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CARL GERSTER
Beiträge zur suggestiven Psychotherapie

"Der Hysteriker II war gewöhnlich schon die Krux seiner Eltern und Erzieher, er ist später das seiner ganzen Umgebung geworden, eben weil ihm die Aufnahmefähigkeit für Allosuggestionen entweder fehlte oder weil er ihnen nur das ihm gerade Passende für sich entnahm. Dier Hysteriker II läßt sich nur schwer imponieren; gelingt es aber, ihm zu imponieren, so kommt man dadurch mit ihm zurecht, ohne die Hypnose hinzuziehen zu müssen; diese gelingt beim Hysteriker II deshalb so schwer, weil er nur einen eigenen Gedanken und Empfindungen Audienz gibt und selbst in Ermüdungszuständen allen therapeutischen Allosuggestionen kritisch und skeptisch gegenübertritt."

I.

Als ich mich im Jahre 1883 wegen klinischer Studien mehrere Monate in Paris aufhielt, hatte ich auf Grund hoher Empfehlungen Gelegenheit, fast täglich den sonst nur für die Assistenten zugänglichen poliklinischen Sprechstunden CHARCOTs in der Salpetriére beizuwohnen. Ich war bei meinem ersten Besuch dieser Poliklinik sehr überrascht, an den Wänden eine Unzahl kleiner Bildchen aufgehängt zu sehen, welche Szenen aus dem Leben der Heiligen, ekstatische Jungfrauen, Teufelsaustreibungen, Heilung Besessener, Visionen, Taten von Hexen und Zauberern, etc. darstellten. Ich erinnerte mich daran, daß man verstorbener Vater, der sich in seiner ärztlichen Praxis auch eingehend mit Psychotherapeie (allerdings im Sinne der alten Mesmeristen) befaßte und zur Erklärung von Wunderheilungen, ekstatischen Jungfrauen und ähnlichen in dieses Gebiet fallenden Erscheinungen die Zustände des "magnetischen" Schlafs und des Autosomnambulismus beizog, von seinen in ihrem materialistischen Aufkläricht sich sehr überlegen dünkenden Herren Kollegen als "Charlatan" verläster und verlacht worden war. Da ich selbst während meiner Münchner Hochschulstudien trotz eifrigen Besuches jeder Klinik niemals ein Wort von diesen Dingen gehört und erst später in der psychiatrischen Klinik von psychologischen Dingen etwas erfuhr (als ob sich bei den Patienten der internen und chirurgischen Abteilungen niemals eine Psyche äußerte!), interessierte es mich nicht wenig, aus dem Munde des Meisters CHARCOT zu erfahren, in welcher Weise die Phänomene der "weißen und schwarzen Magie" von der modernen Wissenschaft gedeutet würden.

CHARCOT machte damals seine berühmt gewordenen eingehenden Studien über die grande Hysterie, die "große" Neurose, und seine Hörer erfreuten sich in jenen intimen poliklinischen Gesprächen an der Fülle seiner feinen psychologischen Beobachtungen, namentlich der hysterischen Zustände bei Männern und Frauen; in dieser Beziehung überragte der Franzose CHARCOT wohl die meisten seiner Kliniker-Kollegen in Deutschland. Es gibt heute noch Ärzte bei uns, die von männlicher Hysterie entweder nichts wissen oder nichts wissen wollen und in der weiblichen Hysterie nichts anderes sehen als "Einbildung", "Komödie", etc., der man durch energisches Auftreten stets imponieren könne und müsse.

Soviel man von CHARCOT in der Psychologie und Psychopathologie lernen konnte, so wenig konnte man ihm in seinen Anschauungen über die Phänomene des Hypnotismus beipflichten. Da er die Wirkungen der Suggestion auf Hysterische nicht genügend beachtete, konstruierte er sich aus den (selbstverständlich ohne Absicht) künstlich erzeugten 3 Stadien des Anfalles der grande névrose hystérique das Krankheitsbild des "grand hypnotisme" und indem er dieses verallgemeinerte, ersah er in der Herbeiführung des hypnotischen Zustandes eine Gefahr für die Gesunden und in diesem Zustand selbst etwas Krankhaftes. So versetzte er den ganzen Hypnotismus ins Gebiet der Pathologie und geriet in einen Gegensatz zur "Schule" von Nancy, die von den Erscheinungen des gewöhnlichen Lebens und der normalen Psychologie ausgehend im Hypnotismus lediglich ein Kapitel des Suggestionismus erkannte.

Man hat sich viel Mühe gegeben, den Nachweis zu führen, daß die berühmten 3 CHARCOTschen Stadien des hypnotischen Zustandes nur Kunstprodukte seien. Ich glaube, daß dieses Bemühen für diejenigen überflüssig ist, die sich ohne jede Voreingenommenheit dem Studium der suggestionistischen Erscheinungen widmen. Wer vom einfachsten Fall, dem der Wachsuggestion, ausgehend, die ganze Reihe verschiedenartigster Suggestionswirkungen bis zum erinnerungslosen Schlaf mit Rapport (dem somnambulen Schlaft) in seiner Praxis kennen gelernt hat, der wird niemals jene CHARCOTschen Stadien, sondern nur die individuell sehr verschiedenen Grade suggestiver Zustände finden. Ich bin kein Freund von den künstlichen Einteilungen und Abgrenzungen dieser Grade; je nach Volk, Rasse, dem Stand und der Altersstufe, wo man seine suggestionistischen Erfahrungen sammelt, wird man mehr oder weniger solche Grade herausfinden. Gleichwohl kann man aus den rein praktischen Gründen eine Einteilung nicht entbehren, und ich habe in meiner Statistik die von verschiedenen Forschern auf diesem Gebiet angenommenen 3 Grade (Hypotaxie, Somnolenz und Somnambulismus) beibehalten. Hierzu bemerke ich, daß ich den Ausdruck "Somnambulismus" für den hypnotischen Schlaf mit Amnesie für unglücklich gewählt halte. Man hätte diesen Terminus für den Zustand des Schlafwandelns bei aufgehobenem Oberbewußtsein (um mit DESSOIR zu reden) beibehalten und ihn den alten Magnetiseuren nicht eskamotieren [stibitzen - wp] sollen, die ihn im wirklichen Wortsinn richtig anwandten.

Ehe ich darn gehe, die Resultate eines größeren Teils meiner suggestiv-therapeutischen Versuche darzulegen, möchte ich außer einigen Punkten allgemeiner Natur die Art und Weise meines Vorgehens und die Regeln erläutern, die mir für die Stellung der Indikation zur Hypnose von Wert zu sein scheinen.

Ich glaube, man darf den Satz kühn aussprechen:  Ohne gründliche Kenntnis des Suggestionismus ist keine wissenschaftliche Prüüfung irgendeiner Therapie möglich;  nur derjenige Arzt ist vor groben Irrtümern und Fehlschlüssen bezüglich des Erfolges seiner therapeutischen Maßnahmen geschützt, der den Faktor der Suggestion berechnen oder ausschließen kann. Ob Allo-Homeo-Hydro-Magneto - oder sonstiger - Path, ob Internist, Chirurg oder Spezialist,  jeglicher ist verpflichtet, bei der Veröffentlichung therapeutischer Erfolge diesem Faktor in jedem Einzelfall als mitwirkend oder fehlend genügend Rechnng zu tragen,  wenn er seinen Erfolgen Beachtung und Wert sichern will; andernfalls erhöhen seine Krankengeschichten nur die Berge von Makulatur, die im Laufe der Jahrhunderte über die Therapie, speziell die mit Arzneimitteln, zusammengeschrieben worden sind. Daß die Schlußfolgerungen, die von fanatischen Bakteriologen und Vivisektoren aus den an Tieren mit Giften und Arzneien angestellten Experimenten auf den Menschen gezogen werden müssen, versteht sich aus diesem Grund, wie auch aus anderen Gründen, von selbst.

In welcher Weise ich mir die Beiziehung der Suggestion und Hypnose für den praktische Arzt denke, habe ich anderswo (SCHMIDKUNZ, Psychologie der Suggestion) (1) bereits ausgesprochen. Ich schrieb dort:
    "Was die Anwendung der suggestiven Psychotherapie für den Arzt anlangt, so stehe ich auf dem Standpunkt, daß es durchaus einseitig wäre, sie als Ersatz der übrigen in der Medizin üblichen Heilmethoden zu betrachten. Ich glaube vielmehr, daß die Grundlage jeder ärztlichen Therapie des gesamte Diätetik [Lebensweise - wp] des Leibes und der Seele bilden muß, und daß in der Regelung aller physiologischen und psychologischen Funktionen des Organismus die wahre Kunst des Arztes beruth. Wenn auch in gewissen Fällen die hypnotisch-suggestive Beeinflussung  allein  von günstiger Wirkung sein kann, so wird doch der Arzt, der nicht einseitig sein will, auch alle übrigen als rationell bekannten und erprobten Heilfaktoren beherrschen müssen. Ich sage: ohne Kenntnis des Suggestionismus möchte ich nicht Arzt sein, aber ich betrachte ihn nicht als Zukunftstherapie, sondern als unerläßliches  Unterstützungsmittel  jeder anderen therapeutischen Einwirkung in geeigneten Fällen."
Alle Patienten sollen in ihrer ganzen Persönlichkeit behandelt werden und wenn man mir einwenden wollte, daß man dann nicht in der Lage sei, den Anteil und Erfolg der suggestiven Einwirkung (mit oder ohne Hypnose) zu beurteilen, so weise ich darauf hin, daß der im Suggestionismus erfahrene Arzt viel eher in der Lage ist, den Erfolg seiner Verordnungen, je nach der psychischen Persönlichkeit seines Patienten vorher und nachher zu bemessen, als ein anderer, der seiner speziellen Heilmethode oder der "Kraft" seiner Arzneien alles Erreichte zuschiebt. Die Therapie als angewandte Physiologie und Pathologie muß durch die Psychologie der Suggestion ergänzt werden und man wird dann eine ungleich größere Befriedigung in der Praxis empfinden, als wenn man der reinen Empirie huldigt.

Um zu erfahren, ob ich in einem Krankheitsfall mit Suggestion oder Hypnose direkt vorgehen kann, verfahre ich folgendermaßen. Ich lasse mir vom Patienten seinen Zustand eingehend schildern; aus dem subjektiven Bericht im Vergleich mit der darauffolgenden gründlichen objektiven Untersuchung ersehe ich, ob und wieweit die "Einbildung" eine Rolle spielt, wie groß der Grad der Empfindlichkeit ist und wie tief mögliche Autosuggestionen sitzen. Ich suche sein ganzes "Milieu" zu erfahren, seine Lebensweise, seine wichtigsten Schicksale, sein Verhalten in besonderen Glücks- oder Unglücksfällen, sein Verhältnis zu seiner Umgebung, seine speziellen Neigungen, etc.; ich frage, ob der Schlaf Nachts rasch eintritt, ob er tief und mit Träumen verbunden ist und suche schließlich soweit als möglich die Familienkrankheiten herauszubringen. Die Beschaffenheit von Intelligenz, Wille und Empfinden des Patienten läßt sich aus der Art und dem Inhalt der Antworten unschwer ersehen und man kann danach verfahren. Ich bemerke, daß mich Erfahrungen unangenehmer Art dazu gebracht haben, niemandem eine spezielle Suggestions- oder hypnotische Behandlung einzureden oder aufzudrängen, auch wenn sich der Fall noch so dazu eignen würde; ich nehme eine solche nur auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten selbst, oder unter Umständen, namentlich bei Minderjährigen, auch der Angehörigen vor, bei weiblichen Patienten ziehe ich zu den hypnotischen Sitzungen einen Zeugen (am liebsten einen Angehörigen oder Bekannten der Patientin) hinzu.

Sehr wichtig ist es, den ersten Versuch zur Hypnose nur zu unternehmen, wenn der Patient in geeigneter (suggestiver) Stimmung ist. Erregbaren Naturen und solchen, die in höchster Spannung der Dinge warten, die da kommen sollen suggeriere ich in der ersten Sitzung selten Schlaf, da sie durch allzu gespannte Aufmerksamkeit auf die ihnen ungewohnte Situation verhindert sind, die gegebene Idee plastisch umzusetzen, d. h. die Allosuggestion in Autosuggestion zu übertragen. Ich begnüge mich damit, sie bequem zu lagern und ihnen zu empfehlen, eine Zeitlang mit geschlossenen Augen bewegungslos liegen zu bleiben, während ich die Hand auf ihren Kopf lege oder "mesmerische" Striche mache. Haben sie sich einmal an die fremdartige Situation gewöhnt, so kann später die Schlafsuggestion und die therapeutische Suggestion dazu kommen. Hat man sich einmal ein suggestive Atmosphäre á la Nancy geschaffen, so kann man natürlich viel rascher vorgehen. Bringt der Patient keine suggestive Stimmung mit, und bleibt er beim erstenmal der Schlafsuggestion gegenüber unempfindlich, so setzt sich nur allzuleicht die Autosuggestion in ihm fest, daß ihm der betreffende Hypnotiseur oder die Suggestion überhaupt nicht ankönne. Man quält sich dann vergeblich mit ihm ab und registriert ihn allenfalls als schwer oder gar nicht hypnotisierbar, während er bei irgendeiner Gelegenheit oder einem anderen Hypnotiseur rasch in den hypnotischen Schlaf verfällt. Hysterische kommen bei den ersten Versuchen zur Hypose leicht in Krämpfe und es ist oft ein sehr langsames Vorgehen nötig, in anderen Fällen ein rasches; Erfahrung und Takt müssen hier entscheiden. Wenn manche Kliniker meinen, die Hypnose könne so ohne weiteres vorgenommen werden wie eine Narkose und die hysterischen Versuchsobjekte seien geradezu hierzu die besten, so ist es nicht zu verwundern, wenn sie die unangenehmsten Zufälle erleben und in der Hypnose einen krankhaften Zustand (manche halten sogar schon die Suggestibilität für eine pathologische Eigenschaft!) erblicken, welchen herbeizuführen gefährlich und schädlich sei. Anfänger in der suggestiven Psychotherapie sollen sich niemals an Hysterischen üben.

Ich muß hier bezüglich der Hysterie einen Einschub vornehmen. Wir haben zwar in ihrer Erkenntnis in den letzten Jahren manches von den französischen Autoren gelernt, aber sie wird doch noch nicht scharf genüg präzisiert. Nach meiner Ansicht können wir mit Hilfe der Suggestionslehre gute Anhaltspunkte zur Diagnose geben.

Suggerierbar und meist auch hypnotisierbar sind alle, welche mit der Fähigkeit der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung genügend Allosuggestibilität  [Fremdsuggestibilität - wp]  und ideoplastische Kraft der Vorstellung verbinden;  die meisten normalen Menschen besitzen diese Eigenschaften. Menschen, die sie in abnorm hohem Grad besitzen, nenne ich hysterisch und spreche von  Hysterie I,  wenn das  Merkmal der Allosuggestibilität besonders ausgeprägt ist.  Gesteigertes Wahrnehmungsvermögen und eine überaus rasche und intensive Überführung des Wahrgenommenen in eine plastische Vorstellung bedingen die bekannte hysterische Hyperästhesie [Überempfindlichkeit für Berührungsreize - wp]. Wie im Einzelnen, so sind auch in Bevölkerungsgruppen und ganzen Völkern diese Anlagen mehr oder weniger vorhanden und zumeist latent; gewisse Umstände und Zufälle machen sie manifest. So treten bekanntlich mit der Pubertät gern hysterische Zustände bei Mädchen wie Knaben auf, psychische Endemieen [gehäuftes Auftreten - wp] und Pandemieen [länderübergreifendes Auftreten - wp], in ihren Äußerungen der Hysterie gleich, ergreifen die psychisch ansteckbaren Individuen ganzer Ortschaften und Landschaften; z. B. bei der ganzen französischen Nation darf man eine besondere Anlage zur Hysterie I annehmen.

Daß man die latente Hysterie auch durch ungeschickte hypnotische Versuche manifest machen kann, ist bekannt; aber es fällt dies nicht der suggestiven Psychotherapie, sondern denen zur Last, die ohne Skrupel "drauflos" hypnotisieren und die Hypnose mit einer Narkose verwechseln, ohne sich über die Folgen einer gewaltsamen psychischen Einwirkung auf hyperästhetische Naturen klar zu werden.

Zu den Hysterischen rechnet man auch alle Individuen, die sich durch unvermittelt und unmotiviert vor sich gehenden Wechsel der Stimmung auszeichnen, von krankhafter Eigenliebe beseelt und mehr oder weniger unverträglich, gehässig, lügnerisch und exaltiert [exzentrisch - wp] sind. Da diese Individuen sich von den oben charakterisierten Hyperästhetischen durch eine sehr geringe Allosuggestibilität unterscheiden, während sie  äußerst autosuggestibel  sind und ihre  Autosuggestionen mit krankhafter Stärke festhalten,  spreche ich hier von  Hysterie II.  Hysterie I neigt sehr zu Krämpfen (die Bezeichnung Hystero-Epilepsie halte ich für verfehlt), Hysterie II neigt zur moral insanity, Hysterie I ist der Außenwelt gegenüber psychisch hyperästhetisch, Hysterie II mehr weniger anästhetisch. Selbstverständlich finden sich auch Mischformen und Übergänge zwischen beiden Formen der Hysterie. Hysteriker I sind ebenso leich suggerierbar und hypnotisierbar wie Hysteriker II schwer; mir wenigstens ist bei letzteren zwar ein psychisches Regime ohne Hypnose, aber kein hypnotischer Schlaf mit Rapport gelungen.

Eine derartige Unterscheidung habe ich bisher in keiner Publikation gefunden. Wenn FOREL (Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. 1, Seite 278 behauptet, er habe mit Bezug auf diese meine (zuerst in SCHMIDKUNZ, Psychologie der Suggestion, Seite 151f, ausgesprochene) Anschauung (1 "mit bestem Willen nochmals nach Neuigkeiten darin gesucht, die nicht vorher besser oder ebensogut gesagt worden wären, aber wieder vergebens," so bitte ich um Nachweis. Es soll mich freuen, wenn andere oder am Ende er selbst diese für den praktischen Gebrauch des Arztes, speziell des Suggestionstherapeuten, brauchbare Unterscheidung schon gemacht hätten.

Nach dieser notwendigen Abschweifung kehre ich zur Frage der Indikation für die hypnotische Therapie zurück.

Ich habe oben darzulegen versucht, daß den meisten Menschen die Gaben der Aufmerksamkeit, des Wahrnehmungsvermögens, der Allosuggestibilität (die auch die Fähigkeit in sich schließt, Allosuggestionen in Autosuggestionen überzuführen) und der ideoplastischen Kraft der Vorstellung zu eigen sind; die Suggestionstherapeuten geben übereinstimmend an, daß 85 - 95% der Menschen suggerierbar und hypnotisierbar (letzteres schließt das erstere ein, nicht aber umgekehrt) seien. Da diese Eigenschaften ganz besonders bei der Hysterie I ausgeprägt sind, ist die  Hysterie I die Domäne der hypnotischen Therapie.  Fast alle Wunderheilungen an Gnadenorten beziehen sich auf Hysteriker I; freilich wird nie (auch durch hypnotische Behandlung nicht) die Disposition zur Hysterie selbst, sondern es werden immer nur auf ihrem Bodem erwachsene krankhafte Zustände (traumatische Neurosen, Krämpfe, Lähmungen, Kontrakturen etc.) beseitigt.

Bei Hysterikern I kommt man häufig durch einfache Suggestionsbehandlung ohne Hypnose zum Ziel, namentlich bei geringeren akuten Leiden, wie Zahn- und Kopfschmerzen etc., während zur Beseitigung von ernsteren chronischen Zuständen, wie Lähmungen, Kontrakturen etc. meist die Hypnose zu Hilfe genommen werden muß. Dieselbe ist jedoch  umso vorsichtiger zu handbaben, je empfänglicher sich das Individuum für sie zeigt.  Man schläfere durch Suggestion ein und wecke durch sie auf, Faszinationi durch den Blick, Starrenlassen auf einen Punkt, Anschlagen eines Tamtam, Aufblitzenlassen eines Lichtes und ähnliche gewaltsame Prozeduren sind verwerflich, sie versetzen hochgradige Hysteriker sofort in einen kataleptischen (oder besser kataleptischen) Zustand, der in einem hyperästhetischen Nervensystem einen ungünstigen Eindruck zurückläßt.  Man beseitige während des hypnotischen Schlafes jedes Zeichen von Unruhe oder Aufregung sofort durch eine geeignete Suggestion, man vermeide alles unnütze Experimentieren und beschränke sich auf die für den betreffenden Fall passende Heilsuggestion.  Bei Hysterikern I, die man öfter hypnotisiert, vergesse man nicht, der Einschläferungssuggestion beizufügen, daß niemand sonst imstande sei, den betreffenden Patienten in einen solchen Schlaf zu versetzen. Hysteriker I, mit denen man öfter experimentiert, werden sehr leicht zu Simulanten und namentlich ist gegen solche, die sich dem Arzt als Versuchsobjekte selbst anbieten, das größte Mißtrauen am Platz.

So vorzüglich bei Beobachtung all dieser Vorsichtsmaßregeln die Erfolge der hypnotischen Therapie bei Hysterikern I sind, so ungünstig sind sie bei Hysterikern II. Die Gründe gehen aus dem, was ich oben bemerkte, unmittelbar hervor. Da Allogsuggestionen nur da zur Wirkung kommen, wo Aufnahmefähigkeit für sie herrscht, d. h. wo sie in Autosuggestionen übertragen werden, ist Suggestionsbehandlung schwierig oder unmöglich, wenn Autosuggestionen, deren Beseitigung angestrebt wird, mit krankhafter Stärke haften oder sozusagen im Gehirn organisiert sind. Der Hysteriker II war gewöhnlich schon die Crux seiner Eltern und Erzieher, er ist später das seiner ganzen Umgebung geworden, eben weil ihm die Aufnahmefähigkeit für Allosuggestionen entweder fehlte oder weil er ihnen nur das ihm gerade Passende für sich entnahm. Dier Hysteriker II läßt sich nur schwer imponieren; gelingt es aber, ihm zu imponieren, so kommt man dadurch mit ihm zurecht, ohne die Hypnose hinzuziehen zu müssen; diese gelingt beim Hysteriker II deshalb so schwer, weil er nur einen eigenen Gedanken und Empfindungen Audienz gibt und selbst in Ermüdungszuständen allen therapeutischen Allosuggestionen kritisch und skeptisch gegenübertritt.

Dem Hysteriker II reihen sich in Bezug auf Hypnotisierbarkeit an: die  Hypochonder  auf der einen, der  Neurastheniker  [Nervenschwache - wp] auf der anderen Seite. Beim Hypochonder sind es Autosuggestionen in bestimmter (dys-ästhetischer) Richtung, beim Neurastheniker die außerordentliche Unbeständigkeit und das große Mißtrauen gegenüber allen therapeutischen Maßnahmen, welche die suggestive Psychotherapie außerordentlich erschweren. Dem Hypochonder kommt man näher durch anfängliches scheinbares Eingehen auf seine Ideen, dem Neurastheniker durch festes, imponierendes Auftreten. Die Hypnose gelingt bei beiden nur schwer. Für die leichteren Formen von Melancholie (schwere sind gegen Hypnose ziemlich immun) gilt das Gleiche wie für Hypochondrie.

Um hier noch diejenigen krankhaften Zustände anzuführen, die der suggestionistischen, bzw. hypnotischen Therapie sehr große, zum Teil unüberwindbare Schwierigkeiten entgegensetzen, nenne ich die genuine  Epilepsie  und die  Idiotie.  Epileptiker, die schon als Säuglinge oder in den ersten Kinderjahren an Krämpfen litten und einen mehr oder weniger ausgesprochenen epileptischen Charakter (Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit, Unbeständigkeit, Willensschwäche, vorwiegendes Triebleben, schwache Intelligenz) schon von Kind auf oder infolge der epileptischen Insulte hatten, können zwar suggestibel sein, sind aber äußerst selten hypnotisierbar. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Idioten.

Ob und wieweit die suggestive Psychotherapie mit und ohne Hypnose bei den verschiedenen Formen geistiger Erkrankung anzuwenden ist, wie sie die Irrenanstalten beherbergen, vermag ich nicht zu beurteilen, da mir persönliche Erfahrungen fehlen. Ich möchte hier nur darauf hinweisen, daß nicht selten ein psychischer Zustand als epileptischer Dämmerzustand bezeichnet und behandelt wird, der richtiger als Autosomnambulismus bezeichnet wird, da er nicht auf epileptischem, sondern auf hysterischem Boden wächst und gedeiht. Während beim wahren epileptischen Dämmerzustand die Herstellung eines hypnotischen Rapportes fast nie gelingt, ist beim Autosomnambulismus ein solcher möglich, wenn man dem Patienten in der anfallsfreien Zeit die posthypnotische Suggestion erteilt, daß er im Zustand des Anfalls den Hypnotiseur kenne und ihm vollsten Gehorsam leist. Man kann dann den Anfall in hypnotischen Schlaf verwandeln und die Krankheit allmählich beseitigen.

Um meine Erfahrungen bezüglich der Suggerierbarkeit, bzw. Hypnotisierbarkeit, kurz zusammenzufassen, so sind  suggerierbar, bzw. hypnotisierbar: alle gesunden und kranken Menschen, bei welchen die Fähigkeit der Aufmerksamkeit mit normalem Wahrnehmungsvermögen und die Allosuggestibilität mit ideoplastischer Kraft der Vorstellung verbunden ist; schwer oder gar nicht suggerierbar, bzw. hypnotisierbar, diejenigen gesunden und kranken Menschen, bei welchen obige Voraussetzungen teilweise oder ganz fehlen. 

Ich schließe damit den theoretischen Teil meiner Auseinandersetzungen und bemerke, daß ich nicht etwa neue Theorien aufstellen, sondern nur dem ärztlichen Praktiker Winke erteilen wollte, die ihm bei der Einführung einer suggestiven Psychotherapie in seine Praxis von Nutzen sein können.


II.

Wenn auch kein Gegne, so bin ich doch kein großer Freund von Schlußfolgerungen aus der Statistik. Da man aber nun einmal eine solche vielfach verlangt und aus großen Zahlen bei genügender Erfahrung und Vermeidung voreiliger und oberflächlicher Schlüsse manch Brauchbares sich ergibt, so reihe ich an Obiges einen kleinen Beitrag zur Statistik der suggestionistischen, bzw. hypnotischen Therapei. Aus meinen Notizen der letzten 5 Jahre entnahm ich auf's geradewohl 100 Krankheitsfälle, in denen ich die Suggestion mit und ohne Hypnose angewandt hatte und erhielt dabei folgende Zahlen.
    Erwachsene 77 (34 Männer, 43 Frauen); Kinder 23 (12 Knaben, 11 Mädchen) = 100

    Von diesen waren 23 im Alter von 5 - 14; 34 i. A. von 15 - 30; 15 i. A. von 31 - 40; 17 i. A. von 41 - 50; 10 i. A. von 51 - 60 und 1 im Alter von 61 - 70; = 100.

    Bei 25 gelang Hypotaxie, bei 23 Somnolenz, bei 31 Somnambulismus und bei 21 kein Schlaf mit Rapport = 100

    Bei 53 erreichte ich Besserung, bei 21 Heilung, bei 18 keinen therapeutischen Erfolg und bei 8 handelte es sich nur um einen Versuch = 100

    35 gehörten den niederen Ständen an, 65 den höheren = 100

    Eine einzige Sitzung hatten 22, mehr als eine Sitzung 78 = 100
Was die Krankheiten und die dabei erreichten Erfolge anlangt, so ergeben sich folgende Zahlen.
    Psychische Krankheitsfälle 46, körperliche 54 = 100
Ich habe oben schon angedeutet, daß meine Statistik nicht zu irgendeinem Zweck künstlich zusammengestellt ist und daß ich mit ihr nicht irgendeiner These beweisen wollte. Sie ist das Fazit aus 100 Fällen, zu denen ich eingehendere Notizen besitze, die ich bei späterer Gelegenheit noch vorlegen werden. Für jetzt mögen Andeutungen genügen.

Ich habe mich namentlich bemüht, die Faktoren ausfindig zu amchen, auf denen die Suggerierbareit, bzw. Hypnotisierbarkeit, beruth. Über den Wert der Beurteilung der psychischen Persönlichkeit habe ich mich oben bereits ausgesprochen, es wären hier noch zu erwähnen die Einflüsse des Alters, Geschlechts und der Lebensverhältnisse.

Den Forschern, die das Gehirn des Säuglings als ein "weißes Blatt" betrachten, kann ich nicht beistimmen. Wenn auch das Kind mit Hilfe seiner Sinne alle seine geistigen Eigenschaften erst  entwickeln  muß, so ist es doch schon bei der Geburt ein bestimmtes Individuum, körperlich wie geistig, das irgendeinem seiner Vorfahren ähnlich sein  kann,  aber nicht  muß.  Entwickeln läßt sich nur das bereits Vorhandene und alles nur in dem Maß und Grad, als es die individuelle Gehirnorganisation erlaubt. Man kann also nicht den Satz aufstellen: Alle Kinder sind leichter suggerierbar bzw. hypnotisierbar als die Erwachsenen. Daß bei Kindern bis zum Alter von etwa 14 Jahren Intelligenz, Wille und Empfinden im Allgemeinen noch sehr beeinflußbar sind, daß dem Beibringen von Allosuggestionen noch keine wesentlichen Widerstände (noch keine "organisierten Autosuggestionen") entgegenstehen, ist im Allgemeinen gewiß richtig. Man lernt aber, wenn man sehr viel mit Kindern umgeht, die Individualitäten sehr unterscheiden. Vielen Kindern fehlt die Aufmerksamkeit und genügendes Wahrnehmungsvermögen, anderen die ideoplastische Kraft der Vorstellung; die einfache kritiklose Hinnahme einer Allosuggestion bedingt noch keineswegs ihr Realisieren. Ich habe gefunden, daß man die meisten Kinder zwar rasch in Schlaf bringt, daß aber der Rapport nur selten ein genügender ist, um von hypnotischem Schlaf reden zu können. Kinder, die im gewöhnlichen Schlaf oft zu sprechen und auf Fragen zu antworten pflegen, sind stets leicht zu hypnotisieren, speziell aber alle zu Hysterie I disponierten.

Einen wesentlichen Unterschied in der Hypnotisierbarkeit der verschiedenen Altersklassen über 14 Jahre habe ich nicht gefunden.

Dagegen fand ich einen wesentlichen Unterschied bei niederen und höheren Ständen. Zu den ersten rechnete ich Leute in dienenden Stellungen (Dienstpersonal), Handwerke, usw., zu den letzteren Leute von höherer allgemeiner Bildung und in mehr oder weniger unabhängiger Stellung. Es zeigte sich, daß Männer und Frauen höherer Stände rascher in Hypnose kamen als die niederer, was wohl nur für eine Stadtbevölkerung (meine Angaben beziehen sich auch 90 Münchener Patienten) zutreffend sein dürfe. Was das Geschlecht anlangt, so kamen Frauen und Mädchen rascher und tiefer in Hypnose als Männer und Knaben, in der allgemeinen Fähigkeit zur Hypnose war kein großer Unterschied, was auch Hypnotiseure fanden, die, wie HANSEN, nicht nur zu therapeutischen Zwecken hypnotisierten.

Am meisten interessierten mich die Fälle, in denen ich trotz aller Bemühung keine Hypnose erreichte. Es waren dies
    21 Fälle und zwar 5 von Neurasthenie, 3 von Hypochondrie, 3 von Hysterie II, 1 Fall von schwerer Melancholie, 1 von Epilepsie, 1 von apoplektischer Lähmung, 1 von Nystagmus [unkontrollierbare Schläfrigkeit - wp], 1 von Parametritis [Beckenentzündung - wp], 1 von Ischias, 1 von Neuralgie, 1 von progressiver Myopie [Kurzsichtigkeit - wp], 1 von Netzhautablösung, 1 von Idiotismus.
Sind auch die 3 Fälle von Hysterie II, die Fälle von schwerer Melancholie und Epilepsie, sowie der Fall von Idiotismus für die Hypnose aus den oben erörterten Gründen nicht gut geeignet, so hätte ich doch bei den übrigen 15 Fällen zu hypnotischem und damit auch bei einigen zu therapeutischem Erfolg gelangen können, bzw. sollen. Ich mußte die Vergeblichkeit meiner Bemühungen darauf zurückführen, daß sämtliche 15 Personen sogenannte "reine Verstandesmenschen" waren, deren ideoplastische Kraft der Vorstellung minimal war.

Die Indikation zur Hypnose liegt, wie schon mehrfach bemerkt, weniger in der klinischen Diagnose als in der psychischen Persönlichkeit. Hierdurch ist auch  die Prognose  bei suggestivtherapeutischer Behandlung bedingt. Man wird im Allgemeinen desto sicherer und rascher zu Besserung oder Heilung kommen, je mehr der Patient die oben auseinandergesetzten Bedingungen der hypnotischen Beeinflußbarkeit besitzt. In der Tagespresse, speziell der "liberalen", die sich mit Vorliebe den Schulautoritäten an die Rochschöße hängt, betet man den von großen Gelehrten kolportierten Ausspruch nach, zur Hypnose seien nur ganz "leichgläubige" Leute geeignet, nur "diejenigen die nicht alle werden." Gerade das Gegenteil ist richtig. Wirklichke Dummköpfe eignen sich am allerwenigsten zur Hypnose, ebensowenig wie die kritischen Verstandesmenschen, während der in Verstand und Gemüt harmonisch entwickelte Mensch mehr oder weniger leicht beeinflußbar ist.

Was die Krankheitszustände anlangt, so habe ich die Hypnose bei vielen dem Praktiker vorkommenden Fällen versucht. Ich habe durch die sie den quälenden Husten bei Pneumonie, Schmerzen bei Rheumatismus, Zahnkaries und Kongestionen [Blutandrang - wp] gegen den Kopf, die lebhafte Peristaltik bei fieberhaften Zuständen günstig beeinflussen, Zwangsvorstellungen beseitigen und dadurch den Kranken physische und psychische Erleichterungen schaffen können, die auf den Verlauf des Krankheitsprozesse günstig gewirkt haben mögen. Eine skrufulöse chronische Konjunktivitis [Bindehautentzündung - wp] mit mehreren tiefen Corneal [Hornhaut - wp]-Geschwüren bei einer anämischen Hysterica I, heilte, nachdem sie 6 Wochen lang ohne Erfolg augenärztlich behandelt worden war, in 6 Tagen durch täglich halbstündigen hypnotischen Schlaf und bei geeigneten Suggestionen. ... Eine Dame (Arztgattin) ließ sich, während ich sie in Hypnose hielt, durch einen Dentisten 17 Zähne entfernen; zur Herbeiführung und Fixierung der suggestiven Stimmung ließ ich sie zuweilen an Chloroform riechen und verbrauchte davon während der 38 Minuten dauernden Operation nicht ganz 5 Gramm. Es wurde jeder Zahn sehr sorgfältig extrahiert und die entstandene Höhlung sofort mit etwas Jodoformgas tamponiert, sodaß die Blutung minimal war. Die Patientin befolgte jeden gegebenen Befehl, den Mund zu öffnen und zu schließen, auszuspucken etc., ohne ein einzigesmal zu erwachen und konnte sofort nach dem suggerierten Aufwachen, das amnestisch erfolgte, rüstig nach Hause gehen.

Von 12 Fällen hysterischer (auf hysterischer Basis beruhender) Dämmerzustände (Autosomnambulismus) konnten fast alle geheilt werden, während ich bei epileptischen (auf epileptischer Basis beruhenden) Dämmerzuständen keinen Erfolg sah. Ich glaube behaupten zu dürfen, daß es sich  bei allen Suggestions-Heilungen von sogenannten Epilepsien um solche auf hysterischer Basis handelt,  die Differentialdiagnose ist entweder aus der Anamnese und dem Studium der psychischen Persönlichkeit oder aus der Hypnotisierbarkeit zu entnehmen. Rein Epileptische kamen zwar in Schlaf, aber es ließ sich kein genügender Rapport erzielen und es realisierten sich keine posthypnotischen Suggestionen. Die an hysterischen Dämmerzuständen Leidenden werden, da man sie klinisch nicht genügend unterscheidet, gewöhnlich als Epileptische behandelt, d. h. mit Bromkali, Bromwasser etc. traktiert und ziehen dann von Arzt zu Arzt, bis sie zu einem Hypnotiseur oder (was noch häufiger ist) zu einem Pfuscher kokmmen, der sie gewöhnlich rasch herstellt.

Einen besonders interessanten Fall von Autosomnambulismus habe ich im Büchlein von SCHMIDKUNZ "Der Hypnotismus in gemeinfaßlicher Darstellung" (Stuttgart 1892) publiziert. Wenn Dr. MINDE in seiner Kritik dieser Krankengeschichte (Friedreichs Blätter für gerichtliche Medizin und Sänitätspolizei, Heft II, 1893, Seite 146) meint, "mancher ärztliche Leser wird die ganze somnambule Krankengeschichte als auf Simulation beruhend auffassen", so möchte ich doch bezweifeln, ob diese ärztlichen Leser genügend Kenntnis davon haben, daß gewisse objektive Symptome des hypnotischen Zustandes nicht simuliert werden können und daß alle derartigen Krankengeschichten in der Literatur einander auffallend ähnlich sind. ANzunehmen, daß alle diese Patienten Simulanten, alle ihre Ärzte Genasführte und der Krankheitsverlauf immer Suggestionsprodukt gewesen sei, geht doch etwas weit. MINDE scheint sich diesen "ärtzlichen Lesern" anzuschließen, da er sich darüber verwundert, daß ich am Schluß der Suggestionsbehandlung Simulation bemerkte, "daraufhin die hypnotische Behandlung abbrach und die Krankheit für abgelaufen erklärte (suggerierte)". Ich bemerke hierzu, daß bei dem zur Hysterie disponierten Knaben die Krankheit (Manifestwerden der latenten Hysterie in Gestalt der autosomnambulen Anfälle) mit Beginn der Pubertätszeit ausbrach und daß ich bei der Behandlung auf eine suggestive Einwirkung des Verlaufs absichtlich verzichtete, um den völlig ungestörten Verlauf der Neurose beobachten zu können. Als die Krankheit sich dem Ende neigte, kam der Patient nicht mehr in Hypnose (was nach meinen, oben über die Hysterie I gemachten, Bemerkungen zu erklären ist) und suchte durch (unbewußte) Simulation das Fehlende zu ergänzen. Da ich aus ähnlichen Krankengeschichten der alten Magnetiseure wußte, daß der Verlust des Rapportes die baldige Genesung zu verkünden pflegt, brach ich die Behandlung ab, selbstverständlich, ohne dem Patienten oder seinen Angehörigen den Grund zu sagen, wie ich überhaupt während der ganzen Kur das suggestive Element nach Kräften vermied; es völlig auszuschließen, halte ich Hysterischen gegenüber für fast unmöglich. Im SCHMIDKUNZschen Büchlein habe ich auch den Satz ausgesprochen, daß es um die Psychologie bei den medizinischen Fakultäten der Hochschulen traurig bestellt sei; ich wollte damit natürlich nicht die klinischen Psychiater mit einbezogen haben und bemerke das hier nachträglich. MINDE ist mit mir nicht zufrieden, daß ich die Ärzte im Allgemeinen nicht für Helden der Psychologie halte; wäre es, wie MINDE meint, "so schlimm nicht," so hätte man nicht auf allseitiges Andrängen in letzter Zeit die Psychiatrie ins Doktor-Examen aufgenommen. Ich wollte damit auch keinen Tadel, sondern eine bedauerliche Wahrheit aussprechen, mit deren Vertuschen dem wahren Interesse der Ärzte nicht gedient ist, weshalb sie MINDE in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, also am "gehörigen" Ort, ganz gut hätte zugeben können.

Ich schließe hiermit meine Ausführungen. Ich weiß recht gut, daß manche meiner theoretischen Auseinandersetzungen eine viel eingehendere Begründung erfordern, und meine praktischen Erfahrungen sich noch auf viel mehr Punkte hätten erstrecken können. Diese Erweiterung und die Publikation eines noch größeren Materials soll an einem anderen Ort geschehen.

LITERATUR - Carl Gerster,Beiträge zur suggestiven Psychotherapie, Zeitschrift für Hypnotismus, Suggestionstherapie, Suggestionslehre und verwandte psychologische Forschungen; Bd. 1, Berlin 1893
    Anmerkungen
    1) CARL GERSTER, Ärztlich-psychologische Ergänzungen in HANS SCHMIDKUNZ, Psychologie der Suggestion, Stuttgart 1892