ra-2 L. BrentanoJ. C. KreibigEhrenfelsW. StrichF. Somlo    
 
HANS SCHMIDKUNZ
Neues von den Werten
[Mit besonderer Berücksichtigung der Kreibigschen
Psychologischen Grundlegung eines Systems der Werttheorie]


"Zu der ethischen Bedeutung, die irgendetwas für uns hat, bildet ein gewichtiges Gegenstück die wirtschaftliche Bedeutung von Gegenständen. Diese, also der ökonomische Wert, ist von nationalökonomischen Forschern so sorgfältig erörtert worden, daß man der Ethik einen gleichen Fortschritt, wie ihn hier die Volkswirtschaftslehre errungen hat, lebhaft wünscht."

Solange Streitigkeiten um Ansichten auf einem rein praktischen Gebiet oder auf einem rein theoretischen Gebiet bleiben, ist eine verhältnismäßig günstige Aussicht vorhanden, daß die Streitenden sich zusammenfinden. Schlimm jedoch wird die Sache auf gewissen praktisch-theoretischen Gebieten, auf denen eine Praxis durch eine nicht eben exakt herzustellende Theorie bewältigt und zwischen prinzipiellen Ansichtsverschiedenheiten hindurchgeleitet werden soll. Das ethische Gebiet ist in dieser Beziehung für jene Zusammenstöße ganz besonder heikelt. Wer sich den Anforderungen einer sittlichen Lebensordnung gern unterwirft und auch ein Interesse am theoretischen Erforschen solcher und verwandter Gegenstände hat, wird doch leicht ungehalten, sobald es "Normen" und gar erst ihrer allgemeinen Rechtfertigung gilt. Er weigert sich eben, da mitzutun; er beteiligt sich am Streit ethischer Prinzipien; allein es scheint, als sollte da niemals Friede werden und nicht einmal der langsamere sichere Fortschritt der Wissenschaft zu gewinnen sein, der uns sonst doch so vertrauenswürdig über subjektives Meinen hinausführt. Noch schärfer fast stellt sich diese Lage auf ästhetischen Gebiet dar. Den Künstler unter "Normen" des "Sollens zwingen, die etwa irgendeiner Weltanschauung entspringen oder lediglich aus dem bisher Geleisteten, etwa gar nur aus den künstlerischen Gepflogenheiten oder Gewohnheiten der letzten Generation abgeleitet sind: das erscheint ganz besonders einer reformatorischen, in frischem Entwicklungszug dahinfahrenden Generation von Künstlern als eine Versündigung am Eigenleben der Kunst.

Indessen gibt es doch eine Sphäre, in der wir uns mit Normen - und zwar mit gebieterischen - ganz wohl und sozusagen ohne Schmerzen abzufinden verstehen. Erinnern wir uns noch einmal an den "langsamen sicheren Fortschritt der Wissenschaft, der uns so vertrauenswürdig über subjektives Meinen hinausführt", so zeigt uns dieses Vertrauen, das wir der Wissenschaft entgegenbringen, eine feste Grundlage, auf der man sich nicht beengt oder gefesselt, sondern gestützt, gehalten, und in dieser Stützung und Haltung befriedigt fühlt. Ja noch mehr: auch eine Art Genuß erweckt es, ein Streben nach dem Wahren, eine zweckmäßige Leitung nach diesem hin, und ein genaues Treffen desselben vor sich zu sehen. Ein Urteil kann wahr sein, und es kann falsch sein. Das sind Verschiedenheiten, denen als solchen, d. h. wenn es nicht eben ganz andersartige Interessen gilt, wir uns schlechterdings beugen, und zwar ohne uns etwa dadurch gedemütigt, in unserer Freiheit eingeschränkt zu fühlen. Indessen waltet hier noch eine Verschiedenheit. Ein wahres Urteil kann blind getroffen - es kann aber auch mit Einsicht erworben, gerechtfertigt, "evident" gemacht sein. Ein falsches Urteil kann natürlicherweise und wird wohl meist "blind", einsichtslos, "evidenzlos" zustande gekommen sein; es kann jedoch auch einen gewissen BEtrach an Sorgfalt, Rechtfertigung, Evidenz in seiner Entstehung bekommen haben, der nur eben zu seiner Sicherstellung nicht ausreichte. Ein vollständig gerechtfertigtes, schlechthin "evidentes" Urteil wird freilich notwendigerweise auch wahr sein. Philosophisch liegt die Sache so, daß für die Welt der Wahrheit, anders gesprochen: für die unseres Erkennens, die "Erkenntnistheorie" eintritt, und daß von den Bedingungen der Erwerbung wahrer Urteile, also von der Evidenz der Urteile, die "Logik" handelt. Was man oft - und zwar mit einer gewissen Geringschätzung der Logik - gesagt hat: daß nur die Erkenntnistheorie eine materiale, die Logik jedoch nur eine formale Bedeutung besitzt, das dürfte durch die obige Bestimmung auf seinen zutreffendsten Ausdruck gebracht sein.

Nun achte man darauf, daß sich ein wahres und ein unwahres Urteil, ebenso ein evidentes und ein evidenzloses (oder auch ein evidenteres und ein weniger evidentes) nicht nur nach diesen Verschiedenheiten zueinander verhalten, sondern sich auch zu uns dem analog verhalten. Ein wahres und ebenso auch ein evidentes Urteil hat für uns in der Regel gegenüber dem falschen und dem evidenzlosen mehr Gewicht, mehr Bedeutung, mehr Schätzung, mehr Wert. Wir bringen ihm dann Gefühle entgegen, die wir dem andern nicht entgegenbringen; wir schätzen, "werten" es höher.

In der vielgepriesenen und vielverlästerten Trias des "Wahren", "Guten" und "Schönen" scheint auf diese Weise das "Wahre" für jetzt so genügend bestimmt zu sein, daß wir sehen: es ist eine geistige Erscheinung, die rein und getrübt, ideal erreicht und unideal verfehlt sein kann, und die außer dieser ihrer sachlichen Bedeutung noch eine eigene Beziehung zu uns hat. Nahe liegt nun die Annahme, vom "Guten" und "Schönen" werde gleiches gelten; beides werde eine sachliche Bedeutung für sich und außerdem eine Schätzungsgröße für uns haben. Allein hier ahnen wir sofort, daß sich zwei philosophische "Richtungen", oder selbst zwei "Weltanschauungen" gegnerisch treffen werden. Die eine wird von jenen vielberufenen Idealen ihre "sachliche Bedeutung für sich" suchen und verkünden, die andere wird ihre "Schätzungsgröße für uns" bevorzugen. Jene wird sich an etwas Objektives, eventuell Metaphysisches halten, diese an etwas Subjektives, das voraussichtlich etwas Psychologisches ist. Jene wird bei ihrem Interesse für das Objektive die Existenz der subjektiven Seite nicht leugnen, nur vielleicht weniger berücksichtigen; diese wird das Subjektive entweder nur bevorzugen oder es vielleicht sogar einzig und allein gelten lassen und den objektiven Bestand gänzlich leugnen. Jedenfalls wird sie an dem eingangs erwähnten Sträuben gegen Normen einen Bundesgenossen haben und ihm bisweilen hochwillkommen sein. Den fernen, geheimnisvollen "absoluten Idealen" treten die uns ganz nahe liegenden, sozusagen mit Händen greifbaren, von Subjektivem und Relativem vollen "Schätzungen", "Wertungen", "Werte" gegenüber.

Allein nun ist jedenfalls etwas Verläßliches gewonnen. So viel Anlaß die objektive Welt jener Eigenschaften von wahr, gut und schön (und vielleicht noch manchem) geben mag, über unsere Erfahrung hinaus in Unsicheres zu gehen, Einsichten durch Ansichten, Forschung durch "Richtung" usw. zu ersetzen, so viel Anlaß gibt die Frage nach unserem Bewerten jener Welt zu einem gesicherten, auf Bewährung rechnenden Ergründen zugänglicher Tatsachen. Am schärfsten tritt dies wohl in der Ethik hervor als der Lehre vom Guten - oder wie man es eben nennen mag. Das Primitivste ist dabei die Volksweisheit:
    "Die uralten Vorschriften der Weisen vom Maßhalten, vom Zähmen der Sinnlichkeit, von der Wichtigkeit des Vernunftregulativs beim Entscheiden und Wählen, vom Bedenken der Folgen jeder Handlung usw."
sind bekannt; und man darf hoffen, eine wissenschaftliche Entwicklung werde diesen Popularweisheiten ihren Platz in einem gesicherten theoretischen Rahmen anweisen (wie es KREIBIGs Werk in § 39 tatsächlich tut). Das Gegenteil von Primitivem, wenngleich oft ebenfalls schnell fertig, sind Annahmen wie die einer "sittlichen Weltordnung" und einer Begründung des Ethischen in übermenschlichen Faktoren. Klagen über einen Mangel an Exaktheit und an notwendiger Allgemeingültigkeit in diesen Dingen mußten umso lauter werden, je mehr davon auf anderen Gebieten geleistet wurde. Dazu kommt nun noch ein besonderer Antrieb zum Vorwärtsgehen in der Richtung des theoretisch Sicheren. Zu der ethischen Bedeutung, die irgendetwas für uns hat, bildet nämlich ein gewichtiges Gegenstück die wirtschaftliche Bedeutung von Gegenständen. Diese, also der "ökonomische Wert", ist von nationalökonomischen Forschern nachgerade so sorgfältig erörtert worden, daß man der Ethik einen gleichen Fortschritt, wie ihn hier die Volkswirtschaftslehre errungen hat, lebhaft wünscht.

Während es nun unabsehbar schien, wie weit uns die Popularbehandlung der Ethik, ihr Hinausheben über die Erfahrung und über die Streitigkeiten ob der "Richtung" ihres eventuellen wissenschaftlichen Behandelns noch führen würden, hat jenes Beispiel vom Erforschen wirtschaftlicher Werte zu Forschungen über ethische Werte und über Werte überhaupt angeregt. Längst schon herrschte unter Philosophen das mehr oder weniger klare Bewußtsein, daß vor allen weiteren Konstruktionen eines Zusammenhangs der Ethik, insbesondere vor dem Aufstellen von Normen, zuvörderst eine Klärung und Durchforschung des Gebietes der Werte vonnöten ist, jener eigentümlichen Übergangsart zwischen den bloßen Tatsachen und dem Überwinden derselben durch Gebote. Kurz: es entfaltete sich allmählich eine philosophische Werttheorie, und als das letzte Ergebnis dieser Wandlung (deren einzelne Züge eben in jenem Endergebnis zu überblicken sind) liegt ein im besten Sinne des Wortes philosophisches Werk vor uns: "Psychologische Grundlegung eines Systems der Werttheorie, von JOSEF CLEMENS KREIBIG.

Von den einzelnen Zügen jener Wandlung, die ebenfalls zu den "wertvollsten" jungen Fortschritten der Philosophie gehört, hat der Schreiber dieser Zeilen einen der wichtigsten: das "System der Werttheorie" von CHRISTIAN von EHRENFELS, bereits besprochen ("Von den Werten" in Ethische Kultur", Bd. 7, Seite 35, 1899). KREIBIGs Werk ist bündiger, zugänglicher, hält sich noch ausgesprochener an die psychologische Seite der Sache und sucht mehr dem gesamten Umfang des Gegenstandes als seinen prinzipiellen Problemfragen gerecht zu werden. Wollen wir sein Hauptverdienst in den Vordergrund stellen, so ist es wohl das Folgende: Die Behandlung der Ethik hatte ganz besonders viel Hemmnisse zu erleiden von dem über objektive Forschung hinausreichenden Streit zwischen "egoistischer" und "altruistischer" Richtung; und sowohl sie wie auch die Behandlung der Ästhetik litten unter einem Zusammenstoßen ethischer und ästhetischer Ansprüche. KREIBIG stellt von vornherein die Interessengebiete nebeneinander (statt gegeneinander): das Interesse für das eigene Subjekt, das für ein fremdes Subjekt, und das für ein Objekt rein als solches. Beim ersten sind wir hauptsächlich Hygieniker, beim zweiten hauptsächlich Ethiker, beim dritten hauptsächlich Ästhetiker. Das erste Wertgebiet ist das "autopathische", das zweite das "heteropathische", das dritte das "ergopathische".

Damit hätten wir - kurz gesagt - Nutzen, Sittlichkeit und Schönheit rein geschieden und zu so klarer Fragestellung gebracht, daß nun die Einzelforschung Punkt für Punkt wissen kann, wo sie einsetzen wird. Gleich EHRENFELS gibt sich KREIBIG Mühe, zu zeigen, daß "Wert" etwas Subjektives ist ("die Bedeutung, welche einen Empfindungs- oder Denkinhalt vermöge des mit ihm unmittelbar oder assoziativ verbundenen aktuellen oder dispositionellen Gefühls für ein Subjekt hat"; § 7). Der Wert sei "niemals eine adhärente [anhaftend - wp] Eigenschaft oder Beschaffenheit eines Gegenstandes der Außenwelt, sondern lediglich subjektiver Natur" (§ 4). Auf diesen Standpunkt kann man sich nun ganz wohl stellen (abgesehen von KREIBIGs unnötiger, vielleicht nur versehentlicher Beschränkung auf die "Außenwelt"). Anders aber wird die Sache, wenn man fragt, ob damit auch jegliche objektive Bedeutung solcher Eigenschaften, wie sie eben bei KREIBIG in Rede stehen, fallen muß. Ein evidentes und ein wahres Urteil hat für uns gewiß jene subjektive Bedeutung, die seinen "Wert" ausmachen mag. Wir lieben es, wir hassen es vielleicht auch; und dieser Wert braucht seiner Evidenz und seiner Wahrheit gar nicht einmal proportional zu gehen. Darin hat ja NIETZSCHE ebenso recht, wie er überhaupt durch seine Fassung des Menschen als eines wertenden Tieres und durch seine sonstigen Beiträge zur Erkenntnis des Wertens gewichtige Verdienste an den "werttheoretischen", "timologischen" Fortschritten der Philosophie hat. Die eine Seite der Sache ist mit all dem trefflich erfaßt.

Nun hat KREIBIG trotz aller Sorgsamkeit und allen Weitblicks für den Gesamtbereich der Werte doch ein Teilgebiet kaum erwähnt: das logische. Nur vorübergehend wird unter den vielen Bedeutungen von "gut" auch das logische "gut" in der Bedeutung von "richtig" erwähnt (§ 10); und ein andermal (§ 19) ist die Rede vom
    "Evidenzgefühl, welches sich dispositionell bei allen evidenten Urteilen einstellt, aber auch aktuell werden kann, wenn evidente Urteile mit nicht evidenten oder falschen zur Konkurrenz kommen. Der Eigenwert der Wahrheit geht ausschließlich auf diese Gefühle zurück."
Das ist für KREIBIGs eigenen Standpunkt zu wenig. Die "Urteilsgefühle", wie sie vor ihm ALOIS HÖFLER in seiner "Psychologie" (1897, § 70) erörtert hat, verlangten auch hier mehr; ja sie sollten den Autor dazu führen, die logischen und erkenntnistheoretischen Werte neben die ethischen und ästhetischen zu stellen und mit gleicher Beachtung zu behandeln. Wahrscheinlich wären sie in die dritte, die "ergopathische" Klasse gekommen, als Nachbarn der ästhetischen.

Daß doch gerade das Teilgebiet übergangen wurde, auf welchen neben der subjektiven Seite, dem "Wert", eine objektive am sichersten zu erkennen ist! KREIBIG hatte allerdings für diese objektive Seite nicht zu sorgen; seine Verantwortung gilt eben lediglich der subjektiven; und ebensowenig haben wir hier die objektive Seite zu verantworten. Autor und Referent sind derzeit mit den "Werten", nicht mit einer logischen, sittlichen und ästhetischen "Weltordnung" beschäftigt, haben sie weder zu bejahen noch zu verneinen. Allein der nächste Schritt auf der betretenen Bahn wird doch die Ergänzung des diesmal unvollständig Durchmessenen sein, und der zweitnächste wohl der, gerade an dieser Ergänzung zu erkennen, was das Hier und das Dort ist. Es sieht wie eine Selbstbeschädigung aus, daß dem glänzenden Verdienst der wissenschaftlichen Erforschung eines bisher so arg vernachlässigten Gebietes Abbruch geschieht durch den Anschein, als werde der Bestand eines andern ihm korrespondierenden Gebietes und dessen wissenschaftliche Behandlungsfähigkeit geleugnet.

Neben diesen grundsätzlichen Würdigungen KREIBIGs Werk sind nähere Andeutungen des Inhaltes, Zustimmungen und Ablehnungen im einzelnen, wenig von Belang. Daß jegliche praktische Philosophie, insbesondere die Ethik, nunmehr mit einem veränderten Stand ihres Forschens und Darstellens zu tun hat, weist dem Verfasser und seinen Vorgängern einen Ehrenplatz in der Geschichte der Philosophie an. Die Ethik ist jetzt zuvörderst keine Wissenschaft von Tatsachen im engeren Sinn noch auch von Normen, keine Naturwissenschaft oder Anthropologie und keine Metaphysik, sondern eine fachphilosophische Lehre von Werten. Daran wird auch durch manche weitgehende Systematisierungen KREIBIGs nichts abgebröckelt. Er neigt dazu, sein Material kurzweg auf mathematische Formeln zu bringen. War er darin zu vorschnell, so schadet dies doch seiner vorgängigen Erarbeitung des Materials nicht; ist manches etwas gekünstelt und vieles zu mager schematisch angedeutet, so ist doch das Ganze naturgemäß, in den Hauptpunkten gründlich, in der Fülle des Umfangs weitsichtig.

Einiges einzelne, wenn auch mehr nur probeweise, hervorzuheben sind wir einer so bedeutenden Neuerscheinung immerhin schuldig. Die Notizen über die Vorgeschichte des hier Gegebenen (§§ 4, 7, 9, 40 und sonst) sind ein hübsches Stück Philosophiegeschichte; die Grundbestimmungen über die drei Klassen eröffnen manchen Blick in psychologische und kulturhistorische Sonderprobleme; die "werttheoretisch wichtigen Grundlehren und Begriffe der Willens-Psychologie" enthalten trotz ihrer meines Erachtens zu weiten Dehnung des Willensbegriffes manche auch für andere Problemstellungen wichtige Klärungen. ("Die Frage der Willensfreiheit ist offenkundig eine spezifisch timologische" - § 33)
    "Wenn Genies für Produkte ihrer Zeit erklärt werden, so wird damit das Uninteressanteste an ihnen hervorgehoben; das entscheidend Wichtige am genialen Menschen ist das Neue, das er zum überkommenen Bestand hinzufügt. Dieses Neue ist enweder eine theoretische Einsicht oder eine Wertnuance." (§ 38)
Vorzüglich ist die "Ablehnung des Panegoismus, Hedonismus und Eudämonismus" (§ 45); reich an feinsinnigen Aufschlüssen über Künstlerisches der ganze "ergopathische" Abschnitt (§§ 55-62).

Am auffallendsten aber dürfte sein, daß KREIBIG auch - zwar bescheidentlich, doch mit treffenden Erfolgen - pädagogische Folgerungen des von ihm Dargebotenen zieht. Dazu kommt es bereits an verstreuten Stellen in der Durchführung des Themas. Paragraph 37 über die "autopathischen Güter und Tugenden" spricht vom Wert einer harmonischen und reichen Entfaltung des vollen Menschen (wozu in §§ 43 und 50 die "Forderung einer planmäßigen Erziehung der intellektuellen Kräfte und des Wertgefühlslebens" sowie die Betonung der "entwickelten Einsicht für ethisch Belangvolles" als einer "ethischen Tugend" tritt). Die "Erkenntnis, daß allen lebensfähigen Verbänden ein moralisch-erzieherischer Einfluß auf ihre Mitglieder charakteristisch ist" (§ 52), fällt nebenbei ab. Die klare Unterscheidung zwischen künstlerischem Schaffen und technischem Können (beim "Kriterium und Fundament der Ethik", § 56) mag den Kunstpädagogiker dazu führen, neben der technischen Schulung auch die eigentlich künstlerische klarer zu durchschauen; KREIBIGs Andeutungen über ästhetische Erziehung und über die Erziehung des Künstlers (§ 61) sind ein weiterer kleiner Beitrag dazu. Eine ganz eigene Darstellung aber hat der Verfasser der "timologischen Grundlegung der Pädagogik" in einem Anhang gewidmet (§§ 66-69). Ihr Hauptverdienst ist die Forderung eines harmonischen Einwirkens; natürlich gliedert sich dieses für KREIBIG wieder nach seinen drei großen Wertgebieten. Auch hier spielt die subjektive Seite eine entscheidende Rolle, und das Psychologische an der Pädagogik erfährt dabei die dankenswertesten Förderungen. So wird als Vorarbeit jedes Unterrichtens und Erziehens eine Analyse des "Habitus" des Zöglings verlang, worauf erst Unterrichts- und Erziehungsziel festzustellen ist. Gegenüber dem "doktrinären" Ruf nach einem unbedingten "Individualisieren" möchten wir folgende Unterscheidung von KREIBIG eigens anführen (§ 68):
    "Der sogenannte elementare Unterricht wird von der Forderung einer möglichst vollständigen und gleichmäßigen Ausbildung des Empfindungs- und Denkvermögens des Schülers beherrscht sein; der sogenannte höhere Unterricht wird dagegen der Individualität des Schülers, d. h. der hervorgetretenen Besonderheiten seines Habitus dadurch in verstärktem Maß Rechnung tragen, daß eine einseitige Ausbildung bestimmter Empfindungs- und Denkkreise, sofern sie im Dienst einer Wertverwirklichung stehen, gefördert wird. So nachteilig für die pädagogischen Ziele eine zu frühzeitig gepflegte Einseitigkeit sein mag, so verderblich wäre die bewußte Zurückdrängung desjenigen psychischen Sonderelementes, an welches sich im späteren Leben des Schülers voraussichtlich ein erhöhtes Maß an Wertverwirklichung knüpfen wird."
Nicht gerade neu, aber wegen des Zusammentreffens mit manchem cetero censeo [im Übrigen bin ich der Meinung - wp] der Pädagogik bemerkenswert sind Aufstellungen KREIBIGs wie die: "Man muß die Menschheit lieben, um sich bestimmt zu finden, ihren Nachwuchs zu lehren und zu erziehen" (§ 66). "Bedingung für einen erfolgreichen Unterricht ist das Interesse der Schüler, genauer: die Aufnahme von Inhalten durch den Schüler unter Lustbetonung" (was übrigens nicht eben "genauer" gesagt ist). "In der Fähigkeit des Lehrers, eine lustbetonte Aufnahme zu veranstalten, liegt der Kern seiner Kunst." (§ 68)

Auch für diese pädagogischen Ausführungen müssen wir wiederholen, daß es dem Verfasser lediglich um die subjektive Seite zu tun sein konnte. Eine Verständigung jedoch, daß eben nur die subjektive Seite in Frage steht, und alles andere dadurch nicht seine Existenz verliert, würde zur Vermeidung von Mißverständnissen entschieden ratsam gewesen sein. Oder denken von allen derzeit pädagogisch Beteiligten gar so wenige daran, daß es objektive Bildungsgüter gibt, die ebenso über der Psychologie des Schülerbehandelns und über dem "Bildungswert" stehen, wie die Wahrheit über unseren Urteilsgefühlen steht?

Wir leben in einer Zeit des lebhaftesten Interesses für unser Verhältnis zu Dingen, die anderen Zeiten anderswie interessant waren. Zum vollen, reichen Ausleben dieser "psychologischen Richtung" wird kaum eine Darbietung so viel beitragen können wie KREIBIGs Erforschung der subjektiven, der "Wert"-Seite all dessen, was irgendwie ein "Gut" heißen kann.
LITERATUR - Hans Schmidkunz, Neues von den Werten, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 124, Leipzig 1904