung, durch welche die vergegenständlichte gesellschaftliche Welt im Verlauf der Sozialisation ins Bewußtsein zurückgeholt wird, werden wir uns später ausführlich auseinandersetzen. Die fundamentale Aufeinander-Bezogenheit dieser drei dialektischen Elemente in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist jedoch schon jetzt zu erkennen. Jedes von ihnen ist ein wesentliches Merkmal der sozialen Welt.  Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.  Daß eine Analyse der gesellschaftlichen Welt, welche irgendeines dieser Elemente außer acht lassen würde, verzerrt wäre, dürfte ebenfalls schon deutlich geworden sein (30). Hinzuzufügen ist noch, daß nur in der Übernahme der gesellschaftlichen Welt durch eine neue Generation - durch Internalisierung also, die sich als Sozialisation auswirkt - die fundamentale gesellschaftliche Dialektik in ihrer Totalität sichtbar wird. Noch einmal: nur vom Auftritt einer neuen Generation an kann man rechtens von einer gesellschaftlichen Welt sprechen.

Zu eben diesem Zeitpunkt bedarf die institutionale Welt der Legitimation, das heißt, sie braucht Weisen ihrer "Erklärung" und Rechtfertigung. Sie hat das nicht etwa nötig, weil sie nun weniger wirklich "wirkt". Wir wissen schon, daß sie an Wirklichkeitsdichte zunimmt, sobald sie vermittelt wird. Aber diese dichte Wirklichkeit ist nun geschichtlich und kommt auf eine neue Generation als Tradition eher denn als eigene Erinnerung zu. In unserem Schulbeispiel können  A  und  B,  die Schöpfer einer ursprünglich gesellschaftlichen Welt, die Umstände, unter denen ihre Welt mit allen ihren Teilen entstand, jeder Zeit rekonstruieren. Das heißt auch, daß sie den Sinn einer Institution erkennen können, wenn sie ihr eigenes Erinnerungsvermögen mobilisieren. Ihre Kinder sind aber in einer völlig anderen Lage. Was sie von der institutionalen Ordnung wissen, haben sie vom "Hörensagen". Der ursprüngliche Sinn der Institutionen ist ihrer eigenen Erinnerung unzugänglich. Dieser Sinn muß ihnen also mit Hilfe verschiedener, ihn rechtfertigender Formeln verständlich gemacht werden. Wenn die Auslegung von Sinn durch Formeln und Rezepte für die neue Generation überzeugend sein soll, so müssen diese übereinstimmen und einen der institutionalen Ordnung entsprechenden Zusammenhang ergeben. Dieselbe Geschichte muß sozusagen allen Kindern erzählt werden können. Die Folge ist, daß die sich weitende institutionale Ordnung ein ihr entsprechendes Dach aus Legitimationen erhalten muß, das sich in Form kognitiver und normativer Interpretationen schützend über sie breitet. Die neue Generation erlernt die Legitimation im gleichen Prozeß, durch den sie in die institutionale Ordnung eingeführt und auf sie abgestimmt wird. Mit diesem Prozeß der Sozialisation müssen wir uns noch auseinandersetzen.

Auch die Entwicklung besonderer sozialer Kontrollmechanismen wird nötig, wenn Institutionen Geschichtlichkeit und Gegenständlichkeit gewonnen haben. Sobald sie nämlich dadurch Wirklichkeit geworden sind, entsteht auch schon die Möglichkeit der Abweichung von den institutionell "programmierten" Handlungsabläufen, die sich von der konkreten Relevanz ihres Ursprungs abgelöst haben. Um das einfacher zu sagen: man weicht eher von Programmen ab, die einem andere aufgestellt haben, als von solchen, an deren Aufstellung man selbst beteiligt war. Mit der neuen Generation erhebt sich das Problem ihrer Willfährigkeit, und ihre Einfügung in die soziale Ordnung macht Sanktionen notwendig. Die Institutionen stellen dem Individuum gegenüber den Anspruch auf Autorität und müssen ihn stellen, ungeachtet des subjektiv gemeinten Sinnes, den der Einzelne mit einer Situation verbindet. Die Priorität der institutionalen Definition von Situationen über individuelle Versuche, sie um- und neuzubestimmen, muß unbedingt gewahrt bleiben. Den Kindern muß beigebracht werden, "wie man sich benimmt", und dann müssen sie "bei der Stange" gehalten werden. Dasselbe gilt natürlich auch für die Erwachsenen. Je mehr Verhaltensweisen institutionalisiert sind, desto mehr Verhalten wird voraussagbar und kontrollierbar. Wenn die Sozialisation des Einzelnen in die Institutionen hinein erfolgreich ist, können äußerste Zwangsmittel sparsam und mit Auswahl angewandt werden. Meistens stellt sich Verhalten "spontan" ein - in institutionell vorgeschriebenen Bahnen. Je mehr Verhalten hinsichtlich seines Sinns Gewißheitscharakter hat, desto weniger Alternativen zu den institutionellen "Vorschriften" auftauchen werden und desto voraussehbarer und kontrollierbarer wird das Verhalten sein.

Im Prinzip kann jedes Gebiet allgemein relevanten Verhaltens institutionalisiert werden. In der Praxis laufen eine Menge entsprechender Vorgänge gleichzeitig ab. Nichts spricht dabei für einen "Funktionszusammenhang" a priori - von einem logisch-schlüssigen System ganz zu schweigen. Um das zu illustrieren, besetzen wir unser Schulbeispiel etwas anders, nicht mit einer hoffnungsvollen Familie, sonderm mit einem pikanten Trio: dem Mann  A,  einer bisexuellen Frau  B  und der Lesbe  C.  Daß die erotischen Vorlieben dieser drei nicht allseitig zusammenpassen, braucht uns gar nicht zu beunruhigen. Zwar gilt die einschlägige Relevanz nicht auch für  C.  Jene Habitualisierungen aber, die die Frucht der A-B-Relevanz sind, brauchen keine fruchtbare Beziehung zu den Relevanzen  B-C  und  A-C  bzw. zu deren Habitualisierungen zu erzeugen. Schließlich gibt es keinen Grund, warum nicht zwei erotische Gewohnheiten, einer heterosexuellen und einer lesbischen, in trautem Nebeneinander, ganz ohne funktionale Integration gefrönt werden könnte. Auch vertragen sich erotisch verschiedene Habituden durchaus mit einem verbindenden Interesse, sagen wir, für Blumenzucht (oder was sonst einen aktiven heterosexuellen Mann und eine aktive Lesbe vereinen könnte). Mit anderen Worten: dreierlei Vorgänge der Habitualisierung oder beginnenden Institutionalisierung können vor sich gehen, ohne als gesellschaftliche Phänomene funktional oder logisch integriert zu sein. Dieselbe Überlegung ist schlüssig, wenn wir uns  A, B  und  C  nicht als Individuen, sondern als Gruppen, ganz ungeachtet der Inhalte ihrer Relevanzen, vorstellen. Auch dürfen wir funktionale oder logische Integration a priori selbst da nicht annehmen, wo es sich, statt um so delikate Eigenbrötler wie in unserem Beispiel, um gleichartige Einzelne oder Gruppen handelt.

Nichtsdestoweniger bleibt die empirische Tatsache bestehen, daß Institutionen dazu tendieren "zusammenzuhängen". Will man dieses Phänomen nicht einfach hinnehmen, so muß man es erklären. Aber wie? Zunächst kann man feststellen, daß  einige  Relevanzen allen Gliedern eines Kollektivs gemeinsam sind, weite Verhaltensbereiche dagegen nur für bestimmte Typen Relevanz besitzen. Im letzteren Fall entsteht eine Differenzierung, mindestens sofern die Typen als solche relativ sinnvoll unterschieden bleiben. Der ihnen zugeschriebene Typuscharakter kann auf präsoziale Unterschiede zurückgehen, auf das Geschlecht z. B., aber auch auf Aussonderungen im Verlauf der Interaktion, wie sie etwa durch Arbeitsteiligkeit der Gesellschaft zustande kommen. Fruchtbarkeitszauber beispielsweise ist Sache der Frauen, Höhlenmalerei die der Jäger. Oder: nur alte Leute dürfen den Regentanz aufführen, und nur wer Waffen herstellt, darf mit seiner Base mütterlicherseits schlafen. Im Sinne äußerer gesellschaftlicher Funktionalität brauchen so verschiedene Verhaltensregeln nicht in  einem  zusammenhängenden System integriert zu sein. Sie können unabhängig voneinander bestehen bleiben und weiter befolgt werden. Im Gegensatz zu möglicherweise getrennt durchführbaren Vollzügen tendieren Sinngehalte jedoch zu - zumindest minimaler - Konsistenz [Stabilität hinsichtlich der Verformbarkeit - wp]. Sobald der einzelne Mensch über das Nacheinander seiner Erlebnisse nachdenkt, versucht er, ihren Sinn einem biographischen Zusammenhang einzufügen. Diese Neigung wächst, wenn er seine private Sinnauffassung samt biographischer Integraton mit anderen teilt. Der Hang, Bedeutungen zu integrieren, kann auf einem psychologischen Bedürfnis beruhen, das seinerseits vielleicht physiologisch begründet ist. Es mag durchaus ein eingeborenes Bedürfnis nach Zusammenhang in der psycho-physischen Konstitution des Menschen angelegt sein. Als Soziologen dürfen wir uns jedoch mit anthropologischen Hypothesen nicht zufriedengeben. Wir haben es vielmehr mit der Analyse reziproker Sinngebung bei Institutionalisierungsprozessen zu tun.

Größte Vorsicht ist demnach im Hinblick auf alle Behauptungen über die angebliche "Logik" von Institutionen geboten. Die Logik steckt nicht in den Institutionen und ihrer äußeren Funktionalität, sondern in der Art, in der über sie reflektiert wird. Anders ausgedrückt: das reflektierende Bewußtsein überlagert die institutionale Ordnung mit seiner eigenen Logik. (31)

Die objektivierte soziale Welt wird von der Sprache auf logische Fundamente gestellt. Das Gebäude unserer Legitimationen ruht auf der Sprache, und Sprache ist ihr Hauptinstrument. Die "Logik", mit der die institutionale Ordnung auf diese Weise ausgestattet wird, ist ein Teil des gesellschaftlich zugänglichen Wissensvorrates und wird als solcher als Gewißheit hingenommen. Da der wohl-sozialisierte Einzelne "weiß", daß seine gesellschaftliche Welt ein stimmiges Ganzes ist, sieht er sich genötigt, ihre geglückten wie ihr mißglücketen "Funktionen" nach Maßgabe seines "Wissens" zu erklären. Das Resultat ist, daß der unbeteiligte Betrachter einer Gesellschaft einfach glaubt, ihre Institutionen wirken und greifen tatsächlich auf eben die Weise ineinander, die ihnen vorher "unterstellt" worden ist. (32)

Nun sind Institutionen aber  de facto  integriert. Diese Integriertheit ist jedoch kein Imperativ der Funktionen für die gesellschaftlichen Prozesse, die Integration zustande bringen. Die Integration ist vielmehr eine Art Derivat [Abkömmling - wp]. Einzelne Personen vollziehen im Kontext ihres Lebenslaufes einzelne institutionalisierte Handlungen. Der Lebenslauf wird als ein Ganzes gesehen, in dem die einzelnen Handlungen nicht als isolierte Ereignisse erscheinen, sondern als Teile eines mit subjektiv gemeintem Sinn erfüllten Universums, dessen Sinngehalte jedoch nicht spezifisch für die einzelne Person sind, sondern vielmehr gesellschaftlich geprägt, gegliedert und zugeteilt. Nur auf diesem Umweg über gesellschaftlich gemeinsamen, um nicht zu sagen "gemeinten" Sinn, gelangen wir zur Notwendigkeit der institutionalen Integration.

Das hat weitreichende Folgen für jede Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene. Wenn die Integration einer institutionellen Ordnung nur auf der Grundlage des "Wissens", das ihre Mitglieder über sie haben, verstanden werden kann, so folgt daraus, daß die Analyse dieses "Wissens" für die Analyse der betreffenden institutionalen Ordnung entscheidend ist. Weder ausschließlich noch vorrangig sollte sich eine solche Analyse auf die komplexen theoretischen Systeme einlassen, deren sich die institutionale Ordnung zu ihrer Legitimation bedient. Freilich, auch Theorien müssen in Rechnung gestellt werden. Aber theoretisches Wissen ist nur ein kleiner und nicht einmal der wichtigste Teil dessen, was in einer Gesellschaft als Wissen kursiert. Theoretisch durchdachte Legitimationen tauchen zu bestimmten Zeitpunkten der Geschichte von Institutionen auf. Das Primärwissen über die institutionelle Ordnung ist jedoch vortheoretisch. Es ist das  summum totum [die Totalsumme - wp] all dessen, "was jedermann weiß", ein Sammelsurium an Maximen, Moral, Sprichwortweisheiten, Werten, Glauben, Mythen und so weiter, dessen Integration eine beträchtliche geistige Kraft benötigt. Eine feierliche Galerie heroischer Integratoren, von HOMER bis zu unseren zeitgenössischen Systematikern der Soziologie legt Zeugnis davon ab. Auf vortheoretischer Ebene jedoch hat jede Institution einen Bestand an überliefertem Rezeptwissen (33), das heißt: Wissen, das die institutseigenen Verhaltensvorschriften mit Inhalt versorgt.

Die Art von Wissen legt die Grundlagen für die Dynamik der Motivierungen bei institutionalisiertem Verhalten. Es bestimmt, welche Verhaltensgebiete institutionalisiert sind und bezeichnet alle Situationen, die sich darunter subsumieren lassen. Es schafft und bestimmt die Rollen, die im Kontext der jeweiligen Institution gespiegelt werden. Es kontrolliert das Verhalten und sieht es zugleich voraus. Da dieses Wissen  als  Wissen gesellschaftlich objektiviert ist, das heißt, da es das Allgemeingut an gültigen Wahrheiten über die Wirklichkeit darstellt, muß jede radikale Abweichung von der institutionellen Ordnung als Ausscheren aus der Wirklichkeit erscheinen. Man kann derartige Abweichungen als moralische Verworfenheit, Geisteskrankheit oder bloße Ignoranz ansehen. Für die Behandlung dessen, der abweicht, mögen solche feineren Unterscheidungen durchaus ihre Folgen haben. Gemeinsam ist ihnen jedoch allein ein geringer kognitiver Status in der sozialen Welt. So wird eine bestimmte gesellschaftliche Welt zur Welt  schlechtin Was in der Gesellschaft für Wissen gehalten wird, wird gleichbedeutend mit dem Wißbaren oder ist zumindest der Rahmen für alles Noch-nicht-Gewußte, das in Zukunft gewußt werden könnte. Es ist das Wissen, das im Verlauf der Sozialisation erworben wird und dem Bewußtsein des Einzelnen die Internalisierung der vergegenständlichten Strukturen der sozialen Welt vermittelt. Wissen in diesem Sinne steht im Mittelpunkt der fundamentalen Dialektik der Gesellschaft. Es "programmiert" die Bahnen, in denen eine Externalisierung eine objektive Welt produziert. Es objektiviert diese Welt durch Sprache und den ganzen Erkenntnisapparat, der auf der Sprache beruth. Das heißt, es macht Objekte aus dieser Welt, auf daß sie als Wirklichkeit erfaßt wird (34). Dasselbe Wissen wird als objektiv gültige Wahrheit wiederum während der Sozialisation internalisiert. Wissen über die Gesellschaft ist demnach eine  Verwirklichung  im doppelten Sinn des Wortes: Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem.

So entsteht z. B. durch Arbeitsteiligkeit ein Wissensbestand, der mit den Tätigkeiten im einzelnen zu tun hat. Als sprachliche Grundlage ist er unerläßlich allein für das institutionelle "Programmieren" der wirtschaftlichen Tätigkeiten. Es muß ein Wortschatz da sein, der etwa verschiedene Techniken der Jagd bezeichnet, Waffen, die benützt werden, Tiere, die erbeutet werden sollen, und so weiter. Bevor man richtig jagen kann, muß ein Rezeptwissen erworben werden. Dieses ist eine regulierende, kontrollierende Kraft, ein unerläßlicher Zusatz der Institutionalisierung dieses Verhaltensgebietes. Wenn die Jagd sich als Institution herauskristallisiert hat und die Zeiten überdauert, wird der zu ihr gehörige Wissensbestand dann ihre objektive, empirisch nachvollziehbare Beschreibung. Ein Ausschnitt der sozialen Welt wird durch dieses spezielle Wissen vergegenständlicht. Es entsteht eine objektive "Jagd-Wissenschaft", die der objektiven Wirklichkeit der "Jagd-Wirtschaft" entspricht. Wir brauchen nicht eigens darauf hinzuweisen, daß ein "empirischer Nachvollzug" und "Wissenschaft" hier nicht im Sinne moderner wissenschaftlicher Sprachregelungen zu verstehen sind, sondern als Wissen, das die Erfahrung bestätigen und in der Folge zu einem systematisch geordneten Wissensbereich werden kann.

Wie andere wird auch dieser Wissensbereich der nächsten Generation übermittelt. Er wird im Lauf der Sozialisation als objektive Wahrheit gelernt und damit als subjektive Wirklichkeit internalisiert. Umgekehrt hat diese Wirklichkeit die Kraft, das Individuum zu prägen. Sie schafft einen besonderen Typus: den Jäger, dessen Leben und Identität  als  Jäger nur in einer Sinnwelt Sinn haben, die sich auf das einschlägige Wissensgebiet gründet - als Ganzes (zum Beispiel in einer primitiven Jägergesellschaft) oder als Teilbereich (sagen wir, in unserer eigenen Gesellschaft, in der die Jäger sich in einer Art Subsinnwelt, die ihnen gehört, zusammenfinden). Mit anderen Worten: kein Teil der Institutionalisierung der Jagd kann Bestand haben ohne den speziellen Wissensbestand, der von der Gesellschaft produziert und für die Jagd objektiviert worden ist. Jagen und Jägersein heißt, in einer sozialen Welt leben, die vom Wissen um die Jagd und für die Jagd bestimmt wird und unter seiner Kontrolle steht. Dasselbe trifft  mutatis mutandis [unter vergleichbaren Bedingungen - wp] für jedes Gebiet institutionalisierten Verhaltens zu.
LITERATUR: Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1970
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    Anmerkungen
    1) Als neuere biologische Literatur zur Sonderstellung des Menschen im Tierreich vgl. JAKOB von UEXKÜLL und GEORG KRISZAT, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen/Bedeutungslehre, Hamburg 1962; FREDERIK JACOBUS JOHANNES BUYTENDIJK, Mensch und Tier, Hamburg 1958; ADOLF PORTMANN, Zoologie und das neue Bild des Menschen, Hamburg 1962. Die grundlegenden Arbeiten zu einer philosophischen Anthropologie unter Berücksichtigung der biologischen Perspektive finden sich bei HELMUTH PLESSNER, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1965; ders.,  Conditio humana,  in: "Propyläen-Weltgeschichte", Bd. 1, Berlin 1961, Seite 33f, und später auch bei ARNOLD GEHLEN, Der Mensch; Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt-Bonn 1966. GEHLEN hat später darauf eine soziologische Theorie der Institutionen aufgebaut, insbesondere in: "Urmensch und Spätkultur", Bonn 1956; vgl. dazu PETER LUDWIG BERGER und HANSFRIED KELLNER, Arnold Gehlen and the Theory of Institution, in: "Social Research, Bd. 32, 1965, Heft 1, Seite 110f.
    2) Den Ausdruck "artspezifische Umwelt" hat UEXKÜLL, a. a. O., geprägt.
    3) Die anthropologischen Folgerungen aus dem Begriff "Weltoffenheit" haben besonders PLESSNER und GEHLEN gezogen.
    4) Die ontogenetisch begründete Eigenart des menschlichen Organismus hat vor allem PORTMANN a. a. O. in seinen Forschungen dargestellt.
    5) Der Gedanke, daß die fetale Periode des Menschen sich über das erste Lebensjahr hin erstreckt, stammt von PORTMANN (das "extra-uterine Frühjahr").
    6) Den Ausdruck "significant others" hat GEORGE HERBERT MEAD geprägt (Mind, Self and Society, Chicago 1967; dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Ffm 1968). Eine gute Zusammenfassung der wichtigsten Schriften von MEAD bei ANSELM STRAUSS (Hg),  George Herbert Mead on Social Psychology,  Chicago 1964. Als Sekundärliteratur vgl. MAURICE NATANSON, The Social Dynamics of George Herbert Mead, Washington 1956.
    7) Zwischen der Konzeption des Menschen als eines sich selbst produzierenden Wsens und der Idee einer "menschlichen Natur" besteht ein fundamentaler Widerspruch. Die Folge davon ist eine Differenz des anthropologischen Ansatzes nach MARX und den soziologischen Anknüpfungen an MEAD sowohl wie an FREUD. Eine Klärung dieser Unterschiede wäre für eine sinnvolle Diskussion zwischen heutiger Soziologie und Psychologie sehr wichtig. In der soziologischen Theorie kann man Positionen, die dem "soziologischen Pol" und solche, die dem "psychologieschen Pol" näherstehen, unterscheiden. Am nächsten zum "psychologischen Pol" steht in der Soziologie wahrscheinlich VILFREDO PARETO. An Annahme oder Ablehnung einer "menschlichen Natur" knüpfen sich übrigens auch interessante ideologische Folgerungen, auf die jedoch hier nicht näher eingegangen werden kann. Von besonderer Bedeutung ist hier PLESSNERs philosophische Anthropologie, die wesentlich dialektischen Charakters ist. Die Grundlage dafür, daß sich der Mensch selbst produziert, ist nach PLESSNER seine exzentrische Positionalität.
    8) Vgl. hierzu die Arbeiten von BRONISLAW MALINOWSKI, RUTH BENEDICT, MARGARET MEAD, CLYDE KLUCKHOHN und GEORGE MURDOCK.
    9) Was wir hier über die sexuelle Prägbarkeit des Menschen sagen, hat gewisse Beziehungen zu FREUDs Gedanken vom ursprünglich ungeformten Charakter der Libido.
    10) Vgl. hierzu G. H. MEADs Theorie der gesellschaftlichen Genese des Selbst; ("Mind", Self and Society, a. a. O., Seite 135f)
    11) Der Ausdruck "Exzentrizität" stammt von PLESSNER.
    12) Den gesellschaftlichen Charakter der Selbstproduktion des Menschen hat MARX am schärfsten in seiner Kritik an STIRNER "Die deutsche Ideologie" formuliert. Vgl. dazu auch SARTREs Weg vom Existenzialismus von  L'Etre et le Néant  zum modifizierten Marxismus der  Critique de la raison dialectique - ein eindrucksvoller Beleg für die Gewinnung der soziologisch entscheidenden Einsicht in der modernen philosophischen Anthropologie. Es wäre SARTREs Interesse an einer "Vermittlung" zwischen makro-soziologisch historischen Prozessen und dem individuellen Lebensweg nur gedient, wenn er die Sozialpsychologie von MEAD heranziehen würde.
    13) Die unentwirrbare Verschränktheit von Menschenhaftigkeit und Gesellschaftlichkeit hat am schärfsten DURKHEIM herausgearbeitet - besonders in dem zusammenfassenden Abschnit von "Die elementaren Formen des religiösen Lebens", Ffm 1981.
    14) Wir beziehen uns hier auf PLESSNERs Konzeption der "natürlichen Künstlichkeit", die in "Die Stufen des Organischen und der Mensch", a. a. O., entwickelt wird.
    15) Wenn wir darauf bestehen, daß  Gesellschaftsordnung  nicht auf irgendwelchen "Naturgesetzen" beruth, so bejahen wir damit keineswegs eine metaphysische Konzeption im Sinne eines "Naturrechts". Unsere Behauptung bezieht sich nur auf Fakten, die der Empirie zugänglich sind.
    16) Am entschiedensten hat DURKHEIM darauf bestanden, daß die Gesellschaftsordnung "eine spezifische Realität" sui generis darstellt; vgl.: "Die Regeln der soziologischen Methode", a. a. O. Seite 187. Die anthropologische Notwendigkeit der "Entäußerung" respektive "Vergegenständlichung" haben sowohl HEGEL wie MARX herausgestellt. (vgl. KARL MARX, "Die Frühschrifen", a. a. O., Seite 225f); (HELMUTH PLESSNER, "Über die Verkörperungsfunktion der Sinne", in:  Studium Generale,  6. Jahrgang, Heft 7, 1953, Seite 410-416)
    17) Über die biologischen Grundlagen der "Entäußerung" und ihre Beziehung zur Entstehung von Institutionen vgl. GEHLEN, Urmensch und Spätkultur, a. a. O.
    18) Der Ausdruck "Wissensvorrat" (stock of knowledge) stammt von SCHÜTZ.
    19) Darauf bezieht sich GEHLEN mit seinen Ausdrücken "Triebüberschuß" und "Entlastung".
    20) Vgl. dazu GEHLENs Begriff der "Hintergrundserfüllung".
    21) Den Begriff der "Situationsbestimmung" hat W. I. THOMAS geprägt und in seinen soziologischen Arbeiten entwickelt. Vgl. W. I. THOMAS, The Child in America, New York 1928, Seite 572; ders., Social Behaviour and Personality (Hg. VOLKART), New York 1951, Seite 80f (dt.: Person und Sozialverhalten, Neuwied 1965, Seite 46f).
    22) Wir sind uns klar darüber, daß wir den Begriff "Institution" weiter fassen als die zeitgenössische soziologische Literatur, glauben aber, daß der weitere Begriff für eine umfassende Analyse fundamentaler gesellschaftlicher Prozesse sehr nützlich ist. Über "soziale Kontrolle" vgl. FRIEDRICH TENBRUCK im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft (1962) und HEINRICH POPITZ, "Soziale Normen", in:  European Journal of Sociology,  Bd. II, 1961, Seite 185-198.
    23) "Taking the role of the other" ist eine Bezeichnung von MEAD. Wir halten uns hier an MEADs Paradigma der Sozialisation und wenden es auf das weitere Problem der Institutionalisierung an. Unsere Argumentation verbindet Gedanken von MEAD und GEHLEN zum Problem der Sozialisation bzw. Institutionalisierung.
    24) Hier ist SIMMELs Analyse der Ausweitung von der "Dyade" zur "Triade" angesprochen. Wir versuchen im folgenden, eine Verbindung zwischen SIMMELs und DURKHEIMs Auffassungen der Objektivität der sozialen Wirklichkeit herzustellen.
    25) In DURKHEIMs Sprache übertragen, hieße das, daß mit der Ausweitung von der Dyade zur Triade und weiter die ursprünglichen Gegebenheiten "soziale Fakten" werden, d. h. sie gewinnen "Sachcharakter", "Choséité".
    26) Vgl. hierzu PIAGETs  infantilen Realismus ("La construction du réel chez l'enfant", Neuchatel 1950 und "Biologie et connaissance", Paris 1967)
    27) Zur Analyse dieses Sachverhalts in der Familie von heute vgl. PETER L. BERGER und HANSFRIED KELLNER, "Marriage and the Construction of Reality", in:  Diogenes,  Bd. 46, Seite 1f (dt.: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit", in:  Soziale Welt,  Jahrgang 16, 1965, Seite 220f).
    28) Wir halten uns hier an DURKHEIMs Analyse der sozialen Wirklichkeit, die der Vorstellung MAX WEBERs vom sinnhaften Charakter der Gesellschaft nicht widerspricht. Da gesellschaftliche Wirklichkeit immer aus sinnhaften Handlungen besteht, behält sie ihren Sinn auch, wenn er dem Individuum jeweils undurchsichtig ist. Der Hergang ist "rekonstruierbar", und zwar eben mit Hilfe dessen, was WEBER "Verstehen" nennt.
    29) siehe Anmerkung 1, Kapitel I
    30) Die heutige amerikanische Soziologie neigt dazu, das erste Moment außer acht zu lassen. Ihre Anschauung von der Gesellschaft hat etwas von dem, was MARX "Verdinglichung" genannt hat, das bedeutet ene undialektische Verzerrung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, deren Charakter als ständige Produktion des Menschen verdunkelt wird. Stattdessen werden "dingliche" Kategorien in sie hineingesehen, die, wenn überhaupt, nur zur Welt der Natur passen. Daß die dementsprechende "Enthumanisierung" durch Elemente aus einer größeren Überlieferung gemildert wird, ist zwar von moralischem Wert, theoretisch jedoch völlig irrelevant.
    31) Hier ist vor allem an PARETOs Analyse der "Logik" von Institutionen zu denken. Zu ähnlichen Konsequenzen wie wir kommt auch FRIEDRICH TENBRUCK, a. a. O. Auch er besteht darauf, daß die Neigung zur Konsistenz im sinnhaften Charakter des menschlichen Handelns begründet ist.
    32) Das ist natürlich die Schwäche jeder rein funktionalistisch orientierten Soziologie. Eine blendende Kritik an einer solchen findet sich bei CLAUDE LÉVI-STRAUSS, Tristes Tropiques, New York 1964 (dt.: Traurige Tropen, Köln-Berlin 1960, Seite 142f).
    33) Der Terminus "Rezeptwissen" stammt von SCHÜTZ.
    34) siehe Anmerkung 1, Kapitel I