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FERDINAND CANNING SCOTT SCHILLER
Humanismus
[Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie]
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"Auf den ersten Blick freilich erscheint nichts leichter und klarer als die Erwägungen, auf die sich der Apriorismus stützt. ... Nichtsdestoweniger will ich zeigen, daß unter der dünnen Schicht dieser Selbstgewißheit unvermutete Abgründe der Verderbtheit liegen, daß die Klarheit dieser Lehre oberflächlicher Art ist und bei weiterem Eindringen einer tiefen Dunkelheit weicht, daß in jedem der blendenden und vertrauten Sätze, welche die Aprioristen als die letzten Ergebnisse erkenntnistheoretischer Weisheit vorzubringen pflegen, unbeschreib- liche Ungetüme an Zweideutigkeit lauern. Ja, meine Kritik soll in dem Nachweis gipfeln, daß die ganze Idee einer unabhängigen und autonomen Erkenntnistheorie an einer unausrottbaren und unheilbaren Gedankenverwirrung krankt, deren Darlegung den Standort der ganzen aprioristischen Auffassung umstößt."

"Nach der kantischen Analyse entspringt die Erkenntnis aus der Vereinigung heterogener Elemente, Empfindung und Denken, deren erstes den Stoff, deren zweites die Form des Erkennens liefert. Aber was verbürgt denn die kantische Gegenüberstellung von Stoff und Form, Empfindung und Denken in dem Maße, daß sie jeden nötigt, in seiner Analyse der Erkenntnis von ihr auszugehen? Warum steht es uns nicht frei, unsere Analyse in beliebiger Weise und nach Prinzipien, die uns als die zweckmäßigsten erscheinen, vorzunehmen? Weshalb sollen wir auf die kantischen Faktoren angewiesen sein? . . . Kurz: ist es nicht ein unvermeidlicher methodischer Mangel eines erkenntnistheoretischen Arguments, daß es auf einer willkürlichen Auswahl der Grundannahmen basieren muß?"

"Hat Kant recht, so ist die Natur gegenwärtig so gebildet, daß sie sich den Anforderungen unserer Denkkategorien fügt. Fragen wir aber, weshalb das so ist, so erhalten wir nur die Antwort, es muß einfach so sein, weil der Geist allem ihm Gegebenen seine Formen aufzwingt. Warum aber verhält sich der Stoff nicht spröder und widerstandsfähiger gegen diese Formen? Daß alles Gegebene sich in unsere Gedankenformen einreihen läßt, ist doch schließlich nur eine empirische Tatsache."

"Indem wir die Axiome ihrem Wesen nach als Postulate betrachten, die auf einen praktischen Endzweck hinzielen, überbrücken wir die Kluft, welche künstlich zwischen den Funktionen unserer Natur errichtet wurde, und überwinden wir die Fehler des Intellektualismus. Wir betrachten die Axiome als entsprungen aus Bedürfnissen des handelnden Menschen, als veranlaßt durch seine Wünsche, bejaht durch seinen Willen, kurz: als genährt und erhalten durch seine Gefühls- und Willensseite."


I. Axiome als Postulate

1. Wie abschreckend wirkt schon der erste Überblick auf fast jeden, der ein philosophisches Thema behandeln will! Denn es gehen die Meinungen so weit, so vielfältig, so beharrlich auseinander, daß man über nicht gewöhnliche Zuversicht und einen großen Wagemut verfügen muß, um nicht zu verzweifeln, auch nur einen vorurteilslosen Leser - und wo wird sich auf philosophischem Gebiet ein solcher finden? - zu überzeugen, daß das Unternehmen irgendeine Aussicht auf wissenschaftlichen Fortschritt darbietet. So bedarf es nicht geringer philosophischer Einsicht, um zu bemerken, daß jene Divergenzen, weit entfernt, die Philosophie zu diskreditieren, in Wahrheit deren Würde erhöhen. Sie bezeugen, daß in unserem letzten Verhalten zum Leben unsere ganze Persönlichkeit mitspielt und daß diese die Tendenz hat, den entscheidenden Faktor bei der Annahme einer metaphysischen Lehre zu bilden. Sobald eine Metaphysik mehr sein will als eine "kritische Untersuchung oberster Vorurteile" und konstrukti zu werden sucht, wird sie stets auf ein Gebiet gelangen, wo verschiedene Menschen verschieden schließen - aber doch mit gleicher Stringenz aus scheinbar denselben Prämissen. Die natürlichste Erklärung dieser Tatsache ist die, daß, da die Menschen verschieden sind und in ihren Erfahrungen voneinander abweichen, weder die zu wertenden Daten noch der Maßstab ihrer Wertung wirklich die gleichen sein können. In der Tat zeigt die ganze Geschichte der Philosophie, daß der Zuschnitt der Lehre eines Philosophen so individuell ist und sein muß, wie der Schnitt seiner Kleider, und dies bildet einen vernichtenden Kommentar zu dem intoleranten Verlangen nach Gleichförmigkeit, der es vergebens unternimmt, die langsame Gewinnung einer wahren Übereinstimmung durch die Trugschlüsse und schroffen Voraussetzungen eines "wohlfeilen und bequemen" Monismus vorwegzunehmen. Es ziemt daher dem wahren Philosophen, tolerant zu sein und zu erkennen, daß, solange die Menschen verschieden sind, ihre Metaphysiken verschieden sein müssen und daß aus eben diesem Grund irgendeine Philosophie besser ist als gar keine.

Wenn aber auch die letzten Differenzen in der philosophischen Weltanschauung wahrscheinlich allzu tief in menschlicher Eigenart wurzeln, als daß sie durch die Kraft irgendeines Arguments auszumerzen wären, so ist es doch nichtsdestoweniger für den Fortschritt jedweder philosophischen Diskussion förderlich, daß man - wenigstens scheinbar und vorläufig - eine gewisse gemeinsame Basis der Übereinstimmung ausfindig macht, auf welcher die gegnerischen Ansichten ihre Kraft erproben können. Das ist es nun, was ich zu finden versucht habe, obwohl es nicht leicht war, zwei Hauptpunkte einer anfänglichen Übereinstimmung zu entdecken, welche, wie ich glaube, wohl von allen werden akzeptiert werden, die nur ein Verständnis für die in der philosophischen Diskussion gebrauchten Ausdrücke besitzen. Der erste dieser Punkte ist der, daß die gesamte Welt, in der wir leben, Erfahrungsinhalt ist und nur aus Erfahrungsinhalten aufgebaut ist. Der zweite ist der, daß gleichwohl die Erfahrung nicht allein und für sich selbst die Wirklichkeit bildet, sondern daß sie zur Konstruktion einer Welt gewisser Annahmen, Verknüpfungsregeln oder Grundwahrheiten bedarf, um ihren Rohstoff zu gestalten und sich selbst in genießbare, handliche und wohnliche Formen zu verwandeln.

Die Annahme dieser beiden Sätze wird uns vielleicht nicht und ich will auch nicht deren Schlagkraft überschätzen. Denn sobald wir einen Schritt weiter zu gehen versuchen und fragen, was diese Erfahrung des Näheren ist, aus welcher und wegen welcher alle Dinge konstruiert werden sollen, so sehen wir schnell ein, daß wir auch hier unbewußt in ein Netz von metaphysischen Schwierigkeiten geraten. In den vornehmen Kreisen der Philosophie ist es eine bequeme Manier, die harmlose Binsenwahrheit mit der Erklärung, von der ich eben ausging, als das Endziel eines langwierigen Kursus dialektischer Philosophie zu behandeln und "Erfahrung" als die endgültige Darstellung aller Dinge zu bestimmen. Wenn ich nun mit meinen Lesern nicht in einer solchen Weise umgehe, so ist dies damit zu entschuldigen, daß ich weder Herz noch kopf für derartige Kunststücke besitze, und daß jene immerhin auf den tröstlichen Ausspruch zurückkommen können, daß Erfahrung eben Erfahrung ist - wenn man sehr neugierig ist, noch mit dem Zusatz "des Absoluten" - wenn sie gefunden haben, daß meine ganz anders gearteten Darlegungen ihnen nichts Interessantes oder Wertvolles bieten.

2. Ich werde daher meine Frage in zwei Teile zerlegen. Ist alles Sein Erfahrung und das, was zu deren Begreiflichkeit gehört, so fragt es sich zunächst: 1. Wessen Erfahrung? 2. Die Erfahrung wovon? "Natürlich des Absoluten" - wird mancher gern als Antwort auf beiden Fragen hören. Sie sind wirklich dadurch befriedigt und wollen sie nicht mehr wissen als dies, dann ist es besser, sie lesen gar nicht weiter. Ich meinerseits bin der Ansicht, daß diese Antwort, selbst wenn sie wahr und verständig wäre, nicht den geringsten wissenschaftlichen oder praktischen Wert besitzt und daher auch keinen philosophischen Wert haben kann, es sei denn für die Anhänger einer weder theoretisch noch praktisch wertvollen Philosophie.

Ich will daher auf die erste Frage kühn antworten: "unsere Erfahrung", oder, falls dies zu viel Übereinstimmung unter den Philosophen voraussetzt und ich eine gemeinsame Welt nicht als gesichert annehmen darf: "meine Erfahrung".

Hier muß ich mich wieder darauf gefaßt machen, von einer wütenden Schar von Gegner angegriffen zu werden, die mich fragen: "Wer bist du denn? Wie darfst du dich selbst für etwas Gewisses halten? Weißt du denn nicht, daß das Ich ein kompliziertes psychologisches Produkt ist, welches sich auf eine dutzendfach verschiedene Weise ableiten und weganalysieren läßt? Und du willst wirklich deine Philosophie auf eine so diskreditierte Grundlage stellen?

Dem gegenüber mag die Einfachheit meiner bescheidenen Antwort den Beigeschmack der Unverschämtheit haben. Ich werde bloß sagen: Sänftiget, bitte euren Zorn, meine lieben Herren. Was ihr da vorbringt, ist mir wohl bewußt, nur habe ich auch einige Tatsachen beobachtet, die ihr in eurem wissenschaftlichen Eifer zu übersehen geruht. Erstens bemerke ich, daß diese von euch erwähnten Analysen des Ich sehr mannigfach ausfallen und daß so das Ich gerade in der Vielheit seiner Peiniger Sicherheit finden kann. Ferner bemerke ich, daß die Analyse in jedem Fall von diesem selben Ich bewerkstelligt wird, und es entsetzt mich stets, wenn die Folgerung eines Schlusses die eigenen Prämissen umstößt. Ich betone zunächst, daß diese Analysen als Produkte eines Ich irgendeinem Zweck dienen müssen, falls dieses Ich (gleich dem meinigen) vernünftig ist. Ist aber dieser Zweck - was anzunehmen hier keinerlei Anlaß vorliegt - nicht der Endzweck, so wird die Gültigkeit des ganzen Verfahrens eine bloß relative und dessen Wert nur ein methodischer sein. Es kann demnach für ihre Zwecke vortrefflich, für die meinigen aber ganz unbrauchbar sein, so daß dieselbe Analyse, die für mich richtig ist, für sie falsch sein kann. Und schließlich bemerke ich, daß keine Analyse fertig vom Himmel fällt; sie ist das Ergebnis einer zweckmäßigen Tätigkeit und bleibt, so schrecklich dies klingen mag, ein "brutum fulmen" [leere Drohung - wp], solange sie nicht jemand annehmen will. Aus diesem Wahlakt also entspring ihre wahre Wirksamkeit, und wenn ich nun anders oder gar nicht analysieren will, und es für zweckmäßig erachte, mit dem ganzen Organismus als fester Einheit meiner Erklärungen zu operieren, mit welchem Recht beklagen sich darüber die Schriftgelehrten und Pharisäer? In jedem Fall muß sich ja die Wahl durch ihre Konsequenzen, durch die Erfahrung ihrer Wirksamkeit bewähren, und ich habe nicht bemerkt, daß bei den fraglichen psychologischen Analysen etwas Wertvolles oder Brauchbares herausgekommen ist. Ich gebe mich daher der Hoffnung hin, daß die Annahme meiner eigenen Existenz, die ich vorläufig mache, sehr wohl besser ausfallen und weniger unnütz sein kann, als irgendeine Negation des Ich, die für gewisse beschränkte, technische Zwecke derjenigen Psychologien beibehalten werden mag, welche in ihrem ängstlichem Streben, zu den "Naturwissenschaften" gerechnet zu werden, ihr eigentliches Problem vernachlässigen.

Auf die zweite, persönliche Frage: "Wer bin ich?" lautet meine Antwort: Nun, das werden wir sehen. Ich sage ausdrücklich "wir", da ich, offen gestanden, auch durch Erfahrung noch lerne, was ich bin. Denn ich besaß leider so wenig apriorisches Wissen von mir selbst als von sonst einem Gegenstand. Ich kann daher vorläufig nur sagen, ich bin zumindest das, was ich bin und was ich noch zu werden vermag. Ich glaube nämlich, daß meine Laufbahn noch nicht beendet ist. Ich will damit natürlich nicht auf etwas Unerkennbares Anspruch erheben, sondern nur sagen, daß ich sowohl für mich als auch für andere nicht eher etwas vollkommen Erkanntes bin, als ich aufhöre, neue Erfahrungen zu machen. Genügt es euch also, diese bescheidenen Eigenschaften mit mir zu teilen, und auf diese Weise ein Ich zu sein, so seid ihr willkommen.

3. Nun komme ich zur zweiten Grundfrage: Was ist das, was ich erfahre? Die Antwort muß ähnlich ausfallen. Meine Erkenntnis des Gegenstandes der Erfahrung - wir können ihn kurz "die Welt" nennen - ist auch noch unvollkommen und im Werden. Mag ich sie auch durch alle herkömmlichen Prädikate, wie "äußerlich" und materiell, räumlich und zeitlich beschreiben, so schreibe ich dem doch keinen besonderen Wert zu und kann nicht ehrlich sagen, daß ich sie ihrem endgültigen Wesen nach kenne. Weiß ich doch nicht, wozu sie sich schließlich gestalten wird. Nicht daß ich etwa deshalb auf eine endgültige Beantwortung dieser Frage zu jedermanns - und besonders zu meiner - Zufriedenheit verzichten würde. Nur scheint die Erkenntniswelt stets auf einem unvollständigen Hintergrund des Unbekannten gemalt zu sein, und stets tritt eine neue Erkenntnis auf, welche den Gesamteindruck verändert. Diese Erkenntnis ist größtenteils oder vielleicht gänzlich das Ergebnis von Annahmen, die ich, wie meine Vorfahren, aus praktischen Gründen machen muß. Betreffs des Wesens und der Einzelheiten dieser Annahmen verweise ich auf die Geschichte der menschlichen Wissenschaften und Religionen.

4. Überlege ich mir aber diese Geschichte, so bemerke ich verschiedene Sachen, welche für die Frage nach dem Wesen der Welt und unserer Erkenntnis von nicht geringer Bedeutung zu sein scheinen.

a) Die Welt, wie sie jetzt erscheint, war nichts fertig Gegebenes; sie ist die Frucht einer langen Entwicklung, eines harten Kampfes. Haben wir genügende philosophische Einsicht, um zu sehen, daß wir nicht bloß die ontologische Frage: Was ist sie? sondern auch die tiefere erkenntniskritische Frage, zu welcher jene führt, zu stellen haben, nämlich: Wie wissen wir, was sie ist? - dann finden wir, daß sie eine allmählich zustandegekommene Konstruktion ist, und daß die Arbeit daran die sprichwörtliche Leistung des "Romanam condere gentem" [Gründung der römischen Nation - wp] zu einer unbedeutenden herabsetzt. Wir bemerken dies gewöhnlich nicht, teils, weil wir gewohnt sind, die Geschichte unserer Vorstellungen zu vernachlässigen und lieber unser Gedächtnis mit der Geschichte der Ereignisse belasten, welche wahrscheinlich nicht einmal in dieser Weise stattgefunden haben, teils, weil die Wissenschaft das ausdrückliche Zugeständnis der Veränderungen, welche das Wachstum der Erkenntnis in ihren Anschauungen hervorgebracht hat, zu vermeiden pflegt. So gebraucht der Physiker den Ausdruck "Materie" weiter, obgleich er ihm etwas ganz anderes bedeutet als die bloße Erfahrung der Härte und des Widerstandes, die anfangs dessen Sinn ausmachte, und wiewohl er immer klarer einsieht, daß er nicht weiß, was "Materie" letzten Endes ist und daß er dies für die Zwecke seiner Wissenschaft auch nicht zu wissen braucht, solange der Ausdruck etwas bedeutet, dessen Verhalten er zu berechnen vermag.

5 b) Ich bemerke ferner, daß wir, da wir nicht wissen, was die Welt ist, es herauszufinden haben. Und dies geschieht durch Versuche. Da uns keine fertige Welt gegeben ist, deren Erkenntnis wir mit passiver Empfänglichkeit einsaugen können, oder besser, da wir eine solche Welt in gewissem Ausmaß nur infolge der vorangegangenen Anstrengungen unserer Vorfahren zu haben scheinen, so müssen wir experimentieren, um aus den gegebenen Materialien einen harmonischen Kosmos zu erbauen, der alle unsere Wünsche, den Erkenntnistrieb inbegriffen, zu befriedigen vermag. Zu diesem Zweck bedienen wir uns aller als tauglich erscheinenden Mittel, probieren wieder und wieder. Denn wir können es nicht über uns bringen, rein passiv zu bleiben und gleich der traditionellen "tabula rasa" von einer unabhängigen "Außenwelt", die sich uns von selbst einprägt, Eindrücke zu empfangen. Täten wir dies, so würden wir ausgemerzt. Aber Erfahrung ist stets mehr als dies, nämlich entweder Experiment oder Reaktion auf den Reiz, den wir auf die "Außenwelt" beziehen. Auch die Reaktion ist noch eine Art der Tätigkeit, und deren Beschaffenheit hängt teilweise vom reagierenden Subjekt ab. Wir haben also keine unabhängige Erkenntnis der "Außenwelt"; dieselbe ist nur eine Weise, den Ursprung des Reizes, auf den wir uns reagieren fühlen, systematisch zu konstruieren. Daher läßt sich auch unsere passivste Rezeptivität für Empfindungen eher als der mühelose Genuß dessen ansehen, was einst durch eine energische Anstrengung erworben wurde, und ist keineswegs der Urtypus, auf den alle Erfahrung zurückzuführen wäre. Hier leben wir von unserem (ererbten oder erworbenen) Kapital, die Früchte unserer oder fremder Arbeit genießend, ohne aber die Welt weiterzubilden. Das ist zwar erfreulich, aber nicht von Wichtigkeit. Wichtig ist dagegen der Verlauf des aktiven Experimentierens, welches die Künste, Wissenschaften und Gewohnheiten, auf denen unsere soziale Organisation beruth, hervorbringt.

Demgemäß schreite ich daran, die Menge der Versuche zu betrachten, deren Zusammenhang den Weltprozeß bildet und die durch ihren Erfolg den späteren Verlauf der Dinge bestimmen. Ursprünglich scheint da nichts bestimmt, sicher oder festgelegt zu sein. Wir mögen wohl vor der Annahme eines absoluten Indeterminismus zurückschrecken, aber wir können sicherlich nicht angeben, was den Charakter der ersten Reaktion ausmachte oder bestimmte, und ebenso sicher ist es, daß die ursprüngliche Feststellung einer Reaktionsgewohnheit ungeheuer schwierig ist. Und in geringerm Ausmaß verbleibt diese Unbestimmtheit auch während des Wachstums der Weltstruktur. Stets ist die Welt mehrdeutig, und sie nötigt uns stets bezüglich gewisser Punkte zu sagen: "es kann sein", "entweder - oder" und dgl. (1) Es wäre aber auch nicht gut, daß sie fest würde, ohne daß wir sicher wären, daß sie Formen angenommen hat, die wir nicht mehr zu ändern wünschen. So wie sie ist, haben wir weder eine absolute noch eine ursprüngliche Festigkeit vor uns. Es ist daher keine Annahme, sondern eine unleugbare Tatsache: alle Bestimmtheiten werden erworben und durch ihre Wirkungen bestätigt; nichts ist so tatsächlich, daß es sich als völlig unabhängig von der Modifikation und Berichtigung durch die Erfahrung seines Wirkens ansehen läßt.

Ebenso bedarf die intellektuelle Welt keiner festen Grundlage, deren Festigkeit ein bloße Jllusion ist. Gleich dem physischen Universum wird sie durch die Anpassung und das Wechselspiel ihrer Teile gestützt; oder, können wir sagen, sie schwimmt frei in einem Meer des Unbekannten, dessen Wogen hin und wieder an sie schlagen, durch die hindurch aber die Wissenschaften viel begangene Wege geistigen Verkehrs gebahnt haben.

Der Kosmos, sagten wir, wächst durch Versuche. Solche Versuche mögen anfänglich von Ungefähr unternommen worden sein und wir werden dies aus methodologischen Gründen annehmen; jedenfalls waren sie ungewiß und war die Voraussicht des Erfolges zweifelhaft. Die Richtung dieser Versuche ist sicherlich weniger durch das ursprüngliche Herumtappen als durch die Bedürfnisse des Lebens und die entsprechenden Strebungen bestimmt worden. So sind die logischen Strukturen unserer geistigen Organisation Produkte psychischer Funktionen (2).

Es ist zunächst zuzugeben, daß in dem satz: "die Welt wird durch Experimentieren gebildet", der Begriff des Experiments im weitesten Sinn gefaßt wird, weit hinaus über den Begriff des bewußten Experiments des Forschers, der genau weiß, was er tut und was er will und alle Bedingungen genau kontrolliert. Vor dem die Welt aufbauenden "Experimentieren" ist das wissenschaftliche Experiment nur ein Grenzfall, der sogar nur ziemlich selten verwirklicht ist. Die meisten Experimente sind blind oder sehr wenig wissentlich, nur halbbewußt oder ganz unbewußt. Das Ausmaß des Bewußtseins bei Experimentieren hängt natürlich von der geistigen Entwicklung der Experimentierenden ab; während es zuerst unendlich klein ist, werden die intelligenteren Wesen immer mehr befähigt, das Experimentieren planmäßig zu gestalten.

Vom Experimentieren selbst aber kommt man nicht ab; es vorwärts, und wenn wir uns ihm entziehen wollen, dann wird mit uns experimentiert. Ja, wir alle sind in diesem Sinne Experimente der Natur, Versuche, eine Welt von Wesen aufzubauen, die sich selbst ständig und harmonisch erhalten können. Wir werden gleichsam befragt: Kannst du dies tun? Wollen oder können wir nicht und geben wir keine Antwort, dann werden wir ausgemerzt. Die Elimination, welche in diesem Experimentierverfahren der Natur liegt, wurde in neuerer Zeit unter dem Namen der natürlichen Auslese allgemein anerkannt; ihr Wesen besteht darin, daß eine große Zahl von Individuen und Arten "auf Probe" (als "zufällige Variationen" oder ideia moria) erzeugt werden sollen und daß jenen, welche die Probe am Besten bestehen, die Aufgabe zufällt, die Welt fortzuführen. Der Gedanke der natürlichen Auslese wurde durch die Idee der menschlichen Auslese eingegeben; denn ihr Erprobungsverfahren ist dem unseres eigenen Intellekts verwandt, und nur deshalb schreibt man es keiner Intelligenz zu, weil man den methodologischen Charakter des Postulats unebegrenzter Variation verkannt hat. Wir können daher mit Fug behaupten, daß, wenn in der Gestaltung der Welt eine übermenschliche Intelligenz tätig ist, das Verfahren und Wesen derselben das gleiche ist wie das unsrige. Auch sie geht experimentierend vor, paßt Mittel Zwecken an und lernt aus der Erfahrung.

Wir sehen also: es gibt zwei treffliche Gründe dafür, den Begriff des Experiments so weit zu fassen. Erstens wird es dadurch möglich, die unzähligen Komplikationen und Abstufungen, welche im Bewußtsein des Experimentierenden möglich sind - von der zufälligsten Unruhe und den blindesten instinktiven Anpassungen angefangen bis zur klarstbewußten Erprobung einer ausgearbeiteten Theorie - zusammenzufassen. Zweitens dient es dazu, die ursprüngliche Erprobungstendenz, welche das ganze Weltall durchzieht, festzulegen. So können wir unsere Ergebnisse dahin zusammenfassen, daß wir sagen: der Schlüssel zur Erfahrung ist nicht in Worten, sondern in Taten zu finden; bei der Natur kommt es nicht auf Dialektik, sondern auf Versuche an.

6 c) Es kann scheinen, als ob ich bei der Schilderung unserer Tätigkeit bei der Konstruktion der Welt durch Experimentieren oder Probieren das Material des Experiments, nämlich dasjenige, woran, und die Bedingungen, unter welchen wir experimentieren, vernachlässigt hätte. Natürlich will ich nicht die Existenz dieses Faktors unserer Erfahrung und damit auch der Welt bestreiten. Wir experimentieren nie im Leeren; stets sind Bedingungen irgendwelcher Art da, von denen wir ausgehen und durch die wir beschränkt sind. Wie unser Experiment psychologischer Motive bedarf, uns zu seiner Ausführung anzutreiben, so muß es auch durch etwas Widerstehendes bedingt sein, in dessen Überwindung sich der Intellekt durch eine geschickte Ausnutzung der Mittel, über die wir verfügen, betätigt. Es steht also fest, daß unsere Tätigkeit ständig auf Widerstand stößt und daß infolgedessen unsere Experimente oft mißlingen.

Während aber betreffs der Existenz dieses Widerstandes kein Streit sein kann, kann sein Wesen sehr umstritten werden und die genaue Bestimmung derselben mit großen Schwierigkeiten verknüpft sein. Es hieße, den Idealismus unvorteilhaft auf die Spitze treiben, wollte man hier zu der alten Phrase vom Ich, das sich selbst und das Nicht-Ich setzt, zurückkehren. Aber auch der entgegengesetzte und gebräuchlichere Kunstgriff, jenes Material zum Rang einer objektiven oder materiellen Welt zu erheben, welche uns beeinflußt, ist nicht einwandfrei.

Denn, was bei dieser traditionellen Redeweise so irreführt, ist dies, daß sie eben das einschließt, was wir als falsch erkannt haben, nämlich, daß es eine objektive Welt unabhängig von uns und uns zu ihrer Anerkennung zwingend gibt. Vielmehr gibt es nie eine unabhängige Tatsache, sondern nur eine Seite oder, besser, einen konstanten Faktor der Erfahrung, den wir niemals isolieren oder los werden können. Wie weit zurück wir ihn auch verfolgen mögen, niemals vermögen wir zu sagen, was dieser Faktor wahrhaft und an sich ist, oder daß er verschwunden ist. Nehmen wir ihn so, wie er sich in unserer organisierten Erfahrung darstellt, so stehen wir vor der ähnlichen Schwierigkeit, daß das, was er jetzt ist, nichts Endgültiges, sondern nur das Glied einer langen Entwicklung ist, deren Ende unabsehbar ist. Blicken wir aber, durch solche Bedenken geleitet, vorwärts und erklären, die objektive Welt sei durchaus das, wozu sie sich entwickelt, wer will es dann auf sich nehmen, ihre künftigen Entwicklungen vorauszusagen und zu verbürgen, daß sie stets in der jetzigen Weise objektiv bleiben und uns weiterhin widerstehen und zwingen wird? Denn es ist nur teilweise richtig, daß sie uns zwingt; immer mehr wird es wahr, daß wir sie bezwingen und bei ihrer Gestaltung zu annehmbaren Formen Erfolg haben. In welchem Sinn sollten wir also fortfahren, eine Welt "objektiv" zu nennen, welche aufgehört hätte, anstößig zu sein und sich unseren Wünschen vollkommen anpaßte und unmittelbar entspräche?

Dieser widerstehende Faktor unserer Erfahrung scheint somit am Besten dadurch gekennzeichnet zu werden, daß wir in dieser Hinsicht den alten aristotelischen Begriff der "Materie" als hyle dektike tou eidos [Stoff, der eine Form annimmt - wp], d. h. als Möglichkeit jeder Form, die wir zu geben vermögen, erneuern. Sie ist als der (freilich nie ganz rohe und unbearbeitete) Rohstoff des Kosmos zu betrachten, aus welchem die Lebensformen zu gestalten sind, an denen sich unser Geist ergötzen kann. Es bedeutet für die Philosophie einen wahrhaften Verlust, daß sie in dem Bemühen, den Begriff präziser und den Zwecken der Naturwissenschaften angemessener zu gestalten, diese Bedeutung der "Materie" aufgegeben hat. Der Begriff der Materie als einer unbestimmten Potenz, welche mittels besonderer Handgriffe die von uns gewünschten Formen anzunehmen vermag, macht sich aber wieder geltend, sowie die großen Physiker daran gehen, über die "letzte Konstitution des Stoffes" nachzudenken. Denn vorausgesetzt, ihre Ergebnisses befähigen sie mehr oder weniger zur Berechnung des Verhaltens des sinnlich wahrnehmbaren Stoffes, so zögern sie nie, neue "Äther" und Arten des Stoffes hinzuzurechnen und ihnen alle Eigenschaften zuzuschreiben, welche ihre Zwecke erfordern und die ihnen ihre Phantasie eingibt.

7. d) so ist dann die Welt wesentlich hyle, sie ist das, was wir daraus machen. Umstonst definieren wir sie durch das, was sie ursprünglich war oder durch das, was sie unabhängig von uns ist; sie ist das, was aus ihr gemacht worden ist. Demnach ist mein vierter und wichtigster Punkt der, daß die Welt plastisch und durch unsere Wünsche zu gestalten ist, wenn wir nur entschlossen sind, sie zu verwirklichen und nicht zu indolent [schmerzfrei - wp] oder zu stolz sind, von der Erfahrung, d. h. durch Versuche zu lernen, auf welche Weise wir es vermögen.

Diese Plastizität wird kaum bestritten werden, wohl aber können Zweifel laut werden, wie weit sie sich erstreckt. Sicherlich spricht es der Wirklichkeit Hohn, läßt sich einwenden, von einer Plastizität der Welt zu sprechen; wir können in keiner Richtung fortschreiten, ohne auf feste Grenzen und unüberwindbare Hindernisse zu stoßen. Die Antwort darauf lautet, daß der Bereich der Weltplastizität nicht a priori bekannt, sondern erst durch Probieren festzustellen ist. Beim Probieren aber können wir nie mit der Anerkennung fester Grenzen und unüberwindlicher Hindernisse beginnen, denn glaubten wir an solche, dann hätte das Probieren keinen Sinn. Wir müssen daher annehmen, daß wir das Gewünschte zu erreichen vermögen, wenn wir nur hinreichend geschickt und andauernd probieren. Ein Mißlingen beweist nur, daß die Hindernisses durch die hier angewandete Methode nicht zu beseitigen waren, kann aber nicht die Hoffnung vernichten, daß sie durch ein abermaliges Probieren mittels anderer Methoden schließlich doch überwunden werden können.

So ist es methodisch notwendig, die völlige Plastizität der Welt anzunehmen, d. h. so zu handeln, als ob wir von ihr überzeugt wären, soweit davon, daß ausdauernde Bestrebungen unsere Wünsche erfüllen werden.

In welchem Umfang unsere Annahme im vollsten Sinn richtig ist, d. h. in welchem Ausmaß sie sich praktisch bewährt, das werden uns Zeit und Erprobung zeigen. Aber unser Glaube wird allemal gefestigt, wenn wir, danach handelnd, etwas, was wir wünschen, erreichen; und er wird gehemmt, aber nicht vernichtet, wenn ein Experiment mißlungen ist.

Als ein erster Versuch der Erklärung, auf welche Weise unser Bemühen, die Erfahrung gemäß unseren Wünschen zu gestalten, mit der "Objektivität" jener Erfahrung vereinbar ist, mag vielleicht das Obige genügen, wiewohl ich mir nicht einbilde, daß es mit einem Schlag überzeugen wird. Vielmehr erwarte ich, daß man mich entrüstet fragt: Besteht denn nicht eine objektive Natur, welche durch unsere Experimente nicht erzeugt, sondern nur entdeckt wird? Ist es nicht absurd, so zu sprechen, als ob unsere Versuche die Tatsachen zu ändern vermöchten? Und ist nicht eine ehrfurchtsvolle Unterwerfung unter jene präexistente Ordnung die rechte Haltung für einen Wahrheitsforscher?

So einleuchtend ist der Einwand, daß die Torheit, ihn zu ignorieren, nur durch die Überschätzung seiner Tragweite zu überbieten ist. Wegen der plumpen Weise, wie dies gewöhnlich geschieht, habe ich es für ratsam gehalten, die gegenteilige Seite der Wahrheit zu betonen. Genug und übergenug haben wir schon von der Pflicht der Demut und Ergebung vernommen; nun ist es an der Zeit, zu hören, daß auch Tatkraft und Unternehmungsgeist unerläßlich sind, und daß die empfohlene Unterwerfung, sobald sie mehr bedeutet als rationale Forschungsmethoden, zum Hemmnis für das Wachstum der Erkenntnis wird. Es hat daher keinen Wert, die alten Plattheiten aufzurühren, daß wir zu Füßen der Natur sitzen, um knechtisch die Fußtritte entgegenzunehmen, die sie uns als Lohn auszuteilen liebt. Weit wichtiger ist es, die andere Seite der Natur zu betonen, der gemäß wir nichts bekommen, wenn wir nichts verlangen. Wir müssen oft und zudringlich verlangen und uns nur schwer abspeisen lassen. Nur durch ein Fordern ermitteln wir, ob eine Antwort zu erlangen ist oder nicht, und wenn unsere Forderungen die "Tatsachen" nicht zu ändern vermögen, so können sie diese zumindest in einer so verschiedenen Beleuchtung erscheinen lassen, daß sie für die Praxis nicht mehr dieselben sind.

In Wahrheit sind nämlich diese unabhängigen "Tatsachen", die wir bloß anzuerkennen haben, nichts als eine Phrase. Die wachsende Erkenntnis gestaltet für uns beständig unsere Tatsachen um, und nur durch eine Fiktion "ex post facto" [im Nachhinein der Fakten - wp] erklären wir, sie seien von jeher das gewesen, was sie für uns jetzt bedeuten. Für das rudimentäre Auge ist die Welt nicht farbig, sie wird es erst für das Auge mit entwickeltem Farbsinn; ebenso ist die "Tatsache" jeder Phase der Erfahrung von unserer Erkenntnis, und diese von unseren Anstrengungen und Strebungen nach Erkenntnis abhängig. Klammern wir uns nun an den Begriff einer absolut objektiven Tatsache, von welcher die unvollkommenen Erkenntnisstufen bloß einen schwachen Schimmer erfassen, so müssen wir zumindest einräumen, daß nur eine endgültige und vollkommen abgeschlossene Erkenntnis eine solche Tatsache adäquat erfassen würde. Da nun die Tatsachen, die wir bis jetzt vorfinden, nicht von dieser Beschaffenheit sind, so kann es geschehen, daß sie nicht das sind, als was sie erscheinen und daß sie sich, wenn wir es versuchen, umformen lassen. Demnach ist der Gegensatz von "subjektiv" und "objektiv" verkehrt. Im Erfahrungsprozeß sind "Subjekt" und "Objekt" nur zwei Pole, und zwar ist das "Subjekt" der "positive" Pol, von welchem der Anstoß zur Entfaltung der Erkenntnis ausgeht. Denn die von uns begehrten Umbildungen in der Welt sind nur durch die Annahme ihrer Möglichkeit und demnach auch durch den Versuch ihrer Bewerkstelligung herbeizuführen. Es gibt keine Offenbarung, weder von seiten der Natur, noch von Seiten eines Gottes, als für jene, die offenen Auges sind, und die Wissenschaft kennt kein Verfahren, jene sehend zu machen, die ihre Augen hartnäckig verschließen.

Der Gedanke, daß die Erscheinungen, welche die Wirklichkeit unseren Blicken darbietet, von der Willensverfassung abhängen, die wir ihnen gegenüber einnehmen, ist sogar eher ein Gemeinplatz als eine Absurdität; nichts ist vernünftiger als die Annahme, daß, wenn es im Grund der Dinge etwas Persönliches gibt, die Weise, uns zu ihnen zu verhalten, die Art ihres Verhaltens zu uns beeinflussen muß. Daher liegt die wahre Absurdität (3) in unserer Ignorierung der offenbarsten Erfahrungstatsachen und in unserer Errichtung des Moloch einer starren, unveränderlichen und unerbittlichen Weltordnung, der wir unbarmherzig alle unsere Wünsche, alle unsere Impulse, alle unsere Ansprüche und unseren ganzen Scharfsinn zu opfern haben, inbegriffen jenen, welcher eben das Idol, dem er geopfert wird, erdacht hat.

8. Die obige Skizzierung des Wesens und der Art des Prozesses, der uns und unsere Erfahrungswelt geformt hat, scheint vielleicht nur einen sehr entfernten Bezug auf das Verhältnis der Axiome zu Postulaten zu haben. Aber man wird vielmehr finden, daß das ganze folgende Argument in seinen Grundlinien schon in unserer einleitenden Erörterung der Weltanschauung, welche JAMES als "Pragmatismus" und "radikalen Empirismus" bezeichnet hat, vorgezeichnet ist. Wenden wir sie nämlich, wie wir es müssen, auf die Theorie unserer Erkenntniskräfte und auf die Grundsätze an, mittels deren wir unsere Erfahrung verarbeiten, so führt uns dies zu einer ganz eigenartigen Behandlung der Erkenntnisprobleme, die weitab vom Herkömmlichen liegt. Demgemäß ist auch die Grundstruktur unseres Geistes und der Grundsätze, welche sie stützen, ebenso wie die Summe unserer übrigen Kräfte und Vermögen, als werdend zu betrachten, und zwar durch einen Prozeß des Experimentierens, der dazu dient, die Welt unseren Wünschen anzupassen. Diese Grundsätze werden somit ihre Laufbahn als Forderungen beginnen, die wir an unsere Erfahrung stellen, also als Postulate, und deren nachfolgende Auslese, welche einige von ihnen zu Axiomen befördert und andere fallen läßt, deren Aufrechterhaltung zu teuer oder schmerzvoll ausfällt, wird von der Erfahrung ihrer Leistung abhängen.

Der Gegensatz dieser Lehre zu den traditionellen Darstellungen des Gegenstandes, sowohl zu der des älteren Empirismus als auch zu der des Apriorismus, ist nun scharf gekennzeichnet, und ich hoffe auch, zeigen zu können, daß ihre Überlegenheit ebenso auf der Hand liegt.

In Wahrheit sind beide traditionelle Auffassungen des Wesens der Axiome falsch. Der Nachweis dessen wird, weit entfernt, uns abseits zu führen, schließlich nur unseren Fortgang erleichtern. Ich will daher eine Kritik in Angriff nehmen, welche darlegen wird, daß die axiomatischen Grundsätze, mittels deren wir unsere Erkenntnisse organisieren und verknüpfen, weder Produkte einer passiven Erfahrung noch auch letzte unerklärliche Gesetze oder Tatsachen unserer geistigen Struktur sind, die von uns keinerlei Bemühung um ein Verständnis, sondern nur Anerkennung und Achtung als "a priori notwendige Wahrheiten" verlangen. Bezüglich des Empirismus wird die Kritik verhältnismäßig kurz und leicht sein, weil dessen Unrichtigkeit ziemlich allgemein zugestanden wird. Der Apriorismus wird einer längeren und schwierigeren Erörterung bedürfen, weil er es erreicht hat, seine Unhaltbarkeit hinter so manchen Kunstausdrücken, so manchen Dunkelheiten der Argumentation und einer fundamentalen Duplizität des Standpunktes zu verbergen.


II.

9. Indem wir also den älteren Empirismus zuerst vorwegnehmen, bemerken wir, daß betreffs seines Standpunktes wenig Zweifel zu obwalten scheint. Seine Ableitung der Axiome ist offenbar psychologisch und beschreibt, wie der Geist tatsächlich in ihren Besitz gelangt. Seine Psychologie ist zweifellos verkehrt, und sein Rekurrieren zur Psychologie, um das Erkenntnisproblem zu lösen, mag oft gröblich zum Ausdruck kommen, aber er legt eine bestimmte Methode der Beantwortung einer wirklichen Frage vor. Es werden uns wenigstens die Verwirrungen erspart, welche im Apriorismus entstehen, wenn ein Argument zugleich nach zweierlei Richtungen, der psychologischen und der erkenntniskritischen (logischen) blickt und wenn die Beziehungen zwischen beiden absichtlich unbestimmt gelassen werden.

Es muß, zweitens, betont werden, daß die empiristische Psychologie im Grunde ebenso vom Intellektualismus infiziert ist wie die der Aprioristen. Sie faßt nämlich die Erfahrung, welche die Elemente unserer seelischen Struktur liefert, als Erkenntniselemente ("Eindrücke", "Vorstellungen" und dgl.) auf; sie setzt die zentrale Funktion des Seelenlebens nicht in Willensintentionen und selektive Aufmerksamkeit. Nun ist der Intellektualismus, mag er auch in der Psychologie zu manchem Zweck der Beschreibung dienen und daher wohl nie ganz verschwinden, schließlich schon als Psychologie eine Entstellung des Seelenlebens, und ganz unfähig ist er, sich in den umfassenden biologischen Zusammenhang einzufügen, in welchem der Organismus als auf seine Umgebung reagierend erscheint, oder in das höhere ethische Gebiet, in dem er als verantwortliche Person auftritt.

Ich gehe zu den ernsteren Punkten der Anklage über. Der Empirismus denkt sich den Geist rein passiv, als von einer fertigen Außenwelt geformt, die im Laufe eines Erfahrungsprozesses mit ihm in Verkehr tritt, welcher all das, was der Geist an angeborener Widerspenstigkeit besitzt, unterdrückt (4). So kommen wir zu dem Glauben, daß jedes Geschehen eine Ursache hat, nur infolge der Tatsache, daß es in der Natur Ursachen gibt und daß dies uns schließlich beeinflußt. Zwei und zwei sind vier, weil es Einheiten gibt, die sich so verhalten, und wir müssen sie so und nicht anders zusammenzählen, obgleich sie, wie MILL folgerichtig bemerkt, in einer anderen Welt fünf als Summe ergeben und uns zu einer neuen Arithmetik zwingen könnten. So erklärt es sich auch aus der Tatsache, daß die Natur gleichförmig ist, daß eine ununterbrochene Reihe von Induktionen "per enumerationem simplicem" [durch einfache Aufzählung - wp] uns den Grundsatz von der "Gleichförmigkeit der Natur" einprägt.

Dagegen erhebt sich nun der schlagende Einwand, daß diese Grundsätze nicht aus der Erfahrung abstrahiert sein können, weil man sie schon besitzen muß, bevor sie noch durch die Erfahrung ihre Bestätigung finden können. HUMEs einfache Entdeckung, daß die Verknüpfung der Vorgänge, die allgemein angenommen wird, niemals eine Tatsache der Beobachtung ist, kommt dem Empirismus wie dem Apriorismus ungelegen. Ohne daß wir also die Sukzession der Vorgänge als eine der Möglichkeit nach regelmäßige betrachten, kann sie uns nicht die Existenz eines Prinzips der Regelmäßigkeit verbürgen; ohne daß wir die Dinge zählen, haben sie keine Zahl, ohne daß wir sie ordnen, erscheint keine Ordnung. Im Fall der Gleichförmigkeit der Natur räumt dies MILL tatsächlich für die Praxis ein, er gibt zu (Logik III, 3, § 2, und 7, § 1), daß "die Natur nicht nur gleichförmig, sondern auch unendlich mannigfach ist", daß manche Phänomene "völlig launisch erscheinen" und daß "die Ordnung der Natur, wie sie sich auf den ersten Blick darstellt, in jedem Moment ein Chaos nach dem anderen aufweist". Gilt dies nun schon vom Eindruck, den die Natur auf uns macht, wenn wir die passive Haltung eines uninteressierten Beobachters annehmen, um wieviel chaotischer muß nicht die Natur dem primitiven Intellekt erschienen sein, der die Grundsätze der Weltordnung erst noch zu entwerfen hatte? (5)

In Wirklichkeit liefert die ganze empiristische Begründung der Axiome nicht die wahre Lebensgeschichte eines primitiven Geistes; gleich so mancher "induktiven Logik" ist sie bestenfalls eine (logischen Zwecken dienende) Rekonstruktion jener Erlebnisse seitens eines reflektierenden Geistes, der die Prinzipien der Weltordnung schon erfaßt und lange verwertet hat. In einem primitiven Geist können solche Grundsätze durch die Regelmäßigkeit von Erscheinungen wie der Wechsel von Tag und Nacht, oder von organischen Gewohnheiten (Atmung, Herzschlag, Hunger und dgl.), die bereits vor einsetzender Reflexion erworben wurden, höchstens ausgelöst werden. Wäre aber die reine Erfahrung die Quelle der Axiome, so würde die Wirkung der Regelmäßigkeits-Assoziationen notwendig durch den überwiegend chaotischen Charakter des Hauptteils der Erfahrung ausgelöscht und durch einen Strom "gesetzloser" Eindrücke hinweggeschwemmt werden.

Wir haben ferner die Schwierigkeit in der Verallgemeinerung der empiristischen Ableitung der Axiome zu beachten. Trotzdem der Empirismus über 2000 Jahre alt, ist er noch nicht vollständig durchgeführt, und es wird wahrlich nur wenige geben, die den Empiristen um seinen Versuch, etwa den Satz der Identität richtig abzuleiten, beneiden werden.

Schließlich gibt der Umstand einen gerechten Grund zu Klage, daß der Empirismus, wie er vorliegt, den Wunsch nicht wahrhaft befriedigt, dessen Berücksichtigung seinen Hauptreiz bildet. Er zeigt den Ursprung der Axiome nicht wirklich in einem Erfahrungsprozeß auf. Er behauptet freilich, daß ein solcher Ursprung stattfand, aber verlegt ihn in eine so entlegene vorhistorische und vorlogische Zeit, daß wir die Einzelheiten des Prozesses nicht zu gewahren vermögen. Und jedenfalls ist der Prozeß abgeschlossen. So hat nach Mill der Roman der Axiome ausgespielt, ehe das wirkliche Denken und die wissenschaftliche Induktion beginnen; daß sie der Assoziation entstammen, hindert sie nicht, endgültige Faktoren unserer gegenwärtigen Gedankenordnung zu bilden. Einst "in der fahlen Dämmerung der Menschheit" aufgestellt, sind sie weiteren Wechselfällen entzogen und unterliegen keiner Auslese oder wirklichen Erhärtung in der Entwicklung unseres Geistes. So erheben sie auf dieselbe Endgültigkeit Anspruch wie ihre Rivalen, die apriorischen Bewußtseinsstrukturen: weder die einen noch die andern lassen einem wirklichen Wachstum der Grundkräfte des Geistes Raum übrig.


III.

10. Aber den Empirismus geißeln, heißt, ein totes Pferd peitschen, während der Feldzug gegen den Apriorismus so viel ist, wie das Eindringen in einen Zauberwald, in welchem es leicht ist, die Wahrheit zu verfehlen, ob der Menge von "allgemeinen und notwendigen Wahrheiten", die einem den Weg versperren.

Auf den ersten Blick freilich erscheint nichts leichter und klarer als die Erwägungen, auf die sich der Apriorismus stützt. Gibt es gewisse Wahrheiten, welche für jeden Erkennenden notwendig, in jedem Erkenntnisakt enthalten sind, lassen sich diese Wahrheiten nicht aus der Erfahrung ableiten, weil sie von jeder Erfahrung vorausgesetzt werden, müssen wir, wie gesagt, in deren Besitz sein, bevor die Erfahrung sie zu erhärten vermag, was bleibt uns dann übrig, als sie "a priori" zu nennen und anzunehmen, daß sie die letzte selbstgewisse Struktur des Geistes offenbaren, die wir anerkennen müssen, während es ruchlos wäre, sie in Frage zu stellen und töricht, sie abzuleiten?

Nichtsdestoweniger will ich zeigen, daß unter der dünnen Schicht dieser Selbstgewißheit unvermutete Abgründe der Verderbtheit liegen, daß die Klarheit dieser Lehre oberflächlicher Art ist und bei weiterem Eindringen einer tiefen Dunkelheit weicht, daß in jedem der blendenden und vertrauten Sätze, welche die Aprioristen als die letzten Ergebnisse erkenntnistheoretischer Weisheit vorzubringen pflegen, unbeschreibliche Ungetüme an Zweideutigkeit lauern. Ja, meine Kritik soll in dem Nachweis gipfeln, daß die ganze Idee einer unabhängigen und autonomen Erkenntnistheorie an einer unausrottbaren und unheilbaren Gedankenverwirrung krankt, deren Darlegung den Standort der ganzen aprioristischen Auffassung umstößt. Endlich werden wir zeigen (23a), daß wir, auch wenn KANTs ganze Erkenntnistheorie annehmbar wäre, doch noch keine Antwort auf HUMEs Frage hätten, wie denn eine apriorische Gewähr der Zukunft möglich ist.

Wir wollen demnach zuerst feststellen, daß der Apriorismus als eine Folgerung aus dem Zusammenbruch des älteren Empirismus jeder Schlagkraft entbehrt. Daraus, daß die "notwendigen" Wahrheiten in aller Erfahrung vorausgesetzt werden, folgt noch nicht, daß sie in einem technischen Sinn apriorisch sind. Wir müssen sie zwar haben, um unsere Erfahrung zu organisieren, nicht aber so, wie es behauptet wird. Vielmehr genügt es, daß wir sie erfahrungsmäßig festhalten, als Grundsätze, die wir praktisch benötigen und deren Wahrheit wir wünschen, die wir uns daher zu erproben vornehmen, ohne sie als letzte und unableitbare Tatsachen unserer geistigen Organisation zu verehren. Kurz, sie können der Erfahrung als Postulate vorangehen (6).

11. Die Methode der Postulate vermag nun eine andere Erklärung dessen zu geben, was seit KANT als die beiden untrüglichen Kennzeichen einer echten apriorischen Wahrheit gilt, nämlich deren Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit. Es genügt nicht, den Ursprung dieser Wahrheiten aus der Erfahrung zu bestreiten, weil die Erfahrung nur Tatsachen, nicht Notwendigkeit - oder doch nur eine subjektive Notwendigkeit - zu bieten vermag und weil sie niemals eine absolute Allgemeingültigkeit verbürgen kann, welche sich auf die Zukunft ebenso wie auf die Gegenwart und Vergangenheit erstreckt. Ein Postulat besitzt die beiden geschätzten Merkmale mit ebensolchem Recht wie eine apriorische Wahrheit und leidet nicht an dem Unvermögen, welches der bloße Niederschlag vergangener Erfahrung aufweist.

Ihre Allgemeingültigkeit folgt eben aus ihrer Natur als Postulat. Fordern wir dei Geltung eines Grundsatzes, dann erstrecken wir naturgemäß unsere Forderung auf alle Fälle, ohne Unterschied der Zeit, sei es vergangener, gegenwärtiger oder zukünftiger. Die zage Bescheidenheit, die sich an die Stütze des Vorangegangenen klammert, ist bei einem Postulat nicht am Platz. Eine Wahrheit, die wir annehmen, weil wir sie brauchen, kann ebenso oft angenommen werden, als wir sie wünschen und für alle Fälle, in denen wir ihrer bedürfen. Wir können ihr daher jene gewünschte Allgemeingültigkeit verleihen und haben in der Regel keinen Grund, sie nicht als absolut allgemeingültig zu setzen (7). Die Ungeheuerlichkeit eines Postulats wird ja nich durch eine selbstverleugnende Sparsamkeit in dessen Gebrauch vermindert. Ein kleines Postulat bleibt doch ein Postulat, und wenn wir schon mit ihm sündigen, dann mögen wir doch beherzt sündigen.

so ist auch die "Notwendigkeit" eines Postulates nur ein Zeichen für unsere Bedürfnisse. Wir brauchen es und müssen es daher haben als Mittel für unsere Zwecke. Diese Notwendigkeit ist demnach die eines verständigen Willenszieles, nicht die eines psychischen, noch weniger eines physischen Mechanismus (8). Die Unfähigkeit, sie anders zu denken, welche die notwendigen Wahrheiten auszeichnen soll, ist im Grunde eine Weigerung, es zu tun, eine Weigerung, sich selbst im Auftrag eines zufälligen Zweifels nützlicher Mittel zur Harmonisierung der Erfahrung zu berauben. Der Schluß von der Allgemeinheit und Notwendigkeit unserer Axiome auf deren apriorischen Ursprung ist also ein "non sequitur" [es folgt nicht - wp], welches auch dann nicht unbeanstandet passieren dürfte, wenn keine andere Theorie bereitstünde.

12. Wir wollen nun die möglichen Bedeutungen der Wendung "Bedingung aller möglichen Erfahrung" ins Auge fassen. Was ist bei einer solchen Charakterisierung apriorischer Wahrheiten der genaue Sinn von "Bedingung"? Meint man damit das, ohne welches die Erfahrung nicht sein oder nicht gedacht werden kann, oder sich nicht in ästhetisch angenehmer oder ethisch befriedigender Weise denken läßt? Wir müssen offenbar zwischen einer Wahrheit, welche als psychische Tatsache die folgende Erfahrung verursacht, und einem logischen Faktor unterscheiden, welcher durch eine nachfolgende Reflexion in jener Erfahrung entdeckt wird, aber zur Zeit des Erlebens nicht wirklich im Bewußtsein gegenwärtig zu sein braucht und daher nicht als psychische Tatsache bezeichnet werden kann. Im zweiten Fall ist die "Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung" nicht etwas für die Erfahrung wirklich Notwendiges, sondern nur ein aus einer Rekonstruktion "ex post facto" Notwendiges, wobei diese Konstruktion unserem Streben nach dem logischen Ideal eines begreiflichen Erfahrungssystems dient.

Natürlich wird die Antwort auf die Frage: welches sind die Bedingungen der Idee eines solchen Systems? von der Art der logischen Analyse abhängen, die wir uns wählen. So wird die Beweislast dafür, daß ihre Darstellung die einzig mögliche ist, den Anhängern jeder Form des Apriorismus zufallen.

Alle diese Bedenken lassen sich mit noch größerem Nachdruck gegen jene Auffassungen der apriorischen Bedingungen der Erfahrung erheben, welche diese auf (allerdings meist halb- oder unbewußte) Forderungen reduzieren, welchen gemäß die Welt verschiedenen ethischen und ästhetischen Idealen entsprechen soll. Solche Forderungen mögen auf ihrem Gebiet völlig berechtigt sein, und ich bin gewiß der letzte, es einem Philosophen zu verargen, daß er sich für ethische und ästhetische Ideale empfänglich zeigt und glaubt, deren Verwirklichung sei in den Bedingungen einer vollkommen vernünftigen Erfahrung mit einbeschlossen. Müssen sie aber nicht als solche Ideale offen bekannt werden? Ist es nicht ganz ungehörig, sie unter der Zweideutigkeit von "Bedingungen der Erfahrung" zu verbergen? Es bleibt demnach nur die erste Auffassung, nach welcher die "Bedingung" eine wirkliche psychische Tatsache ist, und dadurch die von uns zu untersuchende Streitfrage auf die eine bestimmte Weise festlegt.

13. Was bedeutet "a priori"? Sprechen wir von "den in aller Erkenntnis enthaltenen apriorischen Prinzipien", meinen wir das "enthalten" in einem logischen oder psychologischen Sinn? Sind sie, meinen wir, Produkte einer logischen Analyse oder psychische Tatsachen? Ist die behauptete "Priorität" eine zeitliche (des psychischen Geschehens) oder begriffliche (der logischen Ordnung)? Oder ist vielleicht, horrible dictu [es ist furchtbar, dies sagen zu müssen - wp], das A priori, wie es verwendet wird, etwas von beiden oder eins nach dem andern, und beruth die ganze aprioristische Theorie der Axiome auf dieser Grundverwirrung?

Es wäre natürlich sehr angenehm, könnten wir diese Frage durch die Berufung auf eine Autorität beantworten, wenn wir etwa bei KANT oder bei einigen seiner Anhänger und Ausleger eine unzweideutige und endgültige Lösung des Problems finden könnten. Leider sind aber KANTs eigene Äußerungen so dunkel, mehrdeutig und inkonsequent, und weichen seine Schüler so voneinander ab, daß uns dieser kurze und leichte Weg versperrt ist, so daß wir die längere und vielleicht auch bessere Methode des Ausdenkens der logischen Möglichkeiten jeder Auffassung wählen müssen.

14. Ich werde demnach mit der Auslegung des A priori als eines Elements der logischen Analyse beginnen, die im Ganzen als die am Besten bezeugte und haltbarste auftritt.

Betrachten wir das A priori als das Resultat einer logischen Untersuchung, als das Produkt einer logischen Analyse, welche darlegt, wie die Entstehung der Erkenntnis aus ihren konstituierenden Faktoren zu denken ist, wenn die Welt begreiflich sein, d. h. unsere logischen Ideale befriedigen soll, dann ist das erste, dessen Erklärung wir wünschen, dies: Wie kommen wir zu diesen Faktoren? Nach der kantischen Analyse entspringt die Erkenntnis aus der Vereinigung heterogener [ungleichartiger - wp] Elemente, Empfindung und Denken, deren erstes den Stoff, deren zweites die Form des Erkennens liefert. Aber was verbürgt denn die kantische Gegenüberstellung von Stoff und Form, Empfindung und Denken in dem Maße, daß sie jeden nötigt, in seiner Analyse der Erkenntnis von ihr auszugehen? Warum steht es uns nicht frei, unsere Analyse in beliebiger Weise und nach Prinzipien, die uns als die zweckmäßigsten erscheinen, vorzunehmen? Weshalb sollen wir auf die kantischen Faktoren angewiesen sein? Hat nicht SHADWORTH HODGSON kürzlich (in seiner "Metaphysic of Experience") gezeigt, daß es möglich ist, eine ebenso kunstvolle und sorgfältige logische Analyse wie die kantische - mit der sie freilich vielleicht die Unsicherheit des Abschlusses teilt - aufzubauen, ohne zu apriorischen Prinzipien seine Zuflucht nehmen zu müssen? Oder kommen wir nicht noch besser auf ARISTOTELES zurück und finden in seiner Gegenüberstellung des Mittel- und Unmittelbaren, Diskursiven und Intuitiven die Grundlage für eine theoretisch ebenso berechtigte und praktisch weit fruchtbarere Analyse? Kurz: ist es nicht ein unvermeidlicher methodischer Mangel eines "erkenntnistheoretischen" Arguments, daß es auf einer willkürlichen Auswahl der Grundannahmen basieren muß?

Soweit ich ersehen kann, lassen sich die ausschließlichen Ansprüche der kantischen Analyse nur auf zweierlei Weise rechtfertigen. Man könnte behaupten, daß die Anerkennung ihrer Wahrheit selbst eine apriorische Denknotwendigkeit ist. Oder aber man könnte erklären, ihre Richtigkeit werde durch ihre Leistungen verbürgt, indem wir auf der Grundlage weiterer Erfahrung finden, daß sie uns befähigt, alle beobachteten Eigentümlichkeiten unserer Erkenntnis verständlich zu machen.

Unterliegt aber nicht die erste dieser Rechtfertigungen dem treffenden Einwand, daß sie sich einer Erschleichung schuldig macht und nichts ist als ein Zirkelschluß, welcher die grundlose Behauptung einer Denknotwendigkeit in einen logischen Grund für dieselbe Behauptung zu verwandeln sucht?

Die zweite Entgegnung scheint drei Einwürfe gegen sich zu haben. Erstens ist sie nicht zwingen; daß eine Theorie hinreichend ist, beweist noch nicht, daß nur sie genügt, mögen wir auch praktisch keinen Anlaß zu ihrer Kritik haben. Ist es, zweitens, nicht ausgesprochen empiristisch gedacht und mit der Würde des Apriorismus unvereinbar, wenn man eine Art transzendentaler "Belohnung je nach Erfolg" in die Schätzung theoretischer Probleme einführt? Und drittens, wird es, wenn dem so ist, notwendig, wenn auch nicht leicht sein, zu zeigen, daß die kantische Erkenntnislehre tatsächlich das ganze Problem vollständig und befriedigend löst. Voraussichtlich aber werden die ausgezeichneten Denker, welche ihr Leben damit zubrachten, die Notwendigkeit, über KANT hinaus zu FICHTE oder HEGEL oder HERBART oder SCHOPENHAUER fortzuschreiten, weil sie stets offenkundige Mängel im kantischen System entdeckten, keine Lust haben, den kantischen Standpunkt auf diese Weise zu verteidigen, wenn er auch ihre verschiedenen Systeme mit einer gemeinsamen Grundlage versehen hat. Entweder müssen wir leugnen, daß die Richtigkeit der kantischen Analyse durch ihre evidente Vollständigkeit, durch die sonnenklare Augenscheinlichkeit ihrer Konstruktionen bewiesen wird, oder wir müssen erklären, daß die ganze Reihe von Philosophen, die von KANT ausgingen, hoffnungslos fehlgegangen sind.

Aber schließlich ist es nicht unsere Sache, zwischen den reizlosen Alternativen dieses Dilemma zu entscheiden. Es mag die kantische Analyse der Erkenntnis vollkommen sein und seine Nachfolger mögen darin geirrt haben, daß sie sie verbesserten, sie mag total falsch sein und seine Nachfolger mögen darin geirrt haben, daß sie sie beibehielten; was uns jetzt beschäftigt, ist die Frage: was verbürgt uns die Richtigkeit ihrer Voraussetzungen? Wir wenden uns demnach der Geschichte der Philosophie zu und forschen, woher KANT die Voraussetzungen seiner Analyse tatsächlich entnommen hat.

15. Ich fürchte sehr, die Antwort wird befremdend ausfallen. KANTs ganzes System scheint auf Psychologie zu beruhen, und noch dazu auf der Psychologie seiner Zeit. Wie aber läßt sich dies mit dem Eifer vereinbaren, mit dem die herrschende Schule der KANT-Forscher gepredigt hat, Erkenntnistheorie und Psychologie hätten miteinander nichts zu tun und die erstere müsse sich von jeder Befleckung durch die andere reinhalten? Nachdem es uns so lange und fleißig eingepaukt worden ist, daß die Zuhilfenahme der Psychologie die einzige Todsünde ist, die der gute Erkenntnistheoretiker zu verabscheuen hat, daß die Psychologie das verruchte Reich HUMEs, MILLs und des Teufels ist, müssen wir da nicht mit Recht befremdet sein, wenn wir finden, daß KANT selbst sein Lebenselexier aus diesem Höllenbräu destilliert hat? Ist es dann nicht unterträglich, uns zu zwingen, psychologische Voraussetzungen über die Natur des Geistes heranzuziehen? Denn mag es auch zulässig sein, sich von einem Feind belehren zu lassen, so wissen wir doch, es ist klug, die Danaer zu fürchten, auch wenn sie Geschenke bringen.

Und doch sind die Tatsachen kaum abzuleugnen. Ist nicht der Gegensatz des "Stoffes" der Empfindung und der "Form" des Denkens die alte psychologische Unterscheidung bei PLATO? Ist ferner nicht oft dargetan worden, daß die kantische Lehre in ihrem Begriff der "Mannigfaltigkeit der Empfindung" alle Fiktionen einer empiristischen Psychologie voraussetzt und eben den psychologischen Atomismus einschließt, dessen Unbrauchbarkeit die ganze folgende Geschichte der Philosophie gezeigt hat und der sich schon der einfachsten Selbstbeobachtung als falsch erweist? Und bricht nicht die kantische Erkenntnistheorie eben deshalb zusammen, weil sie in ihrem Atomismus HUME vergeblich und irrtümlich folgt und sogar übertrifft, indem sie eine gänzlich form- und grundlose hyle von Empfindungen annimmt, welche der ganze A-priori-Apparat niemals richtig zu formen vermag?

Was nun KANT dieser psychologischen Mischung von platonischen Dualismus und HUMEschen Atomismus zusetzt, ist eine ebenso unoriginelle Zutat. Sie besteht bloß in einer großen Anzahl von ad hoc [aus dem Augenblick heraus - wp] erfundenen Seelenvermögen, denen die Funktion zufällt - deren Gelingen wir ihnen trotz aller Versicherung nicht zutrauen können - den formlosen Stoff, der ihnen gegeben ist, zu organisieren. Verfällt aber die kantische Theorie nicht dadurch in einen weiteren psychologischen Fehler, den der veralteten und nichtigen Lehre von den Seelenvermögen? Und was könnten wir schließlich erwidern, ja, wie sollen wir nur unseren Beifall verheimlichen können, sollte sich ein enfant terrible [Sorgenkind - wp] erheben und erklären, es sei die kantische Erkenntnislehre, weit entfernt sich von aller Psychologie rein zu erhalten, in Wahrheit nur eine Fehlgeburt aus der Verbindung der Vermögenspsychologie mit dem HUMEschen Atomismus?

Es ist mir nie gelungen, von Aprioristen zu erfahren, wie sie sich das Verhältnis ihrer logischen Analyse zum psychischen Geschehen, d. h. zum wirklichen Erfahrungsprozeß denken. Findet aber, wie die Erfahrung lehrt, ein solches Verhältnis unvermeidlich statt, so müssen wir zumindest verlagen, daß dasselbe klar und verständlich gemacht wird. Es kann ferner mit Fug verlangt werden, daß man sich, wenn eine Erkenntnistheorie nicht umhin kann, sich auf Voraussetzungen betreffs der tatsächlichen Natur des Bewußtseins zu berufen, an psychologische Beschreibungen bester und neuester Art hält, ehe man versucht zu bestimmen, was für über- oder außerpsychologische Prinzipien in der Erkenntnis liegen.

16. Der Versuch, das Apriori als eine von psychologischen Tatsachen unabhängige logische Analyse zu konstruieren, erscheint demnach nicht durchführbar und kann nicht wirklich die Zuhilfenahme willkürlicher und verworfener psychologischer Annahmen ersparen. Die Schwierigkeiten dieser Theorie hören hier aber noch nicht auf. Wäre es uns selbst irgendwie, durch einen geistigen Einfluß aus einer noumenalen Welt unterstützt, gelungen, eine vollständige Erklärung der Erkenntnisstruktur zustande zu bringen, welche jedes logische Bedürfnis befriedigt, vollkommen arbeitet und auf alle mögliche Erkenntnis anwendbar wäre, so hätten wir erst einen ästhetischen und noch keinen logischen Vorteil errungen. Unsere Erkenntnistheorie wäre, weil umfassend und symmetrisch, schön; wäre sie aber auch unbestreitbar richtig? Könnten wir uns nicht einen anderen Philosophen denken, der mit ebenso phantasievollem Überblick unserer allerliebsten Konstruktion Konkurrenz macht und es vielleicht erreicht, sie durch eine Rivalin aus dem Feld zu schlagen, welche von anderen Annahmen ausgehend, in anderer Weise aufgebaut ist und ihre Vorgängerinnen an Vollständigkeit, Einfachheit und ästhetischer Harmonie übertrifft?

Theoretisch zumindest wären beliebig viele Erkenntnisanalysen dieser Art möglich. Sie haben ja nur imaginäre logische Systeme zu konstruieren, nur zu beschreiben, wie man sich die Erkenntnis als zusammengesetzt denken kann, ohne eine Beschränkung in der Wahl angenommener Prinzipien und ohne Rücksicht auf das tatsächliche Geschehen. Es bedürfte daher des Machtspruchs eines absoluten und unfehlbaren Alleinherrschers des Gedankenreiches, um für eine aufgrund ihrer Einfachheit, ästhetischer Vollständigkeit, oder praktischen Wertes bevorzugte Auffassung des Apriori ein Monopol erkenntnistheoretischer Erklärung zu sichern.

17. Doch mag auch dies zugestanden werden. Ich will nachgiebig sein, will nicht kritteln und mäkeln und das Recht von Gottes Gnaden KANTs und seiner Dynastie nicht anfechten - er hat ja eine zu große Leibwache von Philosophieprofessoren.

Nur will ich noch eine Konsequenz des Versuchs, das Apriori logisch, ohne Bezugnahme auf die Psychologie zu konstruieren, hervorheben. Die Priorität ist hiernach nicht zeitlicher Art; denn es handelt sich um eine rein logische Analyse. Die wirkliche Erkenntnis, die der Erkenntniskritiker zu analysieren vorgibt, ist somit die wirkliche Tatsache und geht der Analyse voran. Sie ist also die wahre Voraussetzung der Analyse, welche in ihr ein apriorisches und aposteriorisches Element entdeckt. So sind im wirklichen Geschehen die apriorischen und aposteriorischen Elemente der Erkenntnis gleichzeitig und gleich unentbehrlich, wenn sie auch nicht als gleichwertig gelten. Es ist also die Priorität des Apriori bloße eine auszeichnende Priorität des Vorrangs. Apriori und a posteriori bezeichnen also nicht als den Beifall und die Mißbilligung, die wir gewillt sind, Faktoren zu erteilen, die es uns in ein und demselben Erkenntnisakt zu untnerscheiden gefällt. In der konkreten Wirklichkeit sind sie miteinander verschmolzen; da gibt es keine Form ohne Stoff, keinen Stoff ohne Form (ARISTOTELES, Nikomachische Ethik, X, 4, 11).

Verhält sich dies so, dann kann ich für mein Leben nicht einsehen, warum der Unterscheidung des Apriori und Aposteriori, ja auch der ganzen Erkenntniskritik, eine solche ungeheure Bedeutung zuerkannt werden muß; auch nicht, warum die Benennung und der Vorrang solcher Abstraktionen für das philosophische Heil unentbehrlich sein soll. Was hindert uns nun, aus der ganzen Erörterung den Schluß zu ziehen, daß das Verfahren und die Terminologie unserer erkenntniskritischen Analyse willkürlich und gleichgültig ist, und daß der wirkliche Prüfstein der Wahrheit nicht aus vorweg getroffenen Unterscheidungen, sondern a posteriori und empirisch aus ihrer Wirksamkeit zu entnehmen ist?

18. Was die kantische Erkenntniskritik betrifft, so läßt sich die Frage darauf zuspitzen, ob sie leistungsfähig und ob sie die einfachste und treffendste Analyse ist, die sich denken läßt. Läßt sich die Frage zu ihren Gunsten entscheiden, so mag sie immerhin als wahr bezeichnet werden, in dem einzigen Sinn, in dem Sterbliche vernünftigerweise von Wahrheit sprechen können; sie sei sonst endgültig in das "Kuriositäten-Kabinett" verwiesen, welches Professor JAMES für die plumpen Einfälle einer veralteten Philosophie so ergötzlich vorgeschlagen hat (9).

Nun ist dies eine Frage, die ich nicht im Namen anderer beantworten kann, ohne eine genaue Kenntnis ihrer Geschmacksrichtungen und Denkgewohnheiten zu haben. Ich für meinen Teil aber hege gegen die kantische Erkenntniskritik schon lange ähnliche Gefühle, wie einst Alfons der Weise gegen die ptolemäische Astronomie, als er sich deren wachsende Komplikationen vergegenwärtigte. Und könnte ich durch Beschwörungen oder Widerrufe den Urheber der Vernunftkritik dazu verleiten, die Gesellschaft und das otium cum dignitate [würdevolle Muße - wp] des Dings-ansich zu verlassen, so würde ich meinen Gefühlen etwa durch folgende Anrede Luft machen:
    "Großmächtiger Herr über beide Welten und beide Arten der Vernunft, Denker der Noumena, Seher der Phänomena, Schematisierer der Kategorien, Betrachter der reinen Anschauungsformen, einziger Synthetiker der Apperzeptionen, Erhalter aller Antinomien, alleszermalmender Vernichter theoretischer Götter und rationaler Psychologien, ich beschwöre dich bei diesen oder anderen deiner Titel, durch welche du die unvergängliche Dankbarkeit zahlloser Kommentatoren verdient hast: Konntest du nicht die Theorie unseres Denkens klarer und einfacher gestalten?"
19. Hier wäre es für kluge Anhänger des Apriori an der Zeit, die Stellung zu wechseln und eine andere Deutung ihrer Meinung zu versuchen. Ich erwarte, daß man mir recht unverblümt sagen wird, ich hätte KANT mißverstanden und verleumdet und hätte gegen das geheiligte Bild der unwandelbaren Wahrheit, das er aufstellte, gelästert. Erkenntniskritik sei nicht der willkürliche Zeitvertreib einer müßigen Einbildungskraft, tausendfach endechromenon allos echrein [etwas, das nicht anders sein kann - wp]. Apriorische Wahrheiten seien Tatsachen, die nicht anders sein oder gedacht werden können und ohne die keine weitere Erkenntnis bestehen oder gedacht werden kann.

"Du wirst doch gewiß nicht leugnen", wird man mir entrüstet sagen, "daß du nach dem Grundsatz der Identität denkst, daß du die Kategorien der Substanz und Kausalität aussagst, daß du deine Erfahrungen auf eine synthetische Einheit der Apperzeption beziehst, sie in Raum und Zeit verknüpfst? Wir bezeichnen diese Funktionen als apriorisch, um anzuzeigen, daß wir ohne sie keinerlei Erkenntnis oder Erfahrung von etwas haben können."

Also gut: fassen wir die apriorischen Wahrheiten als Tatsachen auf. Kann ich sie nur unter dieser Bedingung benutzen, dann will ich lieber vor ihnen im Staub kriechen, als daß mir das Licht ihrer Gunst entzogen würde und ich in die tiefste Dunkelheit versetzt würde. Doch will ich hoffen, daß das besagte Licht nicht so blendend ist, daß ich ihre Züge nicht zu erfassen vermag. Es sei mir daher gestattet, ihnen zu folgen und mich in ihrer Schönheit zu sonnen.

Die apriorischen Axiome sind also Tatsachen, wirkliche, feste, wahrnehmbare geistige Tatsachen, und wehe dem Philosophen, der mit ihnen in Konflikt gerät! Kurz: sie sind psychische Tatsachen sicherster Art.

Meine Freude an der Auffindung eines Faßbaren unter einer so dunklen Terminologie ist so aufrichtig, daß ich es nicht über mich bringe, die psychologische Beglaubigung dieser Tatsachen der Kritik zu unterziehen. Verzichten wir also auf die vorhin diskutierte Frage, ob sie auch immer mit psychologischer Genauigkeit und mittels der besten psychologischen Formel beschrieben worden sind. Ich übergehe auch die verwandte Frage, ob ihre Darlegungen ausreichen, sie unzweideutig von ihren diskreditierten Vorgängerinnen, den angeborenen Ideen, zu unterscheiden, die wir alle seit LOCKE zu verleugnen gelernt haben. Ebenso lasse ich das zweifellose Problem beiseite, wie nun die Erkenntnistheorie vor ihrer Auflösung in Psychologie zu bewahren ist. Denn ich möchte nicht den Sykophanten [Verleumder - wp] gegen ein Argument spielen, welches begreiflich zu werden verspricht.

20. Natürlich aber kann ich nicht übersehen, daß wahrnehmbare psychische Tatsachen eine Geschichte haben. Daher lassen sich apriorischen Axiome historisch und psychologisch betrachten; und da flüstert der Kammerdiener in mir, es werde sich vielleicht herausstellen, daß sie nicht immer solche überirdische Halbgöttinnen waren, als welche sie jetzt auftreten, sondern sich aus ganz einfachen und niedrigen Anfängen zu ihrer jetzigen erlauchten Höhe erhoben haben. Ich beschatte also meine Augen, prüfe ihre Züge, und nun beginne ich zu unterscheiden. Sie scheinen nicht alle von gleichem Alter oder Rang zu sein. Einige sind, mit PLATO zu reden presbeia kai dynamei hyperechontos [etwas an Würde und Macht Vorzügliches - wp]. Manche scheinen in historischen Zeiten in das Pantheon aufgenommen zu sein, während andere in den Hintergrund oder gar in den Tartarus gedrängt worden sind. Schatten PLATOs, sprich: Ist nicht einmal die überhimmlische Welt der Ideen dem Wechsel entzogen? Wahrlich nein, ihr Verhalten ist nicht gleichartig und, ich schwöre es bei Aphrodite, einige scheinen mir geschminkt und unvermögend, die Verwüstungen des Alters zu verbergen.

Die Durchführung des Bildes wäre zu peinlich, aber bei dem, was es besagt, muß ich bleiben. Sind die apriorischen Axiome in irgendeinem Sinn psychische Tatsachen oder in solchen enthalten, so hat jede von ihnen eine theoretisch verfolgbare Geschichte, welche in vielen Fällen ihrem Antlitz deutlich aufgedrückt ist. Sie sind komplizierte Erzeugnisse, welche dem philosophischen Denken Probleme darbieten, keineswegs aber Lösungen des Erkenntnis- oder eines anderen Problems.

Wer also deren Analyse - sei es historisch, durch die Aufzeigung der Zeit und der Art ihres Ursprungs, oder logisch, durch eine systematische Verknüpfung und Ableitung derselben aus anderen Faktoren unserer Natur oder endlich mittels der gemischten Methode, zu welcher die Lücken unseres Erkennens uns wahrscheinlich noch lange nötigen werden, d. h. durch Ergänzung und Ausfüllung wirklicher Beobachtung durch die Hypothese - weiter führt, wird der Philosophie gute Dienste leisten, auch wenn er das Dogma der wörtlichen Inspiration des kantischen Kritizismus wird opfern müssen.

21. Jede solche weitere Untersuchung der Axiome ist demnach unbedingt einer Ansicht vorzuziehen, die sich damit begnügt, sie als unüberwindliche, unauflösliche, unbestreitbare, letzte Tatsachen stehen zu lassen, welche durch ihre Unbegreiflichkeit den Fortschritt der Wissenschaft zu behindern. Denn was kann mehr entmutigen als die Vorfindung dieser geschlossenen Reihe apriorischer "Denknotwendigkeiten", verschanzt hinter geschickt ersonnenen Hindernissen der Terminologie und es ablehnend, jegliche Erklärung anzunehmen oder abzugeben?

Können wir denn, solange wir ihre Ansprüche dulden, wirklich sagen, wir hätten das Wesen der Erkenntnis überhaupt erklärt? Was leisten sie uns denn in dieser Beziehung? Etwa mehr, als daß sie den konkreten Prozeß des wirklichen Erkennens als mataia eide [vergeblich sah er - wp] sinnlos verdoppeln? Bestenfalls erscheinen sie als die capita mortua [nutzlose Überbleibsel - wp] einer toten Vermögenspsychologie, die uns eine tautologische "Fähigkeit" statt der Wirklichkeit, deren Erklärung wir wünschen, bietet.

Ich habe die Erfahrung einer räumlichen Ausdehnung - weil ich die "reine" Fähigkeit der Raumanschauung besitze! Ich erfahre das Nacheinander - weil ich die "reine" Form der leeren Zeit habe! Ich beziehe meine Erfahrung auf mein "Ich", und als Erklärung wird diese Funktion im Namen der synthetischen Einheit der Apperzeption umgetauft!

Natürlich ist es mir bekannt, daß vKANT selbst sich gegen diese Deutung und die Kritik, die sie hervorruft, gesichert glaubt, indem er leugnet, daß die "reine Anschauung" von Raum und Zeit nur in dem Sinn apriorisch ist, in dem es z. B. der Farbsinn gegenüber der Farbempfindung ist. Ich würde aber sein Recht, dies zu tun, bestreiten und behaupten, daß, wenn es ihm gelang, einen Unterschied zu verzeichnen, er dies nur kann, wenn die "reine Anschauung" der Erfahrung im schlechten Sinn der "angeborenen Idee" vorangeht.

22. "Aber beruth nicht diese ganze Anklage auf einer Weigerung, die Axiome als letztes anzuerkennen? Und was willst du dadurch gewinnen? Denn du willst dich doch gewiß nicht weigern, irgendwo etwas als ursprünglich anzunehmen? Und was paßt dazu besser als das Korps der notwendigen Wahrheiten?"

Ich bin gewiß nicht gewillt, die Existenz eines Haltepunktes zu bestreiten. Jede Untersuchung muß irgendwo beginnen und enden. Nur möchte ich nicht zugeben, daß wir nicht umhin können, bei den "notwendigen Wahrheiten" stehen zu bleiben. Und ich betone, wenn eine Tatsache (natürlich aus dem gleichen Gebiet) mittels einer Methode als letzte erscheint, welche mittels einer andern noch weiter analysiert werden kann, dann ist die letztere Methode logisch überlegen. Und ich behaupte ferner, daß die sogenannten apriorischen Wahrheiten nicht den Eindruck des Ursprünglichen machen, und daß es sehr nachteilig ist, sie als ein solches zu behandeln. Ich gehe daran, nachzuweisen, daß sie sich bei genauer Untersuchung als abgeleitet herausstellen, und daß eine Erkenntnis ihrer Herkunft die Achtung und Neigung, die wir ihnen erweisen, nur steigern kann.

Es zeigt sich also, daß, wenn die apriorische Wahrheit als psychische Tatsache genommen wird, es willkürlich ist, sie als ein Letztes zu behandeln und daß wir allen Grund haben, sie mit dem übrigen Bestand unserer geistigen Verfassung zu verknüpfen. Wir haben damit den Beweis erledigt, daß die aprioristische Beschreibung unserer axiomatischen Prinzipien, wie auch immer konsequent sie gefaßt wird, ungültig ist.

23. Sie wird aber nie konsequent gefaßt. Weder bei KANT, noch bei irgendeinem seiner Nachfolger wird irgendeine Deutung des Apriori konsequent festgehalten. Erheben sich Einwände gegen das offenbar Fiktive ihrer psychologischen Grundlagen, dann wird alle Verbindung mit der Psychologie entrüstet geleugnet. Betrachtet man kraft dieser Absage die ganze Erkenntnistheorie, als einen hübschen Bau, der sich nur logischen Normen von formaler Konsequenz zu fügen braucht, dann wird uns die aktuale Wirklichkeit und der tatsächliche Gebrauch der Axiome entgegengehalten.

Das Schlimmste dabei ist die Unvermeidlichkeit dieses zweideutigen Verhaltens; es gehört wesentlich zum ganzen Standpunkt der Erkenntnistheorie. Es bleibt kein Platz für einen besonderen Standpunkt einer besonderen Erkenntnistheorie, sobald wir der Psychologie und Logik das ganze Gebiet einräumen, welches jede dieser Disziplinen innehaben kann und muß. In der sogenannten Erkenntnistheorie ist das erste Problem ein rein psychologisches, nämlich die Frage nach der korrektesten und tauglichsten Beschreibung der tatsächlichen Erkenntnisakte, also eine Frage nach dem psychologischen Tatbestand. Der Logik wiederum fällt die Wertung aller dieser Erkenntnisfunktionen zu; alle Fragen wie: ob die Urteile, welche auf Wahrheit einen Anspruch erheben, sie auch wirklich erreichen, wie Erkenntnisse konsequent zu gestalten sind, wie sie die Ziele unseres Erkennens verwirklichen und den Idealen, die wir uns im Erkennen setzen, entsprechen können, fallen in den Bereich derjenigen Wissenschaft, welche darauf ausgeht, unsere Erkenntnisse zu einem zusammenhängenden System von Wahrheiten zu verknüpfen. Was bleibt zwischen den beiden noch der Erkenntnistheorie übrig? Von welchem Gesichtspunkt und zu welchem Zweck läßt sich die Erkenntnis noch behandeln, wenn sowohl die Tatsachen als deren Wertung schon anderweitig erledigt worden sind? Die Erkenntnistheorie ist keine normative Wissenschaft wie die Logik und keine deskriptive wie die Psychologie. Und so wichtig auch die "kritische" Frage: wie ist Erkenntnis möglich? ansich sein mag, so genügt sie doch noch nicht, um eine eigene Wissenschaft zu begründen. Denn diese Frage läßt sich nicht beantworten, wenn sie nicht auf dem Boden bestimmter Tatsachen und im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel gestellt wird. Und stets wird die Antwort darauf in Ausdrücken der Psychologie oder der Logik gegeben.

23 a) (10) Das Traurigste aber am Mißlingen der ganzen riesigen Gedankenarbeit KANTs ist jedoch, daß dabei schließlich doch keine wirkliche Beantwortung der Frage HUMEs herauskommt. HUME könnte, ironisch lächelnd, dem ganzen Gedankenbau seine Zustimmung erteilen, ohne deshalb seine psychologische Frage im Mindesten für erledigt zu halten. Er könnte ruhig sagen, er habe die Frage aufgeworfen, wie wir zu dem Glauben kommen, daß zukünftige Erfahrungen den vergangenen gleichen müßten und somit sichergestellt sind. KANT hat nun allerdings versucht, diese Frage in ein anderes Gebiet hinüberzuspielen, indem er behauptet hat, daß eine erkenntniskritische Untersuchung keiner psychologischen Voraussetzungen bedarf. Tatsächlich aber beruth die ganze Fragestellung doch auf einer psychologischen Voraussetzung, nämlich auf der Beschaffenheit von KANTs eigenem Geist. Die Wahrheit des Apriorismus sei doch eine Wahrheit, die von einem menschlichen Geist entdeckt und von anderen ähnlichen annehmbar befunden worden ist. Sowohl diese Entdeckung sowie ihre beifällige Aufnahme sind doch psychische Tatsachen. Es ist eine psychische Tatsache, daß eine ganze Anzahl Kantianer der kantischen Analyse der Erkenntnis Glauben geschenkt hätten. Daß es gegenwärtig Geister gibt, deren Bildung und Denkgewohnheiten sie zum Glauben an das Apriori antrieben, ist deshalb ebenfalls eine psychische Tatsache.

Ferner sind dies psychische Tatsachen wie alle anderen. Sie gelten nicht einmal vom menschlichen Geist überhaupt: Es gibt tatsächlich Menschen, denen KANTs Ausführungen nicht beweiskräftig erschienen und die nicht daran glaubten. Selbst aber wenn alle zugäben, daß sie es für denknotwendig halten, der kantischen Auffassung beizupflichten, so würde das noch nichts für die Wahrheit beweisen.

Was die Zukunft anbelangt, beweist dies Nichts, denn was verbürgt denn, daß alle auch zukünftig fortfahren müßten, so zu denken wie heutzutage? Es ist doch denkbar (ja selbst wahrscheinlich) daß die Entwicklung des menschlichen Geistes noch nicht beendet ist und daß sich noch Weiterbildungen fortsetzen werden. Es könnten neue Kategorien erblühen, neue Formen apriorischer Funktionen, welche die alten zu entwerten und zu ersetzen vermögen. Jedenfalls ist es nicht statthaft, derartige Möglichkeiten a priori abzuleugnen. Die Gewißheit des ewigen Fortbestehens des A priori ist also, von der subjektiven Seite aus betrachtet, illusorisch.

Man könnte aber auch vom Objekt ausgehen und zum demselben Ergebnis gelangen. Hat KANT recht, so ist die Natur gegenwärtig so gebildet, daß sie sich den Anforderungen unserer Denkkategorien fügt. Fragen wir aber, weshalb das so ist, so erhalten wir nur die Antwort, es muß einfach so sein, weil der Geist allem ihm Gegebenen seine Formen aufzwingt. Warum aber verhält sich der Stoff nicht spröder und widerstandsfähiger gegen diese Formen? Daß alles Gegebene sich in unsere Gedankenformen einreihen läßt, ist doch schließlich nur eine empirische Tatsache. Wie aber sind wir imstande zu wissen, daß dieser günstigen Sachlage eine ewige Fortdauer bestimmt ist? Wie können wir wissen, daß nicht einmal dem get="_blank">Gegebene sich in unsere Gedankenformen einreihen läßt, ist doch schließlich nur eine empirische Tatsache. Wie aber sind wir imstande zu wissen, daß dieser günstigen Sachlage eine ewige Fortdauer bestimmt ist? Wie können wir wissen, daß nicht einmal dem Geist ein so spröder Stoff entgegentreten wird, daß die reinen Formen der Anschauung entsetzt davon zurückprallen würden, daß die Kategorien vergebens gegen ihn ins Feld ziehen, ja daß selbst die synthetische Einheit der Apperzeption sich in ein tolles Wirrwarr von Doppelt- und Halb-Bewußtseinen zersplittern müßte? Ferner ist nicht zu vergessen, daß die Wirklichkeit des Wandels fähig ist und daß uns die Erfahrung allein befähigt, das Maß und die Richtung ihrer Verwandlungen, wenn auch nur annähernd, vorauszusehen.

Kurz: es kann die gegenwärtig bestehende Gültigkeit der kantischen Analyse niemals mehr als eine empirische Wahrheit darstellen. Sie setzt voraus, daß die "Zukunft der Vergangenheit gleichen wird"; doch wird diese Voraussetzung weder erwähnt (11) noch erhärtet. Wir können unmöglich a priori sicher sein, daß die apriorische Theorie, welche gegenwärtig wahr erscheint, es auch auf alle Zeiten bleiben wird. Und selbst wenn wir eine solche Sicherheit empfänden, d. h. glauben, daß wir ein ewiges apriorisches Wissen besitzen, brächte uns das nicht weiter. Denn es wäre dies nur noch eine weitere tatsächliche psychische Beschaffenheit jedes Geistes, der so denkt. Wir müßten uns also zu der Behauptung einer unendlichen Reihe solcher apriorischen Wahrheiten bequemen, wovon jede es versucht, die ferneren zu verbürgen, doch vergeblich, weil keine dem Schicksal entrinnen könnte, selber als eine bloß psychische Tatsache behandelt zu werden.

Ist dem aber so, so wird die Allgemeinheit und Notwendigkeit des A priori doch schließlich zu der bloß komparativen Allgemeinheit herabgedrückt, die, wie KANT selbst so vortrefflich nachgewiesen hat, von keiner der Induktion entsprossenen Regel überstiegen werden kann (12). Man wird höchstens sagen können, daß bisher noch kein Geist angetroffen wurde, der den kantischen Kategorien seine Anerkennung verweigerte; man wird nur sagen können, daß es bisher keine Erlebnisse gegeben hat, die sich nicht in die apriorischen Formen einordnen ließen. Voraussichtlich aber verschwindet mit dieser Herabsetzung auf die bescheidene Stellung einer empirischen Erkenntnis schließlich auch der ganze Zauber des kantischen Apriorismus.

24. Das Ergebnis unserer Kritik der zwei herkömmlichen Theorien über das Wesen unserer Axiome geht dahin, daß weder die aprioristische noch die empiristische Auffassung haltbar ist. Beide haben sich als unbefriedigend erwiesen; erstere, weil sie die Axiome als (entweder gänzlich zusammenhangslos oder nur untereinander verknüpfte) bloße Tatsachen unserer geistigen Organisation darstellt, letztere aber als die vorgeblichen Eindrücke einer psychologisch unmöglichen Erfahrung auf einen rein passiven Geist. Und die aprioristische Erklärung wird gerade dadurch, daß sie sich als zwingende und unbestreitbare Tatsache hinstellt, schließlich empiristisch und gibt sich so eine neue Blöße.

Im Grunde genommen entspringt der Mißerfolg beider Theorien aus derselben Quelle. Beide sind mit einem Intellektualismus infiziert, der unsere Natur verleumdet und sie zu einer kurzsichtigen Betrachtung ihrer Fähigkeiten verleitet. Infolge dieses gemeinsamen Intellektualismus verfehlen sie die zentrale Tatsache, die wir stets vorfinden, sobald wir den abstrakten Standpunkt der niederen Disziplinen verlassen und versuchen, unser Verhältnis zur Erfahrung als Ganzes zu fassen: die Tatsache, daß der lebende Organismus als Ganzes tätig ist. Oder wir können diese zentrale Tatsache, welche sowohl der Empirismus wie der Apriorismus gesondert mißdeutet, auch so zerlegen und sagen: der Organismus ist aktiv und er ist einheitlich.

Der Empirismus mit seiner Fiktion der "tabula rasa" versäumt es, den ersten Teil dieses Satzes zu würdigen, d. h. einzusehen, daß sich der Organismus auch in seinen Reaktionen auf seine Umgebung aktiv verhält, in einer durch seine eigene Natur bestimmten selektiven Weise reagiert und durch sein Streben nach einer Harmonie seiner Erfahrung geleitet wird. Sein ganzes Verhalten ist ein solches des Willens und Begehrens, welches zuletzt ein Verlangen nach der Apokalypse eines überirdischen Ideals harmonistischen Gleichgewichts der gesamten Erfahrung ist; der ganze intellektuelle Apparat ist ein Mittel zur Erreichung dieses Ziels (13).

Kurz: das proton pseudos [erster Irrtum, erste Lüge - wp] des älteren Empirismus liegt darin, daß er es versäumt hat, diese Tatsache der Lebenstätigkeit und deren Bedeutung für das Wachstum und die Konstitution des Geistes zu erkennen.

Der Organismus ist ferner einheitlich und reagiert als Ganzes, was wiederum der Apriorismus nicht zu würdigen weiß. In einem grimmigen Kampf ums Dasein brauchen wir alle unsere Kräfte und benötigen wir eine entschlossene Beherrschung aller unserer Lebensbedingungen. Daher kann der Organismus keinen uninteressierten und leidenschaftslosen Intellekt in sich tragen, welcher unbeteiligt über den blutigen Schlachtfeldern der Entwicklung schwebt oder gar vampirartig aus dem Lebensblut des praktisch Strebenden seine parasitische Nahrung saugt. Die Theorie darf nicht von der Praxis geschieden werden, sondern ist mit ihr als Mittel zum Zweck zu verknüpfen; man muß das Denken als aus dem Handeln entsprossen, das Erkennen als ein Erzeugnis des Lebens, den Intellekt als Kind des Willens betrachten, während das Gehirn, das zu einem Werkzeug für die theoretische Betrachtung geworden ist, als das feinste, späteste und mächtigste Organ für die Bewirkung von Anpassungen an die Lebensbedürfnisse anzusehen ist. (14)

So ist es das proton pseudos des Apriorismus, daß er unseren Intellekt getrennt von dessen biologischer und psychologischer Grundlage, von dessen Geschichte, dessen Zielen und der Funktion, die er in der Ökonomie unseres Seins erfüllt, betrachtet. Die Trennung zwischen Erkenntnis und Gefühl macht beide ohnmächtig und ihre tatsächliche Vereinigung unbegreiflich.

Versuchen wir jedoch, die Erfahrung als Ganzes zu erfassen, dann müssen wir uns über die hinderlichen Abstraktionen einer psychologischen Klassifikation, welche die Grenzen ihrer Gültigkeit überschritten hat, hinwegsetzen. Indem wir die Axiome ihrem Wesen nach als Postulate betrachten, die auf einen praktischen Endzweck hinzielen, überbrücken wir die Kluft, welche künstlich zwischen den Funktionen unserer Natur errichtet wurde, und überwinden wir die Fehler des Intellektualismus. Wir betrachten die Axiome als entsprungen aus Bedürfnissen des handelnden Menschen, als veranlaßt durch seine Wünsche, bejaht durch seinen Willen, kurz: als genährt und erhalten durch seine Gefühls- und Willensseite. Es liegt auf der Hand, daß wir auf diese Weise die verschiedenen Faktoren der menschlichen natur inner und fester aneinander knüpfen, als es vorher möglich schien. Unser Wesen ist einheitlich; und was wir auch für Unterschiede setzen, so dürfen wir doch nicht die Einheit vergessen und einen Teil für das Ganze nehmen. Wir eröffnen demgemäß die Aussicht auf eine systematische Vereinheitlichung der Erfahrung in einem weit vollständigeren und befriedigenderen Maß, als es je ein intellektualistischer Philosoph sich konnte träumen lassen. Denn eben wie die Einheit, zu der wir uns jetzt erheben können, und auch müssen, nicht mehr die einer kalten Abstraktion, genannt "reine" Vernunft, ist, so wird die entsprechende Einheit der Welt nicht eine rein intellektuelle Form sein, wie sie jede Welt der Definition nach besitzen muß, sondern eine vollkommene Harmonie unserer ganzen Erfahrung.

25. Es ist eigentümlich, daß wir uns beim Übergang vom Apriori zum Postulat auf KANT als Autorität berufen können, obwohl wir seine charakteristische Lehre einer selbständigen Erkenntnistheorie ablehnen müssen. Denn KANT erkannte vermöge seiner eigentümlichen Größe, deren Anerkennung seine Kritiker ihm nie versagen konnten, teilweise und zu spät den verhängnisvollen Irrtum seines Intellektualismus und die Unmöglichkeit, für das ganze Leben auf der durch die Vernunftkritik beschriebenen Grundlage Platz zu finden. Nachdem er für die "reine Vernunft" eine schaurige und erstaunliche Feste voller Kerker für unlösbare Antinomien [Widersprüche - wp], entthronte Wissenschaften und eingesperrte Ideale, bewohnt und durchschwebt vom Mysterium des Noumenon, errichtet hatte, kam er zum Problem des praktischen Lebens und sah sich unfähig, die sittliche Ordnung analog, d. h. ohne Beziehung auf die Forderungen, welche wir an die Erfahrung stellen, herzustellen.

Er sah sich daher genötigt, das Handeln durch eine Aufstellung ethischer Postulate zu rationalisieren, welche kühn in das verbotene Gebiet des Unerkennbaren übergriffen und eintraten und von da mit reicher Beute: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, zurückkehrten.

Dieses Kunststück ist gar oft unterschätzt worden, weil es KANT so wenig gekostet zu haben scheint, nämlich nur ein Dekret für die Schöpfung eines kaum bemerkten Zusatzes zu der langen Reihe von Seelenvermögen, genannt "praktische Vernunft", ad hoc [spontan - wp] ins Leben gerufen und wie die anderen ihrem Schöpfer gehorsam dienend.

In Wahrheit aber sind die Konsequenzen der Aufstellung des Postulat-Prinzips viel bedeutsamer, und es zeigt sich nach kurzer Überlegung, daß KANT eine Kraft heraufbeschworen hat, die er nicht zu zügeln oder in die Schranken seines Systems einzuschließen vermag. Die unmittelbare Konsequenz der Zulassung ethischer Postulate, welche die "kritischen" Negationen der reinen Vernunft überflügeln, ist ein Konflikt zwischen der reinen Vernunft, welche die Möglichkeit der Erkenntnis der Forderungsobjekte leugnet, und der praktischen Vernunft, welche betont, wir müßten an diese verbotenen Dogmen glauben und nach ihnen handeln. KANT versucht tatsächlich eine willkürliche und unwissenschaftliche Abgrenzung zwischen den beiden Gebieten, welche auf einer psychologisch unhaltbaren Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Glauben (15) beruth; aber auch der nachsichtigste Leser muß die Empfindung haben, daß der Dualismus zwischen reiner und praktischer Vernunft unerträglich und deren Antagonismus unversöhnbar ist, während die zweifache Rolle, welche diese Lehre KANT als dem Zerberus und dem Herakles der noumenalen Welt verleiht, ihn und sein System lächerlich zu machen geeignet ist.

In Berücksichtigung dieser fundamentalen Inkongruenz [Nichtübereinstimmung - wp] zwischen den organisierenden Prinzipien der Erkenntnis und des Handelns hat man zu zwei Auswegen gegriffen. Den ersten wählte die Hauptgruppe der Kantianer, für die der wahre, epochemachende KANT der Verfasser der ersten Vernunftkritik ist. Sie halten die praktische Vernunft für einen kleinen Scherz und erklären KANTs Widerrufung seiner "kritischen" Resultate, entweder witzig wie HEINE oder plump wie - aber nein, zu viele haben darüber geschrieben, als daß ich die Namen nennen könnte!

Die wenigen Getreuen, welche das labile Gleichgewicht der kantischen Stellungnahme zu wahren suchten und seine Versicherung des Primats der praktischen gegenüber der theoretischen Vernunft und deren spekulativen Impotenz hinnahmen, blieben in kläglicher Verwirrung. Sie akzeptierten das Dogma, ohne es begrifflich zu bestimmen, und hatten ein unbehagliches Bewußtsein davon, daß es sich nicht ausdenken läßt.

Doch gab es hier auch eine beachtenswerte Ausnahme. Mit jugendlichen Feuer, Unternehmungsgeist und Mut machte FICHTE mit der praktischen Vernunft Ernst, und indem er die Lehre von ihrer Suprematie mit KANTs Hinweis auf eine gemeinsame Wurzel der beiden Vernunftrichtungen kombinierte, setzte er das Ich als "absolutes Sollen", aus dem das Nicht-Ich wie die praktischen und theoretischen Funktionen abzuleiten waren. Doch bewegt sich die ganze Konstruktion der Wissenschaftslehre in einer metaphysischen Region, die für meine bescheideneren und konkreteren Zwecke zu hoch liegt; ich erwähne sie nur als eine partielle Vorwegnahme des zweiten und besseren Wegs, die Beziehungen zwischen praktischer und theoretischer Vernunft festzulegen. Diesen Weg schlagen wir nun ein.

Es ist unmöglich, sich bei KANTs Kompromiß zu beruhigen und kraft der praktischen Vernunft an das zu glauben, was die theoretische für unerkennbar erklärt. Denn existiert die übersinnliche und noumenale Welt nicht wirklich, dann ist es zwecklos und unmoralisch, uns zu sagen, wir sollten an sie aus sittlichen Gründen glauben; dieser Glaube ist eine Jllusion und wird uns in der Stunde unserer bittersten Not im Stich lassen. Soll der Glaube an die Postulate einen sittlichen oder sonstigen Wert besitzen, so muß er vor allem dazu dienen, die Realität der Objekte, an die wir glauben sollen, zu begründen. Wir können nicht handeln, als ob die Existenz von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit wirklich wäre, wenn wir zugleich wissen, daß sie durchaus unerreichbar und unfaßbar ist. Daher müssen wir wählen. Entweder müssen wir der theoretischen oder aber der praktischen Vernunft trauen; sonst müßten wir mit dem Skeptiker schließen, daß beide durch ihren Konflikt diskreditiert sind.

Wollen wir bei der ersteren verbleiben, so wird die unleugbare Tatsache des sittlichen Bewußtseins die Postulate der praktischen Vernunft nicht vor ihrer Entkräftung bewahren. Sie mag noch so pathetisch oder lächerlich postulieren, so wird doch ihr Wunsch gewährleistet, und sie wird nichts beweisen; sie diskreditiert sich durch die Forderung des Unzulässigen nur selbst. Auf den Einwand, das sittliche Leben müsse sich von unverifizierbaren Hoffnungen näheren, muß die Wissenschaft unbarmherzig antworten: "Je n'en vois pas la nécessité." [Ich sehe keine Notwendigkeit dafür. - wp] Wenn also das sittliche Leben Freiheit verlangt, diese aber unmöglich ist, so muß das sittliche Leben unerbittlich vernichtet werden; dann ist KANT eben der "Alles-zermalmende."

Ist hinwiederum die praktische Vernunft in Wahrheit die höhere, hat sie wirklich das Recht, zu postulieren und sind ethische Postulate wirklich gültig, dann sind wir zu weit mehr verpflichtet, als KANT ahnte. Dann muß das Postulieren zur Erkenntnis führen, ja vielleicht auch Erkenntnis schon ausmachen können; und in der Tat wird es uns leicht einfallen, daß es wirklich eine Wurzel der Erkenntnis ist. Das Postulieren kann nicht auf die Ethik beschränkt werden. Ist das Prinzip gültig, so muß es verallgemeinert und auf alle gestaltenden Prinzipien unseres Lebens angewandt werden. In diesem Fall wird die theoretische Vernunft nicht mehr imstande sein, den Vorrang der praktischen Vernunft streitig zu machen, von der sie eingeschlossen und abgeleitet wird. So ist dann das Postulieren entweder ganz ungültig oder es ist die Grundlage des ganzen theoretischen Überbaus.

Wir sind demnach zu der Behauptung genötigt, daß in letzter Linie unsere praktische Tätigkeit den wahren Schlüssel zum Wesen der Dinge gibt, während die Welt, wie sie der theoretischen Vernunft erscheint, sekundär ist, nämlich die Auffassung von einem künstlichen, abstrakten und beschränkten Standpunkt aus, der ihr von der praktischen Vernunft angewiesen und für die Befriedigung ihrer Zwecke bestimmt ist.

Um aber dieses Programm auszuführen, darf man die Kosten nicht scheuen. Die Kritik der reinen Vernunft muß nicht nur verbessert, sondern neu geschrieben werden, und zwar im Licht des Postulatprinzips. Oder es müssen, wie JAMES WARD treffend auseinandersetzt (Naturalism and Agnosticism, Bd. II, Seite 133), KANTs drei Kritiken zu einer einzigen vereint werden. Das einfachste aber ist es, selbständig zu zeigen, in welcher Weise unsere fundamentalen Axiome postuliert werden, nachdem wir nun die Notwendigkeit des Prinzips und dessen historische Berechtigung dargelegt haben.
LITERATUR: F. C. S. Schiller Humanismus Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie] deutsch von Rudolf Eisler, Leipzig 1911
    Anmerkungen
    1) Natürlich wird diese Tatsache dadurch nicht beeinträchtigt, daß wir, "wüßten wir nur alles", die absolute Bestimmtheit hätten. Denn das ist nur ein Postulat, dazu bestimmt, uns bei unseren Berechnungen guten Mutes zu erhalten und uns die Zukunft voraussehen zu lassen. Wir können vielleicht dazu gelangen, die Verwirklichkung dieses Ideals in einer vollständig bestimmten und befriedigenden Welt zu verwirklichen, aber gegenwärtig ist es nicht wahr, daß für uns als handelnde Wesen alles determiniert ist.
    2) Insofern steht die Logik zur Psychologie in einer solchen Beziehung wie die Morphologie zur Physiologie. Daher ist eine "logische Notwendigkeit" stets in einem psychischen Bedürfnis begründet, entspringt einem solchen und wird durch selbiges ermittelt.
    3) Vgl. WILLIAM JAMES, Will to believe, Seite 28, 61, 103f. Es ist psychologisch richtig, daß nicht bloß unsere Irrtümer, sondern auch unsere Wahrnehmungen von dem abhängen, was wir wahrzunehmen erwarten.
    4) Das ist das gerade Gegenteil von der obigen Auffassung, nach welcher die formende Kraft dem "Geist", der Widerstand der "Materie" zuerkannt wird.
    5) Es ist natürlich ganz klar, daß dies wirklich so empfunden wurde. Der primitive Animismus ist (unter anderen) eine Erklärung des physischen Chaos der Erfahrung durch ein entsprechendes geistiges Chaos, das als leichter beeinflußbar betrachtet wird.
    6) Um dem Einwand zu begegnen, daß die meisten Menschen gar nichts davon wissen, daß sie im Erkennen etwas postulieren, fügen wir hinzu, daß das Postulieren wie das "Experimentieren" auch unter- oder unbewußt erfolgen kann. Eben aus diesem Grund ist ja der Willens- und Forderungscharakter des Seelenlebens so wenig beachtet worden und erscheint dessen Behauptung noch immer als philosophisches Novum. Die Philosophen, welche dagegen sind, argumentieren, sie wüßten doch nichts von einem Postulieren, daher gibt es kein solches. Aber dies ist eine bloße "ignoratio elenchi" [Mißachtung der Widerlegung - wp] und schließt ihren Irrtum nicht aus.
    7) Zuweilen gerät freilich ein für einen Zweck als nützlich angenommener Grundsatz später in Konflikt mit einem anderen. Ein gutes Beispiel dafür gibt das wissenschaftliche Postulat des Determinismus und dessen Beziehungen zur ethischen Forderung der Freiheit. In solchen Fällen besteht die Versuchung, die absolute Allgemeingültigkeit eines oder beider der gegensätzlichen Grundsätze zu leugnen. Besser ist es jedoch, den Konflikt so zu lösen, daß man betont, jeder Grundsatz gelte in Bezug auf den Zweck, für den er angenommen wurde, und es seien daher beide Prinzipien auf ihrem Gebiet und von ihrem Standpunkt allgemeingültig wenn auch eins oder das andere oder beide schließlich umgedeutet werden müssen.
    8) Ich weiß leider sehr wohl, daß der Ausdruck "Notwendigkeit" außerordentlich mehrdeutig ist. Zunächst scheint es, daß wir unterscheiden können:
      1) "absolute" Notwendigkeit ansich, wobei gewöhnlich die "Notwendigkeit" apriorischer Wahrheiten als treffendes Beispiel gilt;
      2) die bedingte Notwendigkeit eines logischen Gedankengangs, in welchem die Konklusion "notwendig" auf ihre Prämissen folgt;
      3) die Notwendigkeit der "notwendigen Bedingungen", unter denen alle Handlungen erfolgen. Dieser Einfluß des gegebenen Materials ist das ou ouk aneu [sine qua non - ohne die nicht | wp] des Aristoteles.
      4) die Notwendigkeit der Mittel für die Zwecke, welche das Notwendige zum "Nötigen" gestaltet;
      5) das seelische Gefühl des "Müssens" oder "Zwanges".
    In Wahrheit sind aber nur die zwei letzten Bedingungen primär und Beschreibungen letzter Tatsachen unserer Geistesstruktur; von ihnen sind die anderen abzuleiten. Das Gefühl der Notwendigkeit (Nr. 5) kann durch mannigfache Umstände ausgelöst werden, durch physischen Zwang, durch Versuche, Wahrnehmungstatsachen zu leugnen oder einen Gedankengang zu unterbrechen, der logisch oder psychologisch (für jedes oder für ein individuelles Bewußtsein) zusammenhängt. Es tritt auf, wenn eine Wollung vereitelt wird, nicht früher; daher scheinen die Notwendigkeit in den Tatsachen und logische Verbindungen nicht ansich "notwendig", sondern nur dann, wenn der Wille das Bedürfnis hat, sie gegen einen Widerstand in der Verfolgung seiner Zwecke zu bejahen. Daß 2 + 2 = 4 sind, besagt nur die Ablehnung eines anderen Resultates; wollen wir bei unserem System arithmetischer Annahmen bleiben und entschließen uns, zu rechnen, dann kann man von uns nicht verlangen, 2 und 2 anders zu addieren. Aber hinter einem "kann nicht" lauert hier stets ein "will nicht". Der Geist kann sich nicht selbst zum Narren halten, weil er nicht auf die Begriffe verzichten will, deren er zur Ordnung seiner Erfahrung bedarf. Daher ist das Gefühl der Notwendigkeit im Grund eine emotionale Begleiterscheinung der gewollten Aufsuchung der Mittel zur Verwirklichung unserer Zwecke (Nr. 4). Und da die Verfolgung von Zwecken nur bei Wesen vorkommt, welche in der Wahl der Mittel beschränkt sind, von Mitteln, die dem widerstrebenden Material (hyle) entnommen werden, so fällt die "Notwendigkeit" der materialen Bedingungen (Nr. 3) mit der der Mittel zusammen. Der Ausdruck "absolute Notwendigkeit" (Nr. 1) ist eine irreführende Bezeichnung, welche einen Selbstwiderspruch einschließt. Denn Notwendigkeit ist stets Abhängigkeit, und das Tatsächliche wird nur dadurch zur "Notwendigkeit", daß ihm ein Grund zugewiesen wird, also durch den Verlust seiner Unabhängigkeit und Annahme eines hypothetischen Charakters. Die hypothetische Denknotwendigkeit aber (Nr. 2), in die sie so übergeht, ist selbst auf die des Mittels zurückführbar. Unser zusammenhängendes System einer "notwendigen Verknüpfung" kann und wird sich als bloßes Mittel für die Verwirklichung unserer Denkziele erweisen und besitzt keine Notwendigkeit unabhängig davon. Niemand muß 2 und 2 = 4 addieren, wenn er nicht addieren muß, d. h. wenn er nicht so addieren will, weil er die Arithmetik nicht braucht.
    9) WILLIAM JAMES, Philosophical Conceptions and Practical Results, Seite 24.
    10) In der deutschen Ausgabe neu dazugekommen.
    11) HUME, Untersuchungen über den menschlichen Verstand, IV, 3
    12) Natürlich nur solange man sich das "Erfahren", wovon man die Induktion abhängig denkt, als ein Erhalten von Eindrücken und nicht als ein Vordringen des Geistes mit Forderungen vorstellt.
    13) Natürlich ist dies nicht völlig der Aufmerksamkeit der Philosophen auch älterer Zeit entgangen, und so können wir uns an Spinozas conatus in suo esse perseverare" [Jedes Ding strebt in seinem Sein zu verharren - wp], an Schopenhauers "Willen zum Leben", auch an Herbarts Auffassung der Vorstellungen als "Selbsterhaltungen" der Seele erinnern. Gegenwärtig verspricht der Voluntarismus den Sieg über den Intellektualismus davonzutragen, indem er von Denkern wie James, Wundt, Ward, Sigwart, Stout, Paulsen, Renauvier, Tönnies, Heinrich Maier, Jerusalem, Goldscheid, Eisler, Münsterberg, Rickert, Höffding, Bergson u. a. vertreten wird. Seit der Niederschrift dieser Zeilen zeigt die kürzlich erschienene posthume Schrift Nietzsches ("Der Wille zur Macht"), daß auch er mehrere Axiome als Postulate auffaßt, die durch ihren Nutzen zu "Wahrheiten" geworden sind und daß ich einige hierher gehörige Aussprüche von ihm hätte zitieren können. Vgl. EISLER, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, dritte Auflage, 1910, Bd. III.
    14) Natürlich liegt in dieser Lehre nicht die Bestreitung der Existenz - wenn auch der Vernünftigkeit - einer "reinen" oder "uninteressierten" Liebe zur Erkenntnis "um ihrer selbst willen". Es kann stets ein gewisses Maß triebhafter Überproduktion geben. Alle unsere Funktionen können ferner pervers werden, und so kann als psychologische Tatsache auch eine solche Perversion des Erkenntnistriebes stattfinden, ja, die Geschichte würde sogar zeigen, daß sie sich im Laufe der Entwicklung erhalten und auch noch steigern kann. Dann ist aber die wahrscheinliche Erklärung dafür die, daß "nutzlose" Erkenntnis nicht ganz so nutzlos ist, wie man meint, und daß in den Geistern, welche ihrer fähig sind, die Liebe zu ihr mit anderen seelischen Eigenschaften verbunden ist, welche nützlich und wertvoll sind.
    15) Wie kann man verhindern, daß Erkenntnis und Glaube einander beeinflussen? Denken wir überhaupt, so wird entweder die Erkenntnis den praktischen Glauben unmöglich machen oder es wird sich die Überzeugung einstellen, daß ein Glaube, dem zufolge wir beständig handeln, der unser ganzes Sein durchdringt und uns nie irreführt, wahr ist. Ich zumindest würde sagen, daß dies der Ursprung und die Bewährung aller Wahrheit gewesen ist. Hingegen hört ein Glaube, der dazu verurteilt ist, ein bloßer Glaube zu bleiben, bald auf, das Handeln zu leiten, d. h. ein eigentlicher Glaube zu sein. Die Geschichte der Religionen ist voll von bedauerlichen Beispielen dafür.