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LUDWIG KUHLENBECK
Zur Psychologie
des Rechtsgefühls


"Sobald man sich auf das Gefühl beruft, hört alle Diskussion auf."

"Das Rechtsgefühl ist ein höchst kompliziertes, durch mannigfache Assoziationen bedingtes geschichtliches  Entwicklungsprodukt  und als solches jederzeit wandelbar. Es wurzelt in der egoistischen (individuellen) Selbstbehauptung, hat denselben Ausgangspunkt wie die  Rache,  empfängt aber seine weitere Ausbildung aus dem  Gemeinschaftsleben  und wächst, wie jeder andere ethische Gefühlston mit der  Erkenntnis." 

Dem, der sich über das Wesen des Rechtsgefühls belehren möchte, bietet weder die eigentlich psychologische noch die rechtsphilosophische Literatur bislang eine große Ausbeute. Innerhalb der positigen Rechtswissenschaft aber gilt es mit Fug und Recht als ein  asylum ignorantiae  [Zufluchtsort der Unwissenheit - wp]. (1) Gleichwohl ist ein ausgebildetes Rechtsgefühl und zwar nicht nur als sogenannter juristischer Takt (rein wissenschaftliche Intuition), sondern im Sinne eines ethischen  Affekts  zweifellos eine der feinsten und höchsten Blüten des menschlichen Geisteslebens, verdient also nicht nur in hohem Grad die Aufmerksamkeit des Psychologen, sondern die Psychologie des Rechtsgefühls muß meines Erachtens für die Rechtsphilosophie geradezu als fundamentale Hilfswissenschaft gelten, wenn dieselbe nicht nicht dem bis zum Überdruß wiederholten Fehler der rein begrifflichen Spekulation verfallen soll. Überall, wo das (subjektive) Recht aufhört, Gefühlssache zu sein, muß seine Wurzel, die nach meiner Überzeugung auch die psychologische Wurzel des  objektiven  Rechts ist - zweifellos ist das objektive Recht nur um des subjektiven Rechts willen da -, verdorren und absterben. Die einzige lesenswerte Abhandlung, die ich über das Rechtsgefühl  ex professo  habe auftreiben können, ist diejenige von GUSTAV RÜMELIN (Reden und Aufsätze 1875, Seite 62-87); ich denke sie gelegentlich zu streifen, werde aber zunächst von einem, dem RÜMELINschen Ausgangspunkt durchausentgegengesetzten Standpunkt den Versuch unternehmen, hier einige Gedanken zu entwickeln, die übrigens angesichts der großen Bedeutung und Schwierigkeit des Gegenstandes nur eine sozusagen  tastend  und noch durchaus präliminarische Bedeutung beanspruchen können.

Zunächst gilt es, sich über die psychologische Bedeutung des  Gefühls  überhaupt zu verständigen. "Gefühl" ist ein Wort von außerordentlicher Spannweite, das sich von den mit den unmittelbaren Sinnesempfindungen verknüpften (elementaren) Gefühlen bis zum sogenannten  Gemeingefühl  und weiter bis zu den intellektuellen und innerhalb dieser letzteren zu den ethischen Gefühlen erstreckt. Daß daher eine übereinstimmende Definition des Gefühls in der psychologischen Literatur nicht anzutreffen ist, kann uns nicht befremden; auch dürfte das Bestreben nach einer solchen, die in befriedigender Weise nur durch den Gesamtinhalt einer Psychologie des Gefühls gegeben werden kann, zumindest verfrüht erscheinen. Nötig erscheint es mir nur, hier von vornherein den falschen Ausgangspunkt eines besonderen Seelenvermögens als eines  Gefühlsvermögens,  das sich in den angedeutenten Richtungen verzweigt, abzulehnen. Mit Gefühl bezeichnen wir vielmehr eine in ihrer jeweiligen konkreten Eigentümlichkeit nicht weiter zu beschreibende Grunderscheinung des seelischen Lebens, die jede Empfindung und jede Vorstellung d. h. jedes Erinnerungsbild einer Empfindung entweder als angenehm, förderlich, unserer Selbsterhaltung oder gar  Daseins-Steigerung  angemessen oder umgekehrt als ihr unangemessen, feindlich, unangenehm nuanciert (2). Es erscheint daher wissenschaftlich genauer nicht von Gefühlen schlechthin, sondern da jedes konkrete Gefühl nur eine besondere Qualität bestimmter  Empfindungen  (Empfindungskomplexe) oder  Vorstellungen  (Vorstellungskomplexe) ist, von Gefühls &tönen  (Gefühlsbetonung) zu reden.

Ganz allgemein und - hierauf ist Wert zu legen - ohne Ausnahme - nur eine oberflächliche Selbstbeobachtung kann darüber täuschen (3) - lassen sich nun diese Gefühlstöne mit einem entweder negativen oder positiven Vorzeichen d. h. entweder als Unlust- oder Lustgefühl kennzeichnen. Obwohl sich einzelne Empfindungen oder Vorstellungen der Nullgrenze d. h. der absoluten Gleichgültigkeit nähern mögen, so wird diese Grenze doch niemals erreicht; würde man dies zugeben, so würde das die Möglichkeit ganz abstrakter Vorstellungen oder gleichgültiger Empfindungen bedeuten, eine rein wissenschaftlich theoretische Abstraktion, deren Unwirklichkeit ich eingehender im 1. Kapitel meines "Hochland der Gedankenwelt" (4) erwiesen zu haben glaube.

Zunächst ist nun klar, daß wir es bei derjenigen Gattung von Gefühlstönen, die wir ganz allgemein mit dem Wort Rechtsgefühl andeuten, mit rein  intellektuellen  Gefühlstönen zu schaffen haben, d. h. mit  Vorstellungen  oder  Vorstellungskomplexen,  nicht mit unmittelbaren  Empfindungen.  Festzuhalten ist freilich daran, daß keinerlei aprioristischen oder absoluten Gefühlswerte für irgendwelche Vorstellungen existieren. Vgl. ZIEHEN, Leitfaden der physiologischen Psychologie, Seite 123.
    "Nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch ihrem  Gefühlswert  nach sind alle unsere Vorstellungen Abkömmlinge unserer Empfindungen. Die Vorstellung der Dankbarkeit oder irgendeine andere Tugend würde niemals mit einem positiven Gefühlston von uns verknüpft werden, wenn wir nicht über Handlungen der Dankbarkeit, die wir  gesehen  oder die wir  gehört,  kurzum, die wir  empfunden  haben, uns einmal gefreut hätten."
Um aber die mit so komplizierten Vorstellungen, wie z. B. solche des Rechts d. h. unseres oder eines anderen Menschen subjektiver Interessensphäre und deren Anerkennung, es sind, verknüpften Gefühlstöne zu verstehen, ist die Kenntnis des psychologischen Gesetzes der  Irradiation  [Abstrahlung - wp] unerläßlich. Dieses Gesetz besagt, daß ein einer bestimmten Empfindung eigentümlicher Gefühlston bei  besonderer Intensität  sich durch Vermittlung der Assoziation auf andere Vorstellungselemente  übertragen  und selbst deren entgegengesetzte Vorzeichen kompensieren oder sozusagen übertäuben kann.
    "Eine widrigriechende Blume z. B. ist uns in der Erinnerung als Ganzes (vielleicht trotz ihrer schönen Form) unangenehm: die Partialvorstellung des Geruchs hat ihren Gefühlston auf  den ganzen  konkreten  Begriff  übertragen. Unser ganzes Affektleben und damit auch unser ganzes Handeln wird von diesen Irradiationen beherrscht. Unsere Antipathien und Sympathien, Vorurteile und Voreingenommenheiten fließen hauptsächlich aus dieser Quelle." (ZIEHEN, a. a. O., Seite 125)
In Anwendung auf einen bestimmten komplizierten intellektuellen Gefühlston, den des Neides führt ZIEHEN folgendes aus:
    "Neid ist ein komplizierter Gefühlston, welcher zuweilen unter ganz bestimmten Umständen die Empfindung und Vorstellung einer anderen Person begleitet. Ich denke z. B. an einen Bekannten, welcher einen Besitz erworben hat, den ich nicht zu erwerben vermochte, sagen wir, um die Anschauung zu fixieren, ein seltenes Mineral. Welche Irradiation erleidet meine Vorstellung jenes Bekannten in diesem Beispiel? Die Vorstellung des beneideten Bekannten selbst hatte schon, bevor er in den Besitz des Minerals kam und dadurch Gegenstand meines Neides wurde, einen bestimmten eigenartigen Gefühlston, meist einen leicht negativen. Weiterhin ist die Vorstellung des Steins selbst mit derjenigen meines Bekannten assoziativ verknüpft, seitdem dieser den Stein erworben hat. Diese Vorstellung ist mit einem eigenartigen Lustgefühl verknüpft und überträgt dieses, wenn auch in einem schwachen Grad, auf die Vorstellung des Bekannten. Ferner steht in assoziativer Verknüpfung die Vorstellung meiner eigenen Mineraliensammlung, welcher der bezügliche Stein fehlt; diese Vorstellung wird von einem starken negativen Gefühlston besonderer Qualität begleitet. Auch diese irradiiert auf die Vorstellung des Bekannten. Die Vorstellungen der vergeblichen Anstrengungen, welche ich selbst gemacht habe, den Stein zu erwerben, kommen hinzu: die intensiv negativen eigenartigen Gefühlstöne dieser Vorstellungen gehen ebenfalls auf die Vorstellungen des Bekannten über." (ZIEHEN, a. a. O. Seite 127).
Beim Versuch, dieses Muster empirischer Ableitung eines komplizierten intellektuellen Gefühlstons für das Rechtsgefühl nachzubilden, gelangte ich zu folgenden Ergebnissen:

1. Das Rechts gefühl  kann erst erwachen durch eine Rechts verletzung,  d. h. durch eine Verletzung der Interessen eines Individuums und hat somit eine mit einem  negativen  Vorzeichen versehene Ursprungsempfindung. Solange es rein individuell bleibt, fällt es in dieser seiner elementarsten Wurzel zusammen mit dem Affekt der  Rache.  Nehmen wir den der sinnlich anschaulichsten und meines Erachtens primitivsten Fall (auch in der Rechtsgeschichte), den der  körperlichen  Verletzung. Das von einem Individuum  B  verletzte Individuum  A  wird naturgemäß gegen  B  durch ein  Rachegefühl  reagieren, das im Grunde nichts anderes ist als ein durch Erinnerungs- und Erwartungsassoziationen motiviertes Bestreben der  Selbsterhaltung.  Vgl. des näheren meine "Natürliche Grundlaen des Rechts und der Politik", Seite 181f. (Es setzt voraus, daß nach Ablauf der verletzenden Handlung der Verletzer und (Irradiation!) Feind als solcher wiedererkannt und mit bewußter Beziehung auf die empfangene Verletzung wieder verletzt wird. Die Befriedigung der Rache ist nun umgekehrt mit einem stark  positiven  Gefühlston ausgezeichnet. (Im übrigen spricht freilich nur scheinbar diese Erfahrung für SCHOPENHAUERs bekanntes Dogma von der "Negativität des Lustgefühls", dessen Irrtümlichkeit gelegentlich später bei einer Auseinandersetzung mit ZITELMANNs gleichartiger Theorie erörtert werden mag. (5)

2. Damit das individuelle  Rache gefühl sich zum  Rechts gefühl abmildert oder klärt, müssen aber des weiteren gesellschaftlich bedingte, sehr komplizierte Assoziationen hinzutreten, für deren Analyse uns ein klassisches Beispiel aus der römischen Rechtsgeschichte dienlich sein kann. Ein römischer Centurio (Livius VI, 14), durch Kriegsdienst verarmt, aber von großen militärischen Verdiensten wird nach dem harten patrizischen Schuldrecht seinem Gläubiger als  *nexus  zugesprochen und steht in der Gefahr aufgrund der  manus injectio trans Tiberim  verkauft zu werden. Das Rechtsgefühl der  Patrizier  nimmt hieran keinen Anstoß, umsomehr aber das der Plebejer, denen der Centurio angehört, und schließlich führt ein Konflikt dieses beiderseits sich widerstreitenden parteinehmenden Rechtsgefühls zu einer Milderung des positiven Schuldrechts. Dasjenige Element nun, das hier als weiterer Faktor des Rechtsgefühls in Erscheinung tritt, wird von RÜMELIN, a. a. O., Seite 68 als  Mitgefühl  richtig gekennzeichnet. RÜMELIN antizipiert aber meines Erachtens allzu voreilig dessen feinste und abgeklärteste Ausbildung in Gestal einer  allgemeinen Menschenliebe  und "verklärt" es schließlich sogar (Seite 74) zu einem meines Erachtens sogar grundfalschen "allgemeinen Prinzip" von der "Gleichwertigkeit aller Individuen".

Das gewählte historische Beispiel belehrt uns vielmehr über eine weniger apriori altruistische und  durch den Kampf ums Dasein und die damit verbundene Auslese des gesellschaftlich Zweckmäßigen  dargestellte Wurzel dieses neuen Elements. Der Gläubiger selbst empfand, wie sehr zutreffend von JHERING bei seiner Charakteristik des ältesten Obligationienrechts bemerkt (Geist des römischen Rechts I, Seite 125) in der  manus injectio  eine Befriedigung seines individuellen  Rechtsgefühls  als  Rache  wegen der Verletzung seiner Vermögensinteressen. Mit ihm aber fühlten, wenngleich abgeschwächten Grades die Patriziert, da er einer von "ihren Leuten" war, da sie sich in  seine  Situation, nicht in die des Plebejers hineinversetzen konnten, und die Zwangsvollstreckung ihres Rechtsgenoosen (Interessen-Genossen) somit (Irradiation) durch einen positiven Gefühlston auszeichneten. Gerade das Umgkehrte fand bei den Plebejern statt; schon ansich hatte für sie die Vorstellung des patrizischen Gläubigers einen, wenn auch je nach persönliche verschiedener Berührung leichter abgestimmten negativen Gefühlston, während die Vorstellung des Centurio als ihres eigenen Rechtsgenossen kraft des allgemeinen Solidaritätsgedankes - ein Erzeugnis sozialer Bedingungen - einen positiven Index besaß. Der positive Gefühlston wurde nun zweifellos im besonderen Fall noch erhöht durch die besondere  Wertschätzung  gerade dieser Person. Somit sehen wir, wie das Rechtsgefühl in seiner ersten Stufe, als ein vom Eigeninteresse sich ablösendes, altruistisch gerichtetes soziales (ethisches) Gefühl auf schon sehr komplizierten Vorstellungsassoziationen und Irradiationen des Gefühltstons beruth. Ein eigentliches Rechtsgefühl bildet sich erst  innerhalb einer Gemeinschaft,  deren Zusammenleben gewissen, sei es auch ungeschriebenen, allgemeinen Regeln untersteht, und zum Bewußtsein gelang es zweifellos erst durch eine Verletzung dieser Regeln. So tauchen, möchte ich zumindest glauben, die ersten Gedanken über Recht und Unrecht im Einzelleben auch des heutigen Kulturmenschen zuerst innerhalb der Familiengemeinschaft auf, wenn z. B. ein Kind sich einem anderen gegenüber zurückgesetzt "fühlt". Sofern also das Recht bzw. Unrecht ein Begriff ist, d. h. ein Assoziationskomplex, ist es ein Wertbegriff, und in diesem Sinne - nicht im Sinne eines angeborenen Vermögens - beansprucht das  Gefühl  den Primat in der Bildung der Rechtsanschauung. Andererseits ist aber zweifellos die Entwicklung der  Erkenntnis,  d. h. des Umfangs der Vorstellungsmassen eine notwendige Voraussetzung seiner höheren Entwicklung. Dafür ist einer Anekdote aus Missionarskreisen bezeichnend. Ein Missionar, den die ethischen Vorstellungen eines Eingeborenenhäuptlings interessieren, fragt diesen, was er für das größte Unrecht (Verbrechen) hält. Antwort: "Wenn ein Eingeborener unseres Stamms dem andern Weiber oder Vieh raubt." Er kehrt die Frage um und fragt, was er für das größte Verdienst, die größte Auszeichnung hält: Antwort: "Wenn wir einem anderen Stamm Weiber oder Vieh rauben!"

Zutreffend ist hier, was HÖFFDING über Sympathie bemerkt (Psychologie in Umrissen, Seite 356f), auch für die Entwicklung des Rechtsgefühls. Wir haben ha gesehen, daß die Abklärung des Racheaffekts zum Rechtsgefühl aus der Möglichkeit entspringt, sich  "an die Stelle eines anderen"  zu versetzen. HÖFFDING nun schreibt a. a. O.:
    "Besonders schwer wird es, sich an die Stelle anderer zu setzen, wenn deren innere oder äußere Lebensbedingungen von den unsrigen sehr verschieden sind. Verschiedene Sprache (Griechen - Barbaren), verschiedene Hautfarbe (die afrikanischen Sklaven), und verschiedener Glaube haben dem Wachstum der Sympathie im menschlichen Geschlecht lange harten Widerstand geleistet. Mangel an Mitgefühl für Tiere entsteht oft (namentlich bei Kindern) aus dieser Ursache. - Auch die  formelle, logische Konsequenz  kann hier von großer Bedeutung werden. Solange die Sympathie nicht bis völliger Klarheit entwickelt ist, macht sie Ausnahmen und stellt sie Schranken auf, die nicht aus der Natur der Verhältnisse folgen."
3. Allein zweifellos kann die rein formelle, logische Konsequenz auch zur  Abschwächung  des eigentlichen Rechts gefühls,  der affektiven Grundlage aller praktischen Rechtsbildung führen. Gewiß bezeichnet die durch das Christentum erarbeitete Anerkennung der sogenannten allgemeinen "angeborenen" Menschenrechte, diese Ablösung des Rechtsgefühls von den Schranken  nationaler  Gemeinschaft einen großen Fortschritt. Derselbe Fortschritt hat aber die Gefahr mit sich gebracht, das  Wert moment im Rechtsgefühl zu verkennen, wie es am deutlichsten im  suum cuique  [Jedem das Seine - wp] der Gerechtigkeitsidee zum Ausdruck gelangt, die mit dem, wie wir schon, sogar von RÜMELIN unterschriebenen Dogma einer "Gleichwertigkeit aller Individuen" in Konflikt geraten muß. Auf der entgegengesetzten Einsicht beruth das alte germanische Axiom der  judicium inter pares  [Recht unter Gleichen - wp]. Nur der sozial Gleichgestellte kann sich einigermaßen entsprechend in die Lage eines in seinen Interessen Verletzten hineinversetzen. Der Bauer wird zwar rechtliche Sympathie mitempfinden für den in seinem bäuerlichen Eigentum, etwa durch einen Viehdiebstahl verletzten Bauern; - ob er aber mit urteilen darf und mitempfinden kann, wenn es sich um die Verletzung geistigen (künstlerischen) Eigentum oder umd die Verletzung der Standesehre eines Offiziers handelt, ist eine große Frage.

4. An HERBART erinnernd (vgl. BEROLZHEIMER, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. II, Seite 263) sucht schließlich RÜMELIN, a. a. O., Seite 70f die Entstehung des Rechtsgefühls in einem angeborenen  Ordnungstrieb. (HERBART: "Der Streit mißfällt".) Er schreibt:
    "Als kontemplativer Ordnungstrieb sucht er (der Ordnungstrieb) die Einheit und Harmonie für die Weltbetrachtung; er erzeugt die Idee des Schönen und Wahren, die Kunst und Wissenschaft. Als praktischer, auf den Willen bezogener Trieb sucht er die Einheit und Harmonie für die Betätigung des Trieblebens; er erzeugt die Idee des Guten mit der Unterscheidung einer subjektiven und sozialen Form, die Sittlichkeit und  das Recht." 
Ich gebe zu, daß das Rechtsgefühl in seiner vornehmsten Ausbildung, in seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Verfeinerung auch eine große Ähnlichkeit mit dem  ästhetischen  Lustgefühl der Harmonie (oder bei Rechtsverletzungen - Unlustgefühl der Disharmonie) bietet, halte es aber für einen aprioristischen Fehlgriff diese seine feinste intellektuelle Blume aus einem angeborenen allgemeinen Trieb in dieser Richtung ableiten zu wollen. Das Rechtsgefühl ist in der Menschenseele nicht präformiert, sondern um einen von BENEKE, in seinen psychologischen Skizzen vielfach benutzten Ausdruck zur Erklärung der sogenannten Seelenvermögen anzuwenden, höchstens  prädeterminiert.  Mit anderen Worten: es ist ein höchst kompliziertes, durch mannigfache Assoziationen bedingtes geschichtliches  Entwicklungsprodukt  und als solches jederzeit wandelbar. Es wurzelt in der egoistischen (individuellen) Selbstbehauptung, hat denselben Ausgangspunkt wie die Rache, empfängt aber seine weitere Ausbildung aus dem Gemeinschaftsleben und wächst, wie jeder andere ethische Gefühlston mit der Erkenntnis. Zu beachten ist aber, daß es durch diese Klärung und Erweiterung in der Regel an Frische und Intensität einbüßt. Eine solche Leidenschaft des Rechtsgefühls, wie sie z. B. die Römer der ersten Periode auszeichnete, ist beispielsweise unter modernen Kulturvölkern undenkbar. Hier entwickelt sich, wie RÜMELIN sagt,
    "das gesamte Rechtsleben zu einem Spezialfach, die Verschlingungen der Lebensverhältnisse werden so unabsehbar, das Bedürfnis haarscharfer und präziser Unterscheidungen wird ein so dringendes, daß dem Rechtsgefühl auf dieser langen Bahn bald der Atem ausgeht und es von einem logisch-technischen Element abgelöst werden muß." (RÜMELIN, a. a. O., Seite 83)
Die große Gefahr aber, die darin liegt, daß sich schließlich die Rechtsbildung und Rechtspflege ablöst vom urwüchsigen Rechtsgefühl (6) kann meines Erachtens nur beseitigt werden durch eine Vertiefung unseres psychologischen Wissens (Individual- und Völkerpsychologie, vor allem vergleichende Psychologie) und dessen Verwertung sowohl  de lege lata  [nach geltendem Recht - wp] wie  de lege ferenda  [in Bezug auf küntiges Recht - wp].
LITERATUR Ludwig Kuhlenbeck, Zur Psychologie des Rechtsgefühls, Archiv vür Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 1, Berlin und Leipzig 1907/1908
    Anmerkungen
    1) Sobald man sich auf das Gefühl beruft, hört alle Diskussion auf.
    2) "Es liegt nahe, im Gegensatz zwischen Lust und Unlust - dem Urgegensatz in der Welt des Gefühls - einen Ausdruck des Gegensatzes zwischen Fortgang und Rückgang des Lebensprozesses selbst zu erblicken." - HARALD HÖFFDING, Psychologie, Seite 378.
    3) vgl. HÖFFDING, a. a. O., Seite 397. "Eine rein theoretische Betrachtung könnte freilich zu der Ansicht bewegen, es müsse in der Linie, die von der höchsten Lust zum stärksten Schmerz führt, einen Mittelpunkt geben, der gleich weit von den beiden äußersten Enden liegt. Dieser theoretische Mittelpunkt kann aber nicht der Ausdruck eines wirklichen Bewußtseinszustandes sein."
    4) KUHLENBECK, Im Hochland der Gedankenwelt, Grundzüge einer heroisch-ästhetischen Weltanschauung (Individualismus), Leipzig 1903.
    5) vgl. einstweilen HÖFFDING, a. a. O., Seite 394f
    6) "Das Recht ist ein gemeines Gut, - Es lebt in jedem Erdensohn, - Es quillt in uns, wie Herzensblut!" sagt ein deutscher Dichter vom historisch bewährten starken Rechtsgefühl (LUDWIG UHLAND).