ra-3ra-1E. TopitschW. StarkR. EuckenTh. Veblen  dow    
 
PETER L. BERGER / THOMAS LUCKMANN
Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit

[Eine Theorie der Wissenssoziologie]
[7/7]
"Wahrscheinlich sind alle Menschen, wenn sie erst sozialisiert sind, latente  Verräter an sich selbst.  Die psychische Schwierigkeit dieses Verrates wird jedoch größer, wenn entschieden werden muß, welches  Selbst  von Fall zu Fall verraten werden soll."

"Wenn ein Psychiater seine Diagnose über einen Mann stellen will, dessen psychischer Zustand zweifelhaft erscheint, so stellt er ihm gewisse Fragen, um den Grad seiner  Wirklichkeitsorientiertheit  zu bestimmen. Das ist durchaus legitim. Nach psychiatrischen Gesichtspunkten liegt offenbar eine gewisse Problematik vor, wenn Menschen nicht wissen, was für ein Wochentag ist, oder schlicht erklären, sie hätten mit den Geistern von Verstorbenen gesprochen."

"Die Theoretiker der Identität bemühen sich, die Wandlungen der Identität, die tatsächlich aufgetreten sind, in den Griff zu bekommen. Aber auch auf der Ebene der Theorie selbst kann Identität problematisch werden, das heißt als Ergebnis innertheoretischer Entwicklungen. In solchen Fällen werden Theorien gleichsam  auf Abruf  zusammengebraut. Ihre nachträgliche Verankerung in der Gesellschaft - und damit ihre Macht, Wirklichkeit zu setzen - läßt sich durch alle möglichen Kreuz- und Querverbindungen des  Theoretiker-Personals  mit diversen gesellschaftlichen Interessen und Interessenten zustande bringen."


III. Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit

2. Internalisierung und
Gesellschaftsstruktur

Die Sozialisation findet immer innerhalb einer spezifischen Gesellschaftsstruktur statt. Nicht nur ihre Inhalte, auch das Maß ihres "Erfolges" haben sozial-strukturelle Grundlagen und sozial-strukturelle Folgen. Mit anderen Worten: mikrosoziologische oder sozialpsychologische Analysen der Internalisierungsphänomene müssen immer auf dem Hintergrund eines makrosoziologischen Verständnisses ihrer strukturellen Aspekte vorgenommen werden. (32)

Auf der Ebene der theoretischen Analyse, wie wir sie hier versucht haben, können wir uns nicht auf eine Behandlung empirischer Beziehungen zwischen den Inhalten der Sozialisation und sozial-strukturellen Konstellationen einlassen (33). Einige allgemeine Betrachtungen über die sozial-strukturellen Aspekte des "Erfolges" der Sozialisation sollen jedoch nicht unterlassen werden. Als "erfolgreiche Sozialisation" sehen wir ein hohes Maß an Symmetrie von objektiver und subjektiver Wirklichkeit (und natürlich Identität) an. Umgekehrt muß demnach eine "erfolglose Sozialisation" als Asymmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit verstanden werden. Wir haben gesehen, daß eine absolut gelungene Sozialisation anthropologisch nicht möglich ist. Absolut mißlungene Sozialisation ist zumindest außerordentlich selten und beschränkt sich auf Menschen, denen noch ein Minimum an Sozialisation aus organisch-pathologischen Gründen versagt ist. Unsere Analyse hat es daher mit den Stufen einer Skala zu tun, deren äußerste Punkte nicht faßbar sind. Eine solche Analyse ist jedoch notwendig, weil sie einige allgemeine Erkenntnisse über die Bedingungen und Folgen der erfolgreichen Sozialisation ermöglicht.

Maximalen Erfolg mit der Sozialisation haben wahrscheinlich Gesellschaften mit sehr einfacher Arbeitsteiligkeit und minimaler Wissensaufsplitterung. Die Sozialisation produziert bei solchen Bedingungen eine Identität, die gesellschaftlich prädefiniert und in hohem Maß vorprofiliert ist. Da jeder Einzelne es wesentlich mit demselben institutionalen Programm für sein Leben in der Gesellschaft zu tun hat, lastet die gesamte institutionale Ordnung mehr oder weniger schwer auf ihm und verleiht der Wirklichkeit, die er internalisiert, einen massiven Zwangscharakter. Identität ist dann stark profiliert, und zwar völlig als Repräsentanz der objektiven Wirklichkeit, in der sie ihren Ort hat. Einfacher ausgedrückt: jedermann ist im wesentlichen der, der er sein soll. Identität in einer solchen Gesellschaft ist subjektiv und objektiv leicht erkennbar. Jeder weiß, wer jeder andere und wer er selbst ist. Ein Ritter  ist  Ritter und ein Bauer  ist  Bauer - für andere und vor sich selbst. Es gibt daher kein Identitätsproblem. Das Bewußtsein stellt kaum je die Frage: "Wer bin ich?" Denn die gesellschaftlich vorbestimmte Antwort wird in jeder signifikanten Situation eindeutig wirklich und zusammenhängend bestätigt. Das bedeutet allerdings keineswegs, daß das Individuum sich in seiner Identität glücklich fühlen muß. Es war wohl nie ein vollkommenes Glück, Bauer zu sein. Bauern hatten von jeher vielerlei Schwierigkeiten, subjektiv wirkliche Probleme, die lasten und alles andere als Glücksgefüle wecken. Aber ein Identitätsproblem gehörte nicht dazu. Man konnte ein unfähiger und sogar ein rebellischer Bauer sein. Aber man war Bauer. Menschen, die unter solchen Umständen geformt werden, empfinden wohl kaum eine "geheime Schuld" im Sinne der modernen Psychologie. Das Selbst "an der Oberfläche" und das Selbst "unter der Oberfläche" sind nur nach der jeweiligen Reichweite subjektiver Wirklichkeit, nicht aber im Sinne einer starren "Schichtung" geschieden. Diese ist vielmehr zu jeder beliebigen Zeit im Bewußtsein, und zwar nicht in "Schichten" des Selbst, gegenwärtig. Der Bauer erlebt sich in einer Rolle, wenn er seine Frau verprügelt, und in einer anderen, wenn er vor seinem Großgrundbesitzer kuscht. In beiden Fällen steckt die zweite Rolle zwar "unter der Oberfläche", weil das Augenmerk des Bewußtseins sich gerade nicht auf sie richtet. Aber keine von beiden ist das "tiefere" oder "wirklichere" Selbst. Mit anderen Worten: der Einzelne in einer solchen Gesellschaft ist nicht nur der, für den er gehalten wird. Er ist auch unteilbar und ohne "Schichten" er selbst. (34)

Eine verunglückte Sozialisation kann unter solchen Umständen biologisch oder gesellschaftlich nur das Ergebnis biographischer Zufälle sein. Die primäre Sozialisation eines Kindes kann zum Beispiel durch eine körperliche Mißbildung beeinträchtigt werden, die ein gesellschaftliches Stigma trägt - oder durch ein Stigma, das sich auf gesellschaftliche Festlegungen gründet (35).  Krüppel  und  Bastard  sind die beiden Prototypen. Auch mehr oder weniger organisch bedingte Schwächen können die Sozialisation erschweren bzw. verhindern, etwa ein besonders niedriger Intelligenzgrad. Das alles ist jedoch ein individuelles Mißgeschick, das keine Grundlage für die Institutionalisierung von Kontrastidentitäten und Kontrastwirklichkeiten abgeben kann. Und gerade diese Tatsache bestimmt das Ausmaß des Unglücks in einem solchen Leben. Eine Gesellschaft dieser Art vergönnt dem Krüppel oder Bastard der stigmatischen Identität gegenüber, die sie ihm zugewiesen hat, keinerlei subjektive Verteidigungsmöglichkeit. Er ist, was man ihm zu sein vorschreibt - für sich, für seine signifikanten Anderen und für die Allgemeinheit. Freilich kann er bitter und zornig auf sein Schicksal reagieren. Aber er ist dann zornig oder verbittert als inferiores [untergeordnetes - wp] Wesen. Zorn und Ressentiment bestätigen unter Umständen geradezu die ihm bestimmte Identität als inferiores Wesen, weil, wer besser dran ist, per definitionem über so niedrigen Gefühlen stehen muß. Er ist in die objektive Wirklichkeit seiner Gesellschaft eingefangen, obgleich diese Wirklichkeit ihm subjektiv in entfremdeter und verstümmelter Form zuteil wird. Ein solcher Mensch ist erfolglos sozialisiert. Das heißt: zwischen der gesellschaftlich bestimmten Wirklichkeit, in der er  de facto  wie in einer fremden Welt gefangen ist, und seiner eigenen subjektiven Wirklichkeit, die diese Welt nur sehr unzulänglich spiegelt, besteht eine beträchtliche Asymmetrie. Daraus ergeben sich aber keine strukturellen Folgen, weil dieser Asymmetrie eine gesellschaftliche Basis fehlt, auf der sie sich zu einer Kontrastwelt mit einem eigenen institutionalen Verbund von Kontrastidentitäten herauskristallisieren könnte. Der erfolglos sozialisierte Einzelne selbst wird von vornherein und ausdrücklich von der Gesellschaft als Typus gestempelt: der Krüppel, der Bastard, der Idiot usw. Infolgedessen mangelt es ihm an jeder kontrastierenden Selbstidendifikation, die gelegentlich durch das Bewußtsein huschen mag, an einer Plausibilitätsstruktur, die aus ihn mehr werden läßt als einen flüchtigen Traum.

Die Anfänge von Kontrastbestimmungen der Wirklichkeit und der Identität tauchen auf, sobald solche Menschen sich zu gesellschaftlich soliden Gruppen zusammenschließen. Damit ist der Grund zu einem Wandel gelegt, der eine differenziertere und kompliziertere Aufteilung des Wissens nach sich zieht. In den erfolglos sozialisierten Gruppen am Rande der Gesellschaft kann jetzt eine Kontrastwirklichkeit objektiviert werden. Eine neue Gruppe wird zunächst einen eigenen Sozialisationsprozeß einführen. Denken wir daran, daß zum Beispiel Aussätzige - und ihre Nachkommen - vielfach ein gesellschaftliches Stigma tragen. Das kann sich auf die Kranken selbst beschränken. Es kann aber auch - mittels gesellschaftlicher Festlegung - andere treffen, sagen wir einmal, jeden, der bei einem Erdbeben geboren wird. Auf diese Weise kann man ein gebürtiger Aussätziger sein, was die primäre Sozialisation ziemlich stark beeinträchtigen dürfte. Nun stellen wir uns vor, eine sonderliche alte Frau sammelt solche Neugeborenen und zieht sie, allen Schranken, die ihr die Gesellschaft setzt, zum Trotz auf. Sie vermittelt ihnen dadurch ein Minimum an institutionellen Traditionen. Solange die Herangewachsenen - auch wenn es nicht nur ein paar Leutchen sind - keine Kontrastgruppe bilden, bleibt ihre objektive und subjektive Identität für sie in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Vorschriften. Sie sind Aussätzige und nichts als das.

Die Lage wird anders, wenn eine Leprakolonie entsteht, die groß und stabil genug ist, um mit einer Plausibilitätsstruktur für Kontrastdefinitionen der Wirklichkeit dienen zu können. Nun kann ein biologischer oder soziologischer Aussatz zum Zeichen göttlicher Auserwähltheit erhoben werden. Die Betroffenen, vor der totalen Internalisierung der Wirklichkeit ihrer Gesellschaft bewahrt, können nun in eine Kontrastwirklichkeit der Leprakolonie hineinsozialisiert werden. Das heißt: die erfolglose Sozialisation in eine Welt kann umschlagen in die erfolgreiche in eine andere. In den Frühphasen solcher Verwandlungsprozesse kann die Entstehung von Kontrastwirklichkeit und Kontrastidentität vor dem Einblick der größeren Gesellschaft verborgen werden. Sie erkennt und identifiziert diese Leute immer noch als Aussätzige und nichts als das. Dort weiß man nocht nicht, daß sie "in Wirklichkeit" Lieblinge der Götter sind. Jetzt kann jemand, der zur Kategorie der Aussätzigen gehört, "verborgene Tiefen" in sich entdecken. Die Frage: "Wer bin ich?" stellt sich ein, einfach weil zwei konkurrierende Antworten zur Wahl stehen, die der sonderlichen alten Frau: "Du bist ein Aussätziger" und die der Leprakolonie: "Du bist ein Liebling der Götter". Gibt nun der Einzelne der Wirklichkeitsbestimmung seiner selbst durch die Kolonie den Preis, so entsteht ein Bruch zwischen seiner "sichtbaren" Lebensform in der größeren Gesellschaft und seiner "unsichtbaren" Selbstauffassung als ein ganz anderer. Zwischen "Erscheinung" und "Wirklichkeit" klafft im Bewußtsein des Einzelnen ein Spalt. Er ist nicht mehr länger der, der er sein soll. Er  tut,  als wäre er ein Aussätziger - er  ist  aber ein Liebling der Götter. Wenn nun - um unser Beispiel noch etwas zu strapazieren - dieser Spalt für die Gesellschaft der Nichtaussätzigen offenbar wird, so ist unschwer zu erraten, daß auch ihre Wirklichkeit nicht unbetroffen bleibt. Das Minimum wäre, daß es nun nicht mehr ganz so leicht sein dürfte, die "soziologisch" Aussätzigen zu identifizieren, weil man ja nicht mehr sichergehen kann, ob jemand, den man mit guten Gründen zu den Aussätzigen rechnet, sich auch selbst dafür hält. Das Maximum wäre, daß gar niemandes Identität leicht zu erkennen ist. Denn wenn schon die Aussätzigen ablehnen können zu sein, was sie sein sollen, so können andere das auch. Und man selbst? Warum eigentlich nicht? Wem unsere Geschichte allzu phantastisch vorkommt, der denke daran, daß GHANDI den Kastenlosen den Namen "Harijans" gegeben hat - das heißt: "Kinder Gottes".

Ist die Verteilung des Wissens in einer Gesellschaft erst einmal differenzierter geworden, so kann das Mißlingen der Sozialisation auch daher kommen, daß verschiedenartige Andere verschiedenartige objektive Wirklichkeiten vermitteln. Anders ausgedrückt: eine erfolglose Sozialisation kann die Folge von Widersprüchen sein, in die sich das sozialisierende "Personal" verwickelt hat. Dazu kann es auf verschiedene Weise kommen. Es gibt Situationen, in denen alle signifikanten Anderen der Primärsozialisation zwar eine gemeinsame Wirklichkeit vermitteln, die sie aber unter ganz verschiedener Perspektive sehen. Bis zu einem gewissen Grad hat natürlich jeder signifikante Andere eine verschiedene Perspektive im Hinblick auf eine gemeinsame Wirklichkeit, einfach weil er ein Individuum mit einer individuellen Biographie ist. Was wir jedoch hier im Sinn haben, stellt sich nur ein, wenn die Unterschiede zwischen den signifikanten Anderen weniger ihre Individualität als ihren gesellschaftlichen Typus betreffen. Männer und Frauen können beispielsweise recht verschiedene Welten in einer Gesellschaft "bewohnen". Wenn Männer und Frauen als signifikante Andere an der primären Sozialisation mitwirken, so vermitteln sie dem Kind widersprüchliche Wirklichkeiten. Das bedeutet ansich noch nicht, daß die Sozialisation mißlingen muß. Männliche und weibliche Versionen der Wirklichkeit sind gesellschaftlich anerkannt, und auch ihre Aberkennung wird in der primären Sozialisation vermittelt. Das Übergewicht der männlichen Version für das männliche Kind und der weiblichen für das weibliche ist ebenfalls "feststehend". Das Kind  weiß,  welche Version die des anderen Geschlechts ist - bis zu dem Grad, in dem ihm eben diese Version durch signifikante Andere des anderen Geschlechts vermittelt wird. Noch die geringste Portion von Wissen verleiht verschiedenen Versionen einer gemeinsamen Wirklichkeit ihre Zuständigkeiten. Die weibliche Version ist von der Gesellschaft als für das männliche Kind unzuständig bestimmt worden. Normalerweise wird die Bestimmung des "richtigen" Ortes der Wirklichkeit für das andere Geschlecht von jedem Kind internalisiert, das sich "richtig" mit der Wirklichkeit identifiziert, zu der es selbst gehört.

Besteht nun allerdings eine gewisse Konkurrenz der Wirklichkeitsbestimmungen, zwischen denen man wählen kann, so entsteht die Möglichkeit des "Abweichens von der Norm". Aus den verschiedensten biographischen Gründen kann das Kind die "verkehrte" Wahl treffen. Ein männliches Kind kann "falsche" Elemente der weiblichen Welt internalisieren, weil sein Vater während der entscheidenden Periode der Primärsozialisation nicht anwesend ist und die Mutter und drei ältere Schwestern es versorgen. Sie mögen ihm zwar die "richtige" Version für kleine Jungen beibringen, so daß er  weiß,  daß ihm nicht bestimmt ist, in der Welt der Frauen zu leben. Dennoch kann er sich mit ihr identifizieren. Seine "Effeminierung" [Verbweiblichung - wp] kann "sichtbar" oder "unsichtbar" sein. In beiden Fällen wird das Verhältnis seiner subjektiv wirklichen zu der ihm gesellschaftlich zugewiesenen Identität asymmetrisch sein (36).

Die Gesellschaft greift, wie der Augenschein lehrt, zu "therapeutischen" Maßnahmen, um "abnorme" Fälle unter Kontrolle zu halten. Wir wollen nicht wiederholen, was wir zur "Therapie" gesagt haben, sondern nur darauf hinweisen, daß das Verlangen nach solchen Maßnahmen proportional zu einer strukturbedingten erfolglosen Sozialisation wächst. "Richtig" sozialisierte Menschen neigen zumindest dazu, einen Druck auf "falsch" sozialisierte auszuüben. Solange es zu keinem fundamentalen Konflikt zwischen Wirklichkeitsbestimmungen kommt, sondern nur verschiedene Versionen einer gemeinsamen Wirklichkeit vermittelt werden, stehen die Zeichen für eine erfolgreiche Theraphie gut.

Eine erfolglose Sozialisation kann auch das Ergebnis einer widersprüchlichen Weltvermittlung durch signifikante Andere in der Primärsozialisation sein. Sobald die Aufteilung des Wissens komplizierter geworden ist, sind widersprüchliche Welten erreichbar und können durch signifikante Andere, die verschiedenen Welten angehören, vermittelt werden. Das kommt zwar seltener vor als die soeben behandelte Situation, in der verschiedene Versionen einer gemeinsamen Welt auf das Sozialisations"personal" verteilt sind. Ein Elternpaar - oder auch eine andere Kombination mit genügend Zusammenhalt, um primär sozialisieren zu können - wird sich schon eine gemeinsame Welt zusammengebastelt haben. Sozialisation in Widersprüchen kommt jedoch vor und ist theoretisch besonders interessant.

Manche Kinder werden nicht nur von den Eltern erzogen, sondern auch von einer Kinderfrau, die der Subgesellschaft einer ethnischen Gruppe oder einer Klasse angehört. Die Eltern vermitteln ihrem Kind etwa die Welt einer Aristokratie von Eroberern, die Kinderfrau die des unterworfenen Bauernvolkes einer anderen Rasse. Vielleicht sprechen Eltern und Kinderfrau sogar zwei verschiedene Sprachen, die das Kind simultan lernt, während Eltern und Kinderfrau einander unverständlich finden. Alle Betroffenen und das Kind selbst erkennen es als Angehörigen der Gruppe seiner Eltern, nicht der der Kinderfrau an. Dennoch kann die gesellschaftlich gesetzte und allgemein bestätigte Rangfolge der beiden Wirklichkeiten durch biographische Zufälle ins Gegenteil verkehrt werden, ganz ähnlich wie bei unserem ersten Beispiel, nur daß jetzt eine mißlungene Sozialisation die Möglichkeit einer "Verwandlung" nach sich zieht, die internalisiert und damit zu einem Dauerfaktor der subjektiven Selbstauffassung der werdenden Person wird. Die Wahl, die dem Kind potentiell offensteht, ist jetzt schärfer profiliert und betrifft verschiedene Welten, nicht nur verschiedene Versionen derselben Welt. In der Praxis gibt es natürlich zwischen der ersten und der zweiten Situation viele Abstufungen.

Wenn die primäre Sozialisation das Kind mit ausgesprochen entgegengesetzten Welten bekanntmacht, so kann es in den Zwiespalt zwischen ebenso ausgesprochen entgegengesetzten Identitäten geraten. Es kann zu einem Mann werden, wie ihn sich Rasse  A  oder wie ihn sich Rasse  B  vorstellt. Aus diesem Dilemma befreit es die Möglichkeit zu einer geheimen Identität, die nicht mit den Mitteln objektiv gegebener Typisierungen erkannt werden kann. Mit anderen Worten: "öffentliche" und "private" Identität decken sich nicht, und diese Asymmetrie kann erstarren. Was die Eltern angeht, so erscheint das Kind nun bereit, Knappe und schließlich Ritter zu werden. Sie ahnen nicht, daß es, gestützt auf die Plausibilitätsstruktur der Subgesellschaft seiner Kinderfrau, diese Bereitwilligkeit nur "spielt". während es sich "wirklich" auf die Weihen zu den Mysterien der unterworfenen Gruppe vorbereitet. In der modernen Gesellschaft kann eine ähnliche Diskrepanz zwischen den Sozialisationsprozessen in der Familie und im Kreis der Spielkameraden bestehen. Für die Familie steht der Junge vor dem Abschlußexamen der Junior High School, für die Kameraden vor der ersten großen Mutprobe, bei der er ein Auto stehlen muß. Solche Situationen sind selbstverständlich Anlässe zu inneren Konflikten und Schuldgefühlen.

Wahrscheinlich sind alle Menschen, wenn sie erst sozialisiert sind, latente "Verräter an sich selbst". Die psychische Schwierigkeit dieses Verrates wird jedoch größer, wenn entschieden werden muß, welches "Selbst" von Fall zu Fall verraten werden soll. Vor dieser Entscheidung steht der Mensch, wenn seine Identifikation mit verschiedenartigen signifikanten Anderen verschiedenartig generalisierte Andere einschließt. Das Kind verrät die Eltern, wenn es sich für die Mysterien vorbereitet, und die Kinderfrau, wenn es sich in ritterlichen Kampfspielen übt. Es verrät die Kameraden, wenn es ein "artiger" Schüler ist, und die Eltern, wenn es ein Auto stiehlt. Der Verrat ist jedes Mal auch in dem Maße ein Verrat an sich selbst, in dem der Junge sich jeweils mit den beiden entgegengesetzten Welten identifiziert hat. Wir haben bei der Behandlung der "Verwandlung" von der Möglichkeit zur Option gesprochen. Solche Optionen haben jedoch eine andere subjektive Wirklichkeit, wenn sie schon in der primären Sozialisation internalisiert worden sind. "Verwandlung" ist sicher eine lebenslange Gefahr für jedwede subjektive Wirklichkeit, die aus solchen Konfliktoptionen, wofür auch immer, entsteht. Sie besteht grundsätzlich, sobald "Verwandlungs"möglichkeiten in die primäre Sozialisation Eingang finden.

Das Phänomen des "Individualismus" (das heißt: der individuellen Entscheidung zwischen verschiedenen Wirklichkeiten und Identitäten) steht in direkter Beziehung zur nicht geglückten Sozialisation. Wir hatten behauptet, daß sich bei erfolgloser Sozialisation die Frage erhebt: "Wer bin ich?" In einem sozial-strukturellen Zusammenhang, in dem sich die mißlungene Sozialisation auf diese Weise zu erkennen gibt, kann sich dieselbe Frage auch für den mit Erfolg sozialisierten Menschen stellen, und zwar aufgrund von Gedanken über Menschen, deren Sozialisation erfolglos war. Früher oder später begegnen jedem von uns Menschen mit einem "verborgenen" Selbst, "Verräter", die zwischen konträren Welten hinüber und herüberwechseln oder -gewechselt haben. Wie im Spiegel kommt die Frage: "Wer bin ich?" auf uns zu, vielleicht zuerst als ein Schock: "Um Gottes willen, das bin ja ich?" Allmählich wird man kühner: "Wenn die da, warum nicht auch ich?"  Pandora  schüttet die Büchse des Individualismus aus. Die Freiheit zu wählen wird schließlich allgemein und steht jedem zu, ob sein Leben bei der primären Sozialisation durch die "richtige" oder die "falsche" Wahl determiniert ist. Der "Individualist" ist ein besonderer gesellschaftlicher Typus, der zumindest das Zeug dazu hat, ein Wanderer zwischen mehreren Welten zu werden, ein Mensch, der sein Selbst eigenwillig und überlegt aus dem "Material" konstruiert hat, mit dem ihn eine Reihe möglicher Identitäten bestückt haben.

Die dritte wichtige Situation, die zum Mißerfolg der Sozialsiation führt, ergibt sich, wenn krasse Widersprüche zwischen der primären und der sekundären Sozialisation bestehen. Die Einheit der primären Sozialisation ist zwar gewahrt worden, aber in der sekundären tauchen alternative Wirklichkeiten und Identitäten als subjektive Optionsmöglichkeiten auf. Ihre Grenzen sind ihnen natürlich durch den sozio-kulturellen Zusammenhang gesetzt, in dem das Individuum steht. Jemand kann sich zum Beispiel wünschen, ein Ritter zu werden, aber an dem Platz, den ihm die Gesellschaft zugewiesen hat, ist sein Ehrgeiz eine bloße Narretei. Wenn die sekundäre Sozialisation bis zu dem Punkt durchdifferenziert worden ist, wo es möglich wird, die subjektive Identifikation mit dem "richtigen" Platz in der Gesellschaft aufzuheben, und wenn zugleich die Gesellschaftsstruktur eine Verwirklichung der subjektiv gewünschten Identität verhindert, so kann es zu einer interessanten Entwicklung kommen. Die subjektiv gewünschte Identität wird zu einer Phantasie-Identität, die sich im Bewußtsein des Menschen als sein "wirkliches" selbst objektiviert. Menschen träumen immer von der Erfüllung unmöglicher Wünsche. Die Eigenart dieser Phantasie-Identität liegt jedoch in der Objektivation einer anderen Identität als der objektiv zugewiesenen und in der Primärsozialisation internalisierten auf der Ebene der Imagination. Es dürfte einleuchten, daß jede breitere Streuung dieses Phänomens Spannung und Unruhe in die Gesellschaftsstruktur bringen muß und die institutionellen Programme und ihre Wirklichkeitsgewißheit gefährdet.

Eine andere sehr bedeutsame Folge der Unvereinbarkeit von primärer und sekundärer Sozialisation kann sein, daß der Mensch Beziehungen zu konträren Welten unterhält, die sich qualitativ von den Beziehungen in den bisher behandelten Situationen unterscheiden. Wenn widersprüchliche Welten in der primären Sozialisation erscheinen, so hat er die Wahl, sich mit einer von ihnen zu identifizieren. Dieser Vorgang ist, weil er in der primären Sozialisation stattfindet, in hohem Maße gefühlsgeladen. Identifikation, Entidentifikation und Verwandlung sind von emotionalen Krisen begleitet, da sie unausweichlich an die Mittlerfunktion signifikanter Anderer gebunden sind. Die Konfrontation mit widersprüchlichen Welten in der sekundären Sozialisation dagegen schafft eine gänzlich andere Lage. Jetzt benötigt man zur Internalisierung keine affektgeladene Identifikation mit signifikanten Anderen mehr. Man kann verschiedene Wirklichkeiten internalisieren, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Deshalb kann man, wenn eine alternative Welt in der sekundären Sozialisation auftaucht, für sie optieren und diese Option zugleich manipulieren. Dabei handelt es sich um eine Art "kühle" Verwandlung. Der Mensch internalisiert die neue Wirklichkeit, aber statt  seiner  Wirklichkeit ist sie  eine  Wirklichkeit für besondere Zwecke. Sofern dazu auch ein Rollenspiel nötig ist, kann er den Rollen mit subjektiver Distanz "gegenüberstehen". Freiwillig und absichtlich "legt er sie an". Eine breitere Streuung dieses Phänomens bedeutet, daß die institutionale Ordnung im Ganzen den Charakter eines Netzwerkes reziproker Manipulationen annimmt.

In einer Gesellschaft, die konträre Welten öffentlich auf einem Markt feilbietet, werden für die subjektive Wirklichkeit und Identität gewisse Konsequenzen gezogen. Das allgemeine Gefühl für die Relativität  aller  Welten nimmt zu - einschließlich der eigenen, die subjektiv als  eine  Welt, nicht als  die  Welt angesehen wird. Dementsprechend faßt man das eigene institutionalisierte Verhalten als "Rolle" auf, die man ablegen kann. Man "füllt sie aus" und "hält sie durch", das heißt, man arbeitet mit ihr und hat sie unter Kontrolle. Der Aristokrat zum Beispiel ist nicht mehr schlicht ein Aristokrat, sondern er "spielt die Rolle des Aristokraten" usw.

Diese Situation hat also größere Konsequenzen als die bloße Möglichkeit für den Einzelnen, einen oder den zu spielen, für den man ihn nicht hält. Er spielt auch einen oder den, für den man ihn hält. Das ist etwas anz anderes. Diese - ganz andere - Situation wird zunehmend typisch für moderne industrielle Gesellschaften. Wir dürfen den Rahmen unserer Betrachtungen nicht überschreiten und uns nicht auf Wissenssoziologie und Sozialpsychologie dieser - unserer - Situation einlassen (38). Wir betonen jedoch, daß eine solche gesellschaftliche Situation nicht ohne das ständige Miteinbegreifen der sozio-kulturellen Verklammerung verstanden werden kann, die eine logische Folge des unausweichlichen Zusammengehens der Arbeitsteiligkeit (samt ihren Konsequenzen für die Gesellschaftsstruktur) mit der gesellschaftlichen Auf- und Verteilung von Wissen (und deren Konsequenzen für die gesellschaftlichen Objektivationen von Wirklichkeit) sein mußte. Unsere heutige Situation schreit nach Analysen des Wirklichkeits- und Identitätspluralismus in seinem Verhältnis zur strukturellen Dynamik des Industrialismus und besonders zu den ihm eigentümlichen Modellen für gesellschaftliche Umschichtung. (39)


3. Gedanken über Identitätstheorien

Identität ist natürlich ein Schlüssel zur subjektiven Wirklichkeit, und wie alle subjektive Wirklichkeit steht sie in einer dialektischen Beziehung zur Gesellschaft. Sie wird in gesellschaftlichen Prozessen geformt. Ist sie erst einmal geformt, so wird sie wiederum durch gesellschaftliche Beziehungen bewahrt, verändert oder sogar neu geformt. Die gesellschaftlichen Prozesse, durch die sie geformt und bewahrt wird, sind durch die Gesellschaftsstruktur determiniert. Umgekehrt reagiert Identität, die durch das Zusammenwirken von Organismus, individuellem Bewußtsein und Gesellschaftsstruktur produziert wird, auf die vorhandene Struktur, bewahrt sie, verändert sie oder formt sie sogar neu. Gesellschaft hat Geschichte, in deren Verlauf eine spezifische Identität entsteht. Diese Geschichte jedoch machen Menschen mit spezifischer Identität.

Hat man diese Dialektik vor Augen, so kann man die irreführende Vorstellung einer "kollektiven Identität" (40) fallen lassen, ohne zur Einzigartigkeit der individuellen Existenz,  sub specie aeternitatis [im Hinblick auf die Ewigkeit - wp], Zuflucht nehmen zu müssen. Die historischen Gesellschaftsstrukturen erzeugen  Identitätstypen,  die im individuellen Fall erkennbar sind. In diesem Sinne ist ein Amerikaner anders als ein Franzose, ein New Yorker anders als ein Mann aus Middle West, ein leitender Beamter oder Angestellter anders als ein Landstreicher. Wir haben gezeigt, wie Orientierung und Verhalten im Alltagsleben sich auf solche Typisierungen stützen. Identitätstypen erscheinen also im Alltagsleben, und ihre Unterschiede können von normalen Menschen mit normalem Alltagsverstand verifiziert - oder widerlegt - werden. Ein Amerikaner, der bezweifelt, daß Franzosen anders sind, kann nach Frankreich gehen und sich selbst überzeugen. Der Status solcher Typisierungen ist natürlich nicht mit dem theoretischen der Sozialwirtschaft vergleichbar, und weder eine Verifizierung noch eine Widerlegung genügen den Ansprüchen wissenschaftlicher Methodik. Wir wollen jedoch das methodologische Problem des genauen Verhältnisses zwischen Typisierungen im Alltagsleben und wissenschaftlicher Typenbildung beiseite lassen. Ein Puritaner wußte, daß er Puritaner war, und wurde ohne viel Mühe von Anglikanern als Puritaner erkannt. Der Soziologe jedoch, der MAX WEBERs Theorien über die puritanische Ethik nachprüfen will, muß andere und schwierigere Wege gehen, um WEBERs Idealtypus in einem lebendigen Bild zu "erkennen". Was uns hier beschäftigt, ist die Tatsache, daß Identitätstypen für vortheoretische und also vorwissenschaftliche Erfahrung "bemerkbar" und "verifizierbar" sind.

Identität selbst ist ein Phänomen, das durch die Dialektik von Individuum und Gesellschaft entsteht. Identitätstypen andererseits sind schlechthin gesellschaftliche Produkte, relativ stabile Elemente der objektiven Wirklichkeit, wobei ihr Stabilitätsgrad natürlich seinerseits gesellschaftlich determiniert ist. Als Produkt der Gesellschaft sind sie in jeder Gesellschaft Gegenstand einer gewissen Theoriebildung, auch wenn sie stabil sind und individuelle Identität relativ unproblematisch zustande kommt. Theorien zur Identität sind in eine allgemeinere Interpretation der Wirklichkeit eingebettet. Sie sind in die symbolische Sinnwelt und deren Legitimationen "eingebaut" und wechseln je nach deren Charakter. Identität wäre unverständlich, wenn sie nicht ihren Ort in einer Welt hätte. Deshalb kann über Identität - und über Identitätstypen - nur ihm Rahmen jener theoretischen Interpretationen theoretisiert werden, in denen beide gesellschaftlich beheimatet sind. Wir wollen darauf gleich zurückkommen.

Zuvor möchten wir jedoch betonen, daß wir Identitätstheorien als gesellschaftliches Phänomen meinen und hinsichtlich ihrer jeweiligen Annehmbarkeit für die moderne Wissenschaft vorurteilslos an sie herangehen. Wir wollen sie als "Psychologie" hingehen lassen und jede Identitätstheorie, die beansprucht, das empirische Phänomen  Identität  hinreichend zu klären, miteinschließen, einerlei ob die Erklärung für die moderne Psychologie rechtsgültig ist oder nicht.

Wenn eine Identitätstheorie immer in die umgreifende Theorie der Wirklichkeit eingebettet ist, so kann sie nur nach deren innerer Logik verstanden werden. Die Matrix einer Psychologie, die zum Beispiel gewisse konkrete Phänomene als dämonische Besessenheit ansieht, ist eine mythologische Theorie des Kosmos. Es wäre als unangemessen, sie außermythologisch interpretieren zu wollen. Wenn eine andere Psychologie dieselben Phänomene als elektrische Störungen im Gehirn erklärt, so ist der Hintergrund wiederum eine allgemeine wissenschaftliche Theorie der Wirklichkeit, der menschlichen wie der außermenschlichen. Und auch diese Psychologie darf nur im logischen Zusammenhang der allgemeinen Theorie beurteilt werden. Schlicht gesagt: jede Psychologie hat eine Kosmologie zur Voraussetzung.

Eine gute Jllustration dafür ist der in der Psychiatrie so häufig gebrauchte Ausdruck "wirklichkeitsorientiert" (41). Wenn ein Psychiater seine Diagnose über einen Mann stellen will, dessen psychischer Zustand zweifelhaft erscheint, so stellt er ihm gewisse Fragen, um den Grad seiner "Wirklichkeitsorientiertheit" zu bestimmen. Das ist durchaus legitim. Nach psychiatrischen Gesichtspunkten liegt offenbar eine gewisse Problematik vor, wenn Menschen nicht wissen, was für ein Wochentag ist, oder schlicht erklären, sie hätten mit den Geistern von Verstorbenen gesprochen. Bei einem solchen Anlaß kann allein der Ausdruck "wirklichkeitsorientiert" schon von Nutzen sein. Der Soziologe allerdings muß zusätzlich fragen: "Um welche Wirklichkeit handelt es sich?" Übrigens wäre diese Ergänzung auch psychiatrisch nicht ganz irrelevant. Der Psychiater berücksichtigt doch gewiß, ob jemand, der den Wochentag nicht weiß, gerade per Jet aus einem anderen Erdteil kommt. Der Mann weiß den Wochentag vielleicht nicht, einfach weil er noch "in einer anderen Zeit" lebt - Kalkutta-Zeit, statt Eastern-Standard-Zeit. Wenn unser Psychiater auch nur einigen Sinn für die soziokulturellen Zusammenhänge psychischer Konditionen hat, so kommt er gewiß auch zu verschiedenen Diagnosen, wenn jemand, der mit Verstorbenen Konversation treibt, aus New York oder aus dem Landesinnern von Haiti kommt. Dieser zweite Mann könnte nämlich "in einer anderen Wirklichkeit" auf ebenso gesellschaftlich objektivierte Weise leben wie der andere "in einer anderen Zeit". Mit anderen Worten: psychologische Statusfragen können nicht ohne Kenntnis der Wirklichkeitsbestimmungen entschieden werden, die in der gesellschaftlichen Situation des Individuums als Gewißheit gelten. Um das noch schärfer zu formulieren: Der psychologische Status richtet sich nach der gesellschaftlichen Wirklichkeitsbestimmung im Ganzen und ist selbst gesellschaftlich bestimmt. (42)

Ist eine Psychologie erst einmal da, so bringt sie eine weitere dialektische Beziehung von Identität und Gesellschaft zutage: die zwischen psychologischer Theorie und jenen Elementen der subjektiven Wirklichkeit, die sie zu bestimmen und zu erklären vorgibt. Das Niveau solchen "Theoretisierens" kann natürlich sehr verschieden sein - wie bei allen theoretischen Legitimationen. Was oben über Ursprünge und Phasen von Legitimationstheorien gesagt wurde, gilt auch in diesem Fall - mit einem wichtigen Unterschied: Psychologie gehört einer Dimension der Wirklichkeit an, die von größter, nie endender subjektiver Relevanz für alle Menschen ist. Die Dialektik zwischen Theorie und Wirklichkeit rückt dem Menschen buchstäblich und handgreiflich auf den Leib.

Wenn eine Psychologie intellektuell sehr differenziert ist, so wird sie mit größter Wahrscheinlichkeit von einem "Personal" verwaltet, das für diesen Wissensbestand speziell ausgebildet ist. Wie immer die gesellschaftlichen Organisationsformen dieser Spezialisten sein mögen, die psychologische Theorie kehrt ins Alltagsleben zurück, weil sie über die Interpretationsschemata für problematische Fälle verfügt. Schwierigkeiten, die sich aus der Dialektik zwischen subjektiver Identität und gesellschaftlicher Identitätszuschreibung oder zwischen Identität und ihren biologischen Grundlagen - davon übrigens später mehr - ergeben, können nun nach theoretischen Kategorien klassifiziert werden, was natürlich die Voraussetzung für jede Therapie ist. Eine psychologische Theorie verhilft dazu, Verfahren zur Erhaltung und "Ausbesserung" von Identität - so wie sie in der Gesellschaft etabliert sind - zu legitimieren. Sie ist es, die das theoretische Bindeglied zwischen Identität und Welt liefert, wie eben beide gesellschaftlich und subjektiv bemessen sind.

Eine psychologische Theorie kann empirisch adäquat sein oder nicht, wobei hier nicht an die Eignung ihrer Verfahrensvorschriften für die empirische Disziplin gedacht ist, sondern an die interpretativen Möglichkeiten, die sie dem Experten wie dem Laien für konkrete Phänomene im Alltagsleben an die Hand gibt. So ist zum Beispiel unwahrscheinlich, daß eine psychologische Theorie, die mit dämonischer Besessenheit argumentiert, zur Identitätsinterpretation jüdischer Intellektueller des Mittelstandes in New York City geeignet wäre. Die Identität dieser Menschen ist schlechthin nicht in der Lage, Phänomene zu produzieren, die so interpretiert werden können. Die Dämonen, sollte es deren einige in New York City geben, scheinen sie zu meiden. Andererseits ist es unwahrscheinlich, daß die Psychoanalyse sich zur Interpretation von Identitätsproblemen im ländlichen Haiti eignet, wo hingegen eine Voodoo-Psychologie Interpretationsschemata von höchster Akkuratesse liefern dürfte. Beide Arten von Psychologie demonstrieren ihre Eignung für die Praxis durch die Therapie. Keine von beiden demonstriert damit jedoch den ontologischen Status ihrer Kategorien. Weder Voodoo-Götter noch Neurose könnten in einer Welt bestehen, die nicht von den ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Zusammenhängen bestimmt wird. Innerhalb dieser Zusammenhänge aber bestehen sie kraft gesellschaftlicher Bestimmung und werden im Verlauf der Sozialisation als Wirklichkeit internalisiert. In Haiti  ist  man von Dämonen besessen, und in New York  ist  man neurotisch. Besessenheit und Neurose sind also in beiden Zusammenhängen Elemente der objektiven und der subjektiven Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist beide Male in der Alltagswelt empirisch zugänglich. Die entsprechende Psychologie ist ihr empirisch adäquat. Die Frage, ob und wie eine psychologische Theorie über diese sozio-historische Relativität hinausgelangen kann, braucht uns nicht weiter zu beschäftigen.

Wenn eine psychologische Theorie in diesem Sinne adäquat ist, so läßt sie sich empirisch verifizieren, wobei wir wieder nicht an eine wissenschaftliche Bewährung, sondern an eine Verifizierung im Alltagsleben denken. Man kann glauben, daß Dämonen sich auf Menschen stürzen, die an einem bestimmten Kalendertag geboren werden, oder daß die Neurose Kinder sehr dominierender Mütter befällt. Beide Vorstellungen lassen sich im Rahmen einer adäquaten Theorie verifizieren - unabhängig davon, ob, wer sie verifiziert, sich selbst ihrem Geltungsbereich zurechnet oder nicht. Ein Ethnologe aus Haiti kann die New Yorker Neurose entdecken und ein Ethnologe aus Amerika die Voodoo-Götter Haitis. Beide müssen nur gewillt sein, sich als Außenseiter an die zur Situation gehörige psychologische Theorie zu halten. Ob sie dieser Theorie eine allgemeinere erkenntnistheoretische Tragfähigkeit zusprechen, ist für die empirische Verifizierung irrelevant.

Man könnte auch sagen, psychologische Theorien sind adäquat, wenn sie die psychologische Wirklichkeit reflektieren, die sie zu erklären vorgeben. Aber wenn das alles wäre, so wäre die Beziehung zwischen Theorie und Wirklichkeit hier undialektisch. Um eine genuine [echte - wp] Dialektik aber muß es sich auch hier handeln, weil eine psychologische Theorie - wie andere Legitimationstheorien - als ein Element der gesellschaftlichen Wirklichkeitsbestimmung die Kraft hat, Wirklichkeit zu setzen. Diese Macht ist in ihrem Fall besonders groß, weil sie sich in den emotionsgeladenen Vorgängen der Identitätsbildung aktualisiert. Ist eine Psychologie erst einmal gesellschaftlich etabliert (das heißt, allgemein als adäquate Interpretation objektiver Wirklichkeit anerkannt), so hat sie das Bestreben, sich in eben den Phänomenen, die sie angeblich interpretiert, nachdrücklich zu verwirklichen. Ihre Internalisierung wird dadurch beschleunigt, daß es um innere Wirklichkeit geht, so daß sie, während man sie internalisiert, auch schon verwirklicht sind. Da wieder Psychologie per definitionem Identität betrifft, kommt zu ihrer Internalisierung wahrscheinlich bereits eine Identifikation hinzu, womit sie als identitätsformend wirken würde. Dieser besonders enge Nexus [Verbindung - wp] von Internalisierung und Identifikation unterscheidet psychologische Theoreme erheblich von anderen. Danach überrascht es nicht weiter, daß - da Fehlschläge bei der Sozialisation dieser Sorte von Theoretisieren nicht gerade ungelegen kommen - psychologische Theoreme ihrerseits sozialisierend wirken. Das ist nicht dasselbe, als behaupteten wir: Psychologie verifiziert sich selbst. Zur Verifikation kommt es, wie wir dargelegt haben, durch eine Konfrontation von psychologischer Theorie und psychischer Wirklichkeit, so weit letztere empirisch nachweisbar ist. Die Psychologie produziert dagegen eine Welt, welche die Grundlage für ihre eigene Verifizierung bildet. Wir haben es mit anderen Worten mit keiner Tautologie, sondern mit Dialektik zu tun.

Der Mann in Haiti, der die Voodoo-Psychologie internalisiert, wird zum Besessenen, wenn er gewisse Zeichen entdeckt. Tatsächlich wird das Individuum selbst, einen entsprechenden biographischen Kontext vorausgesetzt, Zeichen oder Symptome produzieren. Der Haitianer bildet eben keine Neurosensymptome, sondern Anzeichen von Besessenheit, und der New Yorker zimmert sich seine Neurose nach allen Regeln der psychoanalytischen Symptomatologie zusammen. Das hat nichts mit "Massenhysterie" zu tun und erst recht nichts mit Simulantentum. Es ist vielmehr der Abdruck, den die Identitätstypen der Gesellschaft in der subjektiven Wirklichkeit normaler Leute mit einem normalen Durchschnittsverstand hinterlassen. Der Grad der Identifikation ist je nach den Umständen der Internalisierung verschieden und hängt zum Beispiel davon ab, ob es sich um eine primäre oder sekundäre Sozialisation handelt. Das Fußfassen einer Psychologie in einer Gesellschaft - wozu auch die Übereinstimmung gewisser Rollen mit dem Personal, das sie samt ihrer Therapie verwaltet, gehört - hängt natürlich von einer Menge soziokultureller Umstände ab (43). Je mehr sie gesellschaftlich an Boden gewinnt, desto üppiger wuchern die Probleme, die sie interpretieren will.

Wenn wir annehmen, daß so manche Psychologie im Verlauf eines Verwirklichungsprozesses zutreffend wird, so steckt darin zugleich die Frage, warum denn - in früheren Stadien eines solchen Prozesses - zunächst einmal lauter unzutreffende Theorien entstanden sein sollen. Einfach gesagt: warum muß in der Geschichte eine Psychologie an die Stelle der anderen treten? Dazu ist allgemein zu sagen, daß es zu einem Wechsel kommt, wenn Identität, aus welchen Gründen auch immer, problematisch wird. Ihre Problematik kann aus der Dialektik von psychologischer Wirklichkeit und gesellschaftlicher Struktur erwachsen. Ein radikaler Wandel in der Gesellschaftsstruktur (wie etwa die industrielle Revolution) kann die Ursache von Veränderungen der psychischen Wirklichkeit sein. In einem solchen Fall können neue psychologische Theorien entstehen, weil die alten die beobachtbaren empirischen Phänomene nicht mehr zutreffend erklären. Die Theoretiker der Identität bemühen sich nun, die Wandlungen der Identität, die tatsächlich aufgetreten sind, in den Griff zu bekommen, wobei dann ihre Theorie selbst umgewandelt wird. Aber auch auf der Ebene der Theorie selbst kann Identität problematisch werden, das heißt als Ergebnis innertheoretischer Entwicklungen. In solchen Fällen werden Theorien gleichsam "auf Abruf" zusammengebraut. Ihre nachträgliche Verankerung in der Gesellschaft - und damit ihre Macht, Wirklichkeit zu setzen - läßt sich durch alle möglichen Kreuz- und Querverbindungen des "Theoretiker-Personals" mit diversen gesellschaftlichen Interessen und Interessenten zustande bringen. Die kalkulierte ideologische Manipulation durch politisch interessierte Gruppen ist eine unter anderen historischen Varianten dieses Verwirklichungsprozesses.


4. Organismus und Identität

Wir hatten zu Anfang von den organischen Voraussetzungen und Grenzen der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit gesprochen. Jetzt ist es an der Zeit zu betonen, daß auf jede Phase menschlicher Wirklichkeitskonstruktion auch der Organismus einwirkt und umgekehrt von ihr in Mitleidenschaft gezogen wird. Grob gesagt, unsere Animalität wird durch Sozialisation zwar transformiert, aber nicht aufgehoben. Der Magen knurrt, auch wenn der Mensch als Welterbauer tätig ist. Umgekehrt lassen mancherlei Ereignisse bei seinen Hervorbringungen den Magen lauter knurren, vielleicht auch leiser oder anders. Der Mensch kann sogar zur gleichen Zeit essen und theoretisieren. Die dauernde Koexistenz unserer Animalität und Sozialität kann mit Gewinn bei jedem Tischgespräch beobachtet werden.

Man kann durchaus von einer Dialektik zwischen Natur und Gesellschaft sprechen. (44) Sie ist in der  Conditio humana  angelegt und wird in jedem Menschen neu manifestiert. Beim Einzelnen entfaltet sie sich natürlich in einer schon vorstrukturierten sozio-historischen Situation. Zwischen jedem einzelnen menschlichen Lebewesen und seiner soziohistorischen Situation geht ständig ein dialektischer Prozeß vor sich, der mit den ersten Phasen der Sozialisation beginnt und sich weiter entfaltet, solange das Leben des Einzelnen in der Gesellschaft währt. Äußerlich ist das eine Dialektik des individuellen Lebewesens und seiner gesellschaftlichen Welt. Innerlich ist es eine Dialektik der biologischen Grundlage des Einzelnen und seiner gesellschaftlich produzierten Identität.

Was die äußere Seite betrifft, so darf man einstweilen wohl noch sagen, daß der Organismus dem, was gesellschaftlich möglich ist, Grenzen setzt. Wie englische Verfassungsrichter erklärt haben, kann das Parlament alles erreichen, außer daß Männer Kinder zur Welt bringen. Wenn das Parlament auch das in Angriff nehmen würde, so dürfte das Projekt an den harten Tatsachen der Biologie scheitern. Biologische Fakten beschränken die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Einzelnen. Aber die gesellschaftliche Welt, die vor jedem Einzelnen ist, beschränkt auch das, was für den Organismus biologisch möglich wäre.

Die Begrenzung der biologischen Möglichkeiten des Organismus durch die Gesellschaft läßt sich sehr einleuchtend an der Lebensdauer darstellen. Die Lebenserwartungen sind je nach dem gesellschaftlichen Ort verschieden. Sogar in der amerikanischen Gesellschaft von heute besteht eine ziemliche Diskrepanz zwischen den Lebenserwartungen der unteren und denen der oberen Klassen. Auch Krankheiten sind nach Art und Häufigkeit verschieden: arme Leute sind häufiger krank als reiche und haben andere Krankheiten. Mit anderen Worten determiniert die Gesellschaft, wie lange und auf welche Weise der individuelle Organismus lebt. Im Wirken der sozialen Kontrolle und in der Institution des Rechts kann das institutionell programmiert sein. Die Gesellschaft kann lähmen und töten, und in ihrer Macht über Leben und Tod bezeugt sie das ganze Ausmaß ihrer Kontrolle über den Einzelnen.

Die Gesellschaft nimmt auch auf die Funktionen des Organismus direkt Einfluß, am ausdrücklichsten im Bereich der Sexualität und der Ernährung. Zwar gründen Sexualität und Nahrungsaufnahme auf biologischen Trieben, aber diese Triebe sind beim menschlichen Lebewesen außerordentlich bildbar. Seine biologische Konstitution treibt den Menschen dazu, sexuelle Entspannung und Nahrung zu suchen. Aber seine biologische Konstitution sagt ihm nicht, wo er sich sexuell entspannen und was er essen soll. Sich selbst überlassen, könnte er sich jedes Objektes sexuell bemächtigen und wäre durchaus fähig zu essen, was ihn töten würde. Sexualität und Ernährung werden viel mehr gesellschaftlich als biologisch in feste Kanäle gedrängt, wodurch diesen Aktivitäten nicht nur Grenzen gewiesen werden, sondern direkt Einfluß auf organische Funktionen ausgeübt wird. Eine mit Erfolg sozialisierte Person ist unfähig, sexuell auf das "falsche" Objekt zu reagieren und übergibt sich vor Ekel, wenn man ihr "falsche" Nahrung vorsetzt. Wir haben gesehen, wie die gesellschaftliche Lenkung von Aktivität das Wesen der Institutionalisierung ausmacht, die ihrerseits die Grundlage für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ist. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wiederum determiniert nicht nur Aktivität und Bewußtsein, sondern zu einem beträchtlichen Anteil auch organische Funktionen, wenn schon in so ganz und gar biologischen Vorgängen, wie es Orgasmus und Übelkeit sind, eine Lenkung durch die Gesellschaftsstruktur. Die Möglichkeit einer Soziologie des Körpers, die damit auftaucht, können wir hier nicht verfolgen (45). Das Entscheidende ist, daß die Gesellschaft dem Organismus Grenzen setzt - wie der Organismus der Gesellschaft.

Was die innere Seite betrifft, so zeigt sich die Dialektik als Widerstand des biologischen Substrats gegen seine gesellschaftliche Formung (46). Das wird bei der primären Sozialisation natürlich am deutlichsten offenbar. Die Schwierigkeiten, welche die erste Sozialisation eines Kindes bereitet, können nicht einfach nur als Lernschwierigkeiten angesehen werden. Das kleine Animal schlägt zurück. Daß ihm bestimmt ist, das Gefecht zu verlieren, hindert seine Animalität nicht daran, sich gegen den immer tiefer in es eindringenden Einfluß der Gesellschaft zu wehren. So wehrt es sich zum Beispiel dagegen, daß der natürlichen Zeitlichkeit seines Organismus die Zeitstruktur der Gesellschaft auferlegt wird (47). Es will nicht nach dem Glockenschlag essen und schlafen, sondern je nach dem biologischen Drang seines Organismus. Dieser Widerstand wird im Laufe der Sozialisation gebrochen, überlebt jedoch als Frustration, die sich immer dann einstellt, wenn die Gesellschaft dem Hungrigen die Nahrung und dem Müden den Schlaf versagt. Gesellschaftliche Existenz hängt von der unausgesetzten Unterwerfung des biologischen Widerstandes beim Einzelnen ab, die ohne Legitimation und Institutionalisierung schwerlich gelänge. So hat die Gesellschaft dann auch die verschiedensten Erklärungen bei der Hand, warum ich nicht essen soll, wenn ich Hunger habe, sondern dreimal täglich, und noch strengere Argumente, warum ich nicht mit meiner Schwester schlafen darf. Auch bei der sekundären Sozialisation gibt es ähnliche Schwierigkeiten, den Organismus in die gesellschaftlich konstruierte Welt einzupassen, wobei allerdings wohl die biologische Frustration längst nicht so empfindlich ist.

Noch im vollsozialisierten Menschen besteht eine dauernde innere Dialektik zwischen Identität und biologischem Substrat (48). Der Mensch hört nicht auf, sich als Organismus zu erleben, anders als die gesellschaftlich abgeleiteten Objektivationen seiner selbst, ja, manchmal geradezu im Gegensatz zu ihnen. Diese Dialektik wird häufig als Widerstreit  zwischen einem "höheren" und einem "niedrigeren" Selbst  erlebt, wobei eine gesellschaftliche Identität und eine vorgesellschaftliche, ja, gar anti-gesellschaftliche Animalität angenommen werden. Das "höhere" Selbst muß sich ständig dem "niedrigeren" gegenüber "durchsetzen" - in nicht ganz ungefährlichen Kraftproben übrigens gelegentlich. Ein Mann soll seine eingeborene Todesangst durch den Mut in der Schlacht überwinden. So wird das "niedrigere" Selbst zur Unterwerfung unter das "höhere" gezwungen, eine Bestätigung der Herrschaft über das biologische Substrat, die unerläßlich ist, soll die gesellschaftliche Identität des Kriegers objektiv und subjektiv gewahrt bleiben. Ein anderer Mann überwindet seine Faulheit nach gelungenem Liebesakt und zwingt sich noch einmal zur Sollerfüllung, nur um seine Identität als Non plus ultra an Männlichkeit zu erhalten - auch ein Dienst des "niedrieren" Selbst an der Sache des "höheren". Der Sieg über die Angst und der Sieg über die Ermattung zeugen davon, wie das biologische Substrat sich wehrt und wie es durch das gesellschaftliche Selbst im Mann bezwungen wird. Wer von uns wüßte nicht von zahllosen viel geringeren Siegen in den Routinen der Alltagswelt - und von vielen kleineren und größeren Niederlagen. Der Mensch ist biologisch bestimmt, eine Welt zu konstruieren und mit anderen zu bewohnen. Diese Welt wird ihm zur dominierenden und definitiven Wirklichkeit. Ihre Grenzen sind von der Natur gesetzt. Hat er sie jedoch erst einmal konstruiert, so wirkt sie zurück auf die Natur. In der Dialektik zwischen Natur und gesellschaftlich konstruierter Welt wird noch der menschliche Organismus umgemodelt. In dieser Dialektik produziert der Mensch Wirklichkeit - und sich selbst.


Schlußfolgerungen:
Wissenssoziologie und soziologische Theorie

Der Gedankengang, den wir entwickelt haben, ist ein allgemeiner systematischer Versuch, die Rolle, die Wissen für die Gesellschaft spielt, in das richtige Licht zu rücken. Unsere Analysen stellen nicht den Anspruch, erschöpfend zu sein. Aber sie sind ein Ansatz zu einer systematischen Theorie der Wissenssoziologie, der hoffentlich kritische Diskussionen und empirische Untersuchungen fördert. Denn eine Neuformulierung der Probleme und Aufgaben der Wissenssoziologie war längst überfällig.

Unsere Konzeption legt allerdings doch auch einige allgemeine Folgerungen für die theoretische Soziologie überhaupt nahe und eröffnet neue Perspektiven auf einige Spezialgebiete.

Die Analysen der Objektivation, Institutionalisierung und Legitimation sind unmittelbar anwendbar auf die Probleme der Sprachsoziologie, der Theorie des sozialen Handelns und der Religionssoziologie. Wissenssoziologie, wie wir sie auffassen, muß direkt dazu führen, daß Sprachsoziologie und Religionssoziologie nicht länger Spezialgebiete am Rand der Soziologie bleiben, sondern entscheidend zur theoretischen Soziologie beitragen. Diese Einsicht ist nicht etwa neu. Schon DURKHEIM und seine Schule formulierten sie, doch geriet sie - aus einer Reihe von theoretisch irrelevanten Gründen - in Vergessenheit. Wir hoffen, deutlich gemacht zu haben, daß Wissenssoziologie Sprachsoziologie voraussetzt und daß Wissenssoziologie ohne Religionssoziologie unmöglich ist - wie auch vice versa [umgekehrt - wp]. Weiter glauben wir bewiesen zu haben, daß sich die theoretischen Positionen MAX WEBERs und DURKHEIMs zu einer umfassenden Theorie des sozialen Handelns vereinigen lassen, ohne die innere Logik beider anzutasten. Schließlich scheint uns die Verbindung, die wir zwischen Wissenssoziologie und dem theoretischen Kern des Denkens von MEAD und seiner Schule gezogen haben, interessante Möglichkeiten für so etwas wie eine soziologische Psychologie zu bieten, das heißt für eine Psychologie, die ihre Hauptimpulse von einem soziologischen Verständnis der  Conditio humana  empfängt. Allein das, was wir selbst in diesem Sinn versucht haben, hat uns gezeigt, wieviel Zukunft in diesem theoretischen Ansatz liegt.

Wir sind, um zu etwas Allgemeinerem überzugehen, der Auffassung, daß die Bedeutung des Wissens für die Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft, persönlicher Identität und Gesellschaftsstruktur, eine wichtige Perspektive auf alle Gebiete der Soziologie eröffnet. Freilich leugnen wir nicht, daß bloße Strukturanalysen gesellschaftlicher Phänomene für manche Fragestellungen der Sozialforschung völlig ausreichen - von der Untersuchung kleiner Gruppen bis zu der großer institutionaler Komplexe wie Volkswirtschaft und Politik. Nichts liegt uns ferner, als rein empirischen Analysen wissenssoziologische "Spritzen" zu geben. Für die Erkenntniserwartung der meisten einschlägigen Unternehmen wären sie auch durchaus überflüssig. Dennoch sollte der Einbeziehung der Ergebnisse auch solcher Studien in die theoretische Soziologie doch etwas mehr Bedeutung beigemessen werden, als sie eine gelegentliche Verbeugung vor dem "menschlichen Faktor" hinter nackten Strukturdaten bekundet. Für eine solche Integration wäre die systematische Berücksichtigung der dialektischen Beziehung zwischen struktureller Wirklichkeit und menschlicher Konstruktion von Wirklichkeit in der Geschichte unerläßlich.

Wir haben keinerlei polemische Absichten mit diesem Buch. Allerdings wäre es unsinnig, leugnen zu wollen, daß unsere Begeisterung für den gegenwärtigen Stand der soziologischen Theorie nicht gerade überschäumend ist. Mit unserer Darstellung der Wechselbeziehungen zwischen institutionellen Prozessen und legitimierenden symbolischen Sinnwelten hoffen wir, deutlich gemacht zu haben, warum wir die Standardversionen funktionalistischer Interpretationen in den Sozialwissenschaften für theoretische Taschenspielertricks halten. Auch glauben wir, ausreichend begründet zu haben, warum wir fest davon überzeugt sind, daß eine ausschließlich strukturtheoretische Soziologie in Gefahr ist, gesellschaftliche Phänomene in nur allzu bekannter Art zu verdinglichen. Auch wenn sie ganz bescheiden damit beginnt, ihren Gerüsten lediglich heuristischen Wert zuzusprechen, endet sie doch nur zu häufig bei der Verwechslung ihrer eigenen Verbegrifflichungen mit den Gesetzen der Weltordnung.

Im Unterschied zu mancher Modetheorie der heutigen Soziologie postulieren die Gedanken, die wir vorgetragen haben, weder ein ahistorisches "Gesellschaftssystem" noch eine ahistorische "menschliche Natur" und sind weder soziologistisch noch psychologistisch angekränkelt. Wir bestreiten, daß eine angebliche "Dynamik" gesellschaftlicher und psychologischer "Systeme", deren dubiose Beziehung nachträglich zustande gekommen ist, Gegenstand der Soziologie sein sollte. (Der "ideengeschichtliche" Weg, den die beiden Ausdrücke hinter sich haben, wäre, nebenbei bemerkt, einer kleinen empirischen wissenssoziologischen Untersuchung wert.)

Die Einsicht in die Dialektik zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und individuellem Dasein in der Geschichte ist keineswegs neu. Kein geringerer als MARX hat sie der modernen Gesellschaftsphilosophie hinterlassen. Die theoretische Orientierung der Sozialwissenschaften braucht dringend einen Schuß Dialektik. Wir haben allerdings nicht im Sinn, MARX in doktrinärer Weise für die Gesellschaftstheorie auszuschlachten, und die bloße Behauptung, daß diese Dialektik tatsächlich allgemein existiert, ist alles andere als ein doktrinärer Marxismus. Der Schritt von der Behauptung zur Spezifizierung und Präzisierung der dialektischen Prozesse im Rahmen eines Bezugssystems, das der großen Tradition der Gesellschaftsphilosophie ebenbürtig wäre, muß erst noch getan werden. Eine bloße Rhetorik über Dialektik, wie sie doktrinäre Marxisten pflegen, kann dem ernsthaften Soziologen nur wie eine andere Art von Obskurantismus vorkommen. Dennoch sind wir fest davon überzeugt, daß nur die Einsicht in das, was MARCEL MAUSS das "totale soziologische Phänomen" genannt hat, uns vor den verhängnisvollen Verdinglichungen des Soziologismus und Psychologismus bewahren kann. Vor dem Hintergrund einer geistigen Situation, der diese Doppelgefahr droht, möchten wir unsere Abhandlung gerne verstanden wissen.

Die Aufgabe, die wir uns gestellt hatten, war theoretischer Art. Aber in jeder empirischen Wissenschaft muß die Theorie in einem doppelten Sinn für die "Gegebenheiten" eben dieser Wissenschaft relevant sein. Die Theorie muß ihnen einerseits genau entsprechen und andererseits Ausblicke für weitere empirische Forschungen eröffnen. Vor der Wissenssoziologie liegt ein weites, offenes Feld empirischer Probleme. Es ist hier nicht der Ort, einen Katalog auch nur der interessantesten vorzulegen oder gar eigene Spezialhypothesen anzubringen. Mit den praktischen Belegen für unsere theoretischen Argumente haben wir einige Winke gegeben auf das, was wir im Sinn haben. Dem wäre noch hinzuzufügen, daß empirische Untersuchungen der Beziehungen von Institutionen zu den sie legitimierenden symbolischen Sinnwelten das soziologische Verständnis unserer heutigen Gesellschaft außerordentlich fördern würden. Probleme gibt es in Fülle. Man verdunkelt sie nur, statt sie zu klären, wenn man von unserer Gesellschaft in Ausdrücken wie "Zeitalter der Wissenschaft", "Entdeckung des Unbewußten", "säkularisierte Gesellschaft" spricht. Solche vagen Bezeichnungen weisen geradezu darauf hin, welche gewaltigen und vielschichtigen Probleme der wissenschaftlichen Erhellung bedürfen. Rechtens muß zugegeben werden, daß die Völker der westlichen Hemisphäre im Großen und Ganzen in einer Welt leben, die sich in vieler Hinsicht von allen früheren Welten unterscheidet. Was jedoch im Sinne der Wirklichkeit, der objektiven wie der subjektiven, in der diese Menschen ihr Alltagsleben führen und ihre Krisen erleben, bedeutet, das entbehrt jeder Klarheit. Die empirische Untersuchung dieser Probleme hat, im Unterschied zu mehr oder weniger geistreichen Spekulationen, kaum erst begonnen. Wir hoffen, daß unsere Offenlegung der theoretischen Perspektive der Wissenssoziologie Probleme ins Blickfeld rückt, die unter anderen theoretischen Perspektiven allzu leicht übersehen werden können. Um nur ein Beispiel anzuführen: Das gegenwärtige Interesse der Soziologen an Theorien, die aus der Psychoanalyse abgeleitet sind, würde alsbald eine ganz andere Färbung bekommen, wenn diese Theorien nicht - positiv oder negativ - als Dogmen einer "Wissenschaft" in Geltung ständen, sondern sich auf dem Weg der Analyse als Legitimationen einer höchst eigenartigen und wahrscheinlich bezeichnenden Konstruktion einer Wirklichkeit in der modernen Gesellschaft zu erkennen gäben. Eine derartige Analyse sollte natürlich die Frage der "wissenschaftlichen Tragfähigkeit" dieser Theorien ausklammern und sie lediglich als Gegebenheiten für ein Verständnis jener subjektiven und objektiven Wirklichkeit behandeln, aus der sie kommen und auf die sie zurückwirken.

Wir haben uns ausdrücklich versagt, auf die methodologische Seite unserer wissenssoziologischen Konzeption einzugehen, aber wohl kaum einen Zweifel darüber gelassen, daß wir keine Positivisten sind, sofern der Positivismus eine philosophische Richtung sein sollte, welche die Forschungsobjekte der Sozialwissenschaften in Kanäle drängt, durch die ihnen dann ihre wichtigsten Probleme wegschwimmen. Immerhin unterschätzen wir das Verdienst des Positivismus nicht, der, faßt man ihn weit genug, die Grundregeln der empirischen Forschung auch für die Sozialwissenschaften neu formuliert hat.

Die Wissenssoziologie sieht die menschliche Wirklichkeit als eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit. Da das Wesen der Wirklichkeit von jeher ein zentrales Problem der Philosophie war, hat diese Auffassung auch gewisse philosophische Aspekte. Nun zeigt allerdings die zeitgenössische Philosophie eine nicht unbeträchtliche Neigung, das Wirklichkeitsproblem und seinen ganzen Umkreis einer gewissen Trivialisierung anheimfallen zu lassen; so findet sich der Soziologe, vielleicht zur eigenen Überraschung, auf einmal als Erbe philosophischer Fragestellungen wieder, an denen die philosophische Zunft das Interesse verloren hat. In verschiedenen Teilen unserer Abhandlung, besonders in den Analysen der Grundlagen des Wissens im Alltagsleben, der Objektivation und der Institutionalisierung in ihrem Verhältnis zu den biologischen Voraussetzungen menschlichen Daseins, haben wir gewisse Andeutungen davon gegeben, was gesellschaftlich orientiertes Denken zur philosophischen Anthropologie beisteuern könnte.

So fassen wir dann zusammen: Unsere Konzeption der Wissenssoziologie impliziert eine bestimmte Konzeption der Soziologie überhaupt. Sie impliziert  nicht,  daß die Soziologie keine Wissenschaft wäre, daß ihre Methoden anders als empirisch sein sollten oder daß sie nicht "wertfrei" zu sein vermag. Sie impliziert  wohl,  daß die Soziologie zu jenen Wissenschaften gehört, deren Forschungsgegenstand der Mensch  als  Mensch ist. In diesem spezielle Sinn ist die Soziologie eine humanistische Wissenschaft. Eine Konsequenz aus dieser Konzeption, der gar nicht genug Wert beigemessen werden kann, ist, daß die Soziologie in ständigem Kontakt mit der Geschichtswissenschaft und der Philosophie stehen muß, wenn sie ihren eigenen Forschungsgegenstand nicht aus den Augen verlieren will. Dieser Forschungsgegenstand ist die  Gesellschaft  als Teil einer menschlichen Welt, geschaffen von Menschen, bewohnt von Menschen und in einem unaufhörlichen historischen Prozeß wiederum an Menschen schaffend. Es wäre nicht die geringste Frucht einer humanistischen Soziologie, unser Staunen über dieses staunenswerte Phänomen neu zu wecken.
LITERATUR: Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1970
      dow Download mit den Kommentaren

    Anmerkungen
    32) Unser Gedanke impliziert die Notwendigkeit eines makrosoziologischen Horizontes für Analysen der Internalisierung, d. h. ein Verständnis der Gesellschaftsstruktur, in der die Internalisierung vor sich geht. Der modernen amerikanischen Soziologie fehlt im allgemeinen ein solcher Horizont.
    33) Vgl. hier GERTH und MILLS, a. a. O., und TENBRUCK, unveröffentliche Habilitationsschrift a. a. O. Letzterer weist den strukturellen Fundamenten der Persönlichkeit in seiner Typologie primitiver, traditioneller und moderner Gesellschaften einen wichtigen Platz zu.
    34) Das hat zur Folge, daß die meisten psychologischen Modelle, einschließlich der modernsten, sozialgeschichtlich nur begrenzt anwendbar sind. Eine soziologische Psychologie hätte eben zugleich historisch orientiert zu sein.
    35) Vgl. ERVING GOFFMAN,  Stigma,  Englewood Cliffs, New York 1963 (dt.: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Ffm 1967); vgl. ferner ABRAM KARDINER und LIONEL OVESEY, The Mark of Oppression, New York 1951.
    36) Vgl. DONALD W. CORY, The Homosexual in America, New York 1951.
    37) Wir möchten hier nochmals an die sozio-historischen Bedingungen der Anwendbarkeit des "Goffmanschen Modells" erinnern.
    38) HELMUT SCHELSKY hat für die psychologische Seite dessen, was wir den heutigen "Markt der Welten" nennen, den eingängigen Ausdruck "Dauerreflexion" geprägt; vgl. HELMUT SCHELSKY, "Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?", zuerst in  Zeitschrift für evangelische Ethik,  Heft 6, 1957, jetzt auch in SCHELSKY, Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf-Köln 1965, Seite 250f. Der theoretische Hintergrund von SCHELSKYs Gedankengang ist GEHLENs allgemeine Theorie der "Subjektivierung" in der modernen Gesellschaft. LUCKMANN hat in seinen Gedanken zur Soziologie der modernen Religion daran angeknüpft (vgl. LUCKMANN, The invisible Religion, a. a. O.).
    39) Vgl. LUCKMANN und BERGER, Social Mobility and Personal Identity, a. a. O.
    40) Man spricht besser nicht von einer "kollektiven Identität", da dieser Begriff zu einer verdinglichenden Hypostasierung [einem Wort wird gegenständliche Realität untergeschoben - wp] der Identität führen kann. Das Exemplum horrible [schreckliche Beispiel - wp] dafür ist die deutsche "hegelianische" Soziologie der zwanziger und dreißiger Jahre, z. B. das Werk von OTHMAR SPANN. Dieselbe Gefahr besteht heute mehr oder weniger bei verschiedenen Arbeiten der DURKHEIM- und der "Culture and Personality"-Schule der amerikanischen Kulturanthropologie.
    41) Dies ist natürlich eine implizite Kritik an FREUDs "Realitätsprinzip".
    42) Vgl. PETER L. BERGER, "Towards a Sociological Understanding of Psychoanalysis", in  Sozial Research,  Spring 1965, Seite 26f.
    43) siehe ebenda
    44) Die Dialektik von Natur und Gesellschaft, wie wir sie sehen, ist keineswegs mit der "Dialektik der Natur" bei ENGELS und im späteren Marxismus gleichzusetzen. Nach unserer Auffassung ist das Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Körper - wie zur Natur überhaupt - spezifisch dialektisch (vgl. HELMUTH PLESSNER, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O.). Die andere Auffassnung projiziert umgekehrt spezifisch Menschliches in die Natur und dehumanisiert den Menschen schließlich, indem sie ihn lediglich als Objekt von Naturkräften oder Naturgesetzen begreift.
    45) Zur Möglichkeit einer wissenschaftlichen "Soziosomatik" siehe GEORG SIMMEL, a. a. O., Seite 483 (der Aufsatz "Soziologie der Sinne"); MARCEL MAUSS, Sociologie et Anthropologie, Paris 1930, Seite 365f (der Aufsatz über Techniken des Körpers); EDWARD T. HALL, The Silent Language, Garden City, New York 1959. Für eine solche Disziplin würde wahrscheinlich die Soziologie der Sexualität das reichste Material liefern können.
    46) FREUD hat das sehr wohl in seiner Konzeption der Sozialisation gesehen. In den funktionalistischen Adaptionen seit MALINOWSKI ist er bei weitem unterschätzt worden.
    47) Siehe hierzu BERGSON - die "dureé" [Dauer - wp], MERLEAU-PONTY, SCHÜTZ und PIAGET.
    48) Vgl. hier DURKHEIM, FREUD und PLESSNER.