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Zur Psychologie des Rechtsgefühls
Zunächst gilt es, sich über die psychologische Bedeutung des Gefühls überhaupt zu verständigen. "Gefühl" ist ein Wort von außerordentlicher Spannweite, das sich von den mit den unmittelbaren Sinnesempfindungen verknüpften (elementaren) Gefühlen bis zum sogenannten Gemeingefühl und weiter bis zu den intellektuellen und innerhalb dieser letzteren zu den ethischen Gefühlen erstreckt. Daß daher eine übereinstimmende Definition des Gefühls in der psychologischen Literatur nicht anzutreffen ist, kann uns nicht befremden; auch dürfte das Bestreben nach einer solchen, die in befriedigender Weise nur durch den Gesamtinhalt einer Psychologie des Gefühls gegeben werden kann, zumindest verfrüht erscheinen. Nötig erscheint es mir nur, hier von vornherein den falschen Ausgangspunkt eines besonderen Seelenvermögens als eines Gefühlsvermögens, das sich in den angedeutenten Richtungen verzweigt, abzulehnen. Mit Gefühl bezeichnen wir vielmehr eine in ihrer jeweiligen konkreten Eigentümlichkeit nicht weiter zu beschreibende Grunderscheinung des seelischen Lebens, die jede Empfindung und jede Vorstellung d. h. jedes Erinnerungsbild einer Empfindung entweder als angenehm, förderlich, unserer Selbsterhaltung oder gar Daseins-Steigerung angemessen oder umgekehrt als ihr unangemessen, feindlich, unangenehm nuanciert (2). Es erscheint daher wissenschaftlich genauer nicht von Gefühlen schlechthin, sondern da jedes konkrete Gefühl nur eine besondere Qualität bestimmter Empfindungen (Empfindungskomplexe) oder Vorstellungen (Vorstellungskomplexe) ist, von Gefühls &tönen (Gefühlsbetonung) zu reden. Ganz allgemein und - hierauf ist Wert zu legen - ohne Ausnahme - nur eine oberflächliche Selbstbeobachtung kann darüber täuschen (3) - lassen sich nun diese Gefühlstöne mit einem entweder negativen oder positiven Vorzeichen d. h. entweder als Unlust- oder Lustgefühl kennzeichnen. Obwohl sich einzelne Empfindungen oder Vorstellungen der Nullgrenze d. h. der absoluten Gleichgültigkeit nähern mögen, so wird diese Grenze doch niemals erreicht; würde man dies zugeben, so würde das die Möglichkeit ganz abstrakter Vorstellungen oder gleichgültiger Empfindungen bedeuten, eine rein wissenschaftlich theoretische Abstraktion, deren Unwirklichkeit ich eingehender im 1. Kapitel meines "Hochland der Gedankenwelt" (4) erwiesen zu haben glaube. Zunächst ist nun klar, daß wir es bei derjenigen Gattung von Gefühlstönen, die wir ganz allgemein mit dem Wort Rechtsgefühl andeuten, mit rein intellektuellen Gefühlstönen zu schaffen haben, d. h. mit Vorstellungen oder Vorstellungskomplexen, nicht mit unmittelbaren Empfindungen. Festzuhalten ist freilich daran, daß keinerlei aprioristischen oder absoluten Gefühlswerte für irgendwelche Vorstellungen existieren. Vgl. ZIEHEN, Leitfaden der physiologischen Psychologie, Seite 123.
1. Das Rechts gefühl kann erst erwachen durch eine Rechts verletzung, d. h. durch eine Verletzung der Interessen eines Individuums und hat somit eine mit einem negativen Vorzeichen versehene Ursprungsempfindung. Solange es rein individuell bleibt, fällt es in dieser seiner elementarsten Wurzel zusammen mit dem Affekt der Rache. Nehmen wir den der sinnlich anschaulichsten und meines Erachtens primitivsten Fall (auch in der Rechtsgeschichte), den der körperlichen Verletzung. Das von einem Individuum B verletzte Individuum A wird naturgemäß gegen B durch ein Rachegefühl reagieren, das im Grunde nichts anderes ist als ein durch Erinnerungs- und Erwartungsassoziationen motiviertes Bestreben der Selbsterhaltung. Vgl. des näheren meine "Natürliche Grundlaen des Rechts und der Politik", Seite 181f. (Es setzt voraus, daß nach Ablauf der verletzenden Handlung der Verletzer und (Irradiation!) Feind als solcher wiedererkannt und mit bewußter Beziehung auf die empfangene Verletzung wieder verletzt wird. Die Befriedigung der Rache ist nun umgekehrt mit einem stark positiven Gefühlston ausgezeichnet. (Im übrigen spricht freilich nur scheinbar diese Erfahrung für SCHOPENHAUERs bekanntes Dogma von der "Negativität des Lustgefühls", dessen Irrtümlichkeit gelegentlich später bei einer Auseinandersetzung mit ZITELMANNs gleichartiger Theorie erörtert werden mag. (5) 2. Damit das individuelle Rache gefühl sich zum Rechts gefühl abmildert oder klärt, müssen aber des weiteren gesellschaftlich bedingte, sehr komplizierte Assoziationen hinzutreten, für deren Analyse uns ein klassisches Beispiel aus der römischen Rechtsgeschichte dienlich sein kann. Ein römischer Centurio (Livius VI, 14), durch Kriegsdienst verarmt, aber von großen militärischen Verdiensten wird nach dem harten patrizischen Schuldrecht seinem Gläubiger als *nexus zugesprochen und steht in der Gefahr aufgrund der manus injectio trans Tiberim verkauft zu werden. Das Rechtsgefühl der Patrizier nimmt hieran keinen Anstoß, umsomehr aber das der Plebejer, denen der Centurio angehört, und schließlich führt ein Konflikt dieses beiderseits sich widerstreitenden parteinehmenden Rechtsgefühls zu einer Milderung des positiven Schuldrechts. Dasjenige Element nun, das hier als weiterer Faktor des Rechtsgefühls in Erscheinung tritt, wird von RÜMELIN, a. a. O., Seite 68 als Mitgefühl richtig gekennzeichnet. RÜMELIN antizipiert aber meines Erachtens allzu voreilig dessen feinste und abgeklärteste Ausbildung in Gestal einer allgemeinen Menschenliebe und "verklärt" es schließlich sogar (Seite 74) zu einem meines Erachtens sogar grundfalschen "allgemeinen Prinzip" von der "Gleichwertigkeit aller Individuen". Das gewählte historische Beispiel belehrt uns vielmehr über eine weniger apriori altruistische und durch den Kampf ums Dasein und die damit verbundene Auslese des gesellschaftlich Zweckmäßigen dargestellte Wurzel dieses neuen Elements. Der Gläubiger selbst empfand, wie sehr zutreffend von JHERING bei seiner Charakteristik des ältesten Obligationienrechts bemerkt (Geist des römischen Rechts I, Seite 125) in der manus injectio eine Befriedigung seines individuellen Rechtsgefühls als Rache wegen der Verletzung seiner Vermögensinteressen. Mit ihm aber fühlten, wenngleich abgeschwächten Grades die Patriziert, da er einer von "ihren Leuten" war, da sie sich in seine Situation, nicht in die des Plebejers hineinversetzen konnten, und die Zwangsvollstreckung ihres Rechtsgenoosen (Interessen-Genossen) somit (Irradiation) durch einen positiven Gefühlston auszeichneten. Gerade das Umgkehrte fand bei den Plebejern statt; schon ansich hatte für sie die Vorstellung des patrizischen Gläubigers einen, wenn auch je nach persönliche verschiedener Berührung leichter abgestimmten negativen Gefühlston, während die Vorstellung des Centurio als ihres eigenen Rechtsgenossen kraft des allgemeinen Solidaritätsgedankes - ein Erzeugnis sozialer Bedingungen - einen positiven Index besaß. Der positive Gefühlston wurde nun zweifellos im besonderen Fall noch erhöht durch die besondere Wertschätzung gerade dieser Person. Somit sehen wir, wie das Rechtsgefühl in seiner ersten Stufe, als ein vom Eigeninteresse sich ablösendes, altruistisch gerichtetes soziales (ethisches) Gefühl auf schon sehr komplizierten Vorstellungsassoziationen und Irradiationen des Gefühltstons beruth. Ein eigentliches Rechtsgefühl bildet sich erst innerhalb einer Gemeinschaft, deren Zusammenleben gewissen, sei es auch ungeschriebenen, allgemeinen Regeln untersteht, und zum Bewußtsein gelang es zweifellos erst durch eine Verletzung dieser Regeln. So tauchen, möchte ich zumindest glauben, die ersten Gedanken über Recht und Unrecht im Einzelleben auch des heutigen Kulturmenschen zuerst innerhalb der Familiengemeinschaft auf, wenn z. B. ein Kind sich einem anderen gegenüber zurückgesetzt "fühlt". Sofern also das Recht bzw. Unrecht ein Begriff ist, d. h. ein Assoziationskomplex, ist es ein Wertbegriff, und in diesem Sinne - nicht im Sinne eines angeborenen Vermögens - beansprucht das Gefühl den Primat in der Bildung der Rechtsanschauung. Andererseits ist aber zweifellos die Entwicklung der Erkenntnis, d. h. des Umfangs der Vorstellungsmassen eine notwendige Voraussetzung seiner höheren Entwicklung. Dafür ist einer Anekdote aus Missionarskreisen bezeichnend. Ein Missionar, den die ethischen Vorstellungen eines Eingeborenenhäuptlings interessieren, fragt diesen, was er für das größte Unrecht (Verbrechen) hält. Antwort: "Wenn ein Eingeborener unseres Stamms dem andern Weiber oder Vieh raubt." Er kehrt die Frage um und fragt, was er für das größte Verdienst, die größte Auszeichnung hält: Antwort: "Wenn wir einem anderen Stamm Weiber oder Vieh rauben!" Zutreffend ist hier, was HÖFFDING über Sympathie bemerkt (Psychologie in Umrissen, Seite 356f), auch für die Entwicklung des Rechtsgefühls. Wir haben ha gesehen, daß die Abklärung des Racheaffekts zum Rechtsgefühl aus der Möglichkeit entspringt, sich "an die Stelle eines anderen" zu versetzen. HÖFFDING nun schreibt a. a. O.:
4. An HERBART erinnernd (vgl. BEROLZHEIMER, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. II, Seite 263) sucht schließlich RÜMELIN, a. a. O., Seite 70f die Entstehung des Rechtsgefühls in einem angeborenen Ordnungstrieb. (HERBART: "Der Streit mißfällt".) Er schreibt:
1) Sobald man sich auf das Gefühl beruft, hört alle Diskussion auf. 2) "Es liegt nahe, im Gegensatz zwischen Lust und Unlust - dem Urgegensatz in der Welt des Gefühls - einen Ausdruck des Gegensatzes zwischen Fortgang und Rückgang des Lebensprozesses selbst zu erblicken." - HARALD HÖFFDING, Psychologie, Seite 378. 3) vgl. HÖFFDING, a. a. O., Seite 397. "Eine rein theoretische Betrachtung könnte freilich zu der Ansicht bewegen, es müsse in der Linie, die von der höchsten Lust zum stärksten Schmerz führt, einen Mittelpunkt geben, der gleich weit von den beiden äußersten Enden liegt. Dieser theoretische Mittelpunkt kann aber nicht der Ausdruck eines wirklichen Bewußtseinszustandes sein." 4) KUHLENBECK, Im Hochland der Gedankenwelt, Grundzüge einer heroisch-ästhetischen Weltanschauung (Individualismus), Leipzig 1903. 5) vgl. einstweilen HÖFFDING, a. a. O., Seite 394f 6) "Das Recht ist ein gemeines Gut, - Es lebt in jedem Erdensohn, - Es quillt in uns, wie Herzensblut!" sagt ein deutscher Dichter vom historisch bewährten starken Rechtsgefühl (LUDWIG UHLAND). |