ra-3ra-1 E. TopitschW. StarkR. EuckenTh. Veblen  dow    
 
PETER L. BERGER / THOMAS LUCKMANN
Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit

[Eine Theorie der Wissenssoziologie]
[4/7]
"Der Handelnde identifiziert sich  in actu  mit den gesellschaftlich objektivierten Verhaltenstypisierungen. Das handelnde Selbst und der handelnde Andere werden so nicht als einzigartig, sondern als  Typen  empfunden. Diese Typen sind per definitionem austauschbar."

"Verdinglichung  bedeutet, menschliche Phänomene aufzufassen, als ob sie Dinge wären, das heißt als außer- oder gar übermenschlich. Man kann das auch so umschreiben: Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produkten,  als wären  sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarungen eines göttlichen Willens. Verdinglichung impliziert, daß der Mensch fähig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Welt zu vergessen. Eine verdinglichte Welt ist per definitionem eine enthumanisierte Welt. Der Mensch erlebt sie als fremde Faktizität, als Werk eines Fremden über das er keine Kontrolle hat, nicht als das Werk seiner eigenen produktiven Leistung."

II. Gesellschaft als objektive Wirklichkeit

1. Institutionalisierung
[Fortsetzung]

c) Sedimentbildung und Tradition

Das Bewußtsein behält nur einen geringen Teil der Totalität menschlicher Erfahrung. Was es behält, wird als  Sediment (35) abgelagert, das heißt: die Erfahrung erstarrt zur Erinnerung und wird zu einer erkennbaren und erinnerbaren Entität. Ohne eine solche Sedimentablagerung könnte das Individuum sich keinen Vers auf seinen Lebenslauf machen. Intersubjektive Ablagerung findet statt, wenn mehrere Menschen einen gemeinsamen Wissensbestand einverleiben. Intersubjektive Erfahrungsablagerungen können nur dann als gesellschaftlich bezeichnet werden, wenn ihre Objektivation mit Hilfe eines Zeichensystems vollzogen worden ist, das heißt, wenn die Möglichkeit vorhanden ist, die Objektivation gemeinsamer Erfahrung zu wiederholen. Nur dann besteht die Wahrscheinlichkeit, daß solche Erfahrungen von Generation zu Generation und von Gesellschaft zu Gesellschaft überliefert werden. Theoretisch könnte gemeinsames Handeln auch ohne ein Zeichensystem die Grundlage für Überlieferung bilden. Empirisch erscheint das jedoch unglaubwürdig. Ein objektiv zugängliches Zeichensystem verleiht der abgelagerten Erfahrung den Ausgangsstatus wachsender Anonymität, indem es sie von ihrem ursprünglichen Zusammenhang der konkreten Einzelexistenzen löst und für alle, die Anteil an eben dem Zeichensystem haben oder in Zukunft haben werden, allgemein zugänglich macht. Auf diese Weise lassen sich Erfahrungen leicht übertragen.

Im Prinzip könnte dies jedes Zeichensystem leisten. Aber normalerweise ist das wichtigste Zeichensystem verbaler Natur. Sprache vergegenständlicht gemeinsame Erfahrung und macht sie allen zugänglich, die einer Sprachgemeinschaft angehören. Sie wird so zugleich Fundament und Instrument eines kollektiven Wissensbestandes. Darüber hinaus stellt sie Mittel zur Vergegenständlichung neuer Erfahrungen zur Verfügung und ermöglicht deren Eingliederung in den bereits vorhandenen Wissensbestand. Außerdem ist sie das wichtigste Medium, durch das die vergegenständlichten und zu Objekten gewordenen Sedimente als Tradition der jeweiligen Gemeinschaft überliefert werden.

In einer Jägergesellschaft z. B. haben nur wenige - weil sie ihre Waffe verloren haben - die Erfahrung gemacht, ein wildes Tier mit bloßen Händen zu bezwingen. Diese harte Erfahrung - gewiß ein Muster an Tapferkeit, Klugheit und Geschicklichkeit - setzt sich im Bewußtsein derer, die sie machen mußten, fest. Haben mehrere sie gemacht, so wird sie intersubjektiv sedimentiert und kann ein festes Band zwischen den einzelnen Männern sein. Wird sie jedoch sprachlich artikuliert und überliefert, so kann sie Männern, die sie selbst niemals gemacht haben, zugänglich und vielleicht höchst relevant für sie werden. Die sprachliche Bezeichnung, die nur bei einer Jägergesellschaft ganz präzise und eindeutig sein kann - etwa: "Großes Töten von männlichem Nashorn, allein, mit einer Hand", oder: "Großes Töten von weiblichem Nashorn, allein, mit beiden Händen" und so weiter -, abstrahiert das Erlebnis von seinen individuellen Zufälligkeiten. Es wird zur objektiven Möglichkeit für jedermann oder jedenfalls für einen bestimmten Jedermannstypus - z. B. für initiierte Jäger. Die Erfahrung wird also im Prinzip sogar dann anonym, wenn sie noch mit den Heldentaten einzelner Männer in Verbindung gebracht wird. Selbst für jemanden, der sie für die eigene Zukunft nicht antizipieren kann (etwa Frauen, die nicht jagen dürfen), kann sie in abgeleiteter Weise relevant werden (wer wünschte sich nicht den großen Nashorntöter bzw. sein spätes Nachbild zum Gatten!) Auf jeden Fall ist die Erfahrung nun ein Teil des allgemeinen Wissensvorrates. Ihre Vergegenständlichung durch die Sprache, das heißt ihre Transformation in ein allgemein faßliches Wissensobjekt, erlaubt ihre Eingliederung in einen größeren Vorrat an Traditionen - auf dem Weg über die Moral, die Dichtung, die religiöse Allegorie und so weiter. Die Erfahrung in einem engeren Sinn sowie all ihr späteres Zubehör können auf diese Weise jeder neuen Generation vermacht werden, ja, sie können sogar an eine ganz andere Gesellschaft übergehen (zum Beispiel an Ackerbauer, die den ganzen Erfahrungs- und Sinnkomplex um ihren eigenen, das heißt um einen neuen und anderen Sinn bereichern).

Sprache wird zum Depot einer gigantischen Häufung gemeinsamer Sedimente, die monothetisch erfaßt werden können, das heißt als in sich verbundene Einheiten, deren Entstehungsprozeß nicht rekonstruiert werden muß (36). Wenn die ursprüngliche Herkunft der Sedimente erst einmal unwichtig geworden ist. Mit anderen Worten: Legitimationen können aufeinanderfolgen und die abgelagerten Erfahrungen einer Gesellschaft über die Zeiten hinweg mit neuen Erfahrungen anreichern. Die Geschichte einer Gesellschaft kann uminterpretiert werden, ohne die instittutionale Ordnung unbedingt zu verwirren. "Großes Töten" kann nachträglich als Werk der Götter legitimiert werden, und jeder Nachvollzug wird dann zur Imitatio des Mythos.

Der dargestellte Vorgang liegt allen objektivierten Sedimentbildungen zugrunde, nicht nur dem der institutionalisierten Tätigkeit. Die Typisierung von Leuten ohne direkte Relevanz zu besonderen Institutionen wird zum Beispiel auch auf diese Weise überliefert. Man spricht von ihnen als "groß" oder "klein", "dick" oder "dünn", "schlau" oder "dumm", ohne daß diese Typisierungen mit irgendwelchen Institutionen in Verbindung gebracht werden. Andererseits wird natürlich auch abgelagerter Sinn, der solchen Kennzeichen unterliegt, auf diese Weise überliefert. Das Fortwirken einer Institution gründet sich auf ihre gesellschaftliche Anerkennung als "permanente" Lösung eines "permanenten" Problems. Potentielle Akteure für institutionalisierte Aktionen müssen daher  systematisch  mit einem institutionalisierten Sinn bekanntgemacht werden. Ein "Erziehungs"prozeß wird nötig. Die institutionalen Bedeutungen müssen sich dem Bewußtsein des Individuums kraftvoll und unvergeßlich einprägen. Da Menschen träge und vergeßlich sind, muß es Mittel geben, die das Erlernte neu und immer wieder vergegenwärtigen - wenn nötig zwingende und nicht eben erfreuliche Mittel. Da viele Menschen zudem noch dumm sind, werden institutionale Bedeutungen im Laufe ihrer erzieherischen Weitergabe so vereinfacht, daß eine ganze Kollektion institutionaler "Formeln" von späteren Geschlechtern einfach gelernt und behalten werden kann. Der Formelcharakter institutionaler Bedeutungen sichert ihnen ihre Erinnerbarkeit. Auf der Ebene eines sedimentierten Sinnes begegnen wir also denselben Prozessen der Routinebildung und Trivialisierung, die wir schon bei der Institutionalisierung selbst gefunden haben. Und auch hier wieder ist die stilisierte Form, in der heroische Taten überliefert werden, die beste Jllustration.

Die objektivierte Sinnhaftigkeit institutionalen Handelns wird als "Wissen" angesehen und als solches weitergereicht. Einiges von diesem Wissen ist für alle, anderes nur für bestimmte Typen relevant. Weitergabe braucht immer einen gesellschaftlichen Apparat. Das heißt: manche Typen sind zu Vermittlern, andere zu Empfängern des traditionellen "Wissens" bestimmt. Der Charakter des Apparates variiert natürlich von Gesellschaft zu Gesellschaft. Auch die Prozeduren der Vermittlung von Tradition durch die Wissenden an die Nichtwissenden müssen typisiert werden. Kunst, Sitten und Zauber der Jagd zum Beispiel können von Onkeln mütterlicherseits an Neffen eines gewissen Alters mit Hilfe ganz besonderer Initionationsriten weitergegeben werden. Wer zum Typus der Wissenden oder Nichtwissenden gehört, das wird, wie das Wissen selbst, das von den einen an die andern weitergegeben werden soll, zur Angelegenheit gesellschaftlicher Definition. Die Epitheta [Zusätze - wp] "wissend" und "nichtwissend" beziehen sich auf das, was die Gesellschaft als Wirklichkeit ansieht, nicht auf irgendwelche außergesellschaftlichen Kriterien kognitiver Gültigkeit. Grob gesagt: Onkel mütterlicherseits geben ihr Wissen nicht weiter, weil sie es wissen, sondern sie wissen es,  weil  sie Onkel mütterlicherseits sind. Wenn ein designierter Onkel mütterlicherseits aus besonderen Gründen zur Weitergabe seines ihm zugeschriebenen Wissens unfähig sein sollte, so wäre er nicht mehr länger Onkel mütterlicherseits im vollen Sinne, und die institutionale Anerkennung seines Status kann ihm sogar tatsächlich entzogen werden.

Je nach Relevanzbreite eines "Wissens"typus und nach dem Grad seiner Schwierigkeit und Wichtigkeit für eine Gemeinschaft kann derartiges "Wissen" einer Absicherung durch symbolische Objekte (von Fetischen bis zu militärischen Emblemen) oder durch symbolische Handlungen (religiöse oder militärische Riten) bedürfen. Mit anderen Worten: konkrete Gegenstände und Tätigkeiten können als mnemotechnische Hilfsmittel verwendet werden. Jede Weitergabe von institutionalem Sinn braucht Kontrolle und Legitimation. Beides gehört zu den Institutionen selbst und wird von den vermittelnden Personen verwaltet. Noch einmal möchten wir ausdrücklich darauf hinweisen, daß a priori keine Übereinstimmung oder gar Funktionszusammenhänge zwischen Institutionen und Formen der Wissensvermittlung vermutet werden dürfen. Das Problem logischer Kohärenz entsteht zuerst auf der Ebene der Legitimierung, dort wo Konflikte zwischen verschiedenen Legitimationen und Eifersuchtsgefühle unter ihren Sachwaltern auftreten. Auf der Ebene des Sozialisationszusammenhanges gibt es dann bei der Internalisierung einander nachfolgender oder konkurrierender institutionaler Bedeutungen weitere praktische Schwierigkeiten. Es besteht zum Beispiel a priori kein Grund, warum institutionale Sinngebungen einer Jägergesellschaft nicht von einer Ackerbaugesellschaft übernommen werden sollten. Ja, für den Betrachter von außen können solche Bedeutungen den Anschein dubioser "Funktionalität" in der Jägergesellschaft haben und in der Ackerbaugesellschaft frei von jeder "Funktionalität" erscheinen. Was hier an Schwierigkeiten auftauchen kann, hängt mit den Theorien der Legitimatoren und den Praktiken der "Erzieher" zusammen: die Theoretiker der Ackerbaugesellschaft müssen mit Genugtuung feststellen, daß auch eine Göttin der Jagd in ein bäuerliches Pantheon gehört. Die Pädagogen andererseits haben die schwierige Aufgabe, mythisch-göttliches Jagen Kindern, die niemals eine Jagd gesehen haben, plausibel zu machen. Theoretiker der Rechtfertigung haben logische Ambitionen und Kinder sind widerspenstig. Das allerdings ist nur kein Problem abstrakter Logik oder technischer Funktionalität, sondern etwas ganz anderes: es verlangt Witz auf der einen und Gutgläubigkeit auf der anderen Seite.


d) Rollen

Wir haben gesehen, daß der Ursprung jeder institutionalen Ordnung in der Typisierung eigener und fremder Verrichtungen liegt. Voraussetzung dafür ist, daß man mit anderen bestimmte Ziele und Phasen der Verrichtung gemeinsam hat, und weiter, daß nicht nur Einzelhandlungen, sondern auch Handlungsverläufe und -weisen typisiert werden. Das heißt: nicht nur ein einzelner Akteur vom Typus  X,  der eine Aktion vom Typus  X  wiederholt, wird wiedererkannt, sondern auch eine Aktion, die durch  jeden  Akteur nachvollziehbar ist, dem die zuständige Relevanzstruktur beigemessen werden kann. Ich sehe zum Beispiel zu, wie mein Schwager meinen eigenen ungezogenen Sprößling verprügelt, und weiß, daß es sich dabei um einen Fall von Verprügeln handelt, einen auch zwischen anderen Onkeln und Neffen üblichen Vorgang, ja, geradezu um die Regel in einer matrilinearen [Erbfolge in der mütterlichen Linie - wp] Gesellschaft. Nur wenn das letztere der Fall ist, nimmt der einzelne Vorgang einen gesellschaftlichen selbstverständlichen Verlauf: als leiblicher Vater ziehe ich mich diskret von der Szene zurück, um die legitime Ausübung von Onkelpflichten nicht zu stören.

Die Typisierung von Handlungsweisen verlangt von diesen einen objektiven Sinn, der umgekehrt wieder seine sprachliche Objektivierung verlangt. Es muß also ein Wortschatz für diese Handlungsweisen vorhanden sein ("Neffenprügeln" gehört zu einem ganzen Sprachkomplex bestimmter Verwandtschaftsstrukturen mit ihren verschiedenen Rechten und Pflichten). Im Prinzip also lassen sich eine Handlung und ihr Sinn losgelöst von individueller Ausführung und von den veränderlichen subjektiven Vorgängen, die sie begleiten, begreifen. Das betreffende Selbst und sein Anderer können als die Vollzieher objektiver, allgemein bekannter Handlungen angesehen werden. Und die entsprechenden Aktionen sind durch  jeden  Akteur des entsprechenden Typus nachvollziehbar.

Das hat wichtige Konsequenzen für die Selbsterfahrung. Im Verlauf der Handlung findet eine Identifikation des Selbst mit dem objektiven Sinn der Handlung statt. Die vor sich gehende Handlung bestimmt für den Augenblick ihres Vollzuges die Selbstauffassung des Handelnden, und zwar in eben dem objektiven Sinn, der ihr von der Gesellschaft zugeschrieben wird. Obgleich er nebenbei seines eigenen Körpers und anderer Facetten seines Selbst, die mit der momentanen Handlung direkt nicht viel zu tun haben, eingedenk bleibt, fühlt sich der Handelnde in diesem einen Augenblick wesentlich identisch mit der gesellschaftlich objektivierten Handlung (das "Jetzt verprügele ich meinen Neffen" ist eine selbstverständliche Episode in der Routine der Alltagswelt). Hat die Handlung erst stattgefunden, so ergibt sich eine neue wichtige Konsequenz, sobald der Handelnde über seine Handlung nachdenkt. Ein Teil seines Selbst hat sich jetzt objektiviert  als  Vollstrecker eben dieser Handlung, während das ganze Selbst sich nun mehr oder weniger von der vollzogenenen Handlung zurückziehen kann. So wird es möglich, sich sein Selbst als nur teilweise mit der Handlung identifiziert vorzustellen (unser Mann ist schließlich noch etwas anderes als ein Neffenprügler). Wenn sich dann die Teilobjektivationen häufen ("Neffenprügler", "Schwesters Stütze und Stab", "Initiationskrieger", "Regentanzvirtuose" usw.), gewinnt ein ganzer Ausschnitt des Selbstbewußtseins in ihrem Sinn Struktur. Mit anderen Worten: ein Teil des Selbst wird im Sinne der gesellschaftlich erreichbaren Typisierungen objektiviert. Dieser Teil ist das eigentlich "gesellschaftliche Selbst", das subjektiv als unterschieden vom Selbst in seiner Ganzheit (37), ja, geradezu als dessen Gegenüber erlebt wird. Dieses wichtige Phänomen, das ein inneres "Gespräch" der verschiedenen Ausschnitte des Selbst ermöglicht, werden wir später noch zu betrachten haben, wenn wir uns mit der Internalisierung der gesellschaftlich konstruierten Welt in das individuelle Bewußtsein beschäftigen. Für den Augenblick geht es uns um die Beziehung zwischen diesem Phänomen und den objektiv greifbaren Verhaltenstypisierungen.

Wir fassen zusammen: Der Handelnde identifiziert sich  in actu  mit den gesellschaftlich objektivierten Verhaltenstypisierungen und stellt die Distanz zu ihnen wieder her, wenn er später über sein Verhalten nachdenkt. Diese Distanz zwischen dem Akteur und der Aktion kann das Bewußtsein bewahren und auf künftige Wiederholungen der Aktion projizieren. Das handelnde Selbst und der handelnde Andere werden so nicht als einzigartig, sondern als  Typen  empfunden. Diese Typen sind per definitionem austauschbar.

Von Rollen können wir erst dann sprechen, wenn diese Form der Typisierung sich innerhalb der Zusammenhänge eines objektivierten Wissensbestandes ereignet, der einer Mehrheit von Handelnden gemeinsam zueigen ist. In einem solchen Kontext sind Typen von Handelnden Rolltenträger (38). Daß die Bildung einer Rollentypologie die notwendige Ergänzung zur Institutionalisierung des Verhaltens ist, wird jetzt deutlich. Es sind die Rollen, mittels deren Institutionen der individuellen Erfahrung einverleibt werden. Die Rollen sind in ihrer sprachlichen Vergegenständlichung ein wesentlicher Bestandteil der objektiv faßbaren Welt einer jeden Gesellschaft. Als Träger einer Rolle - oder einiger Rollen - hat der Einzelne Anteil an einer gesellschaftlichen Welt, die subjektiv dadurch für ihn wirklich wird, daß er seine Rollen internalisiert.

Im allgemeinen Wissensvorrat gibt es standardisierte Formen von Rollenspiel, zu denen alle Mitglieder einer Gesellschaft Zugang haben. Diese Allgemeinzugänglichkeit ist als solche Teil des Wissensvorrates. Man weiß nicht nur allgemein, was zur Rolle gehört, sondern man weiß auch,  daß  das allgemein gewußt wird. Von jedem mutmaßlichen Träger der Rolle  X  kann demnach verlangt werden, sich an Regeln zu halten, die als Teil der institutionalen Tradition gelehrt werden und die ferner alle Rollenträger als solche ausweisen und zugleich kontrollieren.

Die Ursprünge der Rollen liegen bei demselben fundamentalen Habitualisierungs- und Objektivierungsvorgang wie die der Institutionen. Rollen treten in Erscheinung, sobald ein allgemeiner Wissensvorrat mit reziproken [wechselseitigen - wp] Verhaltenstypisierungen entsteht, ein Prozeß, der, so haben wir gesehen, zur gesellschaftlichen Interaktion gehört und der eigentlichen Institutionalisierung vorausgeht. Die Frage, wie weit Rollen institutionalisiert werden, ist identisch mit der, wie weit Verhaltensbereiche für eine Institutionalisierung empfänglich sind, und kann mit ihr zusammen beantwortet werden. Institutionalisiertes Verhalten kommt ohne Rollen nicht aus. Rollen haben ihren Teil an den Kontrollfunktionen der Institutionalisierung. Wenn Akteure erst einmal als Rollenträger typisiert sind, so ist ihr Verhalten  eo ipso [schlechthin - wp] fähig zum Rollenvollzug. Zwischen Billigung oder Mißbilligung gesellschaftlich vorgeschriebener Rollen gibt es keine Wahl mehr, wenngleich die Sanktionen der Gesellschaft natürlich nicht immer gleich und gleich hart sind.

Rollen  repräsentieren (39) die Gesellschaftsordnung. Diese Repräsentation hat zwei Ebenen. Erstens repräsentiert die gespielte Rolle sich selbst. Rechtsprechen zum Beispiel heißt, die Rolle des Richters spielen. Die rechtsprechende Person fungiert nicht "aus sich heraus", sondern als Richter. Zweitens repräsentiert die Rolle des Richters einen ganzen Verhaltenskomplex. Seine Rolle steht in Verbindung mit anderen Rollen, deren Gesamtheit die Institution des Rechts ausmacht. Der Richter richtet als der Repräsentant dieser Institution. Nur in ihrer Repräsentation durch Rollen manifestiert sich die Institution als wirklich erfahrbar. Mit ihrem Ensemble "programmierter" Handlungen ist sie so etwas wie ein ungeschriebenes Textbuch eines Dramas, dessen Aufführung von der immer wiederkehrenden Darstellung vorgeschriebener Rollen durch lebendige Akteure abhängt. Die Schauspieler verkörpern ihre Rollen und vergegenwärtigen das Drama auf vorgegebener Bühne. Weder ein Drama noch eine Institution würde ohne solche immer neu wiederholbare Verwirklichung bestehen können. Behauptet man also, daß Rollen Institutionen repräsentieren, so bedeutet das zugleich, daß Rollen es ermöglichen, daß Institutionen bestehen und immer wieder neu und gegenwärtig von lebendigen Menschen erlebt werden. Institutionen werden jedoch noch anders repräsentiert. Auch ihre sprachliche Vergegenständlichung, von der einfachen verbalen Bezeichnung bis zur Einbeziehung in höchst komplizierte Versinnbildlichungen der Wirklichkeit, repräsentiert sie, bzw. macht sie der Erfahrung präsent. Auch symbolisch können Institutionen durch konkrete Objekte repräsentiert werden, und zwar durch natürliche und durch von Menschenhand gemachte. Alle diese Repräsentationen wären jedoch "tot" (das heißt in diesem Fall aller subjektiven Wirklichkeit beraubt), wenn nicht ein akutes menschliches Verhalten sie ständig "zum Leben" erwecken würde. Die Repräsentation einer Institution in und durch Rollen ist somit eine Repräsentation par excellence, von der sich jede weitere Repräsentation ableiten läßt. Die Institution des Rechts zum Beispiel wird gewiß auch durch eine eigene Sprache repräsentiert, durch Gesetzestexte und Rechtstheorien und schließlich und endlich durch die absolute Legitimation ihrer Normen in sittlichen, religiösen oder mythischen Systemen. Auch von Menschen geschaffene Phänomene wie das Furcht einflößende Gepränge, das den Rechtsvollzug oft begleitet - und natürlich der Donnerschlag, Symbol des Gottesurteils, ja, allerhöchster Gerechtigkeit -, sind Repräsentationen der Institution "Recht". Ihrer aller Begründung, Bedeutung und Einsichtigkeit sind ableitbar aus ihrem Nutzen für menschliches Verhalten, wobei es sich natürlich um ein Verhalten handelt, das in den institutionellen Rollen des Rechts typisiert ist.

Wenn Menschen anfangen, über diese Dinge nachzudenken, so stellt sich ihnen das Problem, die einzelnen Repräsentationen zu einem sinnhaften Ganzen zu verbinden (40). Jede durchgeführte Rolle nimmt Bezug auf andere durchgeführte, bzw. durchzuführende Rollen und auf den objektiven Sinn der Institution als eines Ganzen. Zwar wird das Problem der Integration der jeweiligen Repräsentationen primär auf der Ebene der Legitimationen gelöst. Aber auch bestimmte Rollen tragen zu seiner Lösung bei. Wie gesagt,  alle  Rollen repräsentieren die institutionale Ordnung.  Einige  Rollen vergegenwärtigen sie jedoch mehr als die anderen bildlich in ihrer Totalität. Solche Rollen sind für eine Gesellschaft von großer strategischer Bedeutung, da sie nicht nur die eine oder andere Institution, sondern die Integration aller Institutionen zu einer sinnhaften Welt repräsentieren. Dadurch verhelfen sie natürlich auch zur Wahrung der Tradition im Bewußtsein und Verhalten der Mitglieder der Gesellschaft, das heißt, sie stehen in einer besonderen Beziehung zum gesellschaftlichen Legitimationsapparat. Manche Rollen haben erst gar  keine  andere Funktion als eben diese symbolische Repräsentanz der institutionalen Ordnung in ihrer integrierten Totalität. Andere erhalten solche Funktionen von Zeit zu Zeit, in Ergänzung der banaleren Rollen, die sie routinemäßig spielen. So kann zum Beispiel der Richter in einem besonderen Fall die totale Integration der Gesellschaft repräsentieren. Der Monarch dagegen repräsentiert sie immer, und in einer konstitutionellen Monarchie hat er tatsächlich nur die Funktion, "lebendiges Symbol" für alle Schichten der Gesellschaft, bis hinunter zum Mann auf der Straße, zu sein. Rollen, die eine ganze institutionale Ordnung symbolisch repräsentieren, haben in der Geschichte fast immer ihren festen ort in politischen und religiösen Institutionen. (41)

Für unsere Betrachtungen ist der Charakter von Rollen als Vermittler besonderer Ausschnitte des allgemeinen Wissensvorrates jedoch wichtiger. Mittels der Rollen, die er spielt, wird der Einzelne in einzelne Gebiete gesellschaftlich objektivierten Wissens eingewiesen, nicht allein im engeren kognitiven Sinn, sondern auch in dem des "Wissens" um Normen, Werte und sogar Gefühle. Richter sein heißt zwar in erster Linie, Wissen über Recht haben, vielleicht auch Wissen über ein weiteres Feld menschlicher Verhältnisse, sofern sie rechtlich relevant sind. Es heißt jedoch auch, Werte und Maßstäbe "wissen", die dem Richter  als  Richter auferlegt sind, bis hin zu denen, die noch für des Richters Frau gelten. Der Richter muß auch etwas von Emotionen verstehen. Er muß wissen, wann er mit seinen eigenen Gefühlen zurückhalten muß, um nur ein keineswegs unwichtiges psychologisches Eignungsmoment für diese Rolle zu erwähnen. So wie sie schafft jede andere Rolle Zutritt zu einem besonderen Ausschnitt des gesamten Wissensvorrates der Gesellschaft. Für das Lernen seiner Rolle genügt es nicht, die unmittelbar nötigen Routinen zu ihrer "äußeren" Durchführung zu erwerben. Man muß mit den verschiedenen kognitiven und sogar affektiven Schichten des Wissensfeldes vertraut gemacht worden sein, das direkt und indirekt dieser Rolle eigentümlich ist.

All das setzt die gesellschaftliche Zuteilen von Wissen (42) voraus. Der Wissensvorrat einer Gesellschaft ist verteilt je nach Relevanz für alle oder für besondere Rollen. Das trifft sogar schon für sehr einfache gesellschaftliche Situation zu, wie etwa für unser oben erwähntes Beispiel einer Situation ständiger Interaktion zwischen einem Mann, einer bisexuellen Frau und einer Lesbe. Einiges Wissen ist hier für alle drei Personen relevant, zum Beispiel Wissen, was zu tun ist, damit sich die Kumpanei wirtschaftlich über Wasser halten kann. Anderes Wissen ist nur für jeweils zwei von ihnen relevant: die Geheimnisse des lesbischen Liebe in einem und heterosexueller Verführungskünste im anderen Fall. Mit anderen Worten: die gesellschaftliche Distribution von Wissen bringt eine Mehrgleisigkeit im Sinne allgemeiner und spezifischer Rollenrelevanz mit sich.

Wenn sich erst einmal im Gang der Geschichte einer Gesellschaft die Anhäufung von Wissen ergeben hat, so ist anzunehmen, daß, aus Gründen der Arbeitsteiligkeit, rollenspezifisches Wissen schneller zunehmen wird als allgemein verbindliches. Die Vermehrung spezieller Aufgaben durch die Arbeitsteiligkeit erfordert Standardlösungen, die leicht erlernbar und übertragbar sind. Diese Lösungen wiederum kommen nicht ohne spezialisierte Kenntnis gewisser Situationen aus, wozu auch gehört, daß man über das Verhältnis zwischen Mitteln und Zwecken ihrer gesellschaftlichen Bestimmung Bescheid weiß. Mit anderen Worten: Spezialisten, deren jeder wissen muß, was von ihm zur Erfüllung seiner speziellen Aufgabe erwartet wird, treten auf den Plan.

Wenn rollenspezifisches Wissen angehäuft werden soll, so muß die Gesellschaft sich so konstituiert haben, daß bestimmte Personen sich auf ihre Sonderaufgaben beschränken können. Sollen in einer Jägergesellschaft bestimtme Männer Waffenschmiede werden, so muß dafür gesorgt sein, daß sie von der Jagd, welche allen Erwachsenen aufgetragen ist, freigestellt werden. Auch Spezialwissen exklusiverer Art, wie das von Zauberern und Intellektuellen, braucht eine derartige Organisation der Gesellschaft. Solche Spezialisten sind immer auch zugleich die verantwortlichen Sachwalter des Ausschnittes aus dem allgemeinen Wissensvorrat, auf den die Gesellschaft sie verwiesen hat.

Ein wichtiger Bestandteil des allgemein relevanten Wissens ist somit die Typologie der Spezialisten. Während Spezialistsein bedeutet, sein Spezialgebiet zu beherrschen, muß jedermann wissen, wer Spezialist ist, für den Fall, daß Spezialwissen benötigt wird. Vom Mann auf der Straße kann nicht erwartet werden, daß er sich im Irrgarten der Fruchtbarkeitsmagie auskennt oder bösen Zauber abwenden kann. Was er jedoch wissen  muß,  ist, an welchen Zauberer er sich wenden kann. Die Typologie der Experten (die moderne Sozialkunde nennt das einen "referral guide") ist also ein Teil des allgemein relevanten und greifbaren Wissensvorrates, während das Wissen, auf das sich ein Expertentum gründet, nicht allgemein verbindlich und greifbar ist. Praktische Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, daß zum Beispiel konkurrierende Richtungen von Expertentum auftreten oder daß die Spezialisierung so weit getrieben wird, daß kein Laie sich mehr zurechtfindet, können wir hier nicht gesondert behandeln.

Der wechselseitige Bezug von Rollen und Wissen ergibt also zwei vorteilhafte Ansatzpunkte für die Analyse. In der Perspektive der institutionalen Ordnung erscheinen die Rollen als institutionelle Repräsentationen und als mögliche Vermittler zwischen den verschiedenen institutionell objektivierten Wissensaggregaten (43). In der Perspektive der Rollen selbst hat jede einzelne Rolle ihr gesellschaftlich festgelegtes Wissenszubehör. Beide Perspektiven weisen auf das eine umfassende Phänomen hin: die fundamentale Dialektik der Gesellschaft. Von der ersten Perspektive her wäre das Resumée: Gesellschaft ist nur, wo der Einzelne sich ihrer bewußt ist. Von der zweiten her wäre es: Das individuelle Bewußtsein ist immer gesellschaftlich determiniert. Verengt man den Blick auf die Frage der Rollen, so wäre einerseits zu sagen, daß eine institutionale Ordnung nur wirklich ist, sofern sie sich in Rollen  verwirklicht,  und daß Rollen ihrerseits wiederum nur für eine solche institutionale Ordnung repräsentativ sind, die Rollencharaktere und ihr Wissenszubehör festgelegt hat, so daß sie ihren objektiven Sinn von ihr beziehen.

Für die Wissenssoziologie ist die Rollenanalyse besonders wichtig, weil sie die Brücken zwischen den Makro-Sinnwelten einer Gesellschaft und den Formen, in denen diese Sinnwelten für den Einzelnen Wirklichkeitscharakter erhalten, sichtbar macht. Man kann die Wurzeln einer Religion zum Beispiel in bestimmten gesellschaftlichen Gruppierungen: Klassen, ethnischen Gemeinschaften oder intellektuellen Esoterikern und ihrem Anhang, analysieren und außerdem die Art und Weise, wie sich diese Religion im Bewußtsein des Einzelnen spiegelt. Beide Analysen kommen jedoch nur zusammen, wenn es gelingt, deutlich zu machen, wie der Einzelne in seinem gesamten gesellschaftlichen Handeln mit seiner Gesellschaft verbunden ist. Ein solches Unterfangen wird in der Rollenanalyse notwendig zur Übung.


e) Grenzen und Formen der Institutionalisierung

Wir haben uns bisher mit den Wesensmerkmalen der Institutionalisierung abgegeben, die als soziologische Konstanten bezeichnet werden können. Von dem, was an Variationen, Manifestationen und Kombinationen dieser Konstanten in der Geschichte vorkommt, können wir in unserer Abhandlung nicht einmal einen Überblick geben. Einer solchen Aufgabe würde nur Herr, wer eine Universalgeschichte unter einem soziologischen Aspekt schreiben wollte. Es gibt jedoch eine Reihe historischer Variationen mit dem Charakter von Institutionen, die so entscheidend für konkrete soziologische Analysen sind, daß wir sie zumindest kurz vorstellen wollen. Ausgangspunkt für uns ist natürlich weiter die Verknüpfung von Institution und Wissen.

Untersucht man eine konkrete institutionale Ordnung, so kann man die folgende Frage stellen: wie weit reicht die Institutionalisierung im Rahmen der Gesamtheit sozialen Handelns, so wie die Gesellschaft nun einmal ist? Mit anderen Worten: Wie groß ist der Anteil institutionalisierter Tätigkeit verglichen mit dem Bereich, der nicht institutionalisiert ist? (44) Dabei gibt es offenbar historische Differenzierungen. Das bedeutet, verschiedene Gesellschaften haben für nichtinstitutionalisierte Tätigkeiten verschieden viel Raum ausgespart. Es ist eine wichtige grundsätzliche Frage, welche Faktoren jeweils für einen weiteren oder engeren Rahmen der Institutionalisierung bestimmend sind.

Sehr formelhaft ausgedrückt, hängt die Reichweite der Institutionalisierung von den Relevanzstrukturen ab. Wenn viele oder die meisten Relevanzstrukturen Gemeingut einer Gesellschaft sind, so muß die Institutionalisierung sehr weit gehen. Sind nur wenige Relevanzstrukturen allgemein verbindlich, so sind der Institutionalisierung engere Grenzen gesetzt. Im letzten Fall besteht auch die Möglichkeit, daß die institutionale Ordnung ziemlich aufgesplittert ist, indem nämlich gewisse Relevanzstrukturen für gewisse Gruppen, nicht aber für die ganze Gesellschaft gültig sind.

Aus heuristischen Gründen wollen wir einmal idealtypische Extreme einführen. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der die Institutionalisierung total ist. In ihr gäbe es  nur  gemeinsame Probleme, deren Lösungen gesellschaftlich objektiviert werden, und  alle  gesellschaftlichen Tätigkeiten wären institutionalisiert. Die institutionale Ordnung umfaßt das gesamte Leben, das der unaufhörlichen Aufführung eines komplizierten und höchst stilisierten liturgischen Spiels ähnelt. Es gäbe keine oder fast keine rollenspezifische Aufteilung des Wissens, denn die Rollen würden alle in Situationen gespielt, die für alle Akteure von gleicher Relevanz sind. Dieses heuristische Modell einer total institutionalisierten Gesellschaft (übrigens eine Fundgrube für Alpträume) läßt sich etwas modifizieren, wenn man einmal annimmt, es seien alle gesellschaftlichen Tätigkeiten institutionalisiert, aber nicht alle Probleme seien Gemeingut. Der Lebensstil dieser Gesellschaft wäre für ihre Mitglieder gleich streng, doch gäbe es mehr rollenspezifisches Wissen. Einige liturgische Spiele würden sozusagen zur gleichen Zeit aufgeführt. Daß weder das erste noch das zweite Modell in der Geschichte vorkommt, wissen wir. Doch könnte man die vorhandenen Gesellschaften im Hinblick auf den Grad ihrer Annäherung an den extremen Typus prüfen. Dabei würde sich herausstellen, daß primitive Gesellschaften ihm sehr viel näher sind als moderne (45). Ja, man kann sagen, daß die Weiterentwicklung archaischer Kulturen eine ständige Bewegung fort von diesem Typus ist. (46).

Das entgegengesetzte Extrem wäre eine Gesellschaft, die nur  ein  gemeinsames Problem hat und deren Institutionalisierung sich  nur  auf Tätigkeiten erstreckt, die mit diesem Problem zu tun haben. In einer solchen Gesellschaft gäbe es nahezu keinen gemeinsamen Wissensvorrat, und fast alles Wissen wäre rollenspezifisch. Bei Makrogesellschaften gibt es nicht einmal Annäherungen an diesen Typus, dafür aber bei kleineren gesellschaftlichen Formationen - in Lebensform- oder Körperkultur-Vereinen etwa, deren Gemeinschaftsangelegenheiten sich auf ökonomische Absprachen beschränken, oder auf dem Kriegspfad, auf den sich mehrere Stämme oder Völkerschaften begeben, deren einziges gemeinsames Problem eben der Kriegspfad ist.

Abgesehen von ihrem Stachel für die soziologische Phantasie tragen heuristische Fiktionen wie diese zur Erhellung der Umstände bei, unter denen eine Annäherung an die Extreme zustande kommt. Der allgemeinste Umstand ist der jeweilige Grad der Arbeitsteiligkeit und die ihm entsprechende Differenzierung der Institutionen (47). Jede Gesellschaft, in der die Arbeitsteiligkeit zunimmt, entfernt sich von unserem ersten Extrem. Ein anderer allgemeiner Umstand, mit dem vorigen eng verbunden, ist die Möglichkeit von wirtschaftlichem Überschuß, der es Einzelnen oder Gruppen erleichtert, sich mit spezialisierten Tätigkeiten zu befassen, die nicht dem direkten Lebensunterhalt dienen. (48) Derartige Tätigkeiten führen, wie wir gesehen haben, zur Spezialisierung und Aufgliederung des allgemeinen Wissensvorrates. Letztere wiederum ermöglichen ein Wissen, das sich subjektiv von jeder gesellschaftlichen Relevanz löst, das heißt: reine Theorie (49). Spielen wir unser Beispiel weiter durch, so bedeutet das: gewisse Personen werden von der Jagd freigestellt, nicht um nur Waffen, sondern auch Mythen zu fabrizieren. Damit kommen wir allmählich zum "theoretischen Leben" mit seinem üppig wuchernden Spezialwissen, von Spezialisten verwaltet, deren soziales Prestige im gleichen Verhältnis zu ihrer Fähigkeit wächst, irgendetwas anderes zu verstehen als eben bloße Theorie - womit sich übrigens Probleme eröffnen, auf die wir später noch zurückkommen werden.

Institutionalisierung ist jedoch kein unwiderruflicher Prozeß, obwohl Institutionen, sind sie erst einmal entstanden, eine Neigung zur Dauerhaftigkeit (50) zeigen. Aus einer Vielzahl historischer Gründe kann der Spielraum für institutionalisierte Tätigkeiten auch kleiner werden. Entinstitutionalisierung (51) gewisser Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kann um sich greifen. Die private Sphäre, wie sie sich zum Beispiel in unserer modernen industriellen Gesellschaft herausgebildet hat, ist, im Vergleich zur öffentlichen, in beachtlichem Maß frei von Institutionalisierung. Theorie - (52) Eine andere Frage in Bezug auf die historische Variabilität institutionalisierter Ordnung wäre die nach dem Verhältnis verschiedener Institutionen zueinander - sowohl im Bereich des Vollzugs wie auch in dem der Sinnhaftigkeit (53). Bei unserem ersten Extrem, das wir oben erläutert haben, gilt, für jeden subjektiven Lebenslauf die Einheit von Vollzug und Sinn der Institutionen. Der gesamte gesellschaftliche Wissensvorrat aktualisiert sich für jedes individuelle Leben. Jedermann  ist  alles und  weiß  alles. Ein Problem der Integration von Sinn - das heißt der sinnhaften Verbundenheit verschiedener Institutionen - wäre in diesem Fall ausschließlich eine subjektive Angelegenheit. Der objektive Sinn der institutionalen Ordnung präsentiert sich jedem Individuum als gegeben und allseits bekannt, als gesellschaftliche Gewißheit. Wenn es überhaupt ein Problem geben sollte, dann deswegen, weil der Einzelne subjektive Schwierigkeiten haben kann, Sinngebungen allgemeiner gesellschaftlicher Übereinkunft zu internalisieren.

Mit wachsender Entfernung von unserem heuristischen Modell (das heißt natürlich in allen bestehenden Gesellschaften, wenngleich nicht zu gleichen Graden) kommt es zu wichtigen Modifikationen der institutionalen Bedeutungsinhalte. Die beiden nächstliegenden haben wir schon erwähnt: Eine Aufsplitterung der institutionalen Ordnung, bei der nur gewisse Typen gewisse Tätigkeiten ausüben, und, als Folge davon, eine gesellschaftliche Aufteilung des Wissens, bei der rollenspezifisches Wissen bestimmten Typen vorbehalten ist. Mit derartigen Entwicklungen entsteht jedoch auf der Ebene der Sinnhaftigkeit eine neue Konstellation. Nun gibt es ein objektives Problem der Integration von Sinn, das die ganze Gesellschaft betrifft. Dieses ist etwas ganz anderes als die subjektive Abstimmung jenes Sinns, den man sich selbst aus seinem Leben macht, mit dem, den ihm die Gesellschaft zugeschrieben hat. Wir haben hier einen Unterschied vor uns, so groß wie zwischen Überredungskünsten, mit denen man andere überzeugen will, und Memoiren, die man schreibt, um sich selbst zu überzeugen.

Unser Beispiel mit dem Trio Mann/Frau/Lesbe hatten wir weiter vorne ein wenig breitgetreten, um deutlich zu machen, daß man nicht a priori annehmen darf, verschiedene Prozesse der Institutionalisierung müßten "zusammenhängen". Die Relevanzstruktur zwischen Mann  A  und Frau  B  braucht nicht mit der von Frau  B  und der von Lesbe  C  oder mit der der Lesbe und des Mannes integriert zu werden. Abgesonderte institutionelle Prozesse können ohne jede Integration nebeneinander herlaufen. Wir behaupteten dann, die empirische Tatsache, daß Institutionen dann doch zusammenhängen, obwohl es kein a priori dabei gibt, kann nur dem Bewußtsein der denkenden Personen zur Last gelegt werden, die ihre Erfahrung verschiedener Institutionen mit einer gewissen Logik überlagern. Mit dieser Behauptung kommen wir einen gewissen Schritt weiter, wenn wir annehmen, eine unserer drei Figuren - sagen wir, der Mann  A - hat allmählich genug von der Asymmetrie der Situation. Nicht, daß sich die Relevanzen, an denen er teilhat (A-B und C-A), verändert haben. Ihm geht es natürlich um die Relevanz, von der er ausgeschlossen ist. Daß ihm die Relevanz  B-C  zum Ärgernis wird, kann davon kommen, daß sie seine eigenen Pläne durchkreuzt:  C  vertändelt zu viel Zeit mit  B  und vernachlässigt seine und ihre Interessen an der Blumenzucht. Es kann aber auch sein, daß  A  theoretische Ambitionen hat. Auf jeden Fall will er die drei separierten Relevanzen und ihr habituelles Drum und Dran zu einem zusammenhängenden, sinnhaften Ganzen:  A-B-C,  vereinigen. Was kann er tun? Stellen wir uns  A  als ein religiöses Talent vor. Eines Tages kommt er seinen Damen mit einem neuen Mythos: die Welt wurde in zwei Etappen geschaffen - das trockene Land durch eine Vereinigung des Schöpfergottes mit seiner Schwester, das Meer durch eine virtuos Fingerübung der Gottschwester mit einer lesbischen Zwillingsgöttin. Als der männliche Gott sich dann die Welt ansah, vereinigte er sich mit der lesbischen Göttin zum großen Tanz der Blumen. So entstanden Flora und Fauna auf dem Antlitz der Erde. Das Dreieck aus Heterosexualität, lesbischer Liebe und Hortikultur [Gartenbau - wp] ist auf einmal nichts geringeres als die Imitatio archetypischer Akte der Götter. Nicht schlecht! Leser, die etwas von vergleichender Mythologie verstehen, werden unschwer historische Parallelen zu unserer schöpfungsgeschichtlichen Miniatur beibringen können. Unser Mann allerdings hat es schwerer, den Seinen seine Theorie beizubringen. Er hat es mit einem Propagandaproblem  en miniature  zu tun. Wenn wir nun aber annehmen dürfen, daß auch  B  und  C  für eine mehrseitige Betriebsamkeit praktische Schwierigkeiten kommen sehen oder daß  As  kosmische Vision sie gar entzückt hat (was nicht allzu wahrscheinlich ist), so besteht eine Chance für ihn, sein neues Schema einzuführen. Hat er erst einmal Erfolg damit gehabt und "wissen" alle drei, daß verschiedene Aktionen für die ganze A-B-C-Gesellschaft zusammenwirken können, so wird dieses "Wissen" die Situation von außen beeinflussen.  C  ist nun bald geneigt, ihre Zeit in gerechter Weise zwischen ihren beiden Hauptaktivitäten aufzuteilen.

Sollten die Ausmaße, die unser Exempel angenommen hat, sich etwas zu sehr in mythische Fernen verlieren, so stellt sich die vertraute Nähe sogleich wieder her, wenn wir für das Bewußtsein unseres religiösen Genies einen Säkularisierungsprozeß vorschlagen. Mythologie sei nicht länger plausibel. In der Lage unsere Trios hilft nur noch die Sozialwissenschaft, die natürlich mit Deutungen schnell bei der Hand ist. Dem  Homo religiosus,  der soziologiefromm geworden ist, erscheint es nun evident, daß hinter den verschiedenen sexuellen Aktivitäten, vor allem bei den beiden Damen, tief verankerte psychische Bedürfnisse liegen. Er "weiß", daß die Frustration dieser Bedürfnisse zu "disfunktionalen" Spannungen führen wird. Andererseits ist die Tatsache nicht zu übersehen, daß nun das Trio auf der anderen Seite der Insel Blumen gegen Kokosnüsse eintauscht. Jetzt haben wir sie: Verhaltensmuster  A-B  und  B-C  sind funktional im Sinne des "Persönlichkeitssystems". Die Beziehung  C-A  funktioniert dagegen im Sinne der Unterabteilung "Volkswirtschaft" des "Gesellschaftssystems".  A-B-C  ist nichts anderes als das rationale Ergebnis funktionaler Integration auf einer den Systemen gemeinsamen Ebene. Wenn  A  mit  dieser  Theorie bei seinen Damen ankommt, so wird ihr neues "Wissen" um die funktionalen Imperative ihrer Situation sicherlich bald kontrollierende Konsequenzen für ihr Verhalten haben.

Mutatis mutandis [unter vergleichbaren Bedingungen - wp] dürfte unsere Argumentation auch stimmen, wenn wir sie aus der Vis-á-vis-Idylle auf makrogesellschaftliche Höhen heben. Die Aufgliederung der institutionalen Ordnung und die mit ihr einhergehende Zuteilung von Wissen muß zu der Schwierigkeit führen, integrationsfähige Bedeutungen zu schaffen, die für die ganze Gesellschaft gelten und einen allgemeinverbindlichen Zusammenhang objektiver Sinnhaftigkeit für die bruchstückhafte Erfahrung des Einzelnen und sein bruchstückhaftes Wissen eingehen. Über das Problem allgemeinverbindlich sinnhafter Integration hinaus entsteht für einen Typ von Akteuren gegenüber anderen Typen von Akteuren das Problem der Legitimation institutionaler Aktion. Wir können eine Sinnwelt voraussetzen, die dem Wirken von Kriegern, Bauern, Händlern und Teufelsaustreibern einen objektiven Sinn verleiht. Das heißt aber nicht, daß es keine Interessenkonflikte mehr zwischen diesesn Typen von Handelnden gibt. Sogar innerhalb der gemeinsamen Sinnwelt dürften die Teufelsaustreiber Mühe haben, ihre Künste den Kriegern verständlich zu machen und so weiter. Die Methoden der entsprechenden Legitimationsvorgänge variieren zudem in der Geschichte. (54)

Eine mögliche Folge der institutionalen Auffächerung ist das Entstehen gesellschaftlich abgetrennter Subsinnwelten. Sie ergeben sich aus den verschiedenen Akzenten, die auf die Rollenspezialisierung gelegt werden, bis hin zu dem Punkt, an dem rollenspezifisches Wissen, gemessen am allgemeinen Wissensvorrat, völlig esoterisch wird. Solche Subsinnwelten können der allgemeinen Sicht verborgen bleiben oder auch nicht. In gewissen Fällen dürften nicht nur die kognitiven Inhalte ihrer Esoterik, sondern sogar die Existenz einer Subsinnwelt und der Gruppe, von der sie getragen wird, ein Geheimnis bleiben. Subsinnwelten können ihre gesellschaftliche Struktur verschiedenen Kriterien verdanken: Geschlecht, Alter, Beruf, religiöse Überzeugung, ästhetische Vorlieben usw. Die Chance, daß sie entstehen, wächst mit der Arbeitsteiligkeit und dem ökonomischen Überschuß. Eine Gesellschaft auf der Basis einer reinen Subsistenzwirtschaft kann sich eine Segregation [Ausgrenzung von Minderheiten - wp] zwischen Männern und Frauen oder alten und jungen Kriegern auf kognitiver Ebene, wie sie bei "Geheimgesellschaften" in Afrika und unter amerikanischen Indianern überlebt, leisten. Sie ist vielleicht noch fähig, die esoterische Existenz einiger weniger Priester und Zauberer zu tragen. Voll entfaltete Subsinnwelten wie zum Beispiel bei den Hindu-Kasten, der chinesischen Literatur-Bürokratie oder den Priesterschaften des alten Ägypten bedürfen viel differenzierterer Lösungen der ökonomischen Frage.

Wie alle Sinnkonstruktionen der Gesellschaft müssen auch die Subsinnwelten von einer bestimmten Gemeinschaft "getragen werden (55), das heißt, von der Gruppe, welche die betreffende Sinnhaftigkeit ständig produziert und in der sie objektive Wirklichkeit geworden ist. Zwischen solchen Gruppen können Streitigkeiten und Rivalitäten bestehen. Im einfachsten Fall kann Zank über die Zuteilung von Überschußreserven an die jeweiligen Spezialisten ausbrechen - etwa bei der Freistellung von produktiver Arbeit. Wer ist offiziell freigestellt? Alle Medizinmänner? Oder nur die Medizinmänner im Haushalt des Häuptlings? Wer soll ein festes Gehalt vom Staat bekommen? Ärzte, die Kranke mit Kräutern heilen oder Ärzte, die sich zum gleichen Zweck in Trance versetzen? Der Weg ist nicht weit von derart relativ simplen Meinungsverschiedenheiten zu Konflikten verschiedener Denkschulen, deren jede versucht, sich selbst zu etablieren und die anderen samt ihrem Wissenszubehör zu verketzern, wenn nicht gar auszurotten. In der modernen Gesellschaft bestehen solche Konflikte - um sozio-ökonomische Interessen wie um kognitive - zum Beispiel zwischen der orthodoxen Medizin und Chiropraktikern, Homöopathie oder Christian Science. In hochentwickelten Industriegesellschaften mit ihrem enormen wirtschaftlichen Überschuß, der es ungezählten Personen gestattet, ihre gesamte Zeit noch den obskursten Interessen zu widmen, ist die pluralistische Konkurrenz von Subsinnwelten jeder vorstellbaren Art der Normalzustand. (56)

Mit dem Auftreten von Subsinnwelten entwickelt sich eine Vielfalt der Perspektiven, unter denen sich die Gesamtgesellschaft betrachten läßt; sie wird von jeder Subsinnwelt her in einem anderen Blickwinkel gesehen. Der Chiropraktiker sieht die Gesellschaft anders als der Professor der Schulmedizin, der Dichter anders als der Geschäftsmann, der Jude anders als der Christ. Die Vielfalt der Perspektiven erschwert es natürlich, die gesamte Gesellschaft unter ein Dach, das heißt unter ein integriertes Symbolsystem zu bringen. Jede Perspektive mit all ihrem Zubehör an Theorien oder gar Weltanschauungen ist aufs Engste verknüpft mit handfesten Interessen ihrer Trägergruppe. Das soll jedoch nicht heißen, daß die Perspektiven - und die Theorien und Weltanschauungen schon gar nicht - mechanische Reflexe gesellschaftlicher Interessen wären. Besonders auf der Ebene der Theorie kann Wissen weitgehend von biographischen und gesellschaftlichen Interessen des Wissenden losgelöst sein. Es mag natürlich begreifliche gesellschaftliche Gründe haben, wenn Juden sich besonders auf bestimmte wissenschaftliche Gebiete konzentrieren. Aber unmöglich wäre, von wissenschaftlichen Auffassungen behaupten zu wollen, sie könnten nur von Juden oder Nichtjuden vertreten werden. Mit anderen Worten: Die Sinnwelt einer Wissenschaft kann sich von ihrer gesellschaftlichen Grundlage ziemlich unabhängig machen. Bei aller Differenzierung in der Praxis gilt das theoretisch für jeden Wissenskomplex - sogar einschließlich der kognitiven Perspektiven auf die Gesellschaft.

Darüber hinaus hat ein Wissensbestand, der einmal den Charakter einer relativ autonomen Subsinnwelt erreicht hat, die Fähigkeit, auf eine Gemeinschaft, aus der er hervorgegangen ist, zurückzuwirken. Juden werden beispielsweise vielleicht Soziologen, weil sie als Juden in der Gesellschaft ihre besonderen Probleme haben. Wenn sie aber einmal in die Sinneswelt der soziologischen Sprachregelung eingeweiht sind, so werden sie die Gesellschaft nicht mehr nur in jüdischer Perspektive sehen. Vielmehr kann ihr gesellschaftliches Handeln  als  Juden von den neu gewonnenen soziologischen Aspekten her andere Formen annehmen. Wie weit die Ablösung des Wissens von seiner existentiellen Herkunft geht, hängt von vielen historischen Variablen ab: der Dringlichkeit der betroffenen gesellschaftlichen Interessen zum Beispiel, dem Grad theoretischer Verfeinerung des betroffenen Wissens seiner gesellschaftlichen Relevanz oder Irrelevanz und so weiter. Prinzipiell wichtig ist wieder, daß die Beziehung zwischen Wissen und gesellschaftlicher Grundlage dialektisch ist, das heißt, das Wissen sowohl gesellschaftliches Produkt als auch ein Faktor für den gesellschaftlichen Wandel ist (57). Die fundamentale Dialektik zwischen der gesellschaftlichen Produktion und jener objektivierten Welt, die ihr Produkt ist, wurde schon erörtert. Ihrer eingedenk zu sein, ist für jede konkrete Analyse von Subsinnwelten besonders wichtig.

Die wachsende Anzahl und Kompliziertheit der Subsinnwelten machen sie immer schwerer zugänglich für Außenseiter. Sie werden zu esoterischen Enklaven, "hermetisch versiegelt", im klassischen Sinne hermetischen Geheimwissens. Ihre zunehmenden Autonomie stellt die Außenseiter wie die Eingeweihten gewissen Legitimationsproblemen gegenüber. Die Außenseiter müssen ferngehalten werden, ja, gelegentlich dürfen sie sogar nicht einmal etwas von der Existenz einer Subsinnwelt wissen. Ist eine Subsinnwelt jedoch in der Außenwelt bekannt und verlangt sie von der Gesellschaft sogar besondere Privilegien und Anerkennung, so entsteht das Dilemma, Außenseiter fernzuhalten und dabei doch Legitimation und Billigung gerade für dieses Vorgehen von ihm zu erhalten. Dazu verhelfen allerlei Einschüchterungsmanöver, rationale und irrationale Propaganda, die mit Interessen und Gefühlen des Außenseiters rechnet, Geheimniskrämerei, Irreführung und vor allem der Umgang mit Prestigesymbolen. Andererseits müssen die eigenen Leute bei der Stange gehalten werden. Dazu muß es theoretische und praktische Verfahren geben, mit deren Hilfe die Subsinnwelt jede Versuchung, ihr zu entgleiten, verhindern kann. Wir werden später einige Einzelheiten dieser Doppelproblematik der Rechtfertigung erörtern. Für den Augenblick mag ein Beispiel genügen. Man kann nicht einfach eine Subsinnwelt der Medizin schaffen. Der Laie muß vielmehr von ihrer Richtigkeit und Wohltätigkeit für ihn überzeugt sein, und die Ärzte andererseits müssen lernen, sich an ihre ungeschriebenen Gesetze zu halten. Der  misera plebs [dem armseligen Volk - wp] werden also einschüchternde Bilder eines Leibesschicksals vorgehalten, das dem droht, der "gegen den Rat des Arztes" handelt. Die tatsächlichen Segnungen ärztlicher Hilfe und der eigene Horror vor Krankheit und Tod erleichtern dem Laien die Arztgläubigkeit. Der Arztberuf selbst hüllt sich dazu, um seine Autorität zu unterstreichen, in die uralten Symbole von Macht und Geheimnis - vom Arztkittel bis zur Geheimsprache -, die für den Arzt selbst und für die Patienten natürlich pragmatisch legitimiert sind. Die vollakkreditierten Bewohner der medizinischen Subsinnwelt werden zugleich an jeder "Quacksalberei", das heißt, am Abfall von der Subsinnwelt in Gedanken und Taten gehindert. Dazu stehen der Zunft nicht nur mächtige Kontrollmittel zur Verfügung, sondern auch das ganze Corpus professionellen Wissens, das dem Möchtegern-Abweichler die "wissenschaftlichen Beweise" für die Verrücktheit und Ungehörigkeit seiner Verirrungen bereithält. Mit anderen Worten: eine Legitimationsmaschinerie ist in Betrieb, damit Patienten Patienten und Ärzte Ärzte bleiben und zudem, wenn das überhaupt möglich ist, auch noch glücklich dabei sind.

Besondere Schwierigkeiten entstehen, wenn Institutionen und Subsinnwelten sich nicht im Gleichschritt verändern (58). Dadurch werden sowohl die allgemeinverbindlichen Rechtfertigungen der institutionalen Ordnung als auch die Speziallegitimationen besonderer Institutionen oder Subsinnwelten empfindlich gestört. Eine Feudalgesellschaft mit einer modernen Armee, eine Landaristokratie unter den Bedingungen des industriellen Kapitalismus, eine traditionelle Religion, gezwungen, mit Populärwissen zu leben, die Koexistenz der Relativitätstheorie und der Astrologie in derselben Gesellschaft -: unsere Zeit ist voll von derartigen Antagonismen, die wir im einzelnen nicht zu behandeln brauchen. Es genügt vollkommen festzustellen, wie anstrengend das Geschäft der zuständigen Legitimatoren unter derartigen Umständen ist.

Schließlich erhebt sich aus der Tatsache der historischen Veränderlichkeit der Institutionen eine letzte Frage von größtem theoretischem Interesse, nämlich: bis zu welchem Ausmaß wird eine objektivierte institutionelle Ordnung oder auch ein Teil von ihr als außermenschliche Faktizität aufgefaßt? Es ist dies die Frage nach der Verdinglichung (59) der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Verdinglichung bedeutet, menschliche Phänomene aufzufassen, als ob sie Dinge wären, das heißt als außer- oder gar übermenschlich. Man kann das auch so umschreiben: Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produkten,  als wären  sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarungen eines göttlichen Willens. Verdinglichung impliziert, daß der Mensch fähig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Welt zu vergessen und weiter, daß die Dialektik zwischen dem menschlichen Produzenten und seinen Produkten für das Bewußtsein verloren ist. Eine verdinglichte Welt ist per definitionem eine enthumanisierte Welt. Der Mensch erlebt sie als fremde Faktizität, ein  opus alienum [Werk eines Fremden - wp] über das er keine Kontrolle hat, nicht als das  opus proprium [eigenes Werk - wp] seiner eigenen produktiven Leistung.

Aus unserer vergangenen Erörterung der Vergegenständlichung wird klargeworden sein, daß, sobald sich eine objektive gesellschaftliche Welt etabliert hat, die Möglichkeit der Verdinglichung nicht mehr weit ist (60). Die Gegenständlichkeit der gesellschaftlichen Welt bedeutet, daß diese Welt dem Menschen als etwas, das ihm außerhalb seiner selbst gegenübersteht. Die entscheidende Frage ist, ob er sich noch bewußt bleibt, daß die gesellschaftliche Welt, wie auch immer objektiviert, von Menschen gemacht ist - und deshalb neu von ihnen gemacht werden kann. Mit anderen Worten: man kann Verdinglichung als äußersten Schritt des Prozesses der Objektivation verstehen, als einen Schritt, durch den die objektivierte Welt ihre Begreifbarkeit als eines menschlichen Unterfangens verliert und als außermenschlich, als nicht humanisierbare, starre Faktizität fixiert wird (61). Die wahre Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Welt wird im Bewußtsein in ihr Gegenteil verkehrt. Der Mensch, der Hervorbringer einer Welt, wird als deren Hervorbringung gesehen, menschliches Tun nur als Epiphänomen außermenschlicher Vorgänge. Menschliche Sinnhaftigkeit wird nicht mehr als weltschöpferisch, sondern als Geschöpf der "Natur der Dinge" aufgefaßt. Verdinglichung ist- das muß nachdrücklich betont werden - eine Modalität des Bewußtseins, oder präziser: eine Modalität der Objektivation der menschlichen Welt durch den Menschen. Noch wenn der Mensch die Welt als Verdinglichung erlebt, läßt er nicht davon ab, sie zu schaffen. Das bedeutet: der Mensch ist paradoxerweise dazu fähig, eine Wirklichkeit hervorzubringen, die ihn verleugnet. (62)

Verdinglichung ist sowohl in den vortheoretischen wie in den theoretischen Schichten des Bewußtseins möglich. Komplizierte theoretische Systeme können als Verdinglichung bezeichnet werden, obgleich ihre Wurzeln wahrscheinlich noch in jener gesellschaftlichen Situation etabliert worden sind. Es wäre also ein Irrtum, den Begriff  Verdinglichung  auf spirituelle Konstruktionen von Intellektuellen zu beschränken. Verdinglichung gibt es im Bewußtsein des Mannes auf der Straße, und in dieser ihrer Präsenz ist sie besonders signifikant. Ein Fehler wäre es auch, die Verdinglichung als Pervertierung einer ursprünglich nicht verdinglichten Auffassung von der gesellschaftlichen Welt als eine Art kognitiven Sündenfalls anzusehen. Im Gegenteil: was auch an ethnologischer und psychologischer Evidenz erreichbar ist, scheint anzuzeigen, daß die ursprüngliche Auffassung von der gesellschaftlichen Welt - phylogenetisch wie ontogenetisch betrachtet - im höchsten Maß verdinglicht ist (63). Das besagt, daß ein Verständnis der Verdinglichung  als  Modalität des Bewußtseins einer mindestens relativen Entverdinglichung des Bewußtseins bedarf, die sich verhältnismäßig spät in der Geschichte und im Leben jedes Einzelnen entfaltet.

Die institutionale Ordnung kann als Ganzes wie in ihren Teilen verdinglicht aufgefaßt werden. Die ganze Gesellschaftsordnung läßt sich zum Beispiel als ein Mikrokosmos ansehen, der einen Makrokosmos des Weltganzen, so wie es von den Göttern geschaffen worden ist, spiegelt: was immer sich "hier unten" ereignet, ist nur ein blasser Abglanz dessen, was "da oben" stattfindet. (64) Einzelne Institutionen können ähnlich verstanden werden. Das Grund-"Rezept" für die Verdinglichung von Institutionen ist, ihnen einen ontologischen Status zu verleihen, der unabhängig vom menschlichen Sinnen und Trachten ist. Einzelne Verdinglichungen sind Variationen zu diesem Hauptthema. Die Ehe beispielsweise kann verdinglicht werden als Imitatio göttlicher Zeugung, als universales Gebot der Naturgesetze oder notabene auch als funktionaler Imperativ des Gesellschaftssystems. Was alle diese Verdinglichungen verbindet, ist ihre Verkennung der Institution Ehe als fortgesetzter menschlicher Leistung. Gerade dieses Beispiel zeigt deutlich, daß  Verdinglichung  theoretisch wie vortheoretisch vorgenommen wird. So mag sich dann der Mystagoge eine Theorie zusammenbrauen, so raffiniert, daß sie vom schlichten Ereignis bis in die fernsten Winkel des göttlichen Kosmos reicht - aber ein analphabetisches Bauernpaar, das den ehelichen Akt vollzieht, erlebt ihn mit einem nicht weniger verdinglichten Schauder metaphysischer Furcht. Durch Verdinglichung scheinen die Institutionen mit der Natur zu verschmelzen; und die Welt der Institutionen wird Notwendigkeit und Schicksal, Glück oder Unglück.

So wie Institutionen können auch Rollen verdinglicht werden. Der Teil der Selbstvorstellung, den die Rolle verdinglicht, wird auch als unvermeidliches Geschick angesehen, für das der Einzelne jede Verantwortung ablehnen kann. Die Modellformel für diese Art der Verdinglichung lautet: "Ich habe in diesem Fall keine Wahl. Ich muß in meiner Stellung so handeln" - als Gatte, Vater, General, Erzbischof, Präsident irgendeines Vorstandes, Gangster, Henker, was auch immer. Das bedeutet, daß durch die Verdinglichung von Rollen die subjektive Distanz verringert wird, die der Mensch zwischen sich und sein Rollenspiel legen kann. Die aller Objektivation innewohnende Distanz bleibt natürlich bestehen, aber jene andere Distanz, die durch Entidentifikation entsteht, schrumpft bis zum Verschwinden. Schließlich kann sogar eine ganze Identität oder, wenn man das vorzieht: ein ganzes Selbst verdinglicht werden, das eigene wie das des anderen. Es kommt dann zur totalen Identifikation des Individuums mit den ihm gesellschaftlich zugeschriebenen Typisierungen. Es wird als nichts als dieser Typus angesehen, wobei Bewertung und Gefühl, die man ihm entgegenbringt, positiv oder negativ sein mögen. Eine Identifizierung als Jude kann für den Juden wie für den Antisemiten gleich verdinglichend sein, nur wird der Jude sie mit einem positiven, der Antisemit mit einem negativen Akzent versehen. Beide Varianten der Verdinglichung legen einer Typisierung, die von Menschen produziert worden ist, einen ontologischen und totalen Status zu, wobei sie, auch wenn sie internalisiert wird, doch nur einen Teil des Selbst objektiviert. (65) Die Verdinglichungen reichen in diesem Fall vom vortheoretischen "Was jedermann von Juden weiß" bis zu vertracktesten Theorien der Biologie ("jüdisches Blut"), Psychologie ("die jüdische Seele") oder gar der Metaphysik ("das Geheimnis Israels").

Eine Analyse der Verdinglichung wäre als dauerndes Korrektiv für die verdinglichenden Tendenzen im allgemeinen theoretischen und besonders im soziologischen Denken dringend nötig. Besonders die Wissenssoziologie braucht sie, um davor bewahrt zu werden, einer undialektischen Auffassung vom Verhältnis dessen, was Menschen tun, zu dem, was sie denken, zu verfallen. Theoretisch und empirisch sollte die Wissenssoziologie besonders jenen gesellschaftlichen Umständen Beachtung schenken, die der Entverdinglichung (66) entgegenkommen: dem allgemeinen Zusammenbruch der institutionalen Ordnungen, den Kontakten zwischen ehedem einander fernen Gesellschaften und dem wichtigen Phänomen der gesellschaftlichen Grenzsituation. Es handelt sich dabei jedoch um Probleme, welche die Grenzen unserer Betrachtung überschreiten.
LITERATUR: Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1970
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    Anmerkungen
    35) Der Ausdruck "Sedimentierung" stammt von HUSSERL und wurde von SCHÜTZ zuerst in einem soziologischen Zusammenhang verwendet.
    36) Das ist gemeint mit HUSSERLs "monotheistischer Aneignung". Auch SCHÜTZ verwendet den Begriff häufig, vgl. z. B.: "Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt", a. a. O., Seite 71.
    37) Zur Unterscheidung des "gesellschaftlichen Selbst" vom Selbst in seiner Totalität vgl. MEADs "me" mit DURKHEIMs "Homo duplex".
    38) Wir verwenden hier zwar Vorstellungen und Ausdrücke, die MEAD selbst fremd sind, beziehen uns aber mit unserer Auffassung von  Rolle  dennoch auf ihn, wobei es uns darauf ankommt, seine Rollentheorie zu einer Theorie der Institution auszuweiten.
    39) Mit dem Wort "repräsentieren" befinden wir uns in unmittelbarer Nähe von DURKHEIMs Begriff der "Repräsentation", dessen Reichweite wir jedoch vergrößeren möchten.
    40) Hierbei handelt es sich um eine entscheidende "Absicht" der Soziologie von DURKHEIM: Integration der Gesellschaft durch Förderung der Solidarität.
    41) Die symbolische Repräsentation der Integration ist das, was DURKHEIM "réligion" nennt.
    42) Die Vorstellung von der gesellschaftlichen Distribution bzw. Ver- und Zuteilung des Wissens haben wir, wie schon in der Einleitung gesagt, von SCHÜTZ.
    43) SARTRE verwendet häufig den Ausdruck "médiation", jedoch ohne den Gehalt, den er durch die Rollentheorie bekommt. Wir halten ihn für sehr geeignet, um die Nahtstelle zwischen Rollentheorie und Wissenssoziologie zu bezeichnen.
    44) Man könnte hier auch von der "Dichte" der institutionalen Ordnung sprechen, doch haben wir das vermieden, um keine neuen Begriffe einzuführen, so verlockend das auch in diesem Fall sein mag.
    45) Das meint DURKHEIM mit "organischer Solidarität". LÈVY-BRUHL füllt diesen Begriff DURKHEIMs mit psychologischem Inhalt, wenn er von der "mystischen Partizipation" der primitiven Gesellschaften spricht.
    46) Vgl. hierzu ERIC VOEGELINs Begriffe "Compactness" und "Differentiation", in:  Order and History,  Bd. I, Baton Rouge, 1956. Auch TALCOTT PARSONS hat an verschiedenen Stellen immer wieder von "institutional differentiation" gesprochen.
    47) Die Zusammenhänge zwischen Arbeitsteiligkeit der Gesellschaft und institutioneller Differenzierung haben MARX, DURKHEIM, MAX WEBER, FERDINAND TÖNNIES und TALCOTT PARSONS gesehen bzw. analysiert.
    48) Trotz abweichender Auffassungen im einzelnen herrscht im allgemeinen über diesen Punkt in der Geschichte der soziologischen Theorie Übereinstimmung.
    49) Diesen Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung, Produktionsüberschuß und "reiner" Theorie hat MARX zum erstenmal gesehen; vgl.  Die deutsche Ideologie,  in: "Die Frühschriften" a. a. O., Seite 399f, insbesondere Seite 358.
    50) Die Neigung der Institutionen zu Dauer und Fortbestand hat GEORG SIMMEL untersucht. Vgl. dazu seinen Begriff der "Treue", in:  Soziologie,  Berlin 1958, Seite 438f.
    51) Wir haben diesen Begriff der Entinstitutionalisierung von GEHLEN.
    52) Die Analyse der Entinstitutionalisierung in der privaten Sphäre ist ein zentrales Problem von GEHLENs Sozialpsychologie der modernen Gesellschaft (siehe "Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1966).
    53) Wollte man sich auf weitere sprachliche Abenteuer einlassen, so könnte man diese Frage auch die nach dem Grad der "Fusion" oder "Segmentierung" der institutionellen Ordnung nennen. So formuliert, schiene sie identisch mit den Sorgen der Struktur-Funktionalisten hinsichtlich der "funktionalen Integration" von Gesellschaften. Dieser Terminus impliziert jedoch, daß eine Beobachter von außen, der das äußere Funktionieren der Institutionen einer Gesellschaft untersucht, deren "Integration" feststellen kann. Wir behaupten demgegenüber, daß "Funktionen" wie "Dysfunktionen" nur auf der Ebene von Sinn analysiert werden können. Demzufolge bedeutet "funktionale Integration" - will man den Ausdruck überhaupt verwenden - die Integraton einer institutionellen Ordnung mit Hilfe ihrer Legitimationsprozesse. Die Integration liegt mit anderen Worten nicht bei den Institutionen, sondern bei deren Legitimation. Damit kann - im Gegensatz zu den Struktur-Funktionalisten - eine institutionelle Ordnung nicht als ein "System" angesehen werden.
    54) Das hängt mit dem Problem der "Ideologie" zusammen, worauf wir später in einem näherstehenden Zusammenhang noch eingehen werden.
    55) Vgl. MAX WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1963, insbesondere die Einleitung zu Teil III: "Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen".
    56) Mit konkurrierenden Subsinnwelten haben wir uns in unseren religionssozologischen Arbeiten beschäftigt, so daß im vorliegenden Zusammenhang kein Anlaß zu einer eingehenderen Betrachtung besteht. Es handelt sich um eines der wichtigsten Probleme einer empirischen Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Vgl. hierzu PETER L. BERGER und THOMAS LUCKMANN, "Sociology of Religion and Sociology of Knowledge"; in  Sociology and Social Research,  Jg. 47, 1963, Nr. 4, und THOMAS LUCKMANN, "The Invisible Religion", London-New York, 1967 (eine erste Verion erschien vorher auf deutsch: "Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963); PETER L. BERGER, The Sacred Canopy, Garden City 1967.
    57) In MARXschen Begriffen besagt diese These, daß zwischen Basis und Überbau ein  dialektisches  Verhältnis besteht - eine Einsicht von MARX, die in den Hauptströmungen des Marxismus bis vor nicht allzu langer Zeit verlorengegangen war. Das Problem der Möglichkeit von sozial detachiertem Wissen war für SCHELER und MANNHEIM ein Zentralproblem der Wissenssoziologie. Wie aus unserem gesamten theoretischen Ansatz hervorgeht, ist dieses Problem für uns nicht derart zentral; entscheidend für eine theoretische Soziologie des Wissens ist die  Dialektik  von Wissen und gesellschaftlicher Basis. Das MANNHEIMsche Problem der "freischwebenden Intelligenz" ist Sache einer angewandten Wissenssoziologie, bezogen auf konkrete historische und empirische Phänomene. Aussagen über derartige Probleme müssen sich auf einer theoretischen Ebene bewegen, die  unter  derjenigen liegt, die uns hier interessiert. Das Problem der Autonomie sozialwissenschaftlichen Wissens andererseits läßt sich nur im Kontext der Methodologie der Sozialwissenschaften erörtern. Diesen Problembereich haben wir aus theoretischen Gründen, die wir in der Einleitung dargelegt haben, bei unserer Definition der Wissenssoziologie ausgeklammert.
    58) Man nennt dieses Phänomen seit OGBURN in der amerikanischen Soziologie den "cultural lag" [verspätete Anpassung an den Fortschritt - wp]. Wir haben den Ausdruck vermieden, da er eine gewisse evolutionistische und wertende Nebenbedeutung enthält.
    59) "Verdinglichung" ist ein zentraler MARXscher Begriff, der zuerst insbesondere im Zusammenhang mit der frühe Anthropologie entwickelt wird (vgl. "Die Frühschriften" a. a. O.), und dann später im  Kapital,  Bd. I). Zur Diskussion dieses Begriffes in der neueren marxistischen Theorie vgl. GEORG LUKACS, Geschichte und Klassenbewußtsein, a. a. O.; LUCIEN GOLDMANN, Recherches dialectiques, Paris 1959, Seite 64f (dt.: Dialektische Untersuchungen, Neuwied 1966, Seite 71f); JOSEPH GABEL, La fausse conscience, Paris 1962 (dt.: Ideologie und Schizophrenie, Frankfurt 1967). - Eine eingehende Diskussion der Anwendbarkeit dieses Begriffes innerhalb einer undogmatischen Wissenssoziologie findet sich bei PETER L. BERGER und STANLEY PULLBERG: "Reification and the Sociological Critique of Consciousness", in:  History and Theory,  Bd. IV, 1965, Seite 198f (dt.: Verdinglichung und die soziologische Kritik des Bewußtsein, in:  Soziale Welt,  Jg. 16, Heft 2). Der Begriff "Verdinglichung" hängt bei MARX sehr eng mit dem Begriff "Entfremdung" zusammen, der in der neueren soziologischen Literatur mit einer ganzen Reihe von Phänomenen - z. B. Anomie und Neurose - derart durcheinandergeworfen wurde, daß seine terminologische Eindeutigkeit kaum noch wiederherzustellen ist. Da hier - wie wir meinen - nicht der Ort für eine solche Reformulierung ist, haben wir den Entfremdungsbegriff ganz vermieden (Vgl. auch HELMUTH PLESSNER, "Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung", Göttingen 1960)
    60) Jüngere französische Kritiker DURKHEIMs wie JULES MONNEROT (Les faits sociaux ne sont pas des choses, Parist 1946) und ARMAND CUVILLIER ("Durkheim et Marx", in  Cahiers internationaux des sociologie,  1948) haben ihn beschuldigt, in seiner Soziologie selbst eine Verdinglichung vorzunehmen. Das heißt sie behaupten, DURKHEIMs "Choséité" sei als solche bereits eine Verdinglichung. Wie immer die DURKHEIM-Exegese dazu heute stehen mag: Man kann behaupten, daß "soziale Fakten Dinge sind" und damit nicht mehr im Sinn haben als die Objektivität gesellschaftlicher Fakten als menschlicher Hervorbringungen. Der theoretische Schlüssel zu diesem Problem liegt in der Differenzierung zwischen "Vergegenständlichung" und "Verdinglichung".
    61) Vgl. hierzu SARTREs Terminus "practico-inert" in  Critique de la raison dialectique,  Paris 1960 (dt.: Kritik der dialektischen Vernunft, Hamburg 1967, Seite 81f).
    62) MARX hat deshalb das verdinglichte Bewußtsein das "falsche Bewußtsein" genannt. Vgl. hierzu SARTREs "mauvaise foi" [böser Glaube - wp].
    63) Als Ausgangspunkt für das Verständnis einer sowohl phylo- als auch ontogenetischen Verdinglichung vgl. die Werke von LUCIEN LÉVY-BRUHL und JEAN PIAGET. Vgl. auch CLAUDE LEVI-STRAUSS, La pensée sauvage, Paris 1962 (dt.: Das wilde Denken, Ffm 1968).
    64) Zum Parallelismus von "hier unten" und "da oben" vgl. MIRCEA ELIADE,  Cosmos and History,  New York 1959 (dt.: Kosmos und Geschichte, Hamburg 1966). Etwas ähnliches findet sich bei ERIC VOEGELIN, a. a. O., in seiner Darstellung der "cosmological civilisations".
    65) Zur Verdinglichung der Identität vgl. SARTREs Analyse des Antisemitismus: J. P. SARTRE, Réflexions sur la question juive, Paris 1946 (dt.: Betrachtungen zur Judenfrage, Zürich 1948; wiederabgedruckt in SARTRE, Drei Essays, Ffm 1960).
    66) Zur "Entverdinglichung" siehe BERGER und PULLBERG, a. a. O.