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WILHELM WUNDT
Über die Einteilung der Wissenschaften
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"Unter einer formalen Eigenschaft hat man eine solche zu verstehen, die sich nur auf die  Ordnung  eines in der Erfahrung gegebenen Mannigfaltigen, nicht auf den  Inhalt  desselben bezieht. Nach ihrer Entstehung sind die formalen Eigenschaften diejenigen, bei denen man nur auf die  intellektuelle  Funktion bei der Auffassung eines Gegebenen reflektiert, dagegen von allem, was der sinnlichen Empfindungen angehört, abstrahiert. Diese beiden Definitionen fallen inhaltlich vollständig zusammen; die intellektuelle Funktion bei der Auffassung der Dinge besteht eben lediglich in einer ordnenden Tätigkeit, niemals in der Erzeugung oder auch nur in der Nacherzeugung irgendeines Erfahrungsinhaltes. Diejenige Disziplin, welche in noch allgemeinerer Weise als die Mathematik die formalen Eigenschaften unserer Begriffe untersucht, indem sie von allen Besonderheiten absieht, welche die mannigfaltigen Formen der Ordnung eines Gegebenen darbieten können, ist die  formale Logik.  Alle einzelnen Zweige der Mathematik können darum auch als Anwendungen der formalen Logik auf einzelne Formbegriffe betrachtet werden."

II. Allgemeine Gesichtspunkte
der systematischen Einteilung

Unzweifelhaft hat das Problem der Einteilung der Wissenschaften in England und Frankreich mehr als in Deutschland die Geister beschäftigt. Ein Symptom hierfür liegt namentlich auch darin, daß dort nicht bloß Philosophen, sondern mehrfach hervorragende Vertreter einzelner Wissenschaften, Mathematiker, Naturforscher, Juristen, die Frage behandelten. Es mag dies davon herrühren, daß die gerühmte deutsche Universalität doch weniger eine individuelle als eine kollektive Eigenschaft ist. Als Individuen sind wir zumeist einseitiger als die Engländer und Franzosen, bei denen Fachgelehrte, die mit den wichtigsten Fortschritten auf anderen Gebieten vertraut sind, häufiger vorkommen dürften. So ist es dann auch begreiflich, daß unsere Gelehrten, im Besitz ihrer sicheren Aufgaben, sich für ihre Zwecke an der praktischen Arbeitsteilung genügen lassen, die tatsächlich eingetreten ist und sich bewährt hat. In der Tat wird nun jeder Einteilungsversuch auf diese Ergebnisse der natürlichen Entwicklung Rücksicht nehmen müssen. Nichts kann verkehrter sein, als wenn man, wie es bei einigen der oben besprochenen Einteilungen in gewissem Umfang stattgefunden hat, so verfährt, als seien die Objekte, die man klassifizieren soll, selbst erst zu schaffen. Was einem BACON angesichts des unentwickelten Zustandes der Wissenschaft seiner Tage erlaubt war, ist uns heute versagt. Beim ausgebildeten Zustand der einzelnen Wissenschaften, dessen wir uns erfreuen, können Veränderungen der Gebietsteilung oder die Entstehung neuer Gebiete im allgemeinen nur noch auf dem Weg allmählicher Entwicklung erwartet werden. Der von BACON so erfolgreich eingeführten Kategorie der "Desiderata" wird sich daher der Systematiker nur noch im bescheidensten Maße und natürlich niemals ohne sorgfältig erwogene Gründe bedienen dürfen. In der Tat haben die wenigen Versuche, die bei uns in jüngster Zeit in dieser Richtung gemacht worden sind, im allgemeinen sich befleißigt, diese Regel einzuhalten. (1) Doch sind diese Versuche nicht in der Absicht einer eingehenden logischen Systematik unternommen worden, sondern dieselben beschäftigen sich bloß mit der Untersuchung des logischen Verhältnisses der hauptsächlichsten Wissenschaftsgebiete zueinander, also mehr mit einer Vorfrage der Klassifikation als mit dieser selber.

Der Forderung, daß die Einteilung der Wissenschaften, wie im allgemeinen jede Klassifikation, von dem zu klassifizierenden Objekt, das heißt von den bestehenden Wissenschaften auszugehen habe, ist nun zuweilen die andere substituiert worden, jeen Einteilung habe sich nach den  Gegenständen  zu richten, mit denen sich die Wissenschaften beschäftigen. Besonders die unter dem Einfluß der naturwissenschaftlichen Systematik entstandenen Versuche haben zum Teil diese Verwechslung begangen. Nun trifft es zwar vielfach zu, daß die Wissenschaften selbst sich nach den Gegenständen scheiden; aber das ist doch keineswegs überall der Fall. Das nächste Motiv, welches die Scheidung der Wissenschaften bestimmt, ist vielmehr die Verschiedenheit der  Gesichtspunkte,  unter denen die Objekte betrachtet werden. Nicht nach den Gegenständen unmittelbar, sondern nach den Begriffsbildungen, welche durch die Gegenstände angeregt werden, richtet sich die Trennung der Wissenschaften. Darum ist in sehr vielen Fällen ein und derselbe Gegenstand Objekt mehrerer Wissenschaften. Ein Körper kann von der Geometrie, von der Mechanik, von der Physik, Chemie, Mineralogie und unter Umständen noch von anderen Naturwissenschaften betrachtet werden. In Wahrheit konnte daher auch von den nach naturgeschichtlichem Vorbild unternommenen Einteilungen jenes Prinzip der Gliederung nach Objekten nur scheinbar festgehalten werden, da die Körper und die Geister, nach denen ein BENTHAM und AMPÉRE ihre Unterscheidung von Körper- und Geisteswissenschaften ausführten, in Wahrheit gar nicht verschiedene Objekte, sondern verschiedene Klassen von Erscheinungen sind, die in der uns umgebenden Welt an den nämlichen Objekten sich darbieten. COMTE und SPENCER haben diesen Sachverhalt richtig erkannt. Wenn sie aber aus diesem Grund die Geisteswissenschaften einfach den Naturwissenschaften subsumierten, so sind sie hier selbst von dem nämlichen falschen Gesichtspunkt geleitet worden. Denn die tatsächliche Gliederung der Wissenschaften ist nicht dadurch entstanden, daß man sich verschiedenen Objekten mit verschiedenen Eigenschaften gegenübersah. Vielmehr wurde diese wie jede andere Arbeitsteilung durch die Übung der verschiedenen Tätigkeiten veranlaßt, die in den verschiedenen Gebieten erfordert wird. Direkt hat sie also nicht im  Objekt,  sondern im  erkennenden Subjekt  ihren Ursprung, im Objekt immer nur insofern, als dieses auf die Art der stattfindenden Arbeit von Einfluß ist. Nun richtet sic haber die Art der  wissenschaftlichen  Arbeit überall nach den  Methoden,  deren man sich zur Lösung der Probleme bedient, und diese Methoden werden ihrerseits wieder von der Art der Begriffsbildung bestimmt, welche der betreffenden Wissenschaft zugrunde liegt. So kann sich z. B. die Mathematik auf die allerverschiedensten Objekte erstrecken, auf Naturgegenstände, Naturvorgänge, geistige Prozesse oder sogar auf gänzlich fingierte Begriffe. Alle mathematischen Begriffe werden aber durch die Art der Abstraktion, die bei ihnen obwaltet, klar von den in den sämtlichen anderen Wissenschaften vorkommenden Begriffsbildungen geschieden. Ferner beschäftigen sich die Rechtswissenschaft und die Nationalökonomie beide mit gewissen gesellschaftlichen Verhältnissen und Erscheinungen: eine und dieselbe Tatsache, z. B. ein Handelsvertrag zwischen zwei Nationen, kann Gegenstand juristischer und nationalökonomischer Untersuchung sein. Aber die Begriffe und Methoden, die in beiden Fällen zur Anwendung kommen, sind völlig andere. Der Nationalökonom faßt die wirtschaftlichen Folgen, die Vorteile und Nachteile eines solchen Vertrages, der Jurist die verbindliche Kraft und die Rechtsfolgen desselben ins Auge. Gerade bei den allgemeinen Scheidungen der Gebiete ist auf diese Weise die Inkongruenz zwischen dem der wissenschaftlichen Betrachtung gegebenen Gegenstand und der Art dieser Betrachtung am augenfälligsten. Erst bei der engeren Scheidung der Einzelgebiete wird das Objekt als solches mehr und mehr maßgebend auch für die Bearbeitung desselben. So hat die Naturgeschichte im allgemeinen ihre Objekte mit der Mechanik, Physik und Chemie die Mineralogie, Botanik, Zoologie, teilen sich unter die verschiedenen in der äußeren Natur vorkommenden Objekte.

Im höchsten Maße findet daher jener Gesichtspunkt, daß unsere Auffassung und Betrachtung des Gegenstandes und nicht der Gegenstand selbst die fundamentalen Gliederungen der Wissenschaften bestimmt, seine Anwendung bei einer der wichtigsten Trennungen, bei der nämlich die  Philosophie  von den Einzelwissenschaften. Der Versuch, die Wissenschaften nach ihren Objekten zu klassifizieren, kann der selbständigen Aufgabe der Philosophie so wenig wie derjenigen der Mathematik gerecht werden, weil auch die Philosophie keine anderen Gegenstände besitzt als die übrigen Wissenschaften. Ebenso ist die Eigentümlichkeit der philosophischen Betrachtungsweise damit nicht im geringsten gekennzeichnet, daß man ihr die  allgemeinen  Fragen jeder Einzelwissenschaft zuweist. Der wesentlich Charakter ihrer Untersuchungen wird vielmehr dadurch bestimmt, daß sie sich mit Begriffen und Problemen beschäftigt, von denen die Einzelwissenschaften immer nur spezielle Anwendungen darbieten, ohne daß diese Begriffe und Probleme selbst in ihnen zur Erledigung kommen. Die Fragen, welche die Philosophie beschäftigen, können daher bei der Betrachtung eines jeden beliebigen einzelnen Gegenstandes, wie er auch Objekt einer Einzelwissenschaft ist, angeregt werden. Aber die Philosophie hat jedes einzelne Problem mit den allgemeinen Erkenntnisproblemen in Beziehung zu setzen und die allgemeinen Ergebnisse, welche sich bei der Lösung der letzteren darbieten, wieder auf die einzelnen Gegenstände anzuwenden. Darum kann es ebensowenig genügen, die Philosophie als eine bloße Sammlung der allgemeinen Prinzipien der einzelnen Wissenschaften anzusehen, wie es der bedeutsamen Stellung der letzteren entspricht, wenn man sie als bloße Einzelausführungen eines enzyklopädischen Systems der Philosophie, etwa im Sinne des HEGELschen, gelten lassen wollte. Vielmehr ist die Philosophie gerade so und mit demselben Recht wie die Mathematik den übrigen Wissenschaften gegenüberzustellen; ja die Philosophie nimmt hier noch die allgemeinere Stellung ein, da die Prinzipien, mit denen sie sich beschäftigt, in der Mathematik so gut wie in den Natur- und Geisteswissenschaften ihre Anwendung finden.

Somit wird das ganze wissenschaftliche System zunächst in  zwei  Hauptabteilungen zu zerlegen sein: in das System der  Einzelwissenschaften  und in das System der  Philosophie.  Da sich nun aber zwar historisch die Einzelgebiete allmählich aus der Philosophie abgezweigt haben, beim heutigen Zustand der wissenschaftlichen Entwicklung jedoch zweifellos der Einfluß der Ergebnisse der ersteren auf die Philosophie ein ungleich größerer sein muß, als der umgekehrte jemals sein kann, so wird das System der Einzelwissenschaften dem der Philosophie vorauszustellen sein.

Innerhalb der Einzelwissenschaften nimmt die  Mathematik  eine Sonderstellung ein, welche darin ihren angemessenen Ausdruck findet, daß wir sie als die  formale  Wissenschaft von den übrigen als den  realen Wissenschaften  scheiden. In der Tat liegt nur in diesem formalen Charakter, nicht aber in dem Grad ihrer Abstraktionen die besondere Eigentümlichkeit des mathematischen Denkens. (2) Zugleich wird aber dadurch die häufig vorhandene Auffassung, welche auch in mehreren der oben erörterten Systeme ihren Ausdruck fand, als wenn die Mathematik an und für sich den Naturwissenschaften verwandter sei als den Geisteswissenschaften oder gar selbst zu den ersteren gehöre, zurückgewiesen. Denn es ist selbstverständlich, daß alles irgendwie Gegebene nach seiner rein formalen Seite betrachtet werden kann, so daß prinzipiell die Mathematik ebensogut als Hilfsmittel der Geisteswissenschaften, wie als solches der Naturwissenschaften möglich ist. Zum Hilfsmittel wird sie eben überall, wo die Art formaler Betrachtung, die sie ausführt, geboten erscheint. Übrigens ist die Mathematik in nicht anderer Weise Hilfsdisziplin, als die auch jede andere Wissenschaft gegenüber einer anderen, z. B. die Physik gegenüber der Physiologie, sein kann. Zunächst und vor allem ist sie selbständige Wissenschaft, und als solche verfolgt sie die Probleme, die sich ihr aufgrund des ihr eigenen Begriffssystems ergeben, ohne Rücksicht auf die Anwendungen, welche dieselben in auf anderen Gebieten zulassen mögen.

Die  realen  Wissenschaften gliedern sich uns sodann in die beiden Klassen der  Natur-  und der  Geisteswissenschaften.  Daß sich diese Scheidung im gegenwärtigen Zustand der Wissenschaften als diejenige herausgestellt hat, welche dem wirklichen Zusammenhang derselben allein entspricht, dafür zeugt schon die Tatsache, daß in der neueren Zeit Systeme, die sonst die verschiedensten Standpunkte vertreten, in diesem Punkt einig sind. Beherrschaft doch diese Scheidung ebenso die Enzyklopädie HEGELs wie die rein empirischen, an die naturwissenschaftliche Klassifikation sich anschließenden Systeme eines BENTHAM und AMPÉRE. Bedenkt man, daß außerdem ein im ganzen den Spuren COMTEs folgender, aber in seinen Anschauungen doch vielfach unabhängiger Logiker, wie JOHN STUART MILL, auf die nämliche fundamentale Unterscheidung zurückkommt, so wird man diese wohl als eine solche ansehen dürfen, die, was für Absichten auch sonst von den verschiedenen Klassifikationen verfolgt werden, doch immer wieder durch die Tatsachen selbst nahe gelegt wird. In der Tat beruhen, wie schon angedeutet, die Einwände, die gegen diese Unterscheidung erhoben wurden, deshalb auf einer unrichtigen Voraussetzung, weil man bei denselben verkannt hat, daß auf beiden Gebieten nicht die  Objekte  der Erfahrung, die im großen und ganzen immer die nämlichen bleiben, sondern die Begriffsbildungen, zu denen die verschiedenen Bestandteile der Erfahrung Anlaß bieten, den eigentlichen Inhalt unserer wissenschaftlichen Betrachtung bilden. Hier führt aber augenscheinlich der Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auf eine andere Unterscheidung zurück, die allem Erkennen und darum auch aller Wissenschaft zur Basis dient, nämlich auf die Unterscheidung der  Objekte unserer Erfahrung  und des  denkenden Subjekts,  welchem diese Objekte gegeben sind. Demgemäß umfassen die  Naturwissenschaften  alle diejenigen Disziplinen, bei deren Untersuchungen die objektiven Tatsachen ohne Rücksicht auf die Beteiligung denkender und handelnder Subjekte untersucht werden, während zu den  Geisteswissenschaften  alle die Gebiete gerechnet werden, in denen es sich um die Untersuchung von Tatsachen handelt, deren Entstehung auf die wesentliche Mitwirkung solcher Subjekte zurückführt. Demnach gehören die Gegenstände, an denen uns die geistigen Tatsachen entgegentreten, überall zugleich der Natur an; nicht minder aber sehen wir umgekehrt geistige Vorgänge auf die Naturprozesse und auf einzelne Naturobjekte einen Einfluß gewinnen. Die geistig Welt, die Aufgabe der Geisteswissenschaften, und die körperliche Welt, das Problem der Naturwissenschaften, sind eben nur eine einzige Erfahrungswelt. Denn Natur und Geist bezeichnen nicht verschiedene Gegenstände, sondern verschiedene sich ergänzenden Abstraktionen, welche durch die Objekte der Erfahrung in uns angeregt werden. Nicht von Naturobjekten und Geistesobjekten sollten man daher eigentlich reden, sondern nur von einer Naturseite und einer geistigen Seite der Dinge. es gibt keine geistigen Objekte, die nicht zugleich Naturobjekte, keine geistigen Wirkungen, die nicht zugleich Naturwirkungen wären, und wenn die Umkehrung dieses Satzes nicht vollständig zutrifft, so bleibt doch zu bedenken, daß es die besonderen Bedingungen, die zur Wahrnehmung geistiger Erscheinungen erforderlich sind, uns keineswegs gestatten, den Dingen, die für uns nur die Bedeutung von Naturobjekten besitzen, an und für sich jede Beziehung zur geistigen Welt abzusprechen. Die weitere Gliederung der so unterschiedenen drei Hauptgebiete überlassen wir nun der folgenden Einzeldarstellung.


III. Das System der Einzelwissenschaften
A. Die formalen Wissenschaften: Mathematische Disziplinen

Die wesentliche Eigentümlichkeit der Mathematk besteht, wie oben bemerkt wurde, darin, daß sie die Gegenstände ausschließlich nach ihren  formalen Eigenschaften und Beziehungen  untersucht. Die Definition einer formalen Eigenschaft kann aber in doppelter Weise gegeben werden. Nach ihrem unmittelbaren Begriff hat man unter einer formalen Eigenschaft eine solche zu verstehen, die sich nur auf die  Ordnung  eines in der Erfahrung gegebenen Mannigfaltigen, nicht auf den Inhalt desselben bezieht. Nach ihrer Entstehung sind die formalen Eigenschaften diejenigen, bei denen man nur auf die  intellektuelle  Funktion bei der Auffassung eines Gegebenen reflektiert, dagegen von allem, was der sinnlichen Empfindungen angehört, abstrahiert. Diese beiden Definitionen fallen inhaltlich vollständig zusammen; die intellektuelle Funktion bei der Auffassung der Dinge besteht eben lediglich in einer ordnenden Tätigkeit, niemals in der Erzeugung oder auch nur in der Nacherzeugung irgendeines Erfahrungsinhaltes. Diejenige Disziplin, welche in noch allgemeinerer Weise als die Mathematik die formalen Eigenschaften unserer Begriffe untersucht, indem sie von allen Besonderheiten absieht, welche die mannigfaltigen Formen der Ordnung eines Gegebenen darbieten können, ist die  formale Logik Eben wegen dieser Allgemeinheit gehört dieselbe zu den philosophischen Disziplinen, zunächst zur allgemeinen Erkenntnislehre. Alle einzelnen Zweige der Mathematik können darum auch als Anwendungen der formalen Logik auf einzelne Formbegriffe betrachtet werden. In dieser rein formalen Natur der Mathematik ist es zugleich begründet, daß sie zwar, ähnlich der formalen Logik, von den  gegebenen  Denkobjekten ausgeht, weil sie ohne dieselben überhaupt nicht zu ihren Begriffen gelangen könnte, daß sie aber in der weiteren Ausbildung dieser Begriffe nur noch an die logische Folgerichtigkeit in der Durchführung der gemachten Voraussetzungen, nicht aber notwendig an die Übereinstimmung mit den Eigenschaften irgendwelcher realer Objekte gebunden ist. Als ihre eigentliche Aufgabe erweist sich so die Untersuchung der aufgrund der formalen Eigenschaften der Erfahrungsobjekte und durch beliebige logische Weiterbildung derselben möglichen  reinen Formbegriffe. 

Fassen wir demnach die sämtlichen mathematischen Disziplinen unter dem Namen  Formwissenschaften  zusammen, so lassen sich dieselben zunächst wieder in  allgemeine  und  spezielle  Formwissenschaften trennen. Die ersteren beschäftigen sich mit jenen formalen Eigenschaften, welche an allen Erfahrungsobjekten und an allen auf denselben weiterbauende Begriffsbildungen wiederkehren. Diese allgemeinsten Eigenschaften zerfallen dann in eine  quantitative,  die Größe, und in eine  qualitative,  die  Ordnung eines Mannigfaltigen.  So entstehen die zwei allgemeinsten Zweige der Mathematik, die quantitative Formenlehre oder  Größenlehre  und die qualitative Formenlehre oder  Mannigfaltigkeitstheorie.  Das zweite dieser Gebiete ist ganz und gar eine Schöpfung der neueren Mathematik; die ältere hatte den allgemeinen Formbegriff nur nach seiner quantitativen Seite, als Größenbegriff, erfaßt. Zu ihm bildet der Mannigfaltigkeitsbegriff die qualitative Ergänzung, insofern bei demselben nicht das Quantum des Gegebenen, sondern die Art der Anordnung seiner Elemente in Betracht gezogen wird. Der quantitative Form- oder Größenbegriff läßt wieder eine doppelte Behandlungsweise zu, je nachdem die mit den Größen vorzunehmenden Operationen oder die Abhängigkeitsbeziehungen gegebener Größen voneinander betrachtet werden: das erstere geschieht in der  Algebra,  das zweite in der  Funktionentheorie.  Ähnlich fordert auch der Mannigfaltigkeitsbegriff eine doppelte Untersuchung heraus: eine erste, welche sich auf die  Entstehung  der Mannigfaltigkeiten aus ihren Elementen bezieht, und eine zweite, welche das  Verhältnis  der verschiedenen Mannigfaltigkeiten zueinander und zu den parallel gehenden quantitativen Eigenschaften der Formen ins Auge faßt. Doch kommt diese Trennung erst bei den unten zu besprechenden konkreten Mannigfaltigkeiten der Zahlen und der Raumformen zur Geltung; in der abstrakten Mannigfaltigkeitstheorie ist sie bis jetzt nicht durchgeführt worden. Die beiden Begriffe der Größe und der Mannigfaltigkeit kommen nun in den speziellen Formwissenschaften stets nebeneinander zur Anwendung. Jede spezielle Art von Größe hat zugleich qualitative Eigenschaften und fällt demnach gleichzeitig unter den Begriff der Mannigfaltigkeit. Drei Begriffe sind es, die auf diese Weise die Gegenstände besonderer mathematischer Disziplinen ausmachen: die Begriffe der  Zahl,  des  Raumes  und der  Bewegung.  Unter ihnen steht die  Zahlenlehre  in der nächsten Beziehung zur allgemeinen Größenlehre, weil die Zahl das überall erforderliche Hilfsmittel zur Messung irgendwelcher Größen ist. Deshalb ist auch der Zahlbegriffe in seiner Entwicklung den verschiedenen Gestaltungen des Größenbegriffs nachgefolgt, so daß sich schließlich die Zahlenlehre in ihrem ganzen Umfang mit der Größenlehre deckt. Gleichwohl wird sie dadurch noch nicht zu einer allgemeinen Formwissenschaft, denn es bleibt der Unterschied, daß die Größenlehre unmittelbar den allgemeinen Größenbegriff zu ihrem Inhalt hat, während die Zahlenlehre den Umfang desselben erst durch die sukzessive Behandlung einer großen Anzahl einzelner Zahlbegriffe zu erreichen vermag, so daß dabei der letzteren ihr Charakter als spezieller Formwissenschaft immer gewahrt bleibt. Übrigens bedingt es jener nahe Zusammenhang mit der Größenlehre, daß sie sich auch in ähnlicher Weise wie diese gegliedert hat, indem die  Arithmetik  als Lehre von den Zahloperationen der Algebra, die  Zahlentheorie  als Lehre von den Beziehungen der Zahlen der Funktionentheorie parallel geht.

Von einem beschränkteren Charakter sind die beiden anderen speziellen Formwissenschaften, die Raumlehre und die  Bewegungslehre,  da sich jede derselben mit bestimmten, in der äußeren Anschauung gegebenen Größen beschäftigt. Doch sind auch sie insofern einer der Zahlenlehre analogen Erweiterung fähig, als die Begriffe des Raums und der Bewegung benützt werden können, um neue in der Anschauung nicht realisierte Begriffe derselben Art zu konstruieren. Hierbei findet dann eine ähnliche Anwendung des Mannigfaltigkeitsbegriffs auf diese speziellen Mannigfaltigkeiten statt, wie bei den Erweiterungen der Zahlenlehre eine solche des allgemeinen Größenbegriffs. Demgemäß sind auch die Gesichtspunkte, nach denen sich diese beiden Gebiete in einzelne Zweige trennen, wieder denen entsprechend, die bei der Mannigfaltigkeit überhauptanwendbar sind: die  synthetische Geometrie  beschäftigt sich mit der Entstehung der Raumgebilde aus ihren Elementen, die  synthetische Kinematik  mit der Entstehung zusammengesetzter aus Bewegungen, wogegen die  analytische Geometrie  die einfachen Eigenschaften der Raumgebilde auf allgemeine Größenbegriffe zurückführt, und die  analytische Kinematik  diese letzteren auf Bewegungsprobleme anwendet. (3)

Demnach können wir die Gliederung der formalen Wissenschaften in folgender Übersicht zusammenfassen:

F o r m a l e   o d e r   m a t h e m a t i s c h e   W i s s e n s c h a f t e n

I. Allgemeine Formwissenschaften
a. Quantitative Formlehre: Größenlehre:
1. Lehre von den Größenoperationen: Algebra
2. Theorie der Größenbeziehungen: Funktionentheorie
b. Qualitative Formlehre:
Mannigfaltigkeitstheorie
II. Spezielle Formwissenschaften
a. Zahlenlehre.
1. Arithmetik: Lehre von den Zahloperationen
b. Raumlehre:
1. Synthetische Geometrie: Lehre von der Entstehung der Raumgebilde aus ihren Elementen
c. Bewegungslehre:
1. Synthetische Kinematik:
Lehre von der Zusammenset- zung der Bewegungen
2. Zahlentheorie: Lehre von den Zahlen und ihren Beziehungen. 2. Analytische Geometrie: Theorie der Anwendung der Größenbegriffe auf Raumgebilde 2. Analytische Kinematik:
Lehre von der Anwendung der allgemeinen Größenbegriffe auf Bewegungsprobleme


B. Die realen Wissenschaften: Erfahrungswissenschaften
Erste Abteilung: Die Naturwissenschaften

Den formalen stellen wir als  reale  Wissenschaften diejenigen gegenüber, welche die Untersuchung der Eigenschaften und Beziehungen der Erfahrungsgegenstände  nach Form und Inhalt  zu ihrer Aufgabe haben. Sie können auch  Erfahrungswissenschaften  genannt werden, insofern die Gebundenheit an den Inhalt des die Möglichkeit von transzendenten Begriffsbildungen ausschließt, und insofern der Inhalt des Gegebenen nicht ein Erzeugnis unserer intellektuellen Funktion ist, sondern der letzteren irgendwie durch die Erfahrung dargeboten sein muß. Da alle Wissenschaft in einer begrifflichen Ordnung des Gegebenen besteht, so sind zwar Wissenschaften möglich, die, wie die mathematischen Disziplinen, vom Erfahrungsinhalt, nicht aber solche, die von den formalen Eigenschaften dieses Erfahrungsinhaltes abstrahieren. Das ist der Grund, weshalb prinzipiell auf alle Erfahrungswissenschaften Mathematik unter Umständen anwendbar ist, während dagegen nicht umgekehrt alle formalen Verhältnisse und Begriffe, die Gegenstände der mathematischen Untersuchung sein können, an irgendwelchen Erfahrungsobjekten verwirklicht sein müssen.

Noch bevor die beiden großen Abteilungen der realen Wissenschaft, die Natur- und die Geisteswissenschaften, sich klar voneinander geschieden hatten, ist die Naturwissenschaft selbst infolge der Bedürfnisse der praktischen Arbeitsteilung in  zwei  große Zweige getrennt worden, die bei allem Wechsel der sonstigen Bedingungen sich in ihrer relativen Selbständigkeit nebeneinander erhalten haben. Auch diese Trennung entspricht wieder nicht sowohl den Objekten der Natur, als den allgemeinen logischen Gesichtspunkten, unter denen dieselben betrachtet werden können. Entweder nämlich kann die Natur in Bezug auf die  Vorgänge,  die sich in ihr ereignen, oder in Bezug auf die  Gegenstände,  aus denen sie besteht, Objekt der Beobachtung werden. In der Natur selbst sind Gegenstände und Vorgänge unauflöslich aneinander gebunden. Alle Vorgänge ereignen sich an Gegenständen oder bestehen in der Veränderung der Beziehungen derselben zueinander; und die Gegenständen sind wiederum die Resultate von Vorgängen und werden im stetigen Zusammenhang der Erscheinungen zu Bedingungen neuer Vorgänge. Da aber in dieser Wechselbeziehung immerhin dem Studium der Prozesse die Aufgabe einer auch für die Erkenntnis der Gegenstände grundlegenden Erklärung zufällt, so sind die Wissenschaften von den Naturvorgängen hier voranzustellen. Sie zerfallen abermals in zwei große Gebiete, die sich beide mit der Untersuchung des Begriffs der Naturkausalität von verschiedenen Standpunkten aus beschäftigen. Die  allgemeine  Lehre von der Naturkausalität oder die  Dynamik  erforscht die allgemeinen Gesetze derselben je nach den Hauptformen der  Materie,  als deren Äußerungen sie betrachtet werden. Da die Naturlehre durch die Analyse der Naturvorgänge zur Annahme zweier solcher Materien veranlaßt wird, der ponderablen [wägbaren - wp] Masse und des Äthers, so zerfällt auch die Dynamik wieder in eine Dynamik der Massen und in eine Dynamik des Äthers, wobei jeder dieser Teile aus dem Studium der Prozesse zugleich die allgemeinen Voraussetzungen über die Materie selbst zu entwickeln hat. Beide Teile der Dynamik fordern wieder eine Zweiteilung heraus. Die Dynamik der Massen betrachtet zuerst die Massen als ganze, abgesehen von ihrer Trennung in Teile und von den hierdurch bedingten Erscheinungen, die  Körperdynamik;  sodann aber wendet sie sich dem Studium der zwischen den kleinsten Teilchen der massen stattfindenden Wechselwirkungen zu, die  Molekulardynamik.  Die Dynamik des Äthers dagegen behandelt zuerst die Ätherbewegungen abgesehen von ihren Beziehungen zu Massenwirkungen, und ann in ihrem Zusammenhang mit der ponderablen Materie. Die Dynamik der Massen geht der Dynamik des Äthers parallel, weil bei jener ebenso wenig der Äther wie bei dieser die ponderable Materie in Betracht gezogen wird. Die Molekulardynamik entspricht dann wiederum der Theorie der zusammengesetzten Medien, weil auch die erstere genötigt wird, auf die Wechselbeziehungen zwischen Körper- und Ätheratomen Rücksicht zu nehmen. Da sich demnach diese beiden Disziplinen eigentlich mit dem nämlichen Objekt, nur von verschiedenen Gesichtspunkten aus beschäftigen, so steht einer völligen Verbindung derselben nichts im Weg, wie denn auch eine solche in den meisten Einzeluntersuchungen eingetreten ist. Der Umstand, daß die Dynamik in allen ihren Teilen nicht bloß von den speziellen Formen der Naturkräfte, sondern auch von den speziellen Gestaltungen der ponderablen Materie und des Äthers, verleiht ihr einen noch sehr abstrakten Charakter, der sie umso mehr in eine nahe Verwandtschaft mit der Mathematik bringt, als sie sich überall auf deren Hilfe angewiesen sieht. Gleichwohl trennt sie ihre Gebundenheit an die Naturvorgänge und ihr Zweck, der Erklärung der Naturerscheinungen zu dienen, von den eigentlich mathematischen Disziplinen. Dieser Zweck ist es zugleich, der sie in der Praxis zumeist mit konkreten Untersuchungen verbinden läßt, indem in der Dynamik der Massen sofort auf die durch die Schwere herbeigeführten Bedingungen, in der Dynamik des Äthers auf die speziellen Erfordernisse der Lichttheorie Rücksicht genommen wird. Rein theoretisch betrachtet sind dies aber doch Übergriffe aus der allgemeinen Dynamik in die spezielle Lehre von den Naturkräften, die, mögen sie praktisch noch so gerechtfertigt sein, doch die logische Gliederung nicht beeinflussen dürfen.

Die  spezielle  Lehre von den Naturvorgängen zerfällt wieder in zwei Hauptgebiete: in die  Physik,  welche die Naturvorgänge ohne Rücksicht auf die qualitativen Unterschiede der Massenteilchen erforscht, und in die  Chemie,  welche sie umgekehrt eben mit Rücksicht auf diese Unterschiede betrachtet. Dabei hat übrigens der Ausdruck "qualitativ" nur eine relative Bedeutung. Da die Massenteilchen, um die es sich in beiden Fällen handelt, voraussichtlich nicht die letzten Elemente der Materie sind, so bleibt es dahingestellt, inwieweit die qualitativen Unterschiede auf verschiedene Ordnungen von Elementen zurückführen, die ihrerseits nicht qualitativ verschieden sind. Es würde dann anstelle der Annahme qualitativ verschiedener Elemente lediglich derjenige Qualitätsbegriff einzutreten haben, welcher in der mathematischen Mannigfaltigkeitstheorie maßgebend ist. In der Tat darf man vermuten, daß dies der Gang der Entwicklung sein werde, schon aus dem allgemeinen Grund, weil der Begriff der äußeren Anschauung andere Eigenschaften als solche, die sich uns in den äußeren Relationen der Dinge verraten, ausschließt.

Physik und Chemie gliedern sich sodann je in einen allgemeinen und einen besonderen Teil: die allgemeine Physik behandelt die Wechselbeziehungen der verschiedenen Naturvorgänge, die spezielle Physik dagegen die einzelnen Naturvorgänge, wie Schwere, Schall, Wärem, Licht usw., nach ihre besonderen Eigenschaften und Gesetzen. Ebenso beschäftigt sich die allgemeine Chemie mit den chemischen Verbindungen in ihren besonderen Erscheinungsformen.

Der Erforschung der Naturvorgänge tritt als zweiter Hauptteil der Naturwissenschaften die wissenschaftliche Untersuchung der  Naturgegenstände  gegenüber. In sukzessiv sich verengernder Betrachtung behandelt sie:
    1) die Lehre von den Weltkörpern (Astronomie),

    2) die Lehre von der Erde (Geographie) als dem unserer Beobachtung wie unserem Interesse nächstliegenden Weltkörper,

    3) die Lehre von den einzelnen irdischen Objekten.
Hier kann sie aber wieder entweder die Objekte nach ihren eigenen inneren Beziehungen untersuchen (Systematische Naturgeschichte), oder aber nach ihren Beziehungen zur Erde (spezielle Geographie). Jeder dieser Teile zerfällt abermals in verschiedene, mehr oder weniger nahe miteinander zusammenhängende Einzelgebiete; so die Naturgeschichte in Mineralogie, Botanik, Zoologie, die spezielle Geographie in die Lehre von den Gebirgsbildungen (Orographie), von der Wasserverteilung auf der Erde (Hydrographie), von der Verteilung der Mineralien (Geognosie), von der Verbreitung der Pflanzen und Tiere (Pflanzen- und Tiergeographie). Ein um des besonderen Interesses seines Gegenstandes willen von der letzteren sich absondernder  spezieller  Teil ist endlich die Anthropogeographie.

Mit den Gesichtspunkten, welche zur Bildung der zwei bis dahin erörterten Hauptteile der Naturwissenschaft Anlaß gegeben, sind nun aber noch nicht alle Betrachtungsweisen erschöpft, die hier überhaupt möglich sind, sondern es bleibt eine dritte Reihe von Untersuchungen offen, welche nun aufgrund der beiden vorangegangenen erst ausführbar werden. Es entsteht nämlich die Aufgabe, die unter dem ersten Gesichtspunkt gewonnenen Ergebnisse anzuwenden auf die unter dem zweiten unterschiedenen Naturobjekt. Auf diese Weise entstehen als eine  dritte allgemeine Klasse  von Naturwissenschaften diejenigen, die sich mit den  Naturvorgängen an den einzelnen Naturgegenständen  beschäftigen. Hier sind nun aber wieder  zwei  Betrachtungsweisen möglich: entweder können die Naturobjekte in ihrer unmittelbaren Beschaffenheit zu Gegenständen der Untersuchung gemacht, oder dieselben können in Bezug auf ihre Entstehung und ihre Veränderungen betrachtet werden. Auf diese Weise ergeben sich im ersteren Fall eine Reihe physikalisch-chemischer Disziplinen, die vollständig den oben aufgezählten Teilen der gegenständlichen Naturwisenschaften parallel gehen: die Astrophysik, die Geophysik, die Physik und Chemie der Mineralien, die Physik und Chemie der Organismen oder Physiologie mit ihrer Untereinteilung in allgemeine Physiologie und in Pflanzen- und Tierpsychologie. Im zweiten Fall ergeben sich die einzelnen Zweige der  Entwicklungsgeschichte:  so die Entwicklungsgeschichte des Weltalls oder Kosmologie, die Entwicklungsgeschichte der Erde oder Geologie, endlich die Entwicklungsgeschichte der Pflanzen, der Tiere, des Menschen. In diesen Entwicklungswissenschaften vollzieht sich der Abschluß unserer gesamten Naturerkenntnis. Einerseits setzen sie alle andern Gebiete voraus, andererseits aber enthalten sie erst die volle Erkenntnis der Natur im Ganzen, sowie nach ihren einzelnen Teilen und Gegenständen.

Wir fassen demnach die Ergebnisse der obigen Erörterungen in folgender Übersicht zusammen:

Der realen Wissenschaften erste Abteilung:
Die Naturwissenschaften

A. Die Wissenschaften von den Naturvorgängen
I. Allgemeine Lehre von den Naturvorgängen: Dynamik.
a. Dynamik der Massen.
1. Körperdynamik: die Massen als
Ganze betrachtend.
2. Molekulardynamik: Lehre von
der Bewegung der Massenteilchen.
b. Dynamik des Äthers.
1. Ätherdynamik: allgemeine Theorie der Ätherbewegungen
2. Theorie der zusammenge- setzten Medien: der Äther im Zusammenhang mit der ponde- rablen Materie
I. Spezielle Lehre von den Naturvorgängen
a. Die Naturvorgänge ohne Rücksicht auf die qualitativen
Unterschiede der Massenteilchen: Physik.
1. Die Naturvorgänge in ihren Wechselbe-
ziehungen: Allgemeine Physik.
2. Die besonderen Naturvorgänge (Schwere, Schall, Wärme,Licht, Elektrizität): Spezielle Physik.
b. Die Naturvorgänge mit Rücksicht auf die qualitativen
Unterschiede der Massenteilchen: Chemie.
1. Die Wechselbeziehungen physika-
lischer und chemischer Kräfte: Allge-
meine Chemie.

2. Die chemischen Verbindungen in ihren besonderen Erscheinungsformen: Spezielle Chemie.
B. Die Wissenschaften von den Naturgegenständen
1. Die Lehre von den Weltkörpern: Astronomie
2. Die Lehre von der Erde: Geographie
3. Die Lehre von den einzelnen irdischen Objekten:

a. Die Naturobjekte nach ihren inneren Beziehungen: Systematische Naturgeschichte: Mineralogie, Botanik, Zoologie.
b. Die Naturobjekte nach ihren Beziehungen zur Erde: Spezielle Geographie: Orographie, Hydrographie, Geognosie, Pflanzen- und Tiergeographie, Anthropogeographie
C. Die Wissenschaften von den Naturvorgängen
an den Naturgegenständen

1. Physik und Chemie der konkreten Naturkörper: Astrophsik, Geophysik (einschl. Klimatologie und Meteorologie). Physik und Chemie der Mineralien. Physik und Chemie der Organismen: Physiologie: Allgemein Physiologie, Pflanzen- und Tierpsychologie.
2. Entwicklungsgeschichte der Naturobjekte: Kosmologie. Geologie. Entwicklungsgeschichte der Organismen.


Zweite Abteilung: Die Geisteswissenschaften

Das System der Geisteswissenschaften läßt sich zunächst nach denselben Gesichtspunkten, die für die Glierdung der Naturwissenschaften maßgebend sind, in zwei Hauptgebiete trennen: in die Wissenschaften von den geistigen Vorgängen und in die Wissenschaften von den Geisteserzeugnissen. Wenn aber dort schon die Scheidung von Objekt und Prozeß, obwohl eine logisch notwendige, doch überall in der wirklichen Erfahrung einer regen Wechselbeziehung beider Begriffe Platz macht, so trifft dies in noch höherem Maß auf dem Gebiet des Geistes zu, wo das Geisteserzeugnis niemals auch nur jenen relativ beharrenden Zustand darbietet wie das Naturobjekt. Vielmehr kann es, wie der hier unvermeidliche Name  Erzeugnis  statt  Objekt  dies schon andeutet, überall nur mit Rücksicht auf die es zu erzeugenden Vorgänge und in steter Beziehung zu denselben begriffen werden. Die Lehre von den geistigen Vorgängen umfaßt demnach die allgemeineren Disziplinen der Geisteswissenschaften, welche zugleich die Erklärungsgründe für die einzelnen Geisteserzeugnisse enthalten. Darum bildet die  Psychologie als die allgemeine Lehre von den geistigen Vorgängen, die Grundlage aller Geisteswissenschaften. Ihr treten zunächst einige spezielle psychologische Disziplinen zur Seite, die teils die Entwicklung der Bewußtseinserscheinungen in der Reihe der lebenden Wesen zum Inhalt haen, wie die  Tierpsychologie,  teils mit der psychologischen Erklärung der hauptsächlichsten menschlichen Geistesschöpfungen sich beschäftigen, wie die  Völkerpsychologie,  teils schließlich die Beziehungen des geistigen Lebens zu bestimmten körperlichen Vorgängen zu erforschen suchen, wie die  Psychophysik.  Die letztere führt unmittelbar zur naturgeschichtlich-psychologischen Betrachtung der Entwicklung des Menschen und der Völkerstämme hinüher, wie sie die Aufgabe der  Anthropologie  und der  Ethnologie  bildet.

Die  Geisteserzeugnisse  können wieder in doppelter Hinsicht Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchung werden: erstens in Bezug auf ihre allgemeinen Eigenschaften und Entstehungsbedingungen, ohne Rücksicht auf ihre besondere Natur, und zweitens mit Rücksicht auf das spezielle Gebiet geistigen Lebens, welchem dieselben angehören. Die erstere Aufgabe erfüllt die  Philologie,  der auf diese Weise die Bedeutung einer  allgemeinen  Wissenschaft von den Geisteserzeugnissen zukommt. Die Gebiete, in welche sich nach dem zweiten Gesichtspunkt das geistige Leben vornehmlich scheidet, sind: die wirtschaftliche Kultur, der Staat und die Rechtsordnung, die Religion, die Kunst, die Wissenschaft. Die Nationalökonomie, die Politik, die systematische Rechtswissenschaft, die Religionslehre, die Kunsttheorie, die spezielle Methodologie der Wissenschaften treten so der Philologie, deren Hilfsmittel sie überall zu ihren Zwecken verwerten, als besondere und doch mit Bezug auf ihre eigensten Grundlagen auch wieder als  allgemeinere  Disziplinen gegenüber, deren jede infolge der Bedeutung ihrer Probleme für unsere allgemeine Weltanschauung in innigerem Kontext zur Philosophie steht, als die Philologie selber. So berühren sich Nationalökonomie, Politik und Rechtswissenschaft so innig mit der Ethik, daß in der Gesellschaftstheorie und Rechtsphilosophie besondere philosophische Disziplinen entstanden sind, die als Mittelglieder zwischen die allgemeine Ethik und jene ethischen Einzelwissenschaften eintreten. In einem noch näheren Verhältnis steht die spezielle Kunsttheorie zur Ästhetik als der allgemeinen Theorie der Künste, die Religionslehre oder systematische Theologie zur Religionsphilosophie, und endlich die spezielle zur allgemeinen Methodenlehre und Logik. Da übrigens die Philologie zur Ausbildung ihrer Methoden notwendig eines bestimmten Materials bedarf, die sie irgendwelchen der oben genannten Einzelgebiete entnehmen kann, so ist ihre wissenschaftliche Ausbildung durch die eingetretene Verbindung mit  einzelnen  der letzteren wesentlich mitbestimmt worden. Es ist begreiflich, daß sich zu einer solchen Verbindung vor allem diejenigen Gebiete als tauglich erweisen, welchen der allgemeinste geistige Bildungswert zukommt. Der historische Begriff der Philologie schließt daher zugleich die speziellere Beschäftigung mit jenen literarischen Erzeugnissen der Kulturvölker in sich, welche einen  künstlerischen  oder  kulturgeschichtlichen  Wert besitzen.

Auch jener dritten Hauptabteilung der Naturwissenschaften, welche die Naturvorgänge an den Hauptgruppen der Naturobjekte behandelt, entspricht endlich eine dritte wichtige Abteilung der Geisteswissenschaften, diejenigen enthaltend, welche sich mit der  Entstehung  der Geisteserzeugnisse beschäftigen: die  historischen Wissenschaften Sie zerfallen abermals in allgemeine und spezielle Disziplinen. Davon betrachten die ersteren die Entstehung der einem Einzelnen oder einer Gesamtheit zugehörigen geistigen Schöpfungen in ihrem Zusammenhang untereinander, die letzteren umgekehrt die einzelnen Klassen der Geisteserzeugnisse in ihrer besonderen historischen Entwicklung. Die allgemeine Geschichte zerfällt demnach, je nach dem wachsenden Umfang des Objekts ihrer Betrachtungen, in Individualgeschichte, Volksgeschichte und Universal- oder Weltgeschichte. Die speziellen historischen Disziplinen aber entsprechen den vorhin unterschiedenen einzelnen systematischen Wissenschaften, mit denen sie sich in der wissenschaftlichen Praxis auf das innigste verbinden. Hierher gehören also die Wirtschaftsgeschichte, die Staats- und Rechtsgeschichte, die Religionsgeschichte, die Kunstgeschichte, endlich die spezielle Geschichte der einzelnen Wissenschaften.

Wir schließen so die oben begonnene Übersicht mit dem folgenden Schema der Geisteswissenschaften:

Der realen Wissenschaften zweite Abteilung:
Die Geisteswissenschaften

A. Die Wissenschaften von den geistigen Vorgängen
I. Die Lehre von den geistigen Vorgängen im menschlichen Bewußtsein:
altlas Psychologie im engeren Sinne (Individualpsychologie).
II. Die Lehre von den geistigen Vorgängen unter besonderen Bedingungen:
Dynamik der Massen.
1. Die Lehre von den Weltkörpern: Astronomie
2. Die Lehre von der Erde: Geographie
3. Die Lehre von den einzelnen irdischen Objekten:
a. Die Naturobjekte nach ihren inneren Beziehungen: Systematische Naturgeschichte: Mineralogie, Botanik, Zoologie.
b. Die Naturobjekte nach ihren Beziehungen zur Erde: Spezielle Geographie: Orographie, Hydrographie, Geognosie, Pflanzen- und Tiergeographie, Anthropogeographie

1. Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen körperlichen und geistigen Vorgängen: Psychophysik.
2. Lehre von der psychophysischen Organisation der einzelnen Wesen und ihrer Gesamtheiten: Psychophysische Naturgeschichte der Tiere. Anthropologie. Ethnologie.
B. Die Wissenschaften von den Geisteserzeugnissen
I. Die Wissenschaft von den Geisteserzeugnissen überhaupt: Philologie.
II. Die Wissenschaften der einzelnen Klassen der Geisteserzeugnisse: Nationalökonomie, Politik, Systematische Rechtslehre, Systematische Theologie, Theorie der einzelnen Künste, Spezielle Methodenlehre der Wissenschaften.
C. Die Wissenschaften von der Entwicklung der Geisteserzeugnisse: Historische Wissenschaften
I. Allgemeine Geschichte: Individualgeschichte (Biographie). Volksgeschichte, Universal- oder Weltgeschichte.
II. Geschichte der einzelnen Klassen der Geisteserzeugnisse: Wirtschaftsgeschichte, Staats- und Rechtsgeschichte, Religionsgeschichte, Kunstgeschichte, Geschichte der einzelnen Wissenschaften.


IV. Das System der Philosophie

Die Philosophie hat, wie aus der allgemeinen Aufgabe, die ihr oben gestellt wurde, hervorgeht, ihren Inhalt mit der Gesamtheit der anderen Wissenschaften gemein. Aber der Standpunkt, von welchem aus sie diesen Inhalt betrachtet, ist ein abweichender. Während die Einzelwissenschaften das Wissen in eine große Zahl einzelner Wissensobjekte sondern, ist das Auge der Philosophie von vornherein auf den Zusammenhang dieser sämtlichen Wissensobjekte gerichtet. Gleichwohl bedarf auch sie einer Gliederung ihrer allgemeinen Aufgabe. Denn die Gesamtbetrachtung des Wissens trennt sich wieder in eine Mehrzahl verschiedenartiger Probleme, die nach ihren logischen Motiven in einzelne Gruppen zu sondern sind. Hier läßt aber jener dem Ganzen zugewandte philosophische Erkenntnistrieb nur noch  einen  Gesichtspunkt zu, der über alle jene besonderen Betrachtungsweisen, die in der Teilung der Einzelgebiete zur Geltung kamen, hinausgreift, und der zugleich von so tiefgehender Bedeutung ist, daß das wissenschaftliche System unvollständig bliebe, solange er nicht irgendwo in demselben zum Ausdruck käme. Dieser Gesichtspunkt besteht darin, daß der ganze Zusammenhang des Wissens einer  doppelten  Betrachtung zugänglich ist: einmal nämlich kann derselbe untersucht werden in Bezug auf seine  Entstehung,  wo die genetischen Wechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen Wissenselementen stattfinden, im Vordergrund stehen; oder er kann betrachtet werden mit Rücksicht auf seinen  systematischen  Aufbau, wie er sich auf der von uns erreichten Stufe der Erkenntnis im inneren logischen Zusammenhang der gewonnenen Prinzipien darstellt. Dort handelt es sich um das  werdende,  hier um das  gewordene  Wissen. Da das letztere nie ein absolut fertiges sein kann, sondern selbst im Fluß der Entwicklung steht, und da nicht minder der Entwicklungsprozeß fortan in bestimmten systematischen Begriffsbildungen sich zu fixieren strebt, so greifen beide Betrachtunsweisen vielfach ineinander ein, und jede ist gelegentlich auf die Hilfe der anderen angewiesen. Aber im ganzen gehen doch beide philosophische Aufgaben als wesentlich verschiedene nebeneinander her, und insbesondere fordert auch der nie rastende Erkenntnistrieb, daß die im gegebenen Zustand der Wissenschaft sich ausprägende systematische Verfassung derselben soviel als möglich zu einem geschlossenen Ausdruck gelange. Auf diese Weise ergeben sich  zwei philosophische Fundamentalwissenschaften:  wir wollen sie als  Erkenntnislehre  und als  Prinzipienlehre  unterscheiden. Da alle Erkenntnis ein geistiger Vorgang ist, der sich nach bestimmten Entwicklungsgesetzen vollzieht, während das Prinzip die Bedeutung eines Begriffs besitzt, der lediglich als Erkenntnis resultat  in Betracht gezogen wird, so liegt im ersten jener Ausdrück von selbst der Hinweis auf eine  genetische,  im zweiten der auf eine  systematische  Betrachtungsweise.

Die Erkenntnislehre läßt wieder nach dem nämlichen Gesichtspunkt, welcher für die Haupteinteilung der Einzelwissenschaften zur Anwendung kam, ein Gliederung in  zwei  Gebiete zu. Von ihnen beschränkt sich das eine auf die  formalen  Gesetze der Erkenntnisbildung, das andere beschäftigt sich mit dem  realen  Inhalt derselben. Die formale Erkenntnislehre oder  formale Logik  steht zur realen Erkenntnislehre genau im selben Verhältnis wie die Mathematik zu den realen Einzelwissenschaften. In diesem Sinne bildet sie die philosophische Fundamentalwissenschaft zur Mathematik, ein Verhältnis, welches sich insbesondere auch darin bewährt findet, daß die mathematische Spekulation zwar überall unverbrüchlich an die Gesetze der Logik, keineswegs aber notwendig, sofern sie diese Beschränkung sich nicht selbst auferlegt, mit ihren Voraussetzungen an den realen Inhalt der Erkenntnis gebunden ist. Da sich durch diesen ihren formalen Charakter die reine Logik nicht bloß von der realen Erkenntnislehre, sondern auch von der Prinzipienlehre scheidet, so erklärte es sich, daß man dieselbe nicht selten der Gesamtheit der übrigen philosophischen Disziplinen gegenübergestellt hat. Da es aber dann mit der Armut ihres Inhalts kaum vereinbar schien, wenn man ihr eine Stelle  in  der Philosophie anwiese, so wurde sie meist zu einer bloß  propädeutischen  Wissenschaft zur Philosophie degradiert. Diese Stellung ist aber aus mehrfachen Gründen ganz unhaltbar. Zunächst kann der größere oder geringere Reichtum einer Wissenschaft nimmermehr über ihre Klassifikation entscheiden, sondern die Anhaltspunkte für die letztere sind immer nur ihrem Inhalt zu entnehmen. In dieser Beziehung muß sich aber ein bestimmtes Gebiet notwendig entweder mit speziellen oder mit allgemeinen Erkenntnisproblemen beschäftigen, ein drittes gibt es nicht: im ersten Fall gehört es zu den Einzelwissenschaften, im zweiten zur Philosophie. Da sich nun die formale Logik mit dem Erkenntnisprozeß in Bezug auf seine allgemeinsten formalen Eigenschaften beschäftigt, so kann ihre Aufgabe nur vor der Forum der Philosophie gehören. Sodann aber ist die Frage, ob formal oder real, doch nicht allein für die Stellung einer Disziplin entscheidend, sondern es frägt sich, welches andere Gebiet die reale Ergänzung zu ihren formalen Betrachtungen enthält. Hier kann es nun nicht zweifelhaft sein, daß in diesem Fall die Ergänzung nur in der realen Erkenntnislehre zu finden ist. Die Grundbegriffe der Prinzipienlehre kommen für die formale Logik nirgends in Frage. Sie entspringt lediglich aus der Betrachtung des Erkenntnisvorgangs, sobald bei diesem von jedem besonderen Inhalt abgesehen wird. Darum ergänzen sich formale und reale Logik, und bei den innigen Beziehungen beider zueinander kann es für die Untersuchung wie Darstellung nur in einem hohen Grad nachteilig sein, sie voneinander zu trennen.

Die der formalen gegenübertretende  reale  Erkenntnislehre gliedert sich sodann ihrerseits wieder in  zwei  Gebiete: in die  Geschichte der Erkenntnis und in die  Theorie der Erkenntnis Die erstere schildert die tatsächliche Erkenntnisentwicklung, wie sie sich in der Geschichte der Wissenschaft überhaupt und insbesondere in der Geschichte der Wissenschaft überhaupt und insbesondere in der Geschichte der allgemeinen Weltanschauungen darstellt. Diese allgemeine Geschichte der Wissenschaft ist es, welche in Zukunft an die Stelle dessen zu treten hat, was gegenwärtig die Geschichte der Philosophie leistet. Indem sich die letztere auf die Schilderung der  philosophischen  Weltanschauungen in ihrer Aufeinanderfolge beschränkt, entgeht ihr ein für die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis und selbst für das Verständnis der inneren Kausalität und der Bedeutung der philosophischen Systeme äußerst wichtiges Moment: es entgeht ihr die Wechselbeziehung, in der sich der Fortschritt der Einzelerkenntnisse zu den allgemeinen Weltanschauungen befindet, eine Wechselbeziehung, welche ihrerseits wieder einen integrierenden Bestandteil der gesamten geistigen Kultur eines Zeitalters ausmacht. Da der Name einer Wissenschaft nicht selten von entscheidender Bedeutung ist für den Geist, der in ihr herrscht, so wäre es wünschenswert, daß der Ausdruck "Geschichte der Philosophie" ganz verschwände und der einer "allgemeinen Geschichte der Wissenschaft" an seine Stelle träte. Da die Philosophie die allgemeine Wissenschaft ist und bleiben wird, so ist an und für sich schon dafür gesorgt, daß sie in einer solchen allgemeinen Geschichte, welche die Erkenntnisarbeit in ihren bedeutsameren Richtungen auf allen Gebieten verfolgt, die ihr gebührende Stellung behauptet.

Die  Theorie der Erkenntnis  bildet zusammen mit der formalen Logik die Wissenschaft der  Logik  im weiteren und eigentlichen Sinne des Wortes. Die Erkenntnistheorie hat aber nicht den historischen, sondern den  logischen  Entwicklungsgang der Erkenntnis zu schildern. Sie besteht daher wesentlich in einer Anwendung der logischen Denkgesetze, teils auf die psychologische Genese unserer Weltbegriffe, teils auf die geschichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Welterkenntnis. Demnach zerfällt die Theorie der Erkenntnis in einen allgemeinen und in einen speziellen Teil: der erstere, die allgemeine Erkenntnistheorie, untersucht die Bedingungen und allgemeinen Prinzipien der Erkenntnis; der zweite, die Methodenlehre, beschäftigt sich mit der Anwendung dieser Prinzipien auf die wissenschaftliche Forschung. Durch diese Anwendung tritt zugleich die Erkenntnistheorie in eine nächste Beziehung zu den Einzelwissenschaften, indem sich die Betrachtungen der allgemeinen Methodenlehre teils überall auf die spezielle wissenschaftliche Methodik stützen, teils ihrerseits vielfach wieder maßgebend in dieselbe eingreifen.

Der zweite Hauptteil der Philosophie, die  Prinzipienlehre  scheidet sich ebenfalls wieder in einen allgemeinen und in einen besonderen Teil. Der erstere, für den man am angemessensten den Namen der  Metaphysik  beibehalten mag, hat die Grundbegriffe und Grundgesetze der Welterklärung in ihrem systematischen Zusammenhang darzustellen. Der zweite gliedert sich nach den Grundbegriffen der einzelnen Wissenschaftsgebiete, daher sich bei ihm die Haupteinteilungen der letzteren wiederholen. Auf diese Weise treten hier zunächst die  Philosophie der Natur  und die  Philosophie des Geistes  einander gegenüber. Insofern beide erst auf der Grundlage der wissenschaftlichen Einzelerkenntnis, die sie mit der allgemeinen Erkenntnistheorie und Metaphysik in Beziehung setzen, ihre Untersuchung zu führen haben, kann für sie auch der Name einer Philosophie der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften gewählt werden. Es geschieht lediglich um der Kürze willen, wenn wir die ersteren Bezeichnungen beibehalten, und es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß man dabei die Erinnerung an jene Natur- und Geistesphilosophie, welche sich grundsätzlich den einzelnen Natur- und Geisteswissenschaften gegenüberstellten, fern zu halten habe. Jeder dieser Teile zerfällt wieder in ein allgemeines und in ein spezielles Gebiet. Während die allgemeine Naturphilosophie die Grundbegriffe der Naturwissenschaft erörtert, hat die spezielle die Hauptgruppen der Naturerscheinungen unter einheitlichen Gesichtspunkten zusammenzufassen. Doch kann sich hierbei ihrer allgemeinen Aufgabe gemäß die Philosophie darauf beschränken, jene großen Gebiete des Naturgeschehens voneinander zu scheiden, welche ihrerseits wegen ihrer Allgemeinheit von den einzelnen Naturwissenschaften keiner generellen Betrachtung unterworfen werden. Diese Gebiete sind einerseits die kosmischen Erscheinungen in ihrem ganzen Zusammenhang, und andererseits die von denselben durch eigentümliche Merkmale sich trennenden Lebenserscheinungen. Die philosophische Kosmologie und Biologie bilden so die beiden Hauptzweige der Naturphilosophie.

Auch die  Philosophie des Geistes  bedarf zunächst der Grundlage einer allgemeinsten Geisteswissenschaft, welche aus dem Material, das die Psychologie in ihren verschiedenen Disziplinen, als Individual-, Völker- und Tierpsychologie ihr darbietet, unter Zuhilfenahme allgemeiner erkenntnistheoretischer und metaphysischer Gesichtspunkte eine zusammenfassende Grundanschauung des geistigen Seins und Lebens zu entwickeln sucht. Dieser allgemeinen Geisteswissenschaft oder philosophischen Psychologie ordnen sich sodann die verschiedenen Gebiete unter, welche sich teils mit den einzelnen Gestaltungen des geistigen Lebens, teils mit der allgemeinen Entwicklung desselben innerhalb der Geschichte der Menschheit beschäftigen. Als solche Gebiete des geistigen Lebens, welche neben ihrer spezialwissenschaftlichen eine philosophische Behandlung erfordern, treten namentlich  drei  als besonders bedeutsam hervor: Sittlichkeit, Kunst, Religion. Die Ethik und Rechtsphilosophie, die beide wieder untrennbar zusammengehören, weil die Rechtsordnung das eigenstes Erzeugnis des sittlichen Geistes ist, die Ästhetik, die Religionsphilosophie bilden daher die drei nebeneinander zu ordnenden speziellen Teile der Geistesphilosophie. Jede von ihnen hat die Tatsachen der ihr zugehörigen historischen und systematischen Einzelwissenschaften mit den allgemeinen Prinzipien der Psychologie, der Erkenntnislehre und Metaphysik in Beziehung zu setzen. Aus der zusammenfassenden Betrachtung der allgemeinen Entwicklung der Menschheit, ihrer politischen und Kulturfaktoren, und aus der besonderen Entwicklung jener einzelnen geistigen Erzeugnisse sucht die Philosophie der Geschichte schließlich eine Anschauung des gesamten äußeren und inneren Lebens der Menschheit zu gewinnen, welche sich mit der mit den sonstigen Hilfsmitteln der Philosophie gewonnenen allgemeinen Weltanschauung im Einklang befindet. Das Verhältnis, in welchem die Philosophie der Geschichte zu den übrigen Teilen der Geistesphilosophie steht, ist daher schließlich ein ähnliches wie innerhalb der Einzelwissenschaften das der entwicklungsgeschichtlichen und geschichtlichen zu den systematischen Disziplinen.

Wir fassen das Ergebnis der obigen Erörterungen in der folgenden Übersicht zusammen:

Die philosophischen Wissenschaften - Erste Grundwissenschaft:
Erkenntnislehre.

A. Die Wissenschaften von den geistigen Vorgängen
I. Formale Erkenntnislehre oder formale Logik.
altlas Psychologie im engeren Sinne (Individualpsychologie).
II. Reale Erkenntnislehre:
A. Historische Entwicklung der Erkenntnis: Allgemeine Geschichte der Wissenschaft.
B. Logische Entwicklung der Erkenntnis: Erkenntnistheorie
1. Die Naturobjekte nach ihren inneren Beziehungen: Systematische Naturgeschichte: Mineralogie, Botanik, Zoologie.
2. Angewandte Erkenntnistheorie oder Methodenlehre.


Die philosophischen Wissenschaften - Zweite Grundwissenschaft:
Prinzipienlehre.

A. Die Wissenschaften von den geistigen Vorgängen
I. Allgemeine Prinzipienlehre oder Metaphysik.
II. Spezielle Prinzipienlehre:
A. Spezielle Prinzipienlehre:
B. Logische Entwicklung der Erkenntnis: Erkenntnistheorie
1. Allgemeine Naturphilosophie
2. Spezielle Naturphilosophie: Allgemeine Kosmologie. Allgemeine Biologie.

B. Philosophie des Geistes.
1. Allgemeine Philosophie des Geistes oder philosophische Psychologie.
2. Philosophie der einzelnen geistigen Schöpfungen. Ethik und Rechtsphilosophie. Ästhetik. Religionsphilosophie.
3. Theorie der geistigen Entwicklung der Menschheit: Philosophie der Geschichte.


Keine Klassifikation der Wissenschaften kann mehr leisten wollen, als auf jedem ihrer Gebiete die Wissenschaft selbst zu leisten vermag. Die Aufstellung eines Systems der Wissenschaften kann daher immer nur die Bedeutung eines Versuchs haben, der über den Zusammenhang der im gegenwärtigen Zustand unserer intellektuellen Entwicklung zur Ausbildung gelangten Wissenschaftsgebiete Rechenschaft zu geben bemüht ist. Daß dabei individuelle Meinungen und die Beschränktheit des eigenen Standpunktes einen gewissen Einfluß ausüben, wird freilich nicht zu vermeiden sein. Immerhin, der Versuch eine solche systematische Tafel der Wissenschaften aufzustellen sollte stets von Zeit zu Zeit unternommen werden. Kann auch heute nicht mehr wie zu BACONs Zeiten daran gedacht werden, daß er auf den Zustand der einzelnen Wissenschaften oder auf die bestehende Arbeitsteilung irgendeinen Einfluß gewinne, so vermag er doch jenes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit wach zu erhalten, das uns heute umso leichter verloren zu gehen droht, je mehr auf allen Gebieten eine Konzentration der Arbeit eingetreten ist, welche die Leistungsfähigkeit erhöht, aber auch die Einseitigkeit befördert. Am meisten unter allen Disziplinen muß diese Lage der Dinge die Philosophie gefährden, da ihr, sobald sie den Zusammenhang mit den Einzelwissenschaften verliert, gleichzeitig der unentbehrlichste Teil ihrer Hilfsmittel und ein wesentlicher Teil ihrer Aufgaben abhanden kommt. Nicht bloß wegen seiner Allgemeinheit, sondern mehr noch wegen des überwiegenden Interesses, welches die Philosophie an seiner Lösung nehmen muß, ist daher das Problem der Klassifikation der Wissenschaften vor allem eine philosophische Aufgabe.
LITERATUR - Wilhelm Wundt, Über die Einteilung der Wissenschaften, Philosophische Studien, Bd. 5, Leipzig 1889
    Anmerkungen
    1) Vgl. BENNO ERDMANN, Die Gliederung der Wissenschaften in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 2, Seite 72, sowie meine Logik II, Seite 74, 220 und 478f.
    2) Vgl. hierzu meine Logik II, Seite 74f
    3) Neben Zahl, Raum und Bewegung gibt es noch eine vierte Art von Größen: die  intensiven  Größen. Für sich allein betrachtet entziehen sie sich aber deshalb einer mathematischen Behandlung, weil sie nur unter Zuhilfenahme extensiver Größen zur Bildung bestimmter Mannigfaltigkeitsbegriffe Anlaß geben. Sie besitzen nämlich eine selbständige Bedeutung nur auf dem Gebiet der inneren Erfahrung, wo die Empfindungsintensität ihre unmittelbar Grundlage abgibt. In der äußeren Anschauung gewinnen sie in den Begriffen von Kraft und Masse nur eine vorübergehende Anwendung, da die letzteren durch die physikalische Analyse vollständig in Raum- und Bewegungsbegriffe aufgelöst werden können.