tb-1von AsterW. WindelbandVolkeltG. NeudeckerO. Caspari    
 
JOHANNES VOLKELT
Der Weg zur Erkenntnistheorie
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"Indem das Denken sich mit Entschlossenheit in einen Selbstvollzug setzt, weiß es, daß es sich im Element objektiver Gültigkeit bewegt. Das Denken weiß sich mit der Wahrheit identisch."

"Die Erkenntnistheorie, so wie ich sie mir vorstelle, ist in ihrem Grundbestand eine Theorie der Gewißheit. Sie ist dies aber nicht etwa mit dem Zweck, Erkennen und Wahrheit in ein rein subjektives Verhalten umzuwandeln, sondern ihr liegt vielmehr von Anfang an das Bestreben zugrunde, zu allgemeingültigen und einem transsubjektiv- seinsgültigen Erkennen zu gelangen. Das Reich der objektiven Wahrheit läßt sich von der Erkenntnistheorie nicht anders als mittels einer subjektivistischen Grundhaltung erobern."

"Ich muß mein Aufmerken daraufhin einstellen, was ich mit bestimmten Vorstellungen zu meinen gewiß bin. Anders ausgedrückt: ich muß fragen, was ich mit bestimmten Vorstellungen im Sinne habe, worauf ich mit ihnen hinziele oder intendiere. Ich kann mich hier des heute so oft gebrauchten Wortes intentional bedienen und sagen: ich muß auf das meinem Bewußtsein intentional Gegenwärtige meine Aufmerksamkeit richten."

"Man braucht nicht einmal von der Voraussetzungslosigkeit der Erkenntnistheorie auszugehen, um zu der Einsicht in die Notwendigkeit der Ablösung dieser Wissenschaft von aller Kulturphilosophie zu gelangen; es genügt, sich gegenwärtig zu halten, daß die Erkenntnistheorie es mit der Untersuchung der Gültigkeit des Erkennens zu tun hat. Wer sich über die Gültigkeit des Erkennens Rechenschaft geben will, muß mit allem Kulturzusammenhang brechen und sich einzig in sein Selbstbewußtsein vertiefen. Das Gewißsein erlebt ein Jeder als ein im intimsten Sinn seinem eigenen Ich angehöriges Erlebnis."


II. Die Methode der
voraussetzungslosen Erkenntnistheorie


§ 1. Methode der Selbstbesinnung
der Gewißheit

1. Die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens soll voraussetzungslos untersucht werden. Nach welcher Methode soll dies geschehen? Die Schwierigkeiten, die in der bezeichneten Aufgabe in dem Maße liegen, daß diese Aufgabe den Anschein der Unmöglichkeit gewinnt, führen uns von selbst zur einzig möglichen Methode hin.

Ohne Weiteres leuchtet ein: die Frage, ob sich das Erkennen seinen Anspruch auf Gültigkeit mit Recht zuschreibt, kann nicht derart in Angriff genommen werden, daß von irgendeinem Ausgangspunkt die Berechtigung dieses Anspruchs bewiesen wird.

Denn einem solchen Verfahren läge ja offenkundig dies als Voraussetzung zugrunde, was aber allererst bewiesen werden soll. Alles Beweisen hat nur unter der Voraussetzung einen Sinn, daß es ein gültiges Erkennen gibt.

Da scheint sich nun als nächstliegendes und einfachstes Mittel folgendes darzubieten: daß das Denken seine Selbstevidenz zum Grund- und Eckstein der Behandlung des Erkenntnisproblems [ih/weisse] macht. Indem das Denken sich mit Entschlossenheit in einen Selbstvollzug setzt, weiß es, daß es sich im Element objektiver Gültigkeit bewegt. Das Denken weiß sich mit der Wahrheit identisch. Entweder wird dabei so verfahren, daß das Denken auf gewisse Ergebnisse hinweist, die sich durch eine unbedingte Gültigkeit auszeichnen (also etwa auf Mathematik und mathematische Naturwissenschaften); oder aber das Denken weist auf seine Gesamtwesenheit hin, die eben in einer objektiven Gültigkeit besteht. Im ersten Fall nimmt die Erkenntnistheorie die Gestalt der kantischen transzendentalen Logik oder irgendeiner jener modernen Umbildungen des Transzendentalismus an, die von der Voraussetzung der Gültigkeit gewisser Wissenschaften ausgehen. Von dieser Verfahrensweise der Erkenntnistheorie war in im zweiten Paragraphen des ersten Abschnittes ausführlich die Rede. Dort war ausgeführt worden, daß eine so verfahrende Erkenntnistheorie, ein so wertvolles Unternehmen sie auch in mancher Hinsicht sein mag, sicherlich das Gegenteil einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie ist. Und erst recht das Gegenteil einer solchen wäre es, wenn gemäß dem ersten Fall verfahren würde. Die Erkenntnistheorie ginge dann in die absolute Logik HEGELs oder in COHENs "reine Logik" über. Das eigentlich Fragliche - die objektive Gültigkeit des Denkens - wäre als selbstverständlich zu Recht bestehend einschränkungslos angenommen. Es ist sonach für uns ausgeschlossen, daß die Erkenntnistheorie in der einen oder anderen Form mit der Berufung auf die Selbstevidenz des Denkens beginnt.

Und was hinsichtlich des Denkens abgewiesen ist, muß auf das Erkennen überhaupt ausgedehnt werden. Die Erkenntnistheorie darf nicht mit dem Glauben beginnen, daß es überhaupt ein Erkennen im strengen Sinn, d. h. ein allgemeingültiges und überindividuell-seinsgültiges Erkennen gibt.

2. Hiernach bleibt der Erkenntnistheorie nur der einzige Weg übrig, die Prüfung der Möglichkeit des Erkennens in der Weise zu unternehmen, daß ich mich auf die Gewißheitsquellen besinne, vermöge derer ich auf Erkenntnis Anspruch erhebe. Wäre es unbestreitbar, daß unser Erkennen in der Wahrheit steht, so könnte die Erkenntnistheorie mit dem Hinweis auf den offenbaren Wahrheitswert des Erkennens beginnen. Da dies nicht der Fall ist, so bleibt nur übrig, daß ich der Gewißheit innewerde, aufgrund deren ich den Anspruch auf Erkennen erhebe, und daß ich das, was ich in dieser Gewißheit erlebe, auf den Wert hin ansehe, den diese Gewißheit hinsichtlich des Erkennens hat. Mit dem Innewerden hat sich diese Selbstbesinnung zu verbinden. Natürlich ist von vornherein die Möglichkeit zuzugeben, daß es mehrere Ursprünge und Typen von Gewißheit gibt. Dann würde die Methode der Erkenntnistheorie so zu bezeichnen sein, daß ich der verschiedenen Arten oder Typen des Gewißseins innezuwerden habe, aufgrund deren Erkenntnis zu entstehen scheint, und daß ich bei diesem Innewerden mich darauf besinne, welch ein Anspruch auf Erkennen durch diesen oder jenen Gewißheitstypus gerechtfertigt wird.

Die Erkenntnistheorie kann also nicht mit dem Anerkennen irgendwelcher Erkenntnisbestände, Begriffszusammenhänge, Sachverhalte, überhaupt mit dem Anerkennen eines Erkenntnisanspruchs anheben. Sie muß ihre Aufgabe vom einem sozusagen subjektiven Pol des Erkennens - eben von der Gewißheit - aus in Angriff nehmen. Mein Gewissen hat seiner selbst inne zu werden und sich auf sich selbst zu besinnen. Ich kann auch sagen: das Erkenntnisproblem muß von einem Erleben des Erkennens aus in Angriff genommen werden. Ich habe meine Aufmerksamkeit daraufhin einzustellen: was erlebe ich, wenn ich gewisse Vorstellungszusammenhänge mit dem Anspruch vollziehe, mit ihnen eine Erkenntnis zustande gebracht zu haben? Was erlebe ich im Gewißsein?

3. Ich habe zur Bezeichnung der Aufgabe der Erkenntnistheorie von "Ursprüngen" und "Quellen" der Gewißheit gesprochen, mich aber ebensosehr auch des Ausdrucks "Arten" oder "Typen" der Gewißheit bedient. Es sollte damit keineswegs eine doppelte Aufgabe oder auch nur eine doppelte Seite an der Aufgabe der Erkenntnistheorie angedeutet sein. Vielmehr laufen beiderlei Ausdrücke in unserem Zusammenhang auf dasselbe hinaus. Ist ein bestimmter Typus der Gewißheit gewonnen und beschrieben, so ist eben damit zugleich gesagt, daß die Gewißheit einer zahllosen Mengen von Aussagen in diesem Typus gegründet ist. Jede eigentümliche Gewißheitsart besteht in einer besonderen Wesensgesetzlichkeit des Gewißseins, der gemäß zahllose Einzelgewißheiten geartet sind. Sie kann daher als Grundlage, Ursprung, Quelle dieser Einzelgewißheiten bezeichnet werden. Gäbe es beispielsweise eine Gewißheitsart, deren wesensgesetzliche Eigentümlichkeit in einer logischen Notwendigkeit besteht, so würde dieser Gewißheitstypus als die Quelle der Gewißheit aller denknotwendigen Aussagen angesehen werden können.

Die Erkenntnistheorie, so wie ich sie mir vorstelle, ist somit in ihrem Grundbestand eine Theorie der Gewißheit. Sie ist dies aber nicht etwa mit dem Zweck, Erkennen und Wahrheit in ein rein subjektives Verhalten umzuwandeln, sondern ihr liegt vielmehr von Anfang an das Bestreben zugrunde, zu allgemeingültigen und einem transsubjektiv- seinsgültigen Erkennen zu gelangen. Das Reich der objektiven Wahrheit läßt sich von der Erkenntnistheorie nicht anders als mittels einer subjektivistischen Grundhaltung erobern.


§ 2. Der Anteil der intrasubjektiven Gewißheit
an der Erkenntnistheorie

1. Die Gewißheit soll in ihren Typen erlebt werden. Indem ich der Gewißheit inne werde, besinne ich mich auf das, was ich darin erlebe. Mit diesem Verfahren soll die Erkenntnistheorie voraussetzungslos ins Leben gerufen werden.

Wird aber damit nicht - so läßt sich einwenden - doch wieder mit einem allgemeingültigen Erkennen angefangen? Es sollen doch die Grundlagen der Erkenntnistheorie geschaffen werden. Dies scheint doch nur in Form von allgemeingültigen Erkenntnissen geschehen können!

In der Tat: geschähe das Erleben der Gewißheit sofort zu Beginn in Form des eigentlichen Erkennens, so erhöbe es sofort den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und vielleicht noch dazu auf transsubjektive Seinsgültigkeit, so wäre die Voraussetzungslosigkeit aufgehoben. Das Selbstinnesein der Gewißheit darf sich zu Anfang nicht als Erkennen in diesem Sinn geben; es muß das Gepräge einer lediglich intrasubjektiven Gewißheit tragen. Das heißt: indem ich Gewißheit erlebe und mich auf sie besinne, sehe ich von allem ab, was es noch über mein individuelles Bewußtsein hinaus geben mag. Alles, was für mich Außenwelt im weitesten Sinn des Wortes ist, also auch die andere Iche, auch jedwede überindividuelle Wesenheit, jede überindividuelle Idealwelt - dies alles ist für mich nicht vorhanden. Ich tue so, als ob es nicht da wäre, ich "klammere" es "ein". Ich darf auch sagen: ich vollziehe das Selbstinnewerden der Gewißheit so, als ob der Solipsismus Recht hätte. Ich halte, indem ich die Grundlegung der Erkenntnistheorie in Angriff nehme, einen Monolog.

Es ist hier nicht meine Aufgabe, dieses monologische, intrasubjektive Selbstinnesein der Gewißheit genauer zu charakterisieren, die Bewußtseinshaltung, die darin liegt, zu beschreiben, das Verhältnis zum eigentlichen Erkennen - und hierauf käme es vor allem an - ins Auge zu fassen. Diese - wie man jetzt zu sagen beliebt - "phänomenologische" Kennzeichnung des Bewußtseinstypus, der im intrasubjektiven Selbstinnesein der Gewißheit zutage tritt, müßte weiterhin in der Ausführung der Erkenntnistheorie gegeben werden. Dort wird sich sofort zu Beginn dieses Selbstinnesein zu vollziehen haben. Genug, daß uns feststeht: die Erkenntnistheorie muß, wenn sie voraussetzungslos verfahren will, ihre Gewißheitsaussagen zunächst in der Weise des intrasubjektiven Selbstinnesein tun. Ohne Zweifel wird sonach eine sehr künstliche, sehr ungewohnte Bewußtseinshaltung von einem Erkenntnistheoretiker zu Beginn seines Geschäftes verlangt. Wenn HUSSERL von einem "Widernatürlichen" der Denkrichtung spricht, die in einer "phänomenologischen Analyse" gefordert wird (16), so gilt dies in vollem Maße vom Beginn der Erkenntnistheorie.

In der Forderung eines intrasubjektiven Anfanges der Erkenntnistheorie finde ich mich in gewisser Übereinstimmung mit DRIESCH. Wenn er seiner "Ordnungslehre" eine "selbstbesinnliche, methodisch-solipsistische" Voraussetzung ansieht, "gleich im Anfang vom wirklichen Dasein mehrerer Iche oder von einem überindividuellen Ich zu reden" (17), so berührt sich dies in hohem Grad mit meiner Auffassung, wie ich sie seit Langem zu verschiedenen Malen ausgesprochen habe.

2. Noch einen beträchtlichen Schritt weiter in der Richtung der Voraussetzungslosigkeit scheint HUSSERL zu gehen. Er macht für die Phänomenologie" die "Selbstausschaltung des Phänomenologen" zur Bedingung. Der Phänomenologe muß sein "empirisches", "individuelles" Dasein ausschalten. Das Phänomenologie treibende Subjekt gehört nicht "in das neu anzulegenden Grundbuch der Phänomenologie". Ebenso muß, so könnte man meinen, hier die Forderung ausgesprochen werden: der Erkenntnistheoretiker müsse von seinem empirischen, individuellen Subjekt absehen. Erst so wird das Selbstinnesein als Gewißheit von allen zufälligen Beimischungen, von allen trübenden Zutaten frei (18).

Wer so spricht, verkennt den Sinn der Voraussetzungslosigkeit völlig. Gerade das Allgemeingültige, das Überindividuell-Notwendige am Erkennen war uns ja als das Bezweifelbare an ihm erschienen. Das Hinausgreifenwollen des Erkennens über das Einzelbewußtsein des Erkennenden war der Stein des Anstoßes. Das eigene Einzelbewußtsein war das Einzige, was übrig blieb für das Bemühen, einen voraussetzungslosen Ausgangspunkt für die Erkenntnistheorie zu gewinnen. Nur wenn ich mit einer Gewißheit beginne, die sich lediglich auf mein empirisches, individuelles Einzelbewußtsein erstreckt, besteht die Möglichkeit, die Erkenntnistheorie voraussetzungslos in Angriff zu nehmen. Was HUSSERL für seine Phänomenologie fordert, ist also gerade das, was für die voraussetzungslose Erkenntnistheorie nicht gefordert werden darf. Schaltet der Erkenntnistheoretiker sein individuelles Subjekt aus, so bliebe er ja dann nur als überindividuelles, allgemeingültiges Subjekt übrig, also als das, was gerade den tiefsten Grund des Fraglichen an allem Erkennen bildet. In der Tat stellt sich bei HUSSERL die Phänomenologie sofort auf den Boden des "Bewußtseins a priori", des "unbedingt allgemeingültigen" Erkennens, der "Wesenserschauung"; sie ist ihm von Anfang an eine "eidetische" Wissenschaft. Der Anspruch auf eine unbedingt gültige Einsicht erschien uns als Angriffspunkt für eine höchst berechtigte Skepsis; die ganze Erkenntnistheorie rückt für uns so von vornherein unter den beherrschenden Gesichtspunkt einer radikalen Auseinandersetzung mit der Skepsis. Für HUSSERL ist die Skepsis sofort zu Beginn beseitigt. Die intuitive Wesenserfassung ist für ihn ein unbedingt Feststehendes.

3. Eine neue Schwierigkeit tut sich auf: die Erkenntnistheorie muß, so haben wir gesehen, mit intrasubjektiver Gewißheit beginnen; zugleich aber nehmen wir als Ziel in Aussicht, das allgemeingültige und transsubjektiv-seinsgültige Erkennen zu rechtfertigen. Wie soll dieser Schritt möglich werden?

Genau betrachtet ist die Problemlage folgende: Die Typen der Gewißheit sollen durch ein Selbsterleben gewonnen werden. Dies ist, wenn Voraussetzungslosigkeit bestehen soll, mindestens zu Beginn der Erkenntnistheorie nur auf dem Weg der intrasubjektiven Gewißheit möglich. Nur in der Form einer intrasubjektiven Gewißheit kann zu Beginn der Erkenntnistheorie das Selbsterleben der Gewißheit geschehen. Soweit waren wir gekommen. Und nun liegt die Aufgabe vor: von hier aus soll sich die Berechtigung des objektiven Erkennens ergeben. Wie ist es dann aber möglich, mit dem einzigen Mittel der intrasubjektiven Gewißheit die Berechtigung eines allgemeingültigen und transsubjektiv-seinsgültigen Erkennens sicherzustellen? Die intrasubjektive Gewißheit scheint doch in keiner Weise, wie sie sich auch anstellt und windt und sich vertieft, über sich hinausgelangen zu können.

Offenbar bleibt nur die einzige Möglichkeit übrig, daß, indem ich der Gewißheit intrasubjektiv inne werde, ich darin unmittelbar zugleich die Gewißheit eines objektiven Erkennens erlebe. Es kommt darauf an, daß die intrasubjektive Gewißheit zusieht, was sie erlebt, und ob unter dem von ihr Erlebten nicht auch solches sich findet, das sich ihr in der Weise eines objektiven Erkennens aufdrängt. Vielleicht erlebt die intrasubjektive Gewißheit unter anderem auch solches, das ihr mit der Kraft eines unbedingten Einleuchtens, mit dem Zwang einer unwiderstehlichen Überzeugung als allgemeingültig und transsubjektiv-seinsgültig gegenübertritt. Nur wenn wir in der Weise intrasubjektiver Gewißheit etwas derartiges in uns erleben, ist das Medium der intrasubjektiven Gewißheit durchbrochen und der Ausblick auf die Möglichkeit eines objektiven Erkennens gegeben. So läßt sich also vom Standpunkt der voraussetzungslosen Erkenntnistheorie aus das objektive Erkennen nur auf die Weise rechtfertigen, daß innerhalb der intrasubjektiven Gewißheit die unbedingt einleuchtende Kraft des objektiven Erkennens aufgefunden und in ihrer Eigentümlichkeit beschrieben wird. Soweit auch das objektve Erkennen die intrasubjektive Gewißheit überwinden mag, so umfassend sich auch das Reich der objektiven Wahrheit ausgestalten mag: dem objektiven Erkennen wird dennoch das schließliche Beruhen auf einem innerhalb der intrasubjektiven Gewißheit erlebten unmittelbaren Einleuchten dauernd anhaften.

4. Es ist unmöglich, aus allgemeinen Gesichtspunkten von vornherein die Art und Weise, wie sich uns auf dem Boden der intrasubjektiven Gewißheit der Springquelle des objektiven Erkennens offenbart, genau zu beschreiben. Nur wenn man selbst unternimmt, sich innerhalb der intrasubjektiven Gewißheit daraufhin umzusehen, ob sich so etwas wie eine unbedingte Nötigung zu einem objektiven Erkennen entdecken läßt, erfährt man, wie es dabei zugeht. Nur ein wichtiger Zug an der Methode dieses Entdeckungsunternehmens mag im vorhinein betont werden.

Wenn ich in meinem intrasubjektiven Gewißsein feststelle, daß ich etwas Süßes oder Rotes empfinde, so achte ich dabei auf das meinem Bewußtsein einfach Vorliegende, in ihm schlechthin Vorfindliche. Auf diesem Weg würde ich niemals zum Feststellen einer Gewißheit kommen, die sich mir in der Eigentümlichkeit eines objektiven Erkennens kundgibt. Zu diesem Zweck muß ich mein Aufmerken vielmehr daraufhin einstellen, was ich mit bestimmten Vorstellungen zu "meinen" gewiß bin. Anders ausgedrückt: ich muß fragen, was ich mit bestimmten Vorstellungen laut des intrasubjektiven Gewißseins "im Sinne habe", worauf ich mit ihnen "hinziele" oder intendiere". Ich kann mich hier des heute so oft gebrauchten Wortes "intentional" bedienen und sagen: ich muß auf das meinem Bewußtsein "intentional Gegenwärtige" meine Aufmerksamkeit richten. Hierbei wird die intrasubjektive Gewißheit nicht verlassen: das "Gemeinte" ist meinem Bewußtsein gleichfalls gegenwärtig, nur eben nicht unmittelbar gegenwärtig, sondern in eigentümlicher Weise gegenwärtig. Zugleich aber - und das ist das Entscheidende - hat diese eigentümliche Art des Gegenwärtigsein die Kehrseite an sich, daß ein Besagenwollen, ein Intendieren ist, ebendamit über das individuelle Bewußtsein hinausweist, ein objektiv Gültiges fordert. Das meiner intrasubjektiven Gewißheit Gegenwärtige überwindet auf diese Weise sich selbst. Das intrasubjektive Gewißsein ist dessen gewiß, ein Allgemeingültiges und Transsubjektiv-Seinsgültiges zu "setzen".

Ich erwähne, wie gesagt, dies nur zu dem Zweck, um die zu befolgende Methode im Voraus zu charakterisieren. Nur wenn ich auf das mit gewissen Vorstellungen Gemeinte achte, habe ich überhaupt die Aussicht, auf eine Gewißheitsquelle zu stoßen, die mir ein objektives Erkennen versichert.

Schon im ersten Paragraphen dieses Abschnittes habe ich die Methode einer voraussetzungslosen Erkenntnistheoie als Methode der Selbstbesinnung bezeichnet. Damit sollte gesagt sein, daß ich, indem ich der verschiedenen Typen des Gewißseins inne werde, mich zugleich darauf besinne, welchen "Anspruch auf Erkennen durch diesen und jenen Gewißheitstypus gerechtfertigt wird. Jetzt allererst erhält diese Selbstbesinnung auf den Erkenntnisanspruch der Gewißheit ihren schärferen Sinn. Selbstbesinnung - so dürfen wir im Anschluß an das Dargelegte jetzt sagen - bedeutet dies, daß ich, indem ich eines bestimmten Gewißheitstypus inne bin, zugleich frage, ob ich mit dieser Gewißheit ein Objektiv-Gültiges meine, ein über mein Einzelbewußtsein Hinausweisendes im Sinne habe, intentional auf ein Überindividuelles gerichtet bin. Damit ist, nur genauer, dasselbe gesagt, was vorhin als ein Sichbesinnen auf den Erkenntnisanspruch bezeichnet wurde. Sich auf den Erkenntnisanspruch einer Gewißheitsart besinnen, heißt: sich darauf besinnen, ob und wie wir mit einer bestimmten Gewißheitsart ein Objektiv-Gültiges "meinen", uns "intentional" darauf beziehen, oder ob ein derartiges Meinen und Indendieren sich nicht mit ihr verbunden zeigt (19).

5. Hinsichtlich der Methode legt sich noch eine weitere Erwägung nahe. Ich nehme den Fall an: es soll von einem Erkenntnistheoretiker ein objektives Erkennen sicher gestellt worden sein. Und ich nehme weiter an (eine Annahe, die sich nach meiner Überzeugung als richtig erweisen wird), daß es mir als eine einzige Gewißheitsquelle mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit gibt. Es könnte ja etwa neben der logischen Gewißheit auch irrationale, intuitive Gewißheitstypen geben.

Vorausgesetzt nun, daß ein solches objektives Erkennen aufgrund eines bestimmten Gewißheitstypus sichergestellt wurde: so könnte man meinen, daß sich das so gewonnene Recht auf objektives Erkennen verwerten läßt für die im weiteren Verlauf der Erkenntnistheorie zu bewerkstelligende Sicherstellung der übrigen Gewißheitstypen. Wenn es sich so verhielte, dann würde die Gewinnung dieser weiteren Gewißheitstypen aufgrund des bereits sichergestellten objektiven Gewißheitstypus erfolgen. Es wäre dann für diese weiteren Teile der Erkenntnistheorie nicht mehr die Methode der Selbstbesinnung maßgebend; vielmehr wären die weiteren Gewißheitstypen durch Ableitung und Beweisführung aufgrund der zuerst gewonnenen objektiven Gewißheitsart zu ermitteln.

Ich will nun darauf hinaus, daß, welche Gestalt auch immer diese Gewißheitstypen haben mögen, keinesfalls von einem Verwerten des bereits gewonnenen Gewißheitstypus für die Begründung der weiteren Typen die Rede sein kann. 3 x echt Denn dann würde die neue Gewißheit ihren Ursprung vielmehr in derjenigen Gewißheitsquelle haben, die zu ihrer Herleitung verwertet wurde. Der neue Gewißheitstypuns wäre eine abgeleitete, keine ureigentümliche, selbständige Gewißheitsquelle. Ist der neue Gewißheitstypus wirklich von ursprünglicher Art, so kann er, geradeso wie der vor ihm geprüfte und gerechtfertigte Gewißheitstypus, nur durch ein Selbstinnesein und Selbstbesinnung gerechtfertigt werden.

Demnach geschehen nicht nur die ersten, sondern sämtliche grundlegende Schritte der Erkenntnistheorie mittels der Methode der Selbstbesinnung. Um welche Gewißheitsart es sich auch handelt: der voraussetzungslos verfahrende Erkenntnistheoretiker kann, wenn er sie in ihrer Eigentümlichkeit aufzeigen und rechtfertigen will, dies nur dadurch erreichen, daß er sich in seinem Selbstinnesein auf eine bestimmte Gewißheitsweise richtet und dabei darauf achtet, was er mit ihr meint, was sie intentional besagt.

Die intrasubjektive Gewißheit ist also nicht etwa nur das Medium, in dem sie die Erkenntnistheorie in ihrem Beginn bewegt; noch auch tritt sie, was den weiteren Verlauf der Erkenntnistheorie betrifft, nur dort in Kraft, wo zum ersten Mal ein Gewißheitstypus mit dem Anspruch auf ein objektiv gültiges Erkennen begegnet; sondern auch in allen weiteren Fällen, wo ein objektiv geltenwollender Gewißheitstypus in Frage kommt, hat der Erkenntniskritiker zunächst seine intrasubjektive Gewißheitssphäre heranzuziehen. Und um formal vollständig zu sein, füge ich noch hinzug: falls im weiteren Verlauf der Erkenntnistheorie eine neue Gewißheitsart von nur intrasubjektiver Bedeutung begegnen sollte (ein Fall, der tatsächlich ausgeschlossen ist), so müßte natürlich die intrasubjektive Gewißheit hier erst recht den Boden bilden, auf dem der Erkenntnistheoretiker steht. Somit ist der Anteil der intrasubjektiven Gewißheit am Zustandekommen der Erkenntnistheorie von durchgreifender Ausdehnung und Bedeutung: wo auch immer ein ursprünglicher Gewißheitstypus aufgedeckt und gerechtfertigt wird, kann dies nur von einem Boden der intrasubjektiven Gewißheit aus geschehen.


§ 3. Verhältnis der Methode der
Selbstbesinnung zur Psychologie

1. Dem Sprödetun gegen die Metaphysik hat sich heutigentags das Sprödetun gegen die Psychologie hinzugesellt. Für die philosophische Literatur der Gegenwart ist die Furcht vor dem Verdacht des Psychologismus geradezu charakteristisch. Auf Schritt und Tritt begegnet man Versicherung von der Art: das Gesagte ist beileibe nicht psychologisch zu verstehen; aus dem Ergebnis darf um keinen Preis eine psychologische Folgerung gezogen werden; die Psychologie hat schlechthin nichts drein zu reden; die Psychologie ist so recht die Verderberin der Problemstellungen. Angesichts der ängstlich geflissentlichen Abwehr des Verdachts, auf den Bahnen der bösen Psychologie zu wandeln, ist es oft schwer, nicht spöttisch gestimmt zu werden. Manchmal ist es, als fürchtet der junge philosophische Schriftsteller sich bloßzustellen, wenn er der Psychologie nicht ihre Untergeordnetheit und Nebensächlichkeit zu spüren gibt.

Die Methode der Selbstbesinnung hat nach allem Gesagten zweifellos eine psychologische Seite. Alle Aussagen, die der Erkenntnistheoretiker aufgrund des Selbstinneseins über die verschiedenen Arten der Gewißheit tut, könnten ebensogut von einem Psychologen, falls er sich nur auf diese bestimmten Gebiete des seelischen Lebens mit seinem Beschreiben verlegt, gemacht werden. Es sind psychologisch feststellbare Tatsachen, die vom Erkenntnistheoretiker in jenen Aussagen beschrieben werden.

2. Hierin ist aber nicht im Entferntesten eine Abhängigkeit der Erkenntnistheorie von der Psychologie enthalten. Die Psychologie ist nicht als eine der Erkenntniswissenschaft vorausgehende Wissenschaft vorausgesetzt. Ebensowenig soll gesagt sein, daß innerhalb der Erkenntnistheorie die Psychologie in einem voranstehenden Abschnitt die psychologische Grundlage zu legen hat, an die dann die eigentlich erkenntnistheoretischen Unterschungen anzuknüpfen sind. Vielmehr psychologisiert der Erkenntnistheoretiker, indem er jene Aussagen macht, sozusagen auf eigene Rechnung. Seine Aussagen über die Gewißheitstypen beruhen auf sich selbst. Sie sind nicht unter Berufung auf die Psychologie und ihre Ergebnisse gemacht. Daß es keine Psychologie gibt, ist für das Gelten dieser Aussagen vollkommen belanglos. Der Erkenntnistheoretiker gibt die Beschreibung der Gewißheitstypen rein im Dienste der erkenntnistheoretischen Fragestellung, ohne dabei irgendetwas von der Psychologie Geleistetes zur Begründung heranzuziehen. Ich darf insofern von einer immanent-psychologischen Seite an den erkenntnistheoretischen Untersuchungen sprechen.

Vor allem aber ist zu bedenken, daß sich mit den psychologischen Aussagen über die Gewißheit, indem sie getan werden, zugleich eine andere, über das Psychologische grundsätzlich hinausgreifende Frage- und Betrachtungsweise verknüpft. Indem ich als Erkenntnistheoretiker einer bestimmten Gewißheit inne bin, achte ich dabei zugleich auf den Wert dieser Gewißheit für das Erkennen, und indem ich hierauf achte, wird mir der Erkenntniswert dieser Gewißheit selbst unmittelbar gewiß. Anders ausgedrückt: in diesem Innewerden eine Gewißheit wird mir zugleich der Geltungscharakter dieser Gewißheit gewiß. Ich kann dasselbe auch so ausdrücken: was über die Psychologie hinausgeht, das ist das Sichbesinnen auf den Wahrheitswert der jeweiligen Gewißheit. Ich darf auch zur Verdeutlichung den bereits eingeführten Ausdruck "das Meinen" heranziehen und demgemäß sagen: das Überpsychologische besteht in einem Sichbesinnen auf den in der jeweiligen Gewißheit gemeinten Geltungscharakter (Erkenntnis- oder Wahrheitswert).

Die erkenntnistheoretische Gewißheit besagt sonach wesentliche mehr als die psychologische. Diese bezieht sich nur auf die Gegenwart eines Inhalts im Bewußtsein; jene ist zugleich ein Überzeugtsein vom Gelten des Inhalts. Die erkenntnistheoretische Gewißheit entsteht dadurch, daß ich mich der Wucht des Geltens hingebe, daß ich mich dem Druck und Zwang des Wahrheitswertes offen halte; unbildlich gesprochen: daß ich auf das gemeinte Gelten achte und mich hierdurch zu einer bestimmten Überzeugung von der Gültigkeit des jeweiligen Inhalts getrieben finde. Ich kann mich zur Bezeichnung des Unterschiedes auch der Ausdrücke "Selbstinnesein" und "Selbstbesinnung" bedienen. Die Aussagen des Erkenntnistheoretikers über Gewißheit schließen nach der einen Seite ein einfaches Selbstinnesein in sich und sind insofern psychologischer Art; sie sind aber zugleich - und dies ist die Hauptsache - eine Selbstbesinnung auf den gemeinten Geltungscharakter und sind insofern ein Überzeugtsein von überpsychologischer, erkenntnistheoretischer Art.

So ist also das Bewußtsein des Erkenntnistheoretikers von vornherein überpsychologisch eingestellt. Indem er aufgrund des Selbstinneseins - also psychologisch - Aussagen über die Gewißheit macht, ist sein Augenmerk doch überall auf das Entstehen einer Überzeugung hinsichtlich des Geltens gerichtet.

Im Hinblick auf die bekannte Unterscheidung KANTs darf ich das Eigentümliche der erkenntnistheoretischen Fragestellung in die Frage: quid juris setzen, während sich das psychologische Verfahren mit der Frage: quid facti befaßt. Und ich könnte ferner in einer Anknüpfung an den kantischen Sprachgebrauch diejenige Seite an der Methode der Erkenntnistheorie, wodurch sie sich von der bloß psychologischen Feststellung abhebt, als das Transzendentale an ihr bezeichnen. Doch lege ich auf diese Bezeichnungsweise kein Gewicht.

3. Einen Psychologismus in der Erkenntnistheorie finde ich daher gemäß diesen Erörterungen nicht nur dort, wo psychologische Feststellungen zu Voraussetzungen der Erkenntnistheorie gemacht werden, sondern auch dort, wo die Problemstellung der Erkenntnistheorie nicht von der Selbstbesinnung auf den Geltungswert beherrscht ist. Freilich scheiden sich die vorhandenen Erkenntnistheorien unter diesem zweiten Gesichtspunkt nicht in zwei reinlich getrennte Lager. Denn oft liegt die Sache so, daß die Frage nach dem Geltungscharakter zwar nicht völlig fehlt, aber doch nur nebenbei, nur unausdrücklich, nur eingewickelt vorkommt. Das wissenschaftliche Bewußtsein des Erkenntnistheoretikers ist in diesem Fall nicht geradezu durch die Hinwendung der Selbstbesinnung auf den Geltungscharakter bestimmt; sondern es drängt sich ihm dieser Gesichtspunkt nur hier und da auf oder läuft gar nur zuweilen mit unter.

Auf der anderen Seite findet man in der Erkenntnistheorie oft auch umgekehrt das Bestreben, die immanent-psychologische Seite an der Erkenntnistheorie zu leugnen und die dem Geltungscharakter zugewandten Untersuchungen so aufzufassen, als ob bei der Erörterung des Geltungscharakters alle Rücksichtnahme auf das Subjektive, auf das innere Erleben, auf das Selbstinnesein unbedingt auszuschalten wäre. Die Meinung geht also dahin: die Untersuchung des Geltungscharakters soll sich nicht auf die Gewißheit, durch die uns das Erkennen zu Bewußtsein kommt, sondern ausschließlich auf das Gelten in abstracto erstrecken. Hieran kann ich gemäß dem Dargelegten nur einen unberechtigten, übersteigerten Antipsychologismus erkennen. Die Möglichkeit des Erkennens läßt sich voraussetzungslos nur in der Weise zum Gegenstand einer Untersuchung machen, daß die Gewißheitsgrundlage des Erkennens zur Selbstbestimmung gebracht wird.

Es liegt hier nahe, auf WUNDTs Stellung zur Erkenntnistheorie unter Anwendung der dargelegten Gesichtspunkt einen Blick zu werfen. Auf der einen Seite bedeutet WUNDTs Standpunkt den vollen Gegensatz zur einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie. Wie schon erwähnt wurde, hat nach seiner Anschauung die Erkenntnistheorie ihre Aufgaben "auf den ihr durch die positive Wissenschaft gebotenen Grundlagen" zu lösen. Im Besonderen aber ist es die Psychologie, die er seiner "Logik" - und in dieser handelt er sogleich im ersten Band auch die gesamten Prinzipien der Erkenntnistheorie ab - zur Grundlage gibt. Nicht nur "weisen" die Aufgaben der Logik "auf die psychologische Untersuchung zurück"; sondern auch innerhalb der "Logik" widmet er den ersten Abschnitt der psychologischen Entwicklung des Denkens. Nur durch eine psychologische Untersuchung sollen die "unterscheidenden Merkmale" zu gewinnen sein, "die den logischen Denkakten zukommen". So hat also die Erkenntnistheorie mit einer wissenschaftlich-psychologischen "Vorbereitung" zu beginnen. Auf der anderen Seite dagegen wird WUNDT der Psychologie nicht völlig gerecht: er schaltet aus den eigentlichen Erörterungen der Erkenntnistheorie die immanent-psychologische Seite aus. Wenn die Erkenntnistheorie von den Denkgesetzen handelt, so hat sie dabei von aller Beziehung zum "Ich" gänzlich abzusehen. Der "Fundamentalbegriff" der Erkenntnistheorie ist die "Evidenz": bei allen hierauf sich beziehenden Fragen hat die Psychologie "absolut nicht mitzureden". Dem Erkennen von der Seite des Gewißseins aus beikommen zu wollen, ist in den Augen WUNDTs überhaupt kein berechtigtes Unternehmen.

So fällt durch den Vergleich mit WUNDT auf die hier vertretene Auffassung vom Verhältnis der Erkenntnistheorie zur Psychologie ein verdeutlichendes Licht. WUNDT gibt der Erkenntnistheorie eine wissenschaftlich-psychologische Grundlage, will aber die immanent-psychologische Seite von der erkenntnistheoretischen Untersuchungsweise fernhalten (20). Nach meinen Darlegungen dagegen darf in das System der Erkenntnistheorie keine psychologische Grundlage aufgenommen werden; wohl aber führt die eigentümliche erkenntnistheoretische Problemstellung und Problembehandlung eine immanent-psychologische Seite mit sich. Diese wird freilich, wie ich gezeigt habe, durchgängig zu einem Moment der überpsychologischen Selbstbesinnung auf den Geltungscharakter herabgesetzt.


§ 4. Ablösung der Erkenntnistheorie
vom Kulturzusammenhang.

1. Die Erkenntnistheorie beginnt derart individualistisch, daß der individualistische Charakter nicht überboten werden kann. Es braucht kaum erinnert zu werden, daß dies eine künstliche Stellungnahme ist. Soll die Möglichkeit des Erkennens voraussetzungslos untersucht werden, so ist von allen gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhängen, in denen sich das Erkennen entwickelt hat, schlechthin abzusehen. Es kommt dem Erkenntnistheoretiker nicht in den Sinn, die gesellschaftliche und geschichtliche Abhängigkeit des Erkennens zu leugnen oder gering zu achten. Er sagt sich vielmehr von vornherein: im weiteren Verlauf der philosophischen Arbeit wird dieser - kurz gesagt - Kulturzusammenhang des Erkennens zum Problem zu machen und in seinem ganzen Gewicht zur Geltung zu bringen sein. Nur eben am Anfang der Erkenntnistheorie muß der ganze Kulturzusammenhang beiseite gesetzt werden.

Aber nicht nur in ihrem Beginn verfährt die Erkenntnistheorie kulturlos-individualistisch; sondern sie tut dies auch überall dort, wo sie in ihrem weiteren Verlauf an die Prüfung eines neuen Gewißheitstypus herantritt. Denn dies kann, wie wir gesehen haben, nur mittels der Methode der Selbstbesinnung geschehen; diese Methode aber besteht ja in einem Achten auf das intrasubjektive Erleben. Die Methode der Selbstbesinnung ist ihrem Wesen nach das Gegenteil von Hinsehen auf Kulturabhängigkeiten. Dagegen wäre es ganz wohl möglich, daß die Methode der Selbstbesinnung im weiteren Verfolgen der Probleme sozusagen über sich hinaustreibt und schon innerhalb der Erkenntnistheorie zu Gesichtspunkten hinführt, die dem Erkennen als einem gesellschaftlichen und geschichtlichen Erzeugnis gerecht zu werden suchen. Die entgegengesetzte Möglichkeit wäre, daß diese Problemwendung nicht schon innerhalb der Erkenntnistheorie, sondern erst in späteren Teilen der philosophischen Systemarbeit zu vollziehen ist. Welche der beiden Möglichkeiten im Recht ist, kann hier dahingestellt bleiben.

2. Zweifellos treffen wir erfahrungsgemäß das Erkennen überall nur in einem "sozialen" und geschichtlichen Zusammenhang an. Mag ich ein Erkennen an mir oder an anderen finden: überall ist es im Verkehr der erkennenden Menschen miteinander erwachsen; überall ist es durch die Entwicklung genährt, gefördert und zugleich belastet, die es im Laufe der einander folgenden Menschengeschlechter erfahren hat. Denkrichtungen, Denkgewohnheiten, Denkfärbungen pflanzen sich vom Einen zum Andern fort, mag die mündliche Rede oder der schriftliche Verkehr oder der über Jahrhunderte hinübertragende Buchdruck das Vermittelnde sein. Und hätte ein Denken selbst Jahrzehnte lang in der gänzlichen Einsamkeit seiner Studierstube, auch ohne Bücher zu lesen, seine Gedanken gesponnen, so ist er doch durch die Tatsache seiner Geburt vermöge seiner Erkenntnisanlagen, die er mit auf den Weg bekommen hat, mit der Entwicklung der Menschheit und durch seinen Erziehungs- und Bildungsgang mit dem Gedankenleben seiner Zeit in Verbindung gebracht.

Was also in der unbefangenen und natürlich aufgenommenen Erfahrung vorliegt, ist das Erkennen als eine kulturgeschichtlich gewordene Erscheinung. Als eine solche wird es auch in der Wissenschaft ins Auge zu fassen sein. Einmal ist es eine Aufgabe der Völkerpsychologie, die Einflüsse, die vom Zusammenleben der Menschen auf die Gestaltung der Erkenntnisvorgänge ausgehen, die Erkenntnistypen, die sich unter diesen Einflüssen erzeugen, die Verbindungen, die hierbei das Erkennen mit Gefühl, Phantasie und Wollen, mit Religion, Kunst und Sitte eingeht, zu untersuchen. Sodann aber ergibt sich auch für die Geschichtsphilosophie die Aufgabe, den kulturgeschichtlichen Zusammenhängen des Erkennens ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Namentlich hat die Geschichtsphilosophie die Frage der Gesetzmäßigkeit in der geschichtlichen Entwicklung der Erkenntnistypen zu erörtern und diese Typen in ihrer Stufenfolge aufzuweisen. Indessen kommt es hier nicht darauf an, die völkerpsychologische und die geschichtsphilosophische Aufgabe hinsichtlich der Betrachtung der Erkenntnisvorgänge genau abzugrenzen.

3. So unentbehrlich und gewichtvoll nun aber auch diese Betrachtung der Erkenntnisvorgänge in ihrem gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhang ist, so wird damit eben doch keine Erkenntnistheorie geleistet. Man braucht nicht einmal von der Voraussetzungslosigkeit der Erkenntnistheorie auszugehen, um zu der Einsicht in die Notwendigkeit der Ablösung dieser Wissenschaft von aller Kulturphilosophie zu gelangen; es genügt, sich gegenwärtig zu halten, daß die Erkenntnistheorie es mit der Untersuchung der Gültigkeit des Erkennens zu tun hat. Wer sich über die Gültigkeit des Erkennens Rechenschaft geben will, muß mit allem Kulturzusammenhang brechen und sich einzig in sein Selbstbewußtsein vertiefen. Das Gewißsein erlebt ein Jeder als ein im intimsten Sinn seinem eigenen Ich angehöriges Erlebnis.

Wollte man die Frage, ob und wie sich die Gültigkeit des Erkennens rechtfertigen läßt, kulturphilosophisch behandeln, so könnte man sich zunächst vielleicht auf die Macht und den Zwang der Überlieferung berufen wollen. Doch ist es zu augenscheinlich, daß sich hierdurch auch Irrtum und Wahn rechtfertigen lassen, als daß diese Berufung ernst genommen werden könnte. Nicht viel besser ist es mit der Berufung auf die weite, wachsende, allgemeine Verbreitung der Anerkennung gewisser Sätze bestellt. Soll die Zustimmung Vieler oder Aller zu gewissen Urteilen etwas beweisen, so muß bereits die Überzeugung von der Vernünftigkeit, der Begründetheit, dem einleuchtenden Sinn (oder wie man auch sagen mag) dieser Urteile feststehen, und diese Überzeugung kann doch nur rein individualistisch, durch das selbsteigene Erleben des Wahrheitswertes, gewonnen werden.

Die stärkste Begründungsweise, die von einer kulturphilosophischen Betrachtung geleistet werden könnte, liegt in dem Hinweis auf die stetige Entwicklung, den ununterbrochenen Fortschritt der wissenschaftlichen Arbeit auf bestimmten Gebieten. Aber auch diesem Hinweis auf die stetige gedeihliche Entwicklung einer bestimmten Wissenschaft wohnt im besten Fall nur die Kraft des Bestärkens und Bestätigens bei, und zudem nur unter der Voraussetzung, daß dieser Wissenschaft, auch schon abgesehen von ihrem stetigen Fortschreiten, ein einleuchtender Wahrheitswert zukommt. Eben dies kann aber nur durch eine individualistische Selbstbesinnung entschieden werden.

So wahr dem Erkennen der Charakter der Autonomie zukommt, so wahr ist es auch, daß seine Gültigkeit nur individualistisch und nicht kulturphilosophisch begründet werden kann. So wahr ich für jedwede Zustimmung, die ich als Erkennender irgendeinem Urteil erteile, ausschließlich selbst die Verantwortung trage, so fest steht auch, daß ich die Rechtfertigung dieser Verantwortung nur unter Berufung auf mein eigenes Selbstbewußtsein unternehmen kann. Nur wer auf dem Standpunkt eines autoritativ geleiteten Erkennens steht, ist genötigt, die Frage nach der Gültigkeit des Erkennen aus kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden.

4. Zu dem Bild, daß der Stand der Erkenntnistheorie in unserer Zeit gewährt, gehört die Neigung zu einer kulturphilosophischen Beleuchtung und Behandlung als ein nicht unwichtiger Zug. Und diese Neigung hängt mit einer großen und wertvollen Seite des philosophischen Strebens unserer Zeit zusammen: mit dem Bemühen, die menschheitlichen Entwicklungszusammenhänge in den Geisteswissenschaften und in der Philosophie zur Geltung zu bringen, dem Stehen und Wurzeln des Menschen in den weitreichenden Wechselbezügen des Kulturlebens gerecht zu werden und so der vereinzelnden, künstlich ablösenden Behandlung des Geisteslebens entgegenzuwirken. Es ist natürlich, daß philosophische Denker, deren Gedankenarbeit von dem Gesichtspunkt der alles geistige Leben umspannenden und durchdringenden gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhänge beherrscht ist, auch die erkenntnistheoretischen Untersuchungen von vornherein unter eine kulturphilosophische Beleuchtung zu setzen geneigt sind.

So ist es bei DILTHEY. Das Unternehmen einer Erkenntnistheorie, die das Ich auf sein eigenes Innesein verweist und es darin dür die entscheidende Beantwortung der Frage nach der Gültigkeit des Erkennens festhält, liegt ihm durchaus fern und muß ihm fern liegen. Für DILTHEY ist "das Leben als ein das menschliche Geschlecht umfassender Zusammenhang" der Ausgangspunkt nicht nur der Geisteswissenschaften, sondern auch der Philosophie. Auch die Erkenntnistheorie steht bei ihm von vornherein unter diesem gesellschaftlich-geschichtlichen Gesichtspunkt. Die Erkenntnistheorie, so wie er sie bearbeitet hat, schließt sich an den Bestand der Geisteswissenschaften an. Diese aber haben ihren einzigen Gegenstand in der "menschlich-gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit". Der "Wirkungszusammenhang" der geistigen Welt ist der "Grundbegriff" der Geisteswissenschaften. Auch die erkenntnistheoretischen Erwägungen DILTHEYs sind von vornherein grundsätzlich in diesen Zusamenhang eingebettet.

Es gehört zu den großen Seiten an DILTHEYs Philosophieren, daß er die Philosophie als eine "Funktion im Zweckzusammenhang der Gesellschaft" ansieht. Allein da er diese Bestimmung nicht etwa erst in einem späteren Verlauf der Philosophie, nicht erst innerhalb der kultur. der geschichtsphilosophischen Untersuchungen gewinnt, sondern sie der ganzen Philosophie von vornherein zugrunde legt, so ist die gesamte philosophische Arbeit unter eine im höchsten Grad verwickelte Voraussetzung gestellt. Begreiflicherweise kann bei dieser Sachlage vor allem die Erkenntnistheorie zu keiner reinen Entfaltung kommen. Und so gehen dann auch die erkenntnistheoretischen Ausführungen, die DILTHEY in seiner Abhandlung über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften gibt, im Grunde an den erkenntnistheoretischen Problemen vorüber. Und das Gleiche gilt von den erkenntnistheoretischen Erörterungen, denen er sich in seinen früheren Werken, in der "Einleitung in die Geisteswissenschaften", widmet. In der Vorrede zu diesem Werk heißt es:
    "Jeden Bestandteil des gegenwärtigen, abstrakten, wissenschaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menschennatur, wie sie Erfahrung, Studium der Sprache und der Geschichte erweisen und suche ihren Zusammenhang. Nicht die Annahme eines starren Apriori unseres Erkenntnisvermögens, sondern allein die Entwicklungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht, kann die Frage beantworten, die wir alle an die Philosophie zu richten haben."
Auf einem solchen Boden kann die Erkenntnistheorie, wie mir ihre Aufgabe vor Augen steht, unmöglich gedeihen (21).

Noch weniger ist die Denkweise EUCKENs ein Boden, von dem aus ein Zugang zur Erkenntnistheorie in dem hier vertretenen Sinn möglich wäre. Wer sich zur Philosophie erheben will, muß damit den Anfang machen, daß er ein menschheitliches, weltgeschichtliches Leben in sich erlebt. Das Leben ist nicht auf das Denken, sondern das Denken ist auf das Leben zu gründen. Unter "Leben" aber versteht EUCKEN das Gegenteil von Sichzurückziehen in seine Individualität; ein Miterleben eines "Lebenskomplexes", eine Erfahrung, die auf das Ganze geht". Nicht die Bewußtseinsanalyse führt zum philosophischen Erkennen, sondern ein Miterleben der weltgeschichtlichen Arbeit.

Eine Kritik der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Philosophie EUCKENs zu geben, kann hier nicht meine Absicht sein. Nur auf die Hervorhebung des einen Punktes kommt es hier an: daß eine Philosophie, die von vornherein ihren Standort "nicht im Bewußtsein der Individuen", sondern "in einem weltgeschichtlichen Leben und Schaffen der Menschheit" nimmt, die Erkenntnistheorie, wenn sie überhaupt diesen Namen gebrauchen will, in einem völlig anderen Sinn fassen muß, als es hier geschieht (22).


§ 5. Die Beschreibung des natürlichen Weltbildes
und die Erkenntnistheorie

1. Noch ein Bedenken stellt sich mir auf dem Weg zur Erkenntnistheorie entgegen. Wäre es nicht natürlicher, anstatt sich gleich zu Beginn die künstliche Bewußtseinseinstellung zu geben, wie die voraussetzungslose Erkenntnistheorie sie fordert, vielmehr mit einer Beschreibung des Weltbildes zu beginnen, wie es sich dem Menschen vor aller wissenschaftlichen und philosophischen Kritik darstellt? Dabei verstehe ich unter Weltbegriff den Inbegriff nicht nur des Umweltbefundes, sondern auch all dessen, was der Mensch in sich selber und hinsichtlich seiner Verflechtung mit der Umwelt als gegeben vorfindet. Sollte es nicht ratsam sein, sich vor dem Eintritt in die Philosophie darüber klar zu werden, wie sich der naive, unphilosophische, unwissenschaftliche Mensch in die Welt hineingestellt findet?, wie sich ihm die Gegebenheiten darstellen, die sein Bewußtsein umfangen und durchströmen? Selbstverständlich würde es sich dabei nicht um ein Aufzählen individuell wechselnder und nebensächlicher Eigentümlichkeiten, sondern um ein Herausheben der festen, durchgreifenden, gemeinsamen Züge aus dem Selbst- und Weltbefund handeln. Ja, man könnte glauben: darin gerade besteht der wahre voraussetzungslose Anfang der Philosophie, daß unbefangen geschildert wird, wie sich der Mensch, indem er zum Selbstbewußtsein erwacht, in der Welt findet.

Der Vorteil eines solchen Verfahrens liegt auf der Hand. Die ganze Philosophie besteht im Berichtigen, Umgestalten, vielleicht Umwälzen des unmittelbaren Selbst- und Weltbefundes. Daher ist es zweifellos von großem Wert, vorher das Vorgefundene zu kennen, das verändert werden soll. Die Probleme der Philosophie werden überhaupt erst klar im Abstic gegen das Ungenügende, das der unmittelbare Selbst- und Weltbefund für das Denken enthält.

2. In sehr verschiedenen Gestaltungen und Zusammenhängen macht sich die hervorgehobene Tendenz in der Geschichte des philosophischen Denkens geltend. Geradezu beherrschend tritt sie von der Beschreibung des "natürlichen Weltbegriffs" seinen Ausgang nimmt: auch das Ziel der Philosophie soll in der Rückkehr zum "natürlichen Weltbegriff", in der Wiederherstellung der "reinen Erfahrung" bestehen. In Wahrheit freilich bedeutet, nebenbei bemerkt, der Empiriokritizismus die ungeheuerlichste Verfälschung des "natürlichen Weltbegriffs"; er steckt voll von Gewalttätigkeiten gegenüber dem, was die unmittelbare Erfahrung aufweist. Und was gar die Überzeugung betrifft, daß die "reine Erfahrung" das Ergebnis der Philosophie ist, so vermag ich nur Unphilosophie darin zu erblicken.

Wie sich das Bedürfnis, von einer Beschreibung des Weltbildes auszugehen, den entgegengesetzten Standpunkten nahelegt, läßt sich daraus ersehen, daß auch bei HUSSERL die Charakterisierung der "Vorfindlichkeiten der natürlichen Einstellung" des Bewußtseins die Vorbereitung zu seiner Phänomenologie bildet. In meisterhafter Weise gibt er eine zergliedernde Beschreibung des äußeren und inneren Weltbildes des gereiften naiven Menschen. Aber HUSSERL will - in vollem Gegensatz zum Empiriokritizismus - nicht in dieser natürlichen Einstellung verbleiben; sondern unmittelbar reiht sich an die Beschreibung des naiven Weltbildes der Entschluß, die natürliche Einstellung "radikal" zu verändern. Diese Beschreibung ist ihm eben nur ein Zustreben zur "Eingangspforte der Phänomenologie" (23). Auch CORNELIUS nimmt in seiner "Einleitung in die Philosophie" von der Beschreibung des "natürlichen Weltbildes" seinen Ausgang. Um auch nur darüber Klarheit zu erlangen, von welchen Tatsachen unser Denken beunruhigt und der Erkenntnistrieb zum Aufwerfen philosophischer Probleme gedrängt wird, müsse man sich "das natürliche Weltbild in seinen Hauptzügen vergegenwärtigen". Und so beginnt er dann mit einer Schilderung dieses Weltbildes und geht dann über zur Betrachtung der Beunruhigungen des Erkenntnistriebes und der Mittel, die seine Beruhigung herbeizuführen geeignet sind. So ist hier die Beschreibung des unmittelbaren Selbst- und Umweltbefundes in die "Einleitung in die Philosophie" eingegliedert (24).

Selbst HEGEL konnte sich jenem Bedürfnis, vom natürlichen Weltbild auszugehen, nicht völlig verschließen; es spielt in den Anfang der "Phänomenologie des Geistes" deutlich hinein. Wenn HEGEL mit der Betrachtung der "sinnlichen Gewißheit" beginnt, so versetzt er sich auf den Standpunkt eines Menschen, der im Hier und Jetzt lebt. Und ebenso hält er sich in der Beschreibung der folgenden Stufe, der "Wahrnehmung" oder "des Dings und der Täuschung", im Grunde auf dem Boden des natürlichen Weltbildes auf. Freilich tut er dies nur zu dem Zweck, um diese Stufen dialektisch zu zerreiben.

1. Welch hohe Bedeutung auch der Beschreibung des naiven Weltbildes beizumessen sein mag: keinesfalls kann diese Beschreibung voraussetzungslos geleistet werden. In mehreren Beziehungen sind weitgreifende und grundsätzliche Voraussetzungen in sie eingewoben.

Wer den unmittelbaren Selbst- und Weltbefund beschreibt, will damit nicht etwa nur kundgeben, wie es sich ihm damit zu verhalten scheint, sondern er will Aussagen machen, die anerkannt sein wollen. Die Allgemeingültigkeit des Erkennens ist vorausgesetzt.

Weiter setzt jene Beschreibung als selbstverständlich voraus, daß dem Ich, das die Beschreibung vornimmt, andere Iche als Umwelt gegenüberstehen, und daß diese Iche die gleichen Erfahrungen hinsichtlich ihres Weltbildes gemacht haben. Jede solche Beschreibung gibt sich als ein induktives Ergebnis. Das natürliche Weltbild will besagen, daß jeder, der zur Gattung Mensch gehört, sich den beschriebenen Inhalten gegenüberfindet, wenn er zum Selbstbewußtsein erwacht. Es liegt also zumindest die Voraussetzung zugrunde, daß es zahlreiche menschliche Iche von einer im Wesentlichen übereinstimmenden Beschaffenheit und Entwicklung gibt. Hiermit ist eine weitgehende Ergänzung der Erfahrung durch schlechthin unerfahrbare Faktoren gesetzt. Die anderen Iches sind für mich ein in jeder Hinsicht Unerfahrbares.

Schließlich ist auch zu bedenken, daß das natürliche Weltbild ein keineswegs eindeutiger Begriff ist. Das Weltbild des Neugeborenen ist von wesentlich anderer Art als das des sechsmonatigen Kindes; und wiederum gründlich verschieden ist das Weltbild des Einjährigen, Zweijährigen, Sechsjährigen. Mit welcher Zeit beginnt also dann wohl dasjenige für den Menschen vorhanden zu sein, was als natürliches Weltbild beschrieben wird? Ich will damit nicht etwa das ganze Unternehmen verdächtigen oder untergraben. Ich will nur sagen, daß die Beschreibung dieses Weltbildes ein Herausheben aus der Entwicklung des jungen Menschen, also ein Eingehen auf diese Entwicklung und ihre Stufen bedeutet. Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß hiermit Erwägungen gefordert sind, die das volle Gegenteil von Voraussetzungslosigkeit bilden.

Sonach ist klar, daß die voraussetzungslose Erkenntnistheorie nicht mit der Charakterisierung des natürlichen Weltbildes beginnen darf; und da die Erkenntnistheorie eben wegen ihrer Voraussetzungslosigkeit den Anfang der Philosophie bildet, so darf auch die Philosophie überhaupt nicht mit dieser Charakterisierung beginnen.

4. Diese Ablehnung ist aber durchaus verträglich mit der Anerkennung, daß die beschreibende Wiedergabe des natürlichen Weltbildes eine wichtige Aufgabe der Philosophie ist. An verschiedenen Stellen findet sich der Philosoph auf diese Aufgabe hingewiesen. Wenn der Psychologe die Entwicklung des Seelenlebens von der Kindheit bis zur Reife verfolgt, sieht er sich auch vor die Aufgabe gestellt, die Stufen des Seelenlebens zusammenfassend zu beschreiben. Soll dies geschehen, so müssen auch die typischen Arten und Weisen, wie die von der Umwelt stammenden Eindrücke aufgenommen, verarbeitet und gestaltet werden, und die Vorstellungen von der Umwelt, die sich auf dieser Grundlage bilden, beschrieben werden. Kurz, die Wandlung des natürlichen Weltbildes zu charakterisieren, fällt in den Aufgabenkreis der Entwicklungspsychologie. Aber auch der Völkerpsychologe und der Kulturphilosoph werden zur Frage vom natürlichen Weltbild geführt. Denn auch an sie tritt die Erwartung heran: man werden von ihnen eine Aufklärung über das natürliche Weltbild und seine Wandlungen erhalten, wie diese sich in der Entwicklung der Menschheit vom primitiven Bewußtsein bis zum Kulturstandpunkt darstellen.

Doch in einem gewissen Sinn läßt sich die Beschreibung des natürlichen Weltbildes sogar an den Anfang der Philosophie rücken. Dann bedeutet aber "Anfang der Philosophie" nicht den Anfang des Systems der Philosophie, nicht den Anfang der ein geschlossenes wissenschaftliches Ganzes bildenden Philosophie, sondern ein vorsystematisches Unternehmen, das den Leser allererst geschickt machen soll, mit der Philosophie zu beginnen. Ein solches Unternehmen pflegt man als Einleitung oder Einführung in die Philosophie zu bezeichnen. Es ist sonach ein pädagogischer Gesichtspunkt, unter dem die Einleitung in die Philosophie entspring. In welchem Grad sich das Bedürfnis eines Emporhebens zum Standpunkt der Philosophie nahelegt, wird schon durch die Menge der Bücher und der Universitätsvorlesungen, die sich diesem Zweck widmen, bewiesen.

Nun läßt sich freilich die nähere Aufgabe einer "Einleitung in die Philosophie" in einem sehr verschiedenen Sinn fassen. Jedenfalls aber kann die Beschreibung des natürlichen Weltbildes als ein Gegenstand angesehen werden, der sich einer "Einleitung in die Philosophie" zweckmäßigerweise als eine der allernächsten Aufgaben darbietet.
LITERATUR: Johannes Volkelt, Der Weg zur Erkenntnistheorie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 157, Leipzig 1915
    Anmerkungen
    16) HUSSERL, Logische Untersuchungen, Bd. 2, 1901, Seite 10.
    17) HANS DRIESCH, Die Logik als Aufgabe, 1913, Seite 3, 7, 90f.
    18) Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Seite 121f.
    19) Diesen Gesichtspunkt des Intentionalen habe ich nicht erst unter dem Einfluß neuester Richtungen in meine Auffassung von der Erkenntnistheorie aufgenommen. Schon in "Erfahrung und Denken", 1886, habe ich das Denken prinzipiell als ein "Meinen", als ein Gerichtsein auf den "Sinn" aufgefaßt und dieses Meinen eines Sinns als eine qualitativ eigentümliche Bewußtseinshaltung charakterisiert (Seite 171f, 268f, 271f, 330f). Doch hat jener Gesichtspunkt seither bei mir eine wesentliche Entwicklung erfahren, und diese ist durch die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Richtungen des Denkens nicht weniger gefördert worden.
    20) WUNDT, Logik, dritte Auflage, Bd. 1, Seite 2, 10f. Kleine Schriften, Bd. 1, Seite 535, 618, 622f. Auch BENNO ERDMANN zieht in die Logik psychologische Vorbereitungen herein. Die Logik kan "die Erkenntnis des Tatbestandes unserer Denkvorgänge, den die Psychologie festzustellen hat, nicht entbehren" (Logik, Bd. 1, zweite Auflage, 1907, Seite 30).
    21) WILHELM DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Bd. 1, 1883, Seite XVIIf, 145. - Das Wesen der Philosophie (enthalten in dem Band "Systematische Philosophie", 1907) Seite 25, 68f. - Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1910, Seite 5, 61, 67, 88.
    22) RUDOLF EUCKEN, Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, 1896, Seite 7, 270. - Erkennen und Leben, 1912, Seite 32, 76f, 83, 160.
    23) HUSSERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Seite 48 - 53.
    24) HANS CORNELIUS, Einleitung in die Philosophie, 1903, Seite 17-24.