cr-2L. BoltzmannTh. LippsE. MachPh. FrankP. Duhem   
 
HERMANN HELMHOLTZ
[1821-1894]
Über das Verhältnis der Naturwissenschaften
zur Gesamtheit der Wissenschaft


"Die Naturforscher wurden von den Philosophen der Borniertheit bezichtigt; diese von jenen der Sinnlosigkeit. Die Naturforscher fingen nun an, ein gewisses Gewicht darauf zu legen, daß ihre Arbeiten ganz frei von allen philosophischen Einflüssen gehalten seien, und es kam bald soweit, daß viele von ihnn, darunter Männer von hervorragender Bedeutung, alle Philosophie als unnütz, ja sogar als schädliche Träumerei verdammten."

Hochgeehrte Versammlung!

Unsere Universität erneuert in der jährlichen Wiederkehr des heutigen Tages die dankbare Erinnerung an einen erleuchteten Fürsten dieses Landes, KARL FRIEDRICH, der während einer Zeit, die die ganze alte Ordnung Europas umzustürzen schien, eifrig und im edelsten Sinne bemüht war, das Wohl und die geistige Entwicklung seines Volkes zu fördern, und der es richtig zu erkennen wußte, daß die Erneuerung und Wiederbelebung dieser Universität eines der Hauptmittel zur Erreichung seiner wohlwollenden Absichten sein würde. Indem ich an einem solchen Tag von diesem Platz aus als Stellvertreter unserer gesamten Universität zur ganzen Universität zu sprechen habe, ziemt es sich wohl, einen Blick auf den Zusammenhang der Wissenschaften und ihres Studiums im Ganzen zu werfen, soweit dies von einem beschränkten Standpunkt aus möglich ist, den der Einzelne einnimmt.

Wohl kann es in jetziger Zeit so scheinen, als ob die gemeinsamen Beziehungen aller Wissenschaften zueinander, um deren Willen wir sie unter dem Namen einer  Universitas litterarum  zu vereinigen pflegen, lockerer als jemals zuvor gewesen seien. Wir sehen die Gelehrten unserer Zeit vertieft in ein Detailstudium von so unermesslicher Ausdehnung, daß auch der größte Polyhistor nicht mehr daran denken kann, mehr als ein kleines Teilgebiet der heutigen Wissenschaft in seinem Kopf zu beherbergen. Den Sprachforscher der letztvergangenen Jahrhunderte beschäftigte das Studium des Griechischen und Lateinischen schon genügend; nur für unmittelbar praktische Zwecke lernte man vielleicht noch einige europäische Sprachen. Jetzt hat sich die  vergleichende Sprachforschung  keine geringere Aufgabe gestellt, als die,  alle  Sprachen  aller  menschlichen Stämme kennen zu lernen, um an ihnen die Gesetze der Sprachbildung selbst zu ermitteln, und mit dem riesigsten Fleiß hat sie sich an ihre Arbeit gemacht. Selbst innerhalb der  klassischen  Philologie beschränkt man sich nicht mehr darauf, diejenigen Schriften zu studieren, welche durch ihre künstlerische Vollendng, durch die Schärfe ihrer Gedanken oder die Wichtigkeit ihres Inhaltes die Vorbilder der Poesie und Prosa für alle Zeit geworden sind. Man weiß, daß jedes verlorene Bruchstück eines alten Schriftstellers, jede Notiz eines pedantischen Grammatikers oder eines Byzantinischen Hofpoeten, jeder zerbrochene Grabstein eines römischen Beamten, der sich in einem unbekannten Winkel Ungarns, Spaniens oder Afrikas vorfindet, eine Nachricht oder ein Beweisstück enthalten kann, welches an seiner Stelle wichtig sein möchte; und so ist dann wieder eine andere Zahl von Gelehrten mit der Ausführung des riesigen Unternehmens beschäftigt,  alle  Reste des klassischen Altertums, welcher Art sie auch sein mögen, zu sammeln und zu katalogisieren, damit sie zum Gebrauch bereit seien. Nehmen Sie dazu das  historische  Quellenstudium, die Durchmusterung der in den Archiven der Staaten und der Städte aufgehäuften Pergamente und Papiere, das Zusammenlesen der in Memoiren, Briefsammlungen und Biographien zerstreuten Notizen, und die Entzifferung der in den Hieroglyphen und Keilschriften niedergelegten Dokumente; nehem Sie dazu die noch immer an Umfang schnell wachsenden systematischen Übersichten der  Mineralien,  der  Pflanzen  und  Tiere,  der lebenden wie der vorsintflutlichen, so entfaltet sich vor unserem Blick eine Masse gelehrten Wissens, welche uns schwindeln macht. In allen diesen Wissenschaften nimmt der Kreis der Forschung noch fortdauern in demselben Maße zu, wie die Hilfsmittel der Beobachtung sich verbessern, ohne daß ein Ende abzusehen ist. Der  Zoologe  der vergangenen Jahrhunderte war meist zufrieden, wenn er die Zähne, die Behaarung, die Bildung der Füße und andere äußerliche Kennzeichen eines Tieres beschrieben hatte. Der  Anatom  dagegen beschrieb die Anatomie des Menschen allein, soweit er sie mit dem Messer, der Säge und dem Meißel, oder etwa mit Hilfe von Injektionen der Gefäße ermitteln konnte. Das Studium der menschlichen Anatomie galt schon als ein entsetzlich weitläufiges und schwer zu erlernendes Gebiet. Heutzutage begnügt man sich nicht mehr mit der sogenannten gröberen  menschlichen Anatomie,  welche fast, wenn auch mit Unrecht, als ein erschöpftes Gebiet angesehen wird, sondern die  vergleichende Anatomie,  d. h. die Anatomie  aller  Tiere, und die  mikroskopische Anatomie,  also Wissenschaften von einem unendlich breiteren Inhalt, sind hinzugekommen und absorbieren das Interesse der Beobachter.

Die vier Elemente des Altertums und der mittelalterlichen Alchemie sind in unserer jetzigen  Chemie  auf 64 (1) angewachsen, die drei letzten von ihnen sind nach einer an unserer Universität entdeckten Methode aufgefunden worden, welche noch viele ähnliche Funde in Aussicht stellt. Aber nicht bloß die Zahl der Elemente ist außerordentlich gewachsen, auch die Methoden, komplizierte Verbindungen derselben herzustellen, haben  solche  Fortschritte gemacht, daß die sogenannte  organische Chemie,  welche nur die Verbindungen des Kohlenstoffs mit Wasserstof, Sauerstoff, Stickstoff und mit einigen wenigen anderen Elementen umfaßt, schon wieder eine Wissenschaft für sich geworden ist.

"Soviel Stern' am Himmel stehn" war in alter Zeit der natürliche Ausdruck für eine Zahl, welche alle Grenzen unseres Fassungsvermögens übersteigt; PLINIUS findet es ein an Vermessenheit streifendes Unternehmen des HIPPARCH (rem etiam Deo improbam [Was auch Gott als schamlos zurückweist - wp]), daß er die Sterne zu zählen und ihre Orte einzeln abzumessen unternommen habe. Und doch liefern die bis zum 17. Jahrhundert ohne Hilfe von Fernrohen angefertigten Sternverzeichnisse nur 1000 bis 1500 Sterne erster bis fünfter Größe. Gegenwärtig ist man an mehreren Sternwarten beschäftigt, diese Kataloge bis zur zehnten Größe fortzusetzen, was eine Gesamtzahl von etwa 200 000 Fixsternen über den ganzen Himmel ergeben wird, welche alle aufgezeichnet, und deren Orte messend bestimmt werden sollen. Die nächste Folge dieser Untersuchungen ist dann auch die Möglichkeit gewesen, eine große Menge neuer Planeten zu entdecken, von denen vor 1781 nur sechs bekannt waren, im gegenwärtigen Augenblick dagegen schon 75. (2)

Wenn wir diese riesie Tätigkeit in allen Zweigen überblicken, so können uns die verwegenen Anschläge der Menschen wohl in ein erschrecktes Staunen versetzen, wie den Chor in der  Antigone,  wo er ausruft: "Vieles ist erstaunlich, aber nichts ist erstaunlicher als der Mensch."

Wer soll das Ganze noch übersehen, wer die Fäden des Zusammenhangs in der Hand behalten und sich zurecht finden? Die natürliche Folge tritt zunächst darin hervor, daß jeder einzelne Forscher ein immer kleiner werdendes Gebiet zu seiner eigenen Arbeitsstätte zu wählen gezwungen ist und sich nur unvollständige Kenntnisse von den Nachbargebieten bewahren kann. Wir sind jetzt geneigt zu lachen, wenn wir hören, daß im 17. Jahrhundert KEPLER als Professor der Mathematik und der Moral nach Graz berufen wurde, oder daß am Anfang des 18. Jahrhunderts BOERHAVE zu Leyden gleichzeitig die Professuren der Botanik, Chemie und klinischen Medizin innehatte, worin natürlich damals auch noch die Pharmazie eingeschlossen war. Jetzt brauchen wir mindestens vier, an vollständig besetzten Universitäten sogar sieben bis acht Lehrer, um alle diese Fächer zu vertreten. Ähnlich ist es in den anderen Disziplinen.

Ich habe umso mehr Veranlassung, die Frage nach dem Zusammenhang der verschiedenen Wissenschaften hier zu erörtern, da ich selbst dem Kreis der Naturwissenschaften angehöre, und man diese in neuerer Zeit gerade am meisten beschuldigt hat, einen isolierten Weg eingeschlagen zu haben und den übrigen Wissenschaften, die durch gemeinsame philologische und historische Studien untereinander verbunden sind, fremd geworden zu sein. Ein solcher Gegensatz ist in der Tat eine Zeit lang fühlbar gewesen und scheint mir namentlich unter dem Einfluß der HEGELschen Philosophie mindestens klarer als vorher ans Licht gezogen worden zu sein. Denn am Ende des vorigen Jahrhunderts unter dem Einfluß der Kantischen Lehre war eine solche Trennung noch nicht ausgesprochen; diese Philosophie stand vielmehr mit den Naturwissenschaften auf genau gleichem Boden, wie am besten KANTs eigenen naturwissenschaftlichen Arbeiten zeigen, hauptsächlich seine auf NEWTONs Gravitationsgesetz gestützte, kosmogonische Hypothese, welche später unter dem Namen von LAPLACE eine ausgebreitete Anerkennung erhalten hat. KANTs kritische Philosophie ging nur darauf aus, die Quellen und die Berechtigung unseres Wissens zu prüfen und den einzelnen übrigen Wissenschaften gegenüber den Maßstab für ihre geistige Arbeit aufzustellen. Ein Satz, der a priori durch reines Denken gefunden war, konnte nach seiner Lehre immer nur eine Regel für die Methode des Denkens sein, aber keinen positiven und realen Inhalt haben. Die Identitätsphilosophie war kühner. Sie ging von der Hypothese aus, daß auch die wirkliche Welt, die Natur und das Menschenleben das Resultat des Denkens eines schöpferischen Geistes sei, der seinem Wesen nach als dem menschlichen als gleichartig betrachtet wurde. Danach schien der menschliche Geist es unternehmen zu können, auch ohne durch äußere Erfahrungen dabei geleitet zu sein, die Gedanken des Schöpfers nachzudenken und durch die eigene innere Tätigkeit dieselben wiederzufinden. In diesem Sinne ging nun die Identitätsphilosophie darauf aus, die wesentlichen Resultate der übrigen Wissenschaften a priori zu konstruieren. Es mochte dieses Geschäft mehr oder weniger gut gelingen in Bezug auf Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst, Geschichte, kurz in all den Wissenschaften, deren Gegenstand sich wesentlich auf psychologischer Grundlage entwickelt, und die daher unter dem Namen der  Geisteswissenschaften  passend zusammengefaßt werden. Staat, Kirche, Kunst oder Sprache sind dazu da, um gewisse, geistige Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Wenn auch äußere Hindernisse, Naturkräfte, Zufall oder die Nebenbuhlerschaft anderer Menschen oft störend eingreifen, so werden schließlich doch die beharrlich das gleiche Ziel verfolgenden Bestrebungen des menschlichen Geistes über die planlos waltenden Hindernisse das Übergewicht erhalten und den Sieg erringen müssen. Unter diesen Umständen wäre es nicht gerade unmöglich, den allgemeinen Entwicklungsgang der Menschheit in Bezug auf die genannten Verhältnisse aus einem genauen Verständnis des menschlichen Geistes a priori vorzuzeichnen, namentlich wenn der Philosophierende schon ein breites empirisches Material vor sich hat, dem sich seine Abstraktionen anschließen können. Auch wurde HEGEL in seinen Versuchen, diese Aufgabe zu lösen, wesentlich unterstützt durch die tiefen philosophischen Blicke in Geschichte und Wissenschaft, welche die Philosophen und Dichter der ihm unmittelbar vorausgehenden Zeit getan hatten, und die er hauptsächlich nur zusammenordnen und zu verbinden brauchte, um ein durch viele überraschende Einsichten imponierendes System herzustellen. So gelang es ihm, bei der Mehrzahl der Gebildeten seiner Zeit einen enthusiastischen Beifall zu finden und überschwängliche Hoffnungen auf die Lösung der tiefsten Rätsel des Menschenlebens zu erregen; das letztere umso mehr, als der Zusammenhang des Systems durch eine sonderbar abstrakte Sprache verhüllt war, und vielleicht von wenigen seiner Verehrer wirklich verstanden und durchschaut worden ist.

Daß nun die Konstruktion der wesentlichen Hauptresultate der Geisteswissenschaften mehr oder weniger gut gelang, war immer noch kein Beweis für die Richtigkeit der Identitätshypothese, von der HEGELs Philosophie ausging. Es wären im Gegenteil die Tatsachen der Natur das entscheidende Prüfungsmittel gewesen. Daß in den Geisteswissenschaften sich die Spuren der Wirksamkeit des menschlichen Geistes und seiner Entwicklungsstufen wiederfinden mußten, war selbstverständlich. Wenn aber die Natur das Resultat der Denkprozesse eines ähnlichen schöpferischen Geistes widerspiegelt, so mußten sich die verhältnismäßig einfachen Formen und Vorgänge in ihr umso leichter dem System einordnen lassen. Aber hier gerade scheiterten die Anstrengungen der Identitätsphilosophie, wir dürfen wohl sagen, vollständig. HEGELs Naturphilosophie erschien den Naturforschern wenigstens absolut sinnlos. Von den vielen ausgezeichneten Naturforschern jener Zeit fand sich nicht ein Einziger, der sich mit den HEGELschen Ideen hätte anfreunden können. Da andererseits für HEGEL es von besonderer Wichtigkeit war, sichgerade auf diesem Gebiet die Anerkennung zu erkämpfen, die er anderswo so reichlich gefunden hatte, so folgte eine ungewöhnlich leidenschaftliche und erbitterte Polemik von einer Seite, welche sich namentlich gegen NEWTON, als den ersten und größten Repräsentanten der wissenschaftlichen Naturforschung, richtete. Die Naturforscher wurden von den Philosophen der Borniertheit bezichtigt; diese von jenen der Sinnlosigkeit. Die Naturforscher fingen nun an, ein gewisses Gewicht darauf zu legen, daß ihre Arbeiten ganz frei von allen philosophischen Einflüssen gehalten seien, und es kam bald soweit, daß viele von ihnn, darunter Männer von hervorragender Bedeutung, alle Philosophie als unnütz, ja sogar als schädliche Träumerei verdammten. Wir können nicht leugnen, daß hierbei mit den ungerechtfertigten Ansprüchen, welche die Identitätsphilosophie auf Unterordnung der übrigen Disziplinen erhob, auch die berechtigten Ansprüche der Philosophie, nämlich die Kritik der Erkenntnisquellen auszuüben und den Maßstab der geistigen Arbeit festzustellen, über Bord geworfen wurden.

In den Geisteswissenschaften war der Verlauf ein anderer, wenn er auch schließlich zu ziemlich demelben Resultat führte. In allen Zweigen der Wissenschaft, für Religion, Staat, Recht, Kunst und Sprache, standen begeisterte Anhänger der HEGELschen Philosophie auf, welche die genannten Gebiete im Sinne des Systems zu reformieren suchten und auf spekulativem Weg Früchte einzusammeln hofften, denen man sich bis dahin nur langsam durch eine langwierige Arbeit genähert hatte. So stellte sich eine Zeit lang ein schneidender und scharfer Gegensatz her zwischen den Naturwissenschaften auf der einen und den Geisteswissenschaften auf der anderen Seite, wobei den ersteren nicht selten der Charakter der Wissenschaft abgesprochen wurde.

Freilich dauerte das gespannte Verhältnis in seiner ersten Bitterkeit nicht lange. Die Naturwissenschaften erwiesen vor jedermanns Augen durch eine schnell aufeinanderfolgende Reihe glänzender Entdeckungen und Anwendungen, daß ein gesunder Kern von ungewöhnlicher Fruchtbarkeit in ihnen wohnt; man konnte ihnen Achtung und Anerkennung nicht versagen. Und auch auf den übrigen Gebieten des Wissens erhoben gewissenhafte Erforscher der Tatsachen bald ihren Widerspruch gegen den allzu kühnen Ikarusflug der Spekulation. Doch läßt sich auch ein wohltätiger Einfluß jener philosophischen Systeme nicht verkennen; wir dürfen wohl nicht leugnen, daß seit dem Auftreten von HEGEL und SCHELLING die Aufmerksamkeit der Forscher in den verschiedenen Zweigen der Geisteswissenschaften lebhafter und dauernder auf deren geistigen Inhalt und Zweck gerichtet gewesen ist, als es in den vorausgehenden Jahrhunderten vielleicht der Fall war. Die große Arbeit jener Philosophie ist deshalb nicht ganz vergebens gewesen.

In dem Maße nun, wie die empirische Erforschung der Tatsachen auch in den anderen Wissenschaften wieder in den Vordergrund trat, ist allerdings der Gegensatz zwischen ihnen und den Naturwissenschaften gemildert worden. Indessen, wenn derselbe durch den Einfluß der genannten philosophischen Meinungen auch in übertriebener Schärfe zum Ausdruck gekommen war, läßt sich doch nicht verkennen, daß ein solcher Gegensatz wirklich in der Natur der Dinge begründet ist und sich geltend macht. Es liegt ein solcher zum Teil in der Art der geistigen Arbeit, zum Teil im Inhalt der genannten Fächer, wie es der Name der Natur- und Geisteswissenschaften schon andeutet. Der Physiker wird einige Schwierigkeiten finden, dem Philologen oder Juristen die Einsicht in einen verwickelten Naturprozeß zu eröffnen; er muß von ihnen dabei Abstraktionen vom sinnlichen Schein und eine Gewandtheit im Gebrauch geometrischer und mechanische Anschauungen verlangen, in denen ihm die anderen nicht so leicht nachfolgen können. Andererseits werden die Ästhetiker und Theologen den Naturforscher vielleicht zu ihnen trivial erscheinenden mechanischen und materialistischen Erklärungen geneigt finden, durch welche sie in der Wärme ihres Gefühls und ihrer Begeisterung gestört werden. Der Philologe und der Historiker, denen auch der Jurist und der Theologe, durch gemeinsame philologische und historische Studien eng verbunden, sich anschließen, werden den Naturforscher auffallend gleichgültig gegen literarische Schätze finden, ja vielleicht sogar für die Geschichte seiner eigenen Wissenschaft gleichgültiger als recht ist. Endlich ist nicht zu leugnen, daß sich die Geisteswissenschaften ganz direkt mit den teuersten Interessen des menschlichen Geistes und mit den durch ihn in die Welt eingeführten Ordnungen befassen; die Naturwissenschaften dagegen mit einem äußeren, gleichgültigen Stoff, den wir scheinbar nur des praktischen Nutzens wegen nicht umgehen können, der aber vielleicht kein unmittelbares Interesse für die Bildung des Geistes zu haben scheint.

Da nun die Sache so liegt, da sich die Wissenschaften in unendlich viele Äste und Zweige gespalten haben, da lebhaft gefühlte Gegensätze zwischen ihnen entwickelt sind, da kein Einzelner mehr das Ganze oder auch nur einen erheblichen Teil des Ganzen umfassen kann, hat es da noch einen Sinn, sie alle an denselben Anstalten zusammenzuhalten? Ist die Vereinigung der vier Fakultäten zu einer Universität nur ein Rest des Mittelalters? Manche äußere Vorteile sind schon dafür geltend gemacht worden, daß man die Mediziiner in die Spitäler der großen Städte, die Naturforscher in die polytechnischen Schulen schicke, und damß man für die Theologen und Juristen besondere Seminare und Schulen errichte. Wir wollen doch hoffen, daß die deutschen Universitäten noch lange vor einem solchen Schicksal bewahrt bleiben mögen! Dadurch würde in der Tat der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Wissenschaften zerrissen werden, und wie wesentlich notwendig ein solcher Zusammenhang nicht nur in formeller Beziehung für die Erhaltung der wissenschaftlichen Arbeitskraft, sondern auch in materieller Beziehung für die Förderung der Ergebnisse dieser Arbeit ist, wird eine kurze Betrachtung zeigen.

Zunächst in formaler Beziehung. Ich möchte sagen, die Vereinigung der verschiedenen Wissenschaften ist nötig, um das gesunde Gleichgewicht der geistigen Kräfte zu erhalten. Jede einzelne Wissenschaft nimmt gewisse Geistesfähigkeiten besonders in Anspruch und kräftigt sie dementsprechend durch anhaltendere Übung. Aber jede einseitige Ausbildung hat ihre Gefahr; sie macht unfähig für die weniger geübten Arten der Tätigkeit, beschränkt dadurch den Blick für den Zusammenhang des Ganzen; namentlich aber treibt sie auch leicht zur Selbstüberschätzung. Wer sich bewußt ist, eine gewisse Art geistiger Arbeit viel besser zu verrichten als andere Menschen, vergißt leicht, daß er manches nicht leisten kann, was andere viel besser tun als er selbst; und Selbstüberschätzung - das vergesse niemand, der sich den Wissenschaften widmet - ist der größte und schlimmste Feind aller wissenschaftlichen Tätigkeit. Wie viele und große Talente haben nicht die dem Gelehrten vor allen Dingen nötige und so schwer zu übende Selbstkritik vergessen, oder sind ganz in ihrer Tätigkeit erlahmt, weil sie trockene emsige Arbeit ihrer selbst unwürdig glaubten und nur bestrebt waren, geistreiche Ideenkombinationen und weltumgestaltende Entdeckungen hervorzubringen! Wieviele haben nicht in verbitterter und menschenfeindlicher Stimmung ein melancholisches Leben zuende geführt, weil ihnen die Anerkennung der Menschen fehlte, die natürlich durch Arbeit und Erfolge errungen werden muß, nicht aber dem bloß sich selbst bewundernden Genie gezollt zu werden pflegt. Und je isolierter der Einzelne ist, desto leichter droht ihm eine solche Gefahr; während umgekehrt nichts belebender ist, als zur Anstrengung aller Kräfte genötigt zu sein, um sich die Anerkennung solcher Männer zu erringen, denen man selbst die höchste Anerkennung zu widmen sich gezwungen fühlt.

Vergleichen wir die Art der geistigen Tätigkeit in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft, so zeigen sich gewisse durchgehende Unterschiede nach den Wissenschaften selbst, wenn auch daneben nicht zu verkennen ist, daß jedes einzelne ausgezeichnete Talent seine besondere individuelle Geistesrichtung hat, wodurch es für seine besondere Art von Tätigkeit vorzugsweise befähigt wird. Man braucht nur die Arbeiten zweier gleichzeitiger Forscher auf ganz eng benachbarten Gebieten zu vergleichen, und man wird sich in der Regel überzeugen können, daß die geistige Individualität des Einzelnen sich umso bestimmter ausprägt, je hervorragender sie ist, und daß der eine nur umso weniger imstande sein würde, die Arbeiten des anderen auszuführen. Bei der heutigen Gelegenheit kann es sich natürlich nur darum handeln, die allgemeinsten Unterschiede, welche die geistige Arbeit in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft darbietet, zu charakterisieren.

Ich habe an den riesenhaften Umfang des Materials unserer Wissenschaften erinnert. Zunächst ist klar: je größer dieser Umfang ist, eine desto bessere und genauere Organisation und Anordnung gehört dazu, damit man sich nicht im Labyrinth der Gelehrsamkeit hoffnungslos verläuft. Je besser die Ordnung und Systematisierung ist, desto größer kann auch die Anhäufung der Einzelheiten werden, ohne daß der Zusammenhang leidet. Unsere Zeit kann so viel mehr im Einzelnen leisten, weil unsere Vorgänger uns gelehrt haben, wie die Organisation des Wissens einzurichten ist.

Diese Organisation besteht in erster Stufe nur in einer äußerlichen mechanischen Ordnung, wie sie uns unsere Kataloge, Lexika, Register, Indizes, Literaturübersichten, Jahresberichte, Gesetzessammlungen, naturhistorischen Systeme usw. geben. Mit Hilfe dieser Dinge wird zunächst nur erreicht, daß dasjenige Wissen, welches nicht unmittelbar im Gedächtnis aufzubewahren ist, jeden Augenblick von demjenigen, der es braucht, gefunden werden kann. Mittels eines guten Lexikons kann jetzt ein Gymnasiast im Verständnis der Klassiker manches leisten, was einem ERASMUS trotz der Belesenheit eines langen Lebens schwer geworden sein muß. Die Werke dieser Art bilden gleichsam den Grundstock des wissenschaftlichen Vermögens der Menschheit, mit dessen Zinsen gewirtschaftet wird; man könnte sie vergleichen mit einem Kapital, was in Ländereien angelegt ist. Wie die Erde, aus der das Land besteht, sieht das Wissen, das in Katalogen, Lexika und Verzeichnissen steckt, wenig einladend und unschön aus; der Unkundige weiß die Arbeit und Kosten, welche in diesen Acker gesteckt sind, nicht zu erkennen und nicht zu schätzen; die Arbeit des Pflügers erscheint unendlich schwerfällig, mühsam und langweilig. Aber wenn auch die Arbeit des Lexikographen oder des naturhistorischen Systematikers einen ebenso mühsamen und hartnäckigen Fleiß in Anspruch nimmt, wie die des Pflügers, so muß man doch nicht glauben, daß sie untergeordneter Art oder so trocken und mechanisch sei, wie sie nachher aussieht, wenn man das Verzeichnis fertig gedruckt vor sich liegen hat. Es muß eben auch dabei jede einzelne Tatsache durch aufmerksame Beobachtung aufgefunden, nachher geprüft und verglichen, es muß das Wichtige vom Unwichtigen gesondert werden, und das alles kann offenbar nur jemand tun, der den Zweck, zu welchem gesammelt wird, den geistigen Inhalt der betreffenden Wissenschaft und ihre Methoden lebendig aufgefaßt hat. Für einen solchen wird auch jeder einzelne Fall wieder in Zusammenhang mit dem Ganzen treten und sein eigentümliches Interesse haben. Sonst würde ja auch diese Tätigkeit die schlimmste Sklavenarbeit sein, die sich ausdenken läßt. Daß auch auf diese Werke die fortschreitende Ideenentwicklung der Wissenschaft Einfluß hat, zeigt sich eben darin, daß man es für nötig findet, fortdauernd neue Lexika, neue naturistorische Systeme, neue Gesetzessammlungen, neue Sternkataloge auszuarbeiten; darin spricht sich die fortschreitende Kunst der Methode und der Organisation des Wissens aus.

Unser Wissen soll aber nicht in der Form der Kataloge liegen bleiben; denn eben, daß wir es in dieser Form, schwarz auf weiß gedruckt, äußerlich mit uns herumtragen müssen, zeigt an, daß wir es geistig nicht bezwungen haben. Es ist nicht genug, die Tatsachen zu kennen; Wissenschaft ensteht erst, wenn sich ihr Gesetz und ihre Ursachen enthüllen. Die logische Verarbeitung des gegebenen Stoffes besteht zunächst darin, daß wir das Ähnliche zusammenschließen und einen allgemeinen Begriff ausbilden, der es umfaßt. Ein solcher Begriff, wie sein Name andeutet, begreift in sich eine Menge von Einzelheiten und vertritt sie in unserem Denken. Wir nennen ihn Gattungsbegriff, wenn er eine Menge existierender Dinge, wir nennen ihn Gesetz, wenn er eine Reihe von Vorgängen oder Ereignissen umfaßt. Wenn ich ermittelt habe, daß alle Säugetiere, d. h. alle warmblütigen Tiere, welche lebendige Junge gebären, auch zugleich durch Lungen atmen, zwei Herzkammern und mindestens drei Gehörknöchelchen haben, so brauche ich die genannten anatomischen Eigentümlichkeiten nicht mehr von Affen, Pferd, Hund und Walfisch einzeln zu behalten. Die allgemeine Regel umfaßt hier eine ungeheure Menge von einzelnen Fällen und vertritt sie im Gedächtnis. Wenn ich das Brechungsgesetz der Lichtstrahlen ausspreche, so umfaßt dieses Gesetz nicht nur die Fälle, wo Strahlen unter den verschiedensten Winkeln auf eine einzelne ebene Wasserfläche fallen, und gibt mir Auskunft über den Erfolg, sondern es umfaßt alle Fälle, wo Lichtstrahlen irgendeiner Farbe auf die irgendwie gestaltete Oberfläche einer irgendwie gearteten durchsichtigen Substanz fallen. Es umfaßt also dieses Gesetz eine wirklich unendliche Anzahl von Fällen, welche im Gedächtnis einzelne zu bewahren gar nicht möglich gewesen sein würde. Dabei ist aber weiter zu bemerken, daß dasselbe Gesetz nicht nur diejenigen Fälle umfaßt, die wir oder andere schon beobachtet haben, sondern wir werden auch nicht zögern, es auf neue, noch nicht beobachtete Fälle anzuwenden, um den Erfolg der Lichtbrechung danach vorauszusagen, und werden uns in unserer Erwartung nicht getäuscht finden. Ebenso werden wir, falls wir ein unbekanntes, noch nicht anatomisch zerlegtes Säugetier finden sollten, mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit voraussetzen dürfen, daß dasselbe Lungen, zwei Herzkammern, und drei oder mehr Gehörknöchelchen hat.

Indem wir also die Tatsachen der Erfahrung denkend zusammenfassen und Begriffe bilden, seien es Gattungsbegriffe oder Gesetze, so bringen wir unser Wissen nicht nur in eine Form, in der es leicht zu handhaben und aufzubewahren ist, sondern wir erweitern es auch, da wir die gefundenen Regeln und Gesetze auch auf alle ähnlichen künftig noch aufzufindenden Fälle auszudehnen berechtigt sind.

Die genannten Beispiele sind solche, in denen keine Schwierigkeit mehr besteht, die Einzelfälle durch Denken zu Begriffen zusammenzufassen und in denen das Wesen des ganzen Vorgangs klar vor Augen liegt. Aber in komplizierten Fällen gelingt es uns nicht so gut das Ähnliche rein vom Unähnlichen zu scheiden und es zu einem scharf und klar begrenzten Begriff zusammenzufassen. Nehmen Sie an, daß wir einen Menschen als ehrgeizig kennen; wir werden vielleicht mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen, daß, wenn dieser Mann unter gewissen Bedingungen zu handeln hat, er seinem Ehrgeiz folgen und sich für eine gewisse Art des Handelns entscheiden wird. Aber weder können wir mit voller Bestimmtheit definieren, woran ein Ehrgeiziger zu erkennen, oder nach welchem Maß der Grad seines Ehrgeizes zu messen ist, noch können wir mit Bestimmtheit sagen, welcher Grad des Ehrgeizes vorhanden sein muß, damit er im betreffenden Fall den Handlungen des Mannes gerade die betreffende Richtung gibt. Wir machen also unsere Vergleichungen zwischen den bisher beobachteten Handlungen des einen Mannes und zwischen den Handlungen anderer Männer, welche in ähnlichen Fällen ähnlich gehandelt haben, und ziehen unseren Schluß auf den Erfolg der künftigen Handlungen, ohne weder den Major [Obersatz - wp] nach den Minor dieses Schlusses in einer bestimmten und deutlich begrenzten Form aussprechen zu können, ja ohne uns vielleicht selbst klar gemacht zu haben, daß unsere Vorhersagung auf dem beschriebenen Vergleich beruth. Unser Urteil geht in einem solchen Fall nur aus einem gewissen psychologischen Takt, nicht aus einem bewußten Schließen hervor, obgleich im Wesentlichen der geistige Prozeß derselbe geblieben ist, wie in dem Falle, wo wir einem neugefundenen Säugetier Lungen zuschreiben.

Diese letztere Art der Induktion nun, welche nicht bis zur vollendeten Form des logischen Schließens, nicht zur Aufstellung ausnahmslos geltender Gesetze durchgeführt werden kann, spielt im menschlichen Leben eine ungeheuer ausgebreitete Rolle. Auf ihr beruth die ganze Ausbildung unserer Sinneswahrnehmungen, wie sich namentlich durch die Untersuchung der sogenannten Sinnestäuschungen nachweisen läßt. Wenn z. B. in unserem Auge die Nervenausbreitung durch einen Stoß gereizt wird, so bilden wir die Vorstellung von Licht im Gesichtsfeld, weil wir unser ganzes Leben lang eine Reizung in unseren Sehnervenfasern nur dann gefühlt haben, wenn Licht im Gesichtsfeld war, und wir gewöhnt sind, die Empfindung der Sehnervenfasern mit Licht im Gesichtfeld zu identifizieren, was wir auch in einem Fall tun, wo es nicht paßt. Dieselbe Art der Induktion spielt dann auch gegenüber den psychologischen Vorgängen eine Hauptrolle, wegen der außerordentlichen Verwicklung der Einflüsse, welche die Bildung des Charakters und der momentanen Gemütsstimmung der Menschen bedingen. Ja, da wir uns selbst einen freien Willen zuschreiben, d. h. die Fähigkeit, aus eigener Machtvollkommenheit zu handeln, ohne dabei von einem strengen und unausweichlichen Kausalitätsgesetz gezwungen zu sein, so leugnen wir dadurch überhaupt ganz und gar die Möglichkeit, wenigstens einen Teil der Äußerungen unserer Seelentätigkeit auf ein streng bindendes Gesetz zurückzuführen.

Man könnte nun diese Art der Induktion im Gegensatz zur logischen, welche es zu scharf definierten allgemeinen Sätzen bringt, die  künstlerische  Induktion nennen, weil sie im höchsten Grad bei den ausgezeichneteren Kunstwerken hervortritt. Es ist ein wesentlicher Teil des künstlerischen Talents, die charakteristischen äußeren Kennzeichen eines Charakters und einer Stimmung durch Worte, Form und Farbe, oder durch Töne wiedergeben zu können und durch eine Art instinktiver Anschauung zu erfassen, wie sich die Seelenzustände fortentwickeln müssen, ohne doch dabei durch irgendeine faßbare Regel geleitet zu werden. Im Gegenteil, wo wir merken, daß der Künstler mit Bewußtsein nach allgemeinen Regeln und Abstraktionen gearbeitet hat, finden wir sein Werk arm und trivial, und es ist mit unserer Bewunderung zu Ende. Die Werke der großen Künstler bringen uns die Bilder der Charaktere und Stimmungen mit einer Lebhaftigkeit, einem Reichtum an individuellen Zügen und einer überzeugenden Kraft der Wahrheit entgegen, welche der Wirklichkeit fast überlegen scheint, weil die störenden Momente daraus fernbleiben.

Überblicken wir nun die Reihe der Wissenschaften mit Bezug auf die Art, wie sie ihre Resultate zu ziehen haben, so tritt uns ein durchgehender Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften entgegen. Die Naturwissenschaften sind meist imstande, ihre Induktionen bis zu scharf ausgesprochenen allgemeinen Regeln und Gesetzen durchzuführen; die Geisteswissenschaften dagegen haben es überwiegend mit Urteilen nach psychologischem Taktgefühl zu tun. So müssen die historischen Wissenschaften zunächst die Glaubwürdigkeit der Berichterstatter, die ihnen die Tatsachen überliefern, prüfen; sind die Tatsachen festgestellt, so beginnt ihr schwereres und wichtigeres Geschäft, die oft sehr verwickelten und mannigfaltigen Motive der handelnden Völker und Individuen aufzusuchen; beides ist wesentlich nur durch eine psychologische Anschauung zu entscheiden. Die philologischen Wissenschaften, insofern sie sich mit einer Erklärung und Verbesserung der uns überlieferten Texte, mit Literatur- und Kunstgeschichte beschäftigen, müssen den Sinn, den der Schriftsteller auszudrücken, die Nebenbeziehungen, welche er durch seine Worte anzudeuten beabsichtigte, herauszufühlen suchen; sie müssen zum Ende von einer richtigen Anschauung sowohl der Individualität des Schriftstellers, wie auch des Genius der Sprache, in der er schrieb, auszugehen wissen. All das sind Fälle künstlerischer, nicht eigentlich logischer Induktion. Das Urteil läßt sich hier nur gewinnen, wenn eine sehr große Menge von einzelnen Tatsachen ähnlicher Art im Gedächtnis bereit ist, um schnell mit der gerade vorliegenden Frage in Bezug gesetzt zu werden. Eines der ersten Erfordernisse für diese Art von Studien ist deshalb ein treues und bereites Gedächtnis. In der Tat haben viele der berühmten Historiker und Philologen durch die Kraft ihres Gedächtnisses das Staunen ihrer Zeitgenossen erreigt. Natürlich wäre das Gedächtnis allein nicht ausreichend ohne die Fähigkeit, schnell das wesentlich Ähnliche überall herauszufinden, ohne eine fein und reich ausgebildete Anschauung der Seelenbewegungen des Menschen, welche letztere wieder nicht ohne eine gewisse Wärme des Gefühls und des Interesses an der Beobachtung der Seelenzustände anderer zu erreichen sein möchte. Während uns der lebendige Verkehr mit Menschen im täglichen Leben die Grundlage dieser psychologischen Anschauungen geben muß, dient auch das Studium der Geschichte und der Kunst dazu, sie zu ergänzen und zu bereichern, indem sie uns Menschen in ungewöhnlichen Umständen handelnd zeigen, und wir an ihnen die ganze Breite der Kräfte ermessen lernen, die in unserer Brust verborgen liegen.

Die genannten Teile der Wissenschaft bringen es der Regel nach nicht bis zur Formulierung streng gültiger allgemeiner Gesetze, mit Ausnahme der Grammatik. Die Gesetze der Grammatik sind durch menschlichen Willen festgestellt, wenn sie auch nicht in bewußter Absicht und nach einem überdachten Plan gegeben wurden, haben sie sich allmählich nach einem Bedürfnis entwickelt. Sie treten daher demjenigen, welcher die Sprache erlernt, als  Gebote  gegenüber, d. h. als Gesetze, die durch eine fremde Autorität festgestellt worden sind.

An die historischen und philologischen Wissenschaften schließen sich  Theologie  und  Jurisprudenz  an, deren Vorbereitungsstudien und Hilfswissenschaften ja wesentlich dem Kreis jener Studien angehören. Die allgemeinen Gesetze, welche wir in beiden finden, sind ebenfalls  Gebote;  Gesetze, welche durch fremde Autorität für den Glauben und das Handeln in moralischer und juristischer Beziehung gegeben sind, nicht Gesetze, welche, wie die Naturgesetze, die Verallgemeinerung einer Fülle von Tatsachen enthalten. Aber wie bei der Anwendung eines Naturgesetzes auf einen gegebenen Fall, geschieht auch die Subsumption unter die grammatikalischen, juristischen, moralischen und dogmatischen Gebote in der Form des bewußten logischen Schließens. Das Gebot bildet den Major eines solchen Schlusses; der Minor muß festsetzen, ob der zu beurteilende Fall die Bedingungen an sich trägt, für welche das Gebot gegeben ist. Die Lösung der letzteren Aufgabe wird nun allerdings sowohl bei der grammatikalischen Analyse, welche den Sinn des auszusprechenden Satzes deutlich machen soll, wie bei der juristischen Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Tatbestandes. oder der Absichten der handelnden Personen, oder des Sinnes der von ihnen erlassenen Schriftstücke, meist wieder eine Sache der psychologischen Anschauung sein. Dagegen läßt sich nicht verkennen, daß sowohl die Syntax der ausgebildeten Sprachen, als das durch eine mehr als zweitausendjährige Praxis allmählich verfeinerte System unserer Rechtswissenschaft einen hohen Grad von logischer Vollständigkeit und Konsequenz erlangt hat; so daß im Großen und Ganzen die Fälle, welche sich nicht klar unter eines der gegebenen Gesetze fügen wollen, zu den Ausnahmen gehören. Freilich werden solche immer bestehen bleiben, da die von Menschen hingestellten Gesetzgebungen niemals die Folgerichtigkeit und Vollständigkeit der Naturgesetze haben dürften. In solchen Fällen bleibt nichts übrig, als die Absicht des Gesetzgebers aus der Analogie und Konsequenz der für ähnliche Fälle gegebenen Bestimmungen zu erraten, bzw. zu ergänzen.

Das grammatische und juristische Studium hat einen gewissen Vorteil als Bildungsmittel des Geistes dadurch, daß dabei die verschiedenen Arten geistiger Tätigkeit ziemlich gleichmäßig in Anspruch genommen werden. Deshalb ist auch die höhere Schulbildung der neueren europäischen Völker überwiegen auf das Studium fremder Sprachen mittels der Grammatik gestützt. Die Muttersprache und auch fremde Sprachen, welche man allein durch Übung lernt, nehmen nicht das bewußte logische Denken in Anspruch; wohl aber kann man an ihnen das Gefühl für die künstlerische Schönheit des Ausdrucks üben. Griechisch und Lateinisch dagegen, die beiden klassischen Sprachen, haben neben ihrer außerordentlich feinen künstlerischen und logischen Ausbildung den Vorzug, welchen die meisten alten und ursprünglichen Sprachen zu haben scheinen, daß sie durch sehr volle und deutlich unterschiedene Flexionsformen das grammatikalische Verhältnis der Worte und der Sätze zueinander genau bezeichnen. Durch einen langen Gebrauch werden die Sprachen abgeschliffen, die grammatikalischen Bezeichungen im Interesse praktischer Kürze und Schnelligkeit auf das Notwendigsten zurückgeführt und dadurch unbestimmter gemacht. Das läßt sich auch an den modernen europäischen Sprachen, im Vergleich mit dem Lateinischen deutlich erkennen; am weitesten ist in dieser Richtung des Abschleifens das Englische fortgeschritten. Darin scheint es mir auch wesentlich zu beruhen, daß die modernen Sprachen als Unterrichtsmittel viel weniger geeignet sind, als die älteren.

Wie die Jugend an der Grammatik gebildet wird, so benutzt man aus ähnlichen Gründen mit Recht das juristische Studium als Bildungsmittel für ein reiferes Lebensalter, auch da, wo es nicht unmittelbar durch die praktischen Zwecke des Berufes gefordert wird.

Das entgegengesetzte Extrem zu den philologisch-historischen Wissenschaften bieten in Bezug auf die Art geistiger Arbeit die Naturwissenschaften dar. Nicht als ob auf manchen Gebieten dieser Wissenschaften ein instinktives Gefühl für Analogien und ein gewisser künstlerischer Takt nicht auch eine Rolle zu spielen hätten. In den naturhistorischen Fächern ist im Gegenteil die Beurteilung, welche Kennzeichen der Arten als wichtig für die Systematik, welche als unwichtig zu betrachten seien, welche Abteilungen der Tier- und Pflanzenwelt natürlicher seien als ander, wesentlich nur einem solchen Takt überlassen, der ohne genau definierbare Regel verfährt. Bezeichnend ist es auch, daß zu den vergleichend anatomischen Untersuchungen über die Analogie entsprechender Organe verschiedener Tiere und zur analogen Lehre von der Metamorphose der Blätter im Pflanzenreich ein Künstler, nämlich GOETHE, den Anstoß gegeben und daß durch ihn die wesentliche Richtung vorgezeichnet wurde, welche die vergleichende Anatomie seit jener Zeit genommen hat. Aber selbst in diesen Fächern, wo wir es noch mit den unverstandensten Wirkungen der Lebensvorgänge zu tun haben, ist es meist viel leichter, allgemeine umfassende Begriffe und Sätze aufzufinden und scharf auszusprechen, als da, wo wir unser Urteil auf die Analyse von Seelentätigkeiten gründen müssen. In vollem Maße ausgeprägt zeigt sich der besondere wissenschaftliche Charakter der Naturwissenschaften erst in den experimentierenden und mathematisch ausgebildeten Fächern, am meisten in der reinen Mathematik.

Der wesentliche Unterschied dieser Wissenschaften beruth, wie mir scheint, darauf, daß es in ihnen verhältnismäßig leicht ist, die Einzelfälle der Beobachtung und Erfahrung zu allgemeinen Gesetzen von unbedingter Gültigkeit und außerordentlich umfassendem Umfang zu vereinigen, während gerade dieses Geschäft in den zuerst besprochenen Wissenschaften unüberwindliche Schwierigkeiten darzubieten pflegt. Ja in der Mathematik sind die ersten allgemeinen Sätze, welche sie als Axiome an die Spitze stellt, von so geringer Zahl, von so unendlichem Umfang und solch unmittelbarer Evidenz, daß man gar keinen Beweis für sie zu geben braucht. Man bedenke, daß die ganz reine Mathematik (Arithmetik) aus drei Axiomen entwickelt ist:
    "Wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, sind sie unter sich gleich."

    "Gleiches zu Gleichem addiert gibt Gleiches."

    "Ungleiches zu Gleichem addiert gibt Ungleiches."
Nicht zahlreicher sind die Axiome der Geometrie und der theoretischen Mechanik. Die genannten Wissenschaften entwickeln sich aus diesen wenigen Fordersätzen, indem man die Folgerungen aus denselben in immer verwickelteren Fällen zieht. Die Arithmetik beschränkt sich nicht darauf, die mannigfaltigsten Aggregate einer endlichen Zahl von Größen zu addieren; sie lehrt in der höheren Analysis sogar unendlich viele Summanden zu addieren, deren Größe nach den verschiedensten Gesetzen wächst oder abnimmt, also Aufgaben zu lösen, die auf direktem Weg niemals zuende geführt werden könnten. Hier sehen wir die bewußte logische Tätigkeit unseres Geistes in ihrer reinsten und vollendetsten Form; wir können hier die ganze Mühe derselben kennenlernen, die große Vorsicht, mit der sie fortschreiten muß, die Genauigkeit, welche nötig ist, um den Umfang der gewonnenen allgemeinen Sätze genau zu bestimmen, die Schwierigkeit, abstrakte Begriffe zu bilden und zu verstehen; aber ebenso auch Vertrauen fassen lernen in die Sicherheit, Tragweite und Fruchtbarkeit einer solchen Gedankenarbeit.

Letztere tritt nun noch auffälliger in den angewandten mathematischen Wissenschaften hervor, namentlich in der mathematischen Physik, zu welcher auch die physische Astronomie zu rechnen ist. Nachdem NEWTON einmal aus der mechanischen Analyse der Planetenbewegungen erkannt hat, daß alle wägbare Materie in der Entfernung sich anzieht mit einer Kraft, die dem Quadrat des Abstandes umgekehrt proportional ist, so genügt dieses einfache Gesetz, um die Bewegungen der Planeten vollständig und mit größter Genauigkeit zu berechnen in die fernsten Fernen der Vergangenheit und Zukunft hinaus, wenn nur Ort, Geschwindigkeit und Masse aller einzelnen Körper unseres Systems für irgendeinen beliebigen Zeitpunkt gegeben sind; ja wir erkennen das Wirken derselben Kraft auch in den Bewegungen von Doppelsternen wieder, deren Entfernungen so weit sind, daß ihr Licht Jahre braucht, um von ihnen hierher zu gelangen, ja zum Teil so weit, daß die Versuche, sie zu messen, bisher gescheitert sind.

Diese Entdeckung des Gravitationsgesetzes und seiner Konsequenzen ist die imponierende Leistung, deren die logische Kraft des menschlichen Geistes jemals fähig gewesen ist. Ich will nicht sagen, daß nicht Männer mit ebenso großer oder größerer Kraft der Abstraktion gelebt hätten, als NEWTON und die übrigen Astronomen, welche seine Entdeckung teils vorbereitet, teils ausgebeutet haben; aber es hat sich niemals ein so geeigneter Stoff dargeboten, als die verwirrten und verwickelten Planetenbewegungen, die vorher bei den ungebildeten Beschauern nur astrologischen Aberglauben genährt hatten, und nun unter ein Gesetz gebracht wurden, welches imstande war, von den kleinsten Einzelheiten ihrer Bewegungen die genaueste Rechenschaft abzulegen.

An diesem größten Beispiel und nach seinem Muster hat sich nun auch eine Reihe von anderen Zweigen der Physik entwickelt, unter denen namentlich die Optik und die Lehre von der Elektrizität und dem Magnetismus zu nennen sind. Die experimentierenden Wissenschaften haben bei der Aufsuchung der allgemeinen Naturgesetze den großen Vorteil vor den beobachtenden voraus, daß sie willkürlich die Bedingungen verändern können, unter denen der Erfolg eintritt, und sich deshalb auf eine nur kleine Zahl charakteristischer Fälle der Beobachtung beschränken dürfen, um das Gesetz zu finden. Die Gültigkeit des Gesetzes muß dann freilich auch an verwickelteren Fällen geprüft werden. So sind die physikalischen Wissenschaften, nachdem einmal die richtigen Methoden gefunden waren, verhältnismäßig schnell fortgeschritten. Sie haben uns nicht nur fähig gemacht, Blicke in die Urzeit zu werfen, wo sich die Weltennebel zu Gestirnen zusammenballten und durch die Gewalt ihres Zusammendrängens glühend wurden, nicht nur erlaubt, die chemischen Bestandteile der Sonnenatmosphäre zu erforschen - die Chemie der fernsten Fixsterne wird wahrscheinlich nicht lange auf sich warten lassen (3) - sondern sie haben uns auch gelehrt, die Kräfte der uns umgebenden Natur zu unserem Nutzen auszubeuten und sie unserem Willen dienstbar zu machen.

Aus dem Gesagten wird sich nun schon erhellen, wie verschieden von der erst besprochenen ihrem größten Teil nach die geistige Tätigkeit in diesen Wissenschaften ist. Der Mathematiker braucht gar kein Gedächtnis für einzelne Tatsachen, der Physiker sehr wenig davon zu haben. Die auf die Erinnerung ähnlicher Fälle gebauten Vermutungen können wohl nützlich sein, um zuerst auf eine richtige Spur zu bringen; Wert bekommen sie erst, wenn sie zu einem streng formulierten und genau begrenzten Gesetz geführt haben. Der Natur gegebüber besteht kein Zweifel, daß wir es mit einem ganz strengen Kausalnexus zu tun haben, der keine Ausnahmen zuläßt. Deshalb ergeht an uns auch die Forderung, fortzuarbeiten, bis wir ausnahmslose Gesetze gefunden haben. Eher dürfen wir uns nicht beruhigen; erst in dieser Form erhalten unsere Kenntnisse die siegende Kraft über Raum und Zeit und Naturgewalt.

Die eiserne Arbeit des selbstbewußten Schließens erfordert große Hartnäckigkeit und Vorsicht, sie geht in der Regel nur sehr langsam vor sich und wird selten durch schnelle Geistesblitze gefördert. Es ist bei ihr wenig zu finden von der Bereitwilligkeit, mit der die verschiedensten Erfahrungen dem Gedächtnis des Historikers oder Philologen zuströmen müssen. Im Gegenteil ist die wesentliche Bedingung für den methodischen Fortschritt des Denkens, daß der Gedanke auf einen Punkt konzentriert bleibe, ungestört von Nebendingen, ungestört auch von Wünschen und von Hoffnungen, und daß er nur nach seinem eigenen Willen und Entschluß fortschreitet. Ein berühmter Logiker, JOHN STUART MILL, erklärt es als seine Überzeugung, daß die induktiven Wissenschaften in der neuesten Zeit mehr für die Fortschritte der logischen Methoden getan hätten, als alle Philosophen vom Fach. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt gewiß in dem Umstand, daß auf keinem Gebiet des Wissens ein Fehler in der Gedankenverbindung sich so leicht durch falsche Resultate zu erkennen gibt, als in diesen Wissenschaften, wo wir die Ergebnisse der Gedankenarbeit meist direkt mit der Wirklichkeit vergleichen können.

Indem ich hier die Behauptung aufgestellt habe, daß, namentlich in den mathematisch ausgebildeten Teilen der Naturwissenschaften, die Lösung der Aufgaben ihrem Ziel näher gekommen ist, als im Allgemeinen in den übrigen Wissenschaften, so bitte ich nicht zu glauben, daß ich diese den Naturwissenschaften gegenüber herabsetzen will. Wenn diese die größere Vollendung in der wissenschaftlichen Form voraus haben, so haben die Geisteswissenschaften vor ihnen voraus, daß sie einen reicheren, dem Interesse des Menschen und seinem Gefühl näher liegenden Stoff zu behandeln haben, nämlich den menschlichen Geist selbst in seinen verschiedenen Trieben und Tätigkeiten. Sie haben die höhere und schwerere Aufgabe, aber es ist klar, daß ihnen das Beispiel derjenigen Zweige des Wissens nicht verloren gehen darf, welche, des leichter zu bezwingenden Stoffes wegen, in formaler Beziehung weiter vorwärts geschritten sind. Sie können von ihnen in der Methode lernen und sich vom Reichtum ihrer Ergebnisse Ermutigung holen. Auch glaube ich in der Tat, daß unsere Zeit schon mancherlei von den Naturwissenschaften gelernt hat. Unbedingte Achtung vor den Tatsachen und Treue in ihrer Sammlung, ein gewisses Mißtrauen gegen den sinnlichen Schein, das Streben, überall nach einem Kausalnexus zu suchen und einen solchen vorauszusetzen, wodurch sich unsere Zeit von früheren unterscheidet, scheinen auf einen solchen Einfluß hinzudeuten.

Inwiefern den mathematischen Studien, als den Repräsentanten der selbstbewußten logischen Geistestätigkeit, ein größerer Einfluß in der Schulbildung eingeräumt werden müsse, will ich hier nicht erörtern. Es ist dies wesentlich eine Frage der Zeit. In dem Maße, wie sich der Umfang der Wissenschaft erweitert, muß auch ihre Systematisierung und Organisation verbessert werden, und es wird nicht fehlen können, daß sich auch die Individuen genötigt sehen werden, strengere Schulen des Denkens durchzumachen, als die Grammatik zu gewähren imstande ist. Was mir in eigener Erfahrung bei den Schülern, die aus unseren grammatischen Schulen zu naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien übergehen, aufzufallen pflegt, ist, erstens, eine gewisse Laxheit in der Anwendung streng allgemeingültiger Gesetze. Die grammatischen Regeln, an denen sie sich geübt haben, sind in der Tat meist mit langen Verzeichnissen von Ausnahmen versehen; die Schüler sind deshalb nicht gewöhnt, auf die Sicherheit der legitimen Konsequenz eines streng allgemeinen Gesetzes unbedingt zu vertrauen. Zweitens finde ich sie meist zu sehr geneigt, sich auf Autoritäten zu stützen, auch da, wo sie sich ein eigenes Urteil bilden könnten. In den philologischen Studien wird in der Tat der Schüler, weil er selten das ganze Material übersehen kann, und weil die Entscheidung oft von einem ästhetischen Gefühl für die Schönheit des Ausdrucks und dem Genius der Sprache abhängt, sogar von den besten Lehrern auf Autoritäten verwiesen werden müssen. Beide Fehler beruhen auf einer gewissen Trägheit und Unsicherheit des Denkens, die nicht bloß späteren naturwissenschaftlichen Studien schädlich sein wird. Gegen beides sind mathematische Studien das beste Heilmittel; da gibt es eine absolute Sicherheit des Schließens, und da herrscht keine Autorität als die des eigenen Verstandes.

Soviel über die verschiedenen sich gegenseitig ergänzenden Richtungen der geistigen Arbeit in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft.

Das Wissen allein ist aber nicht Zweck des Menschen auf der Erde. Obgleich die Wissenschaften die feinsten Kräfte des menschlichen Geistes erwecken und ausbilden, so wird doch derjenige keine rechte Ausfüllung seines Daseins auf Erden finden, welcher nur studiert, um zu wissen. Wir sehen oft genug reich begabte Männer, denen ihr Glück oder Unglück eine behagliche äußere Existenz zugeworfen hat, ohne ihnen zugleich den Ehrgeiz oder die Energie zum Wirken mitzuteilen, ein gelangweiltes und unbefriedigtes Leben dahinschleppen, während sie in fortdauernder Sorge für die Vermehrung ihres Wissens und eine weitere Bildung ihres Geistes dem edelsten Lebenszweck zu folgen glauben. Nur das Handeln gibt einem Mann ein würdiges Dasein; also entweder die praktische Anwendung des Gewußten, oder die Vermehrung der Wissenschaft selbst muß sein Ziel sein. Denn auch das letztere ist ein Handeln für den Fortschritt der Menschheit. Damit gehen wir dann über zum zweiten Band, welches die Arbeit der verschiedenen Wissenschaften miteinander verknüpft, nämlich zu Verbindung ihres Inhaltes.

Wissen ist Macht. Keine Zeit kann diesen Grundsatz augenfälliger darlegen als die unsere. Die Naturkräfte der unorganischen Welt lehren wir den Bedürfnissen des menschlichen Lebens und den Zwecken des menschlichen Geistes zu dienen. Die Anwendung des Dampfes hat die Körperkraft der Menschen in das Tausendfache und Millionenfache vermehrt; Webe- und Spinnmaschinen haben solche Arbeiten übernommen, deren einziges Verdienst geisttötende Regelmäßigkeit ist. Der Verkehr der Menschen untereinander mit seinen gewaltig eingreifenden materiellen und geistigen Folgen ist in einer Weise gesteigert, wie es sich niemand auch nur hätte träumen lassen in der Zeit, als die Älteren unter uns ihr Leben begannen. Es sind aber nicht nur die Maschinen, durch welche die Menschenkräfte vervielfältigt werden; es sind nicht nur die gezogenen Gußstahlkanonen und die Panzerschiffe, die Vorräte an Lebensmitteln und Geld, auf denen die Macht einer Nation beruth, obgleich diese Dinge so deutlich ihren Einfluß gezeigt haben, daß auch die stolzesten und unnachgiebigsten der absoluten Regierungen unserer Zeit daran denken mußten, die Industrie zu entfesseln und den politischen Interessen der arbeitenden bürgerlichen Klassen eine berechtigte Stimme in ihrem Rat einzuräumen. Es ist die politische und rechtliche Organisation des Staates, die moralische Disziplin der Einzelnen, welche das Übergewicht der gebildeten Nationen über die ungebildeten bedingt, und die letzteren, wo sie die Kultur nicht anzunehmen wissen, einer unausbleiblichen Vernichtung entgegenführt. Hier greift alles ineinander. Wo kein fester Rechtszustand ist, wo die Interessen der Mehrzahl des Volkes sich nicht in geordneter Weise geltend machen können, da ist auch die Entwicklung des Nationalreichtumgs und der darauf beruhenden Macht unmöglich; und zum rechten Soldaten wird nur der werden können, welcher unter gerechten Gesetzen das Ehrgefühl eines selbständigen Mannes auszubilden gelernt hat; nicht der Sklave, der den Launen eines eigenwilligen Gebieters unterworfen ist.

Daher ist dann auch jede Nation als Ganzes schon durch die alleräußerlichsten Zwecke der Selbsterhaltung, auch ohne auf höhere ideale Forderungen Rücksicht zu nehmen, nicht nur an der Ausbildung der Naturwissenschaften und ihrer technischen Anwendung interessiert, sondern ebenso gut an der Ausbildung der politischen, juristischen und moralischen Wissenschaften, und all derjenigen historischen und philologischen Hilfsfächer, die diesen dienen. Keine Nation, welche selbständig und einflußreich bleiben will, darf zurück bleiben. Auch fehlt diese Erkenntni bei den kultivierten Völkern Europas nicht. Die öffentlichen Mittel, welche den Universitäten, Schulen und wissenschaftlichen Anstalten zugewendet werden, übertreffen alles, was in früheren Zeiten dafür geleistet werden konnte. Ich sprach in der Einleitung von der wachsenden Teilung und Organisation der wissenschaftlichen Arbeit. In der Tat bilden die Männer der Wissenschaft eine Art organisierter Armee. Sie suchen zum Besten der ganzen Nation, und fast immer in deren Auftrag und auf deren Kosten die Kenntnisse zu vermehren, welche zur Steigerung der Industrie, des Reichtums, der Schönheit des Lebens, zur Verbesserung der politischen Organisation und der moralischen Entwicklung der Individuen dienen können. Nicht nach dem unmittelbaren Nutzen frelich darf dabei gefragt werden, wie es der Ununterrichtete so oft tut. Alles was uns über die Naturkräfte oder die Kräfte des menschlichen Geistes Aufschluß gibt, ist wertvoll und kann zu seiner Zeit Nutzen bringen, gewöhnlich an einer Stelle, wo man es am allerwenigsten vermutet hätte. Als GALVANI einen Froschschenkel mit verschiedenartigen Metallen berührte und ihn zucken sah, hätte wohl niemand gedacht, daß 80 Jahre später Europa mit Drähten durchzogen sein würde, welche Nachrichten mit Blitzesschnelle von Madrid nach Petersburg tragen, mittels desselben Vorgangs, dessen erste Äußerungen jener Anatom beobachtete! Die elektrischen Ströme waren Vorgänge, die in seinen und anfangs auch noch in VOLTAs Händen nur die allerschwächsten Kräfte ausübten und die nur durch die allerzartesten Beobachtungsmittel wahrgenommen werden konnten. Hätte man sie liegen lassen, weil ihre Untersuchung keinen Nutzen versprach, so würden in unserer Physik die wichtigsten und interessantesten Verknüpfungen der verschiedenartigen Naturkräfte untereinander fehlen. Als der junge GALILEI in Pisa während des Gottesdienstes eine schaukelnde Lampe beobachtete und sich durch Abzählen seines Pulses überzeugte, daß die Dauer der Schwingungen unabhängig von der Größe der Schwingungsbögen sei, wer konnte sich denken, daß diese Entdeckung dazu führen würde, mittels der Pendeluhren eine damals für unmöglich gehaltene Feinheit der Zeitmessung zu erreichen, die es dem Seefahrer in den entferntesten Gewässern ermöglicht, zu erkennen, auf welchem Längengrad er sich befindet!

Wer bei der Verfolgung der Wissenschaften nach unmittelbarem praktischen Nutzen jagt, kann ziemlich sicher sein, daß er vergebens jagen wird. Vollständige Kenntnis und vollständiges Verständnis des Waltens der Natur- und Geisteskräfte ist es allein, was die Wissenschaft erstreben kann. Der einzelne Forscher muß sich belohnt sehen durch die Freude an neuen Entdeckungen, als neuen Siegen des Gedankens über den widerstrebenden Stoff; durch die ästhetische Schönheit, welche ein wohlgeordnetes Gebiet von Kenntnissen gewährt, in welchem ein geistiger Zusammenhang zwischen allen einzelnen Teilen stattfindet, eines aus dem anderen sich entwickelt und alles die Spuren der Herrschaft des Geistes zeigt. Er muß sich belohnt sehen durch das Bewußtsein, auch seinerseits beigetragen zu haben zum wachsenden Kapital des Wissens, auf welchem die Herrschaft der Menschheit über die dem Geist feindlichen Kräfte beruth. Er wird freilich nicht immer erwarten dürfen, auch die äußere Anerkennung und Belohnung zu empfangen, die dem Wert seiner Arbeit entsprächen. Es ist wohl wahr, daß so mancher, dem man nach seinem Tod ein Monument gesetzt hat, glücklich gewesen wäre, hätte man ihm während seines Lebens den zehnten Teil der dazu verwendeten Geldmittel gewährt. Indessen dürfen wir nicht verkennen, daß der Wert der wissenschaftlichen Entdeckungen gegenwärtig von der öffentlichen Meinung bereitwilliger anerkannt wird als früher, und daß solche Fälle, wo die Urheber bedeutender wissenschaftlicher Fortschritte darben müssen, seltener und seltener werden; daß, im Gegenteil, Regierungen und Völker im Ganzen das Bewußtsein der Pflicht gewonnen haben, daß ausgezeichnete Leistungen in der Wissenschaft durch entsprechende Stellungen oder durch besonders ausgeworfene Nationalbelohnungen zu vergelten seien.

So haben also die Wissenschaften einen gemeinsamen Zweck, den Geist herrschend zu machen über die Welt. Während die Geisteswissenschaften direkt daran arbeiten, den Inhalt des geistigen Lebens reicher und interessanter zu gestalten, das Reine vom Unreinen zu sondern, so streben die Naturwissenschaften indirekt nach demselben Ziel, indem sie den Menschen von den auf ihn eindringenden Notwendigkeiten der Außenwelt mehr und mehr zu befreien suchen. Jeder einzelne Forscher arbeitet an seinem Teil; er wählt sich diejenigen Aufgaben, denen er, vermöge seiner geistigen Anlage und seiner Bildung, am meisten gewachsen ist. Jeder Einzelne muß aber wissen, daß er nur im Zusammenhang mit den anderen das große Werk weiter zu fördern imstande ist und daß er deshalb verpflichtet ist, die Ergebnisse seiner Arbeit den Übrigen möglichst vollständig und leicht zugänglich zu machen. Dann wird er Unterstützung finden bei den anderen und wird ihnen wieder seine Unterstützung leihen können. Die Annalen der Wissenschaft sind reich an Beweisen solcher Wechselverhältnisse, die zwischen den scheinbar entlegensten Gebieten eingetreten sind. Die historische Chronologie ist wesentlich gestützt auf astronomische Berechnungen von Sonnen- und Mondfinsternissen, von denen die Nachricht in den alten Geschichtsbüchern aufbewahrt ist. Umgekehrt beruhen manche wichtige Daten der Astronomie, z. B. die Unveränderlichkeit der Tageslänge, die Umlaufzeit mancher Kometen auf alten historischen Nachrichten. Neuerdings haben es die Physiologen, unter ihnen namentlich BRÜCKE, unternehmen können, das vollständige System der von den menschlichen Sprachwerkzeugen zu bildenden Buchstaben aufzustellen und Vorschläge zu einer allgemeinen Buchstabenschrift darauf zu gründen, welche für alle menschlichen Sprachen paßt. Hier ist also die Physiologie in den Dienst der allgemeinen Sprachwissenschaft getreten und hat schon die Erklärung mancher sonderbar scheinenden Lautumwandlungen geben können; indem diese nicht, wie man es bisher auszudrücken pflegte, durch die Gesetze der Euphonie [Wohlklang - wp], sondern durch die Ähnlichkeit der Mundstellungen bedingt waren. Die allgemeine Sprachwissenschaft gibt wiederum Kunde von den uralten Verwandtschaften, Trennungen und Wanderungen der Volksstämme in vorgeschichtlicher Zeit, und vom Grad der Kultur, den sie zur Zeit ihrer Trennung erlangt hatten. Denn die Namen derjenigen Gegenstände, die sie damals schon zu benennen wußten, finden sich in den späteren Sprpachen gemeinsam wieder. So liefert also das Studium der Sprachen historische Nachrichten aus Zeiten, für welche sonst kein historisches Dokument existiert. Ich erinnere ferner an die Hilfe, welche der Anatom dem Bildhauer leisten kann, wie dem Archäologen, welcher alte Skulpturwerke untersucht. Ist es mir erlaubt, eigener neuester Arbeiten hier zu gedenken, so will ich noch erwähnen, daß es möglich ist, durch die Physik des Schalls und die Physiologie der Tonempfindungen die Elemente der Konstruktion unseres musikalischen Systems zu begründen, eine Aufgabe, die wesentlich in das Fach der Ästhetik hineingehört. Die Physiologie der Sinnesorgane überhaupt tritt in engsten Verbindung mit der Psychologie. Sie weist in den Sinneswahrnehmungen die Resultate psychischer Prozesse nach, welche nicht in den Bereich des auf sich selbst reflektierenden Bewußtseins fallen und welche deshalb notwendig der psychologischen Selbstbeobachtung verborgen bleiben mußten.

Ich konnte hier nur die auffälligsten, mit wenigen Worten leicht zu bezeichnenden Beispiele eines solchen Ineinandergreifens anführen und mußte dazu die Beziehungen zwischen möglichst fernstehenden Wissenschaften wählen. Aber viel ausgedehnter ist natürlich der Einfluß, welchen die einzelne Wissenschaft auf die ihr nächstverwandte ausübt; er ist selbstverständlich, von ihm brauche ich nicht zu reden, denn jeder kennt ihn aus eigener Erfahrung.

So betrachte sich jeder Einzelne als einen Arbeiter am gemeinsamen großen Werk, welches die edelsten Interessen der ganzen Menschheit berührt, nicht als einen solchen, der zur Befriedigung seiner eigenen Wißbegier oder seines eigenen Vorteils oder um mit seinen eigenen Fähigkeiten zu glänzen, sich bemüht, dann wird ihm auch das eigene lohnende Bewußtsein und die Anerkennung seiner Mitbürger nicht fehlen. Diese Beziehung aller Forscher und aller Zweige des Wissens zueinander und zu ihrem gemeinsamen Ziel stets in lebendigem Zusammenwirken zu erhalten, das ist die große Aufgabe der Universitäten, darum ist es nötig, daß an ihnen die vier Fakultäten stets Hand in Hand gehen, und in diesem Sinne wollen wir uns bemühen, so weit es an uns ist, dieser großen Aufgabe nachzustreben.
LITERATUR - Hermann Helmholtz, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft [Akademische Festred gehalten zu Heidelberg beim Antritt des Prorektorats 1862] Vorträge und Reden, Bd. 1, Braunschweig 1896
    Anmerkungen
    1) Mit dem seitdem entdeckten  Indium  jetzt 65 (1883).
    2) Am 11. Mai 1883 ist schon der 233ste der kleinen Planeten entdeckt worden. Die Zahl derselben wächst jährlich.
    3) Bekanntlich ist eine Fülle interessanter Entdeckungen in dieser Beziehung schon gemacht worden, seit der ersten im April 1864 veröffentlichten Arbeit von W. HUGGINS und W. A. MILLER, in der die Analyse der Atmosphären des  Aldebaran  und  Alpha-Orion  gegeben und leuchtender Wasserstoff in den Nebelflecken nachgewiesen wurde.