cr-4F. RittelmeyerNietzscheG. BrandesR. Eisler    
 
ALOIS RIEHL
Nietzsche - der Denker

"Sokrates und Plato haben Recht: der Mensch tut immer das Gute, je nach dem Grad seines Intellekts, dem jedesmaligen Maß seiner Vernünftigkeit."

"Was zwingt uns überhaupt zur Annahme, daß es einen wesenhaften Gegensatz von wahr und falsch gibt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Gesamttöne des Scheins, - verschiedene Valeurs, um die Sprache der Maler zu reden?"

Vorwort

I. NIETZSCHEs Philosophie in Aphorismen gleicht einem Bau, dessen einzelne Werkstücke nie anders als im Geiste des Baumeisters zum Ganzen gefügt waren und dessen Plan überdies eine wiederholte Umbildung erfahren hat. Die Aufgabe, aus so unverbundenem Material die Gestalt und Absicht des Ganzen zu erschließen, wird immer etwas Unbestimmtes behalten. Aber gerade im Unfertigen und Problematischen, der Paradoxie der Gedanken und dem Wechsel der Stimmungen, der seltsamen Mischung von Gesundem und Krankhaftem liegt ein besonderer Reiz der Schriften NIETZSCHEs; je nach Verständnis oder Mißverständnis kann man aus ihnen Nahrung oder Gift nehmen. Ansätze zu verschiedenen und entgegengesetzten Weltanschauungen kreuzen sich in diesen Schriften; sie geben damit ein Bild unserer Zeit, die einer einheitlichen Gesamterfassung der Dinge und des Lebens entbehrt und mehr als jede frühere in der Geschichte eine werdende ist. Das Wort, das NIETZSCHE von WAGNER gebrauchte, findet mit noch größerem Recht auf ihn selber Anwendung. NIETZSCHE "resümiert die Modernität". Er ist ergriffen von ihrer Ruhelosigkeit, ihrem Ungenügen an bloßer Wissenschaft, ihrem Verlangen und Suchen nach einem neuen geistigen Besitz und selbst ihrem mächtig anwachsenden religiösen Instinkt - ein gärender Geist in einer gärenden Zeit.

Als Denker ist NIETZSCHE von SCHOPENHAUER ausgegangen. Er befand sich sogleich im Bann dieses größten Schriftstellers unter den deutschen Philosophen und nachdem er eine Seite von ihm gelesen hatte, stand auch sein Entschluß fest, keine ungelesen zu lassen. Tiefer noch ging der Eindruck der Persönlichkeit SCHOPENHAUERs, das heißt des Bildes der Persönlichkeit, das sich NIETZSCHE nach den Schriften des Philosophen gestaltet hatte. NIETZSCHE sah in SCHOPENHAUER seinen Erzieher, oder, wie er dieses Verhältnis schön umschreibt: "seinen Befreier auf dem Weg zu seinem Selbst". Er fühlte sich von einer verwandten Natur berührt, unter deren Einfluß sich sein eigenes Wesen entfaltete. Es war, um seine Worte zu entlehnen, "jenes zauberartige Ausströmen der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes." Sein Vertrauen in SCHOPENHAUER war sogleich da; er horchte auf ihn, "wie der Sohn, den der Vater unterweist". Zwar hatte er von ihm nur das Buch -, und das war in seinen Augen ein großer Mangel; umso mehr strengte er sich an, "durch das Buch hindurch zu sehen um sich den lebendigen Menschen vorzustellen." Auf das Höchste schätzte er bei SCHOPENHAUER die Ehrlichkeit, nur mit MONTAIGNE sei er hierin zu vergleichen; er nennt ihn heiter, weil er das Schwerste durch Denken besiegt hat, und rühmt seine Beständigkeit. Auch besaß SCHOPENHAUER, wie NIETZSCHE meinte, das Erste, was ein Philosoph braucht, eine unbeugsame und rauhe Männlichkeit. Als Kämpfer und Helden stellt er ihn daher in der "Geburt der Tragödie" dar. Wir werden an den Ritter mit Tod und Teufel erinnert,
    "wie ihn uns Dürer gezeichnet hat: den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blick, der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefährten und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmen weiß. Ein solcher Dürer'scher Ritter war Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die Wahreit. Es gibt nicht Seinesgleichen."
Und noch einmal (in der "Genealogie der Moral") kehrt dieses Gleichnis wieder. SCHOPENHAUER heißt hier "ein wirklich auf sich gestellter Geist, ein Mann und Ritter mit erzenem Blick." Was aber NIETZSCHEs oppositionellen Sinn am stärksten anzog, war die Unabhängigkeit SCHOPENHAUERs, seine Freiheit von "patriotischer Einklemmung", von Staat und Gesellschaft. - "Niemandem war er untertan!" lautet der Schluß seines Epigrammes auf ARTHUR SCHOPENHAUER.

"Der Schopenhauersche Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit  auf sich. - Dieses Heraussagen der Wahrheit erscheint anderen Menschen als Ausfluß der Bosheit" - sagt NIETZSCHE und träumt von einer Genossenschaft von Menschen nach diesem Bild, "welche unbedingt sind, keine Schonung kennen und  Vernichter  heißen wollen: sie halten an alles den Maßstab ihrer Kritik und opfern sich für die Wahrheit": - er träumt seine eigene Zukunft; jene alles zersetzende Kritik kündigt sich an, die schließlich auch seinen Geist zersetzte.

Ein bloßer Schüler SCHOPENHAUERs ist NIETZSCHE nie gewesen; es sei denn  der  Schüler, von dem er sagt, daß jeder Meister nur  einen  hat und der diesem untreu wird, weil er selbst zur Meisterschaft bestimmt ist. Dem "System" seines "großen Lehrers und Erziehers" stand er von Anfang an mit Mißtrauen gegenüber - und bald sollte er vor der Gefährlichkeit der SCHOPENHAUERschen Lehre warnen. Dennoch lassen sich die Spuren der ersten, jugendfrischen Einwirkung dieser Lehre auf seine eigene Denkart und Darstellung noch in seinen spätesten Schriften entdecken.

SCHOPENHAUER, der sich selbst einen Gelegenheitsdenker nannte, hat den Gedanken als Eingebung in die Philosophie gebracht; schon seine Art zu philosophieren hatte im Grund etwas Aphoristisches. In der fehlgreifenden Meinung, daß Anschauungen sich niemals widerstreiten können und, wo dies zu geschehen scheint, schon von selber zusammenstimmen müßten, legte er auf die begriffliche Durchbildung seiner Gedanken nur geringes Gewicht. Daher ist er wahrhaft groß nur in seinen einzelnen Bemerkungen und tiefen Blicken in die anschauliche Welt, weshalb eigentlich die "Parerga" sein bestes Werk sind. Dieses Werk, den Essays MONTAIGNEs und den Sentenzen LAROCHEFOUCAULDs zu vergleichen, wir eine Zierde unserer Literatur bleiben, wenn vom "System" SCHOPENHAUERs nur noch eine geschichtliche Erinnerung übrig ist. NIETZSCHE teilte mit SCHOPENHAUER die Unterschätzung des Logischen. Er sieht im Denken nur ein "gewisses Verhalten der Triebe zueinander", in der Vernunft und ihren Gesetzen nicht viel mehr als ein "grammatisches Vorurteil". Es ist die stärkste Abweichung von der Richtung, welche KANT der deutschen Philosophie gegeben hat. SCHOPENHAUER hat das Problem vom Wert des Daseins in den Mittelpunkt der Philosophie gerückt. Von ihm übernahm NIETZSCHE diese Aufgabe der Philosophie und damit den Begriff des Philosophen: "der Richter des Lebens zu sein". Das Wort in der SCHOPENHAUER-Schrift "das Auge des Philosophen ruht auf dem Dasein; er will dessen Wert  neu  festsetzen" enthält schon das ganze Projekt einer  "Umwertung aller Werte"  im Keim. SCHOPENHAUER suchte die Philosophie aus einer Wissenschaft in eine Kunst zu verwandeln. Er legte die Welt nach einer poetischen Analogie aus, und zum Glänzendsten, was er geschrieben hat, zählen die Betrachtungen über die Kunst in der "Welt als Wille und Vorstellung". Vielleicht wird man diesem Werk am meisten gerecht, wenn man es als eine wesentlich künstlerische Weltanschauung und SCHOPENHAUER, wie dies KUNO FISCHER getan hat, als Künstler auffaßt. NIETZSCHE, bei dem gleichfalls der Künstler den Denker überwiegt, redet in der "Genealogie der Moral" von der "faszinierenden Stellung  Schopenhauers  zur Kunst" und gibt damit zugleich einer ganz persönlichen Erfahrung Ausdruck. Er ließ sich selbst durch diese Stellung "faszinieren" und versuchte sogar von der Ästhetik des SCHOPENHAUERschen Systems aus dessen buddhistischen Nihilismus zu überwinden. "Hoch über  Schopenhauer"  habe er "die Musik der Tragödie des Daseins gehört."

Bald nachdem NIETZSCHE die Schriften des pessimistischen Denkers, des Philosophen der schwermütigen Jugend kennengelernt hatte, machte er die in seinem Leben nicht weniger wichtige Bekanntschaft mit RICHARD WAGNER. Von Basel aus unterhielt er dann in den Jahren 1869-1874 einen sehr lebhaften persönlichen Verkehr mit WAGNER, der in Tribschen bei Luzern seinen Wohnsitz genommen hatte. "Es gab ein Vertrauen ohne Grenzen" schreibt er im Rückblick auf jene Zeit an BRANDES, und als er von der Romantik seiner Jugend Abschied nahm und sich von WAGNER loslöste, fühlte er sich einsamer als je zuvor. Denn er hatte, wie er klagt, außer RICHARD WAGNER niemanden gehabt.

Aus der Darstellung der Schwester NIETZSCHEs kennen wir jetzt die Tragödie dieser Freundschaft, ihre Entstehung, Peripetie [plötzlichen Umschlag - wp] und Katastrophe. NIETZSCHE selbst spricht von einer "ganzen, langen Passion", die zum Härtesten und Melancholischsten in seinem Schicksal gehört hat - "Mein größtes Erlebnis war eine  Genesung; Wagner  gehört bloß zu meinen Krankheiten" - so faßt er später seine Befreiung von WAGNER auf.

Aus dem vierten Stück der "Unzeitgemäßen Betrachtungen":  Richard Wagner in Bayreuth  weiß man, was für überschwengliche Hoffnungen das WAGNER'sche Kunstwerk anfangs in ihm erweckt hat, welche Fernblicke in die deutsche Zukunft es seiner Schwärmerei zu eröffnen schien. Die heimlichen Regungen gegen das Schauspielerische dieser Kust, ihre Maßlosigkeiten, den überladenen Glanz und Schmuck, das Unvermögen für reine Schönheit - vertraute er nur seinen Tagebüchern an. Öffentlich trat er als einer der leidenschaftlichsten und überzeugtesten Anhänger des "Meisters" hervor, - als einer "der korruptesten Wagnerianer" drückte er dies später aus. Die Persönlichkeit WAGNERs erscheint in beinahe phantastischer Schilderung.
    "Zu unterst wühlt ein heftiger Wille in jäher Strömung, der auf allen Wegen ans Licht will und nach Macht verlangt. Nur eine ganz reine und freie Kraft konnte diesem Willen einen Weg ins Gute und Hilfreiche weisen."
Züge des eigenen Jugendbildes mischen sich in die Zeichnung ein: die Unruhe und Reizbarkeit, die nervöse Hast im Erfassen von hundert Dingen, das leidenschaftliche Behagen an beinahe krankhaften, hochgespannten Stimmungen. - Die Schrift über Bayreuth ist  vor  dem Bayreuther Ereignis verfaßt. NIETZSCHE wollte darin zum Propheten WAGNERs werden; aber WAGNERs Natur machte ihn zum "Dichter"; er  erfand  eine noch höhere Natur - den  dithyrambischen [Versmaß - wp] Künstler. Und so redet aus seiner Schrift der "präexistente Dichter des  Zarathustra,  dem Bayreuth zu einem Symbol wird. - Die Bayreuther Aufführungen heißen: "die erste Weltumseglung im Reich der Kunst, wobei die Kunst selber entdeckt wurde". WAGNER, "der Erneuerer des einfachen Dramas, der Entdecker der Stellung der Künste in der wahren menschlichen Gesellschaft, der Meister der Sprache, Mythologe und Mythopoet - ist eine der ganz großen Kulturgewalten; er waltet über die Künste" ("Vermischer der Künste und der Sinne", so wird dies später genannt.) Durch die Kunst dieses "Alldramatikers" und "Urdramatikers" werden wir selbst in "tragische Menschen umgewandelt." Im  Ring der Nibelungen  findet NIETZSCHE die "sittlichste Musik", und er versteigt sich sogar bis zur Frage: "mußte die wahre Musik erklingen, weil die Menschen sie am wenigsten verdienten, oder am meisten bedurften?" In Bayreuth, erfahren wir, ist "auch der Zuschauer anschauenswert". Unwillkürlich fällt dabei unser Blick auf das Bild, das NIETZSCHE von diesem Zuschauer entwirft, nachdem er ihn angeschaut hatte: "Sehen Sie doch diese Jünglinge, erstarrt, blaß, atemlos! Das sind Wagnerianer, das versteht nichts von Musik, - und trotzdem wird  Wagner  über sie Herr."

NIETZSCHE war, so sagt er selbst, mit einem Ideal nach Bayreuth gekommen und so mußte er dann die bitterste Enttäuschung erleben. Die "Überfülle des Häßlichen, Verzerrten, Überreizten" stieß ihn heftig ab. Das war nicht die Musik, die, ehe er sie wirklich gehört hatte, in seinen Träumen mit lebenerhöhender Macht erklungen war. Das waren nicht "unzeitgemäße Menschen", nicht die Auserwählten der neuen Kultur, die sich hier zum Fest, wie zu einer gewöhnlichen Premiere, eingefunden hatten. In Bayreuth wurde aus dem Apostel ein Verfolger, aus dem schwärmerischen Bewunderer der leidenschaftliche Gegner WAGNERs und seiner Kunst. WAGNER ist nur noch "ein großer Schauspieler, seine Musik Theater-Rhetorik. Er ist der VICTOR HUGO der Musik als Sprache. Die Farbe des Klangs entscheidet; was erklingt, ist beinahe gleichgültig. Es ist leichter, schlechte Musik zu machen als gute, das Schöne hat seine Haken, wir wissen das. Wozu also Schönheit? Warum nicht lieber das Große, das Erhabene, das Gigantische? So viel vermögen wir noch. Nichts ist wohlfeiler als die Leidenschaft." - Und dieses Bittere und Böse, dieses Übermütige quillt ihm zugleich aus der Feder, weil WAGNER "plötzlich hilflos und zerbrochen vor dem christlichen Kreuz niedersank. - Tiefer und sachlicher sind die im zweiten Band der Biographie (und im XI. Band der Werke) veröffentlichten Aussprüche über Wagner und seine Kunst.  "Wagner",  heißt es hier, "hat kein rechtes Vertrauen zur  Musik,  er zieht verwandte Empfindungen heran, um ihr den Charakter des Großen zu geben". Er wendet sich an "unkünstlerische Menschen, mit  allen  Hilfsmitteln soll gewirkt werden, nicht auf  Kunstwirkung,  sondern auf  Nervenwirkung  ganz  allgemein  ist es abgesehen." - "Diese Musik ist  ohne Drama  eine fortwährende Verleugnung aller höchsten Stilgesetze der älteren Musik: wer sich völlig an sie  gewöhnt,  verliert das Gefühl dieser Gesetze." - "Woher doch die Wirkung auf  so Viele?  Weil man intermittiert [zeitweise aussetzt - wp] mit der Aufmerksamkeit, weil man bald auf die Musik, bald auf das Drama, bald auf die Szene allein achtet - also das Werk  zerlegt.  Damit ist aber über die  Gattung  der Stab gebrochen."

Zwischen einer Philosophie, die einen blinden Drang einen grund- und ziellosen Willen zum alleinigen Wesen der Dinge macht, und einer Musik, die in ihrem gestaltlos wogenden Tonmeer jede Form untergehen läßt, besteht eine innere Verwandtschaft, die NIETZSCHE wohl zuerst bemerkt hat. "Wunderbare Einheit  Wagners  und  Schopenhauers!  Sie entstammen dem gleichen Trieb. Die tiefsten Eigenschaften des germanischen Geistes rüsten sich hier zum Kampf", lautet eine der im Nachlaß veröffentlichten Aufzeichnungen. Nimmt man noch das "ältere Griechentum" hinzu, sie es sich NIETZSCHE nach der "ernsthaften Philosophie" des Pessimismus und der Musik WAGNERs deutete, so hat man die Elemente beisammen, die sich zu seinem Erstlingswerk verbinden. "Ich will  Schopenhauer, Wagner  und das ältere Griechentum zusammenrechnen: es gibt einen Blick auf eine herrliche Kultur." Das Ergebnis dieses Zusammenrechnens ungleichnamiger Größen ist die  Geburt der Tragödie,  das Buch, in welchem Wissenschaft, Kunst und Philosophie kentaurisch verwachsen sind, - "ein unmögliches Buch", wie es NIETZSCHE später genannt hat, "aufgebaut aus lauter vorzeitigen, übergrünen Selbsterlebnissen, ... schwerfällig, bilderwütig und bilderwirrig, gefühlsam" - sicher aber, wie wir hinzufügen müssen, voll Genialität und eins der wenigen  ganzen  Bücher NIETZSCHEs.

"Die Geburt der Tragödie" ist eine Metaphysik der Kunst, welche die Kunst zur Metaphysik macht. Sie ist die Lehre von der beständigen Selbsterlösung der Welt durch die Kunst, - "eine rein ästhetische Weltauslegung und Weltrechtfertigung". "Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein, ist die Welt ewig gerechtfertigt", - in diesem Satz haben wir das Leitmotiv der Schrift. Ihren Gegenstand bildet das Verhältnis von Kunst und Pessimismus, oder, weil sich unserem Künstler-Philosophen das allgemeine Problem sogleich in den typischen Fall verwandelt, das Verhältnis von "Griechentum und Pessimismus". Nur für den Pessimismus, behauptet NIETZSCHE, ist die Kunst notwendig, daher begreiflich; nur die Kunst schützt vor den praktischen Folgen des Pessimismus. "Den Griechen rettete sie vor der Gefahr, sich nach einer buddhistischen Verneinung des Willens zu sehnen." - Daß die Griechen Pessimisten waren, müssen wir freilich als neue Offenbarung gelten lassen, als einen der "befremdlichen Blicke in das Hellenische", von denen NIETZSCHE sagt, daß sie nur ihm vergönnt waren.

Kunst und künstlerische Tätigkeit sind nie ausschließlicher geschätzt worden, als es von NIETZSCHE in seinem Jugendwerk geschah. Die ganze Welt ist nur um der Kunst willen da, unser Dasein ein fortwährender künstlerischer Akt. Das Kunstwerk und der Mensch, beide sind nur eine Wiederholung des Urprozesses, aus dem die Welt entstanden ist. Um zur Kunst zu kommen, vermutet NIETZSCHE, hat sich der "Wille" in diese Welten, Sterne, Körper und Atome ausgegossen, woraus klar werden muß, daß die Kunst nicht für die Individuen, sondern für den "Willen" selbst notwendig ist. Der nämlichen seltsamen Kosmogonie in den "Nachträgen zur Geburt der Tragödie" begegnen wir auch im Werk selbst, wo NIETZSCHE "sich zur metaphysischen Annahme gedrängt fühlt, daß das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein zu seiner steten Erlösung bedarf". Man empfindet den pantheistischen Hauch dieser Worte und die Abweichung von SCHOPENHAUER. Im Grunde allen Daseins denkt sich NIETZSCHE eine schöpferische Macht, die sich durch beständiges Schaffen und Vernichten - und alles Schaffen ist zugleich ein Vernichten - vom Leiden und der Überfülle der in ihr gedrängten Gegensätze befreit. Dies ist die "ewige Lust hinter der Erscheinung", die beständig aus dem treibenden "Urschmerz" im Wesen der Dinge quillt und zu der der Weg durch immer neuen Untergang und Vernichtung führt. - "Eines leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir da die Welt. Traum schien mir die Welt und Dichtung eines Gottes; farbiger Rauch vor den Augen eines göttlich Unzufriedenen, ... eine trunkene Lust ihrem unvollkommenen Schöpfer", so faßt der "Zarathustra" die Philosophie der Geburt der Tragödie zusammen, - und von so phantastischen Ideen ist NIETZSCHE ursprünglich ausgegangen.

Schon SCHOPENHAUER hatte die Musik den übrigen Künsten gegenübergestellt, weil sie nicht wie diese ein Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar ein Abbild des "Willens" ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische darstellt. Daher ist sie auch nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen, und ihre Wirkung beruht nicht auf dem Gefallen an schönen Formen. An diese Auffassung vom Wesen der Musik knüpft NIETZSCHE seine ästhetischen Ideen an. Zwei allgewaltige Kunsttriebe herrschen nach ihm in der Natur und offenbaren sich in den Werken der Kunst. Nach den beiden Kunstgottheiten der Griechen:  Dionysos  und  Apollo  nennt sie NIETZSCHE: dionysisch und appolinisch, - es sind SCHOPENHAUERs "Wille und Vorstellung" als Kunstmächte gedacht. Im Bereich des künstlerischen Schaffens erscheint der Gegensatz dieser Triebe als Gegensatz zwischen der unbildlichen dionysischen Kunst des Musikers und der apollinischen des Bildners und epischen Dichters oder, wie dies NIETZSCHE nach einer physiologischen Analogie erläutert: zwischen den getrennten Kunstwelten des "Rausches" und des "Traumes". Beide so verschiedene Triebe gehen nebeneinander her, sie steigern sich gegenseitig zu immer höheren Produktionen, bsi sie, zum erstenmal vereinigt, die attische Tragödie erzeugen, dieses "ebenso dionysische wie apollinische Kunstwerk". Die Tragödie ist aus dem dithyrambischen Chor entstanden, dem leidenschaftlich erregten Lied, das man unter Tänzen und Aufzügen zur Preisung des  Dionysos  sang. Der Chor hat in seiner Verzauberung eine Vision des Gottes und beschreibt begeistert, was er schaut. Und als Vision wurde ursprünglich auch Szene und Aktion gedacht. Die szenische Kunst bei ihrer Entsteung ist "die Entladung der Musik in Bildern". Die Musik hat den tragischen Mythos aus sich erzeugt: dies ist die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik.

Die philologischen Grundlagen dieser halbmythischen Geschichte der Tragödie brauchen hier nicht geprüft zu werden- Was gehen auch eine philosophische Dichtung ihre philologischen Grundlagen an! Die Behauptung, daß all die berühmten Figuren der griechischen Bühne nur Masken des ursprünglichen Bühnenhelden  Dionysos  bedeuten sollten, - auch XERXES der Barbar die Maske des griechischen Gottes, - wird man ohnehin so unglaubhaft finden, wie es den Alten selbst, ihren Dichtern und Philosophen, unbekannt war. Und woher weiß NIETZSCHE, daß die großen tragischen Dichter, AESCHYLOS vor allen, noch größere schöpferische Musiker waren, in ihren Dramen also nur "das Buch" zu einer verschollenen Musik auf uns gekommen ist? Erst der "Sokratismus", der übrigens älter ist als SOKRATES und für NIETZSCHE das Symbol aller kunstfeindlichen Tendenzen darstellen muß, soll die Musik aus der Tragödie ausgetrieben haben - zurückgeblieben ist das "dramatisierte Epos", das soll heißen: die Form des Dramas, welche SHAKESPEARE auf die Höhe der Vollendung brachte! Wer wird auch im Ernst in der Einschränkung des Chors und der Ausbildung des Dialogs ein Verderben der dramatischen Kunst erblicken und nicht vielmehr NIETZSCHEs eigenem späteren Urteil zustimmen: "der Dialog ist die eigentliche Tat der Dramatiker wegen seiner ungemeinen Helle und Bestimmtheit."

Unter dem Namen des Dionysischen hat NIETZSCHE die auf das Höchste gespannte leidenschaftliche Erregtheit zur Quelle und zum Zweck der Musik gemacht. Daher bedurfte er des apollinischen Gegenzauber, um das Übermaß jener Erregtheit zu dämpfen. "Der Mythos schützt uns vor der Musik". Man kann dieses Mittels entraten, da die künstlerische Behandlung schon von selbst die Leidenschaft in Maß und Form zwingt. Und wenn sich an die Auffassung der musikalischen Formen, die bewegliche Symmetrie der Rhythmen, die Harmonie der Töne, den Charakter der Tonart unwillkürlich und aus physiologischen Ursachen leidenschaftliche Stimmungen knüpfen, so werden diese doch eben durch jene Formen sogleich in die Welt der Betrachtung und des ästhetischen Scheins erhoben. Auch die Musik ist schon ansich und ohne die Hilfe des Wortes und der Szene eine "apollinische" Kunst, - Apollo  die einzige Gottheit der Künste.

Alle Kunst, auch die tragische, will die Leidenschaften nicht so darstellen, wie der von einer solchen Ergriffene unmittelbar empfindet, noch sucht sie die Affekte in der Seele des Betrachtenden und Genießenden bis zu dem Grad zu steigern, daß es zur Jllusion eines wirklichen Erlebnisses kommt. Alles, was der dramatische Dichter vergegenwärtigt, Handlungen und Gemütserregungen, verwandelt er zugleich in ein zeitliches Fernbild. Er weiß dem von ihm Dargestellten durch die Form der Darstellung den Geist der Vergangenheit zu geben, um zu verhindern, daß es wie eine gegenwärtige Wirklichkeit auf uns lastet. Das Mittel dazu ist die poetische Behandlung des Stoffs, welche die Gegenstände so vorführt, wie sie in der Erinnerung erscheinen würden, - als ob wir mit klarem Bewußtsein von ihnen träumten, nicht sie wirklich sehen und erleben. Denn die Erinnerung ist die eigentliche idealisierende Kraft unserer Seele; was in sie getaucht ist, erscheint in reinem Duft und Klarheit. Dies meinte wohl SCHILLER mit seinem noch unverwertet gebliebenen Satz (in einem Brief an GOETHE): "die Dichtkunst als solche macht alles Gegenwärtige vergangen und entfernt alles Nahe durch Idealität." - Das ästhetisch Wirksame aber reicht viel weiter als das Schöne. Es gibt eine Kunst des Ausdrucks, des Charakters, der Leidenschaft neben der Kunst der Schönheit, den normalen Typus, der Beseeligung. In jener ist die Dissonanz, das Häßliche, das Furchtbare am Platz; diese erzielt ihre Wirkung durch Maß, Wohllaut und Eurythmie [Wohlklang - wp] der Formen. Dies ist alles, was vom Gegensatz des Dionysischen und Apollinischen zu Recht besteht.

Nicht diese ästhetischen Fragen jedoch bilden die Hauptangelegenheit der "Geburt der Tragödie". Aus der künstlerischen Weltanschauung, wie sie in jener Schrift entworfen wird, sah NIETZSCHE bereits eine neue Kultur erstehn, die er als die "Kultur der tragischen Erkenntnis" bezeichnet. Diese zu verkündigen und heraufzuführen ist die eigentliche Absicht seines Jugendwerkes. Seine Hoffnungen und Träume richten sich dabei auf die heranwachsende Generation. Er meint, daß nicht mehr als hundert, in einem neuen Geist erzogene und wirkende Menschen dazu gehörten, "der modernen Gebildetheit den Garaus zu machen", da sich ja auch die Kultur der Renaissance, wie er ungeschichtlich behauptet, "auf den Schultern einer solchen Huntert-Männer-Schar heraushob." - Es fehlte nicht viel und es wäre im Jahre 1873 zur Gründung einer Bildungsanstalt - im Sinne des Programms der Baseler-Vorträge: "Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten" - gekommen; sie hätte die Aufgabe gehabt: für die neue Kultur Erzieher zu erziehen. - Als "ein Wesen von zürnender Hoheit, stolzestem Blick, kühnstem Wollen, ein Kämpfer, ein Dichter, ein Philosoph zugleich, mit einem Schritt, als ob es gelte, über Schlangen und Ungetüme hinwegzuschreiten" - so wird (in dem ausführlicheren "Vorwort an Richard Wagner") das Bild des "zukünftigen Helden der tragischen Erkenntnis" gezeichnet. NIETZSCHE dachte sich selbst unter diesem Bild. Unerschrockenheit des Blicks und einen heroischen Zug ins Ungeheure schreibt die "Geburt der Trägödie" dem neuen Geschlecht zu, von dem NIETZSCHE träumt. Man sieht: diese "Drachentöter" und Vorkämpfer der tragischen Kultur sind zugleich die Vorläufer des "Übermenschen", - nur glauben sie noch an die SCHOPENHAUER'sche Metaphysik. Die "Weisheit", die sie an die Stelle der Wissenschaft setzen, "wendet sich dem Gesamtbild der Welt zu und sucht in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung zu ergreifen." Daher bedürfen sie der "Kunst des metaphysischen Trostes": der Kunst RICHARD WAGNERs. Auch auf die Zukunft dieser Kultur wirft noch der Pessimismus seine Schatten. "Der Einzelne (lesen wir in "Richard Wagner in Bayreuth") soll zu etwas Überpersönlichem geweiht werden. Und wenn die ganze Menschheit einmal sterben muß - wer dürfte daran zweifeln! - so ist ihr als höchste Aufgabe das Ziel gestellt, so ins Eine und Gemeinsame zusammenzuwachsen, daß sie als ein  Ganzes  ihrem bevorstehenden Untergang mit einer  tragischen Gesinnung  entgegengehe; in dieser höchsten Aufgabe liegt alle Veredlung der Menschen eingeschlossen. - So empfinde ich es!"

II. NIETZSCHE ist der Philosoph der Kultur. - Die Kultur ist das Problem, auf das sich alle seine wesentlichsten Gedanken beziehen. Diese Aufgabe wird vom Wandel seiner Anschauungen nicht berührt; sie verbindet die Perioden seines Denkens und steht im Mittelpunkt seiner Philosophie. Erst ist Kultur  Kunst,  "die Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes", dann ist sie  Erkenntnis endlich ist ihr Ziel die  "Erhöhung  des Typus  Mensch".  Auch das Problem der Moral, NIETZSCHEs bekannteste Fragestellung, ordnet sich bei ihm dem Kulturproblem unter und ist daher nur im Zusammenhang mit diesem richtig zu verstehen. - Der Weg zu einer künftig möglichen Kultur, deren Bild seinem Geist vorschwebt, führt, wie NIETZSCHE glaubt, über die gegenwärtig herrschende Moral hinweg.

Dem leidenschaftlichen Sinn des Denkers hat es aber nicht genügt, die Bedingungen, unter denen Kultur: "eine verbesserte Physis" entsteht, bloß zu einem Gegenstand der Forschung zu machen; von Anfang an hielt es vielmehr NIETZSCHE, mit geringem Schwanken, für die eigentliche Bestimmung des Philosophen: Kultur zu schaffen. Ein neues Kulturideal aufzurichten und ins Leben zu rufen - dies ist das Ziel seiner - und, wie er meint, aller echten Philosophie. - Im Philosophen kämpfen der Reformator des Lebens und Richter des Lebens, heißt es in "Schopenhauer als Erzieher"; und in der Schrift über "Richard Wagner in Bayreuth" erklärte NIETZSCHE für die wichtigste Frage der Philosophie: wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestaltung haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, "mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die  Verbesserung  der als veränderlich erkannten Seite der Welt' loszugehen." Einem ähnlichen Gedanken gibt in kürzerer Wendung die Aufzeichnung aus dem Nachlaß Ausdruck: "Der Wille zum Dasein benutzt die Philosophie zum Zweck einer höheren Daseinsform."

An dieser eigentümlichen Auffassung vom Beruf der Philosophie und des Philosophen hat NIETZSCHE in aller Folge festgehalten; nur der Ton, in welchem er sie verkündet, ist, wie von allem, was er später schrieb, noch erregter, subjektiver, exzentrischer geworden. "Ein Philosoph - hören wir ihn in "Jenseits von Gut und Böse" sagen - das ist ein Mensch, der beständig außerordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt, der von seinen eigenen Gedanken wie von Außen her, wie von Oben und Unten her, als von  seiner  Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird, - ein verhängnisvoller Mensch". Nicht als Charakteristik des Philosophen, als Selbstporträt NIETZSCHEs sind diese Worte merkwürdig. - Die Aufgabe des Philosophen verlangt,  daß er Werte schafft".  "Die eigentlichen Philosophen sind  Befehlende und Gesetzgeber,  sie sagen:  so soll es sein!  sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen, sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft; - ihr Erkennen ist  Schaffen,  ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist - Wille zur Macht".  Immer schafft die Philosophie die Welt nach ihrem Bild, "sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistige Wille zur Macht, zur Schaffung der Welt, zur  causa prima." [ersten Ursache - wp] - Der Philosoph ist der  "notwendige  Mensch des Morgens und Übermorgens; sein Feind war jedesmal das Ideal von Heute." - Bisher, fährt NIETZSCHE fort.
    "haben alle diese außerordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen nennt, ihre Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein; - ihr eigenes Geheimnis war: um eine  neue  Größe des Menschen zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrößerung."
Daher ist der Philosoph "der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesamtentwicklung des Menschen hat." - "Geister, stark und ursprünglich genug, um die Anstöße zu entgegengesetzten Wertschätzungen zu geben (entgegengesetzt denen, die heute Maß und Gewicht sind) und ewige Werte umzuwerten, umzukehren, Vorausgesandte, Menschen der Zukufnt, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf  neue  Bahnen zwingt" - so zeichnet NIETZSCHE die neue Art Philosophen, so sich als als Philosophen der neuen Art. - "Seligkeit muß es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs", sagt "Zarathustra". Auf den doppelsinnigen Namen:  Versucher  tauft NIETZSCHE seine Philosophen, weil sie zu neuen Gesamtversuchen des Lebens anleiten, verleiten; und gelegentlich nennt er den Philosophen sogar:  "den cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Kultur". 

Hat es je solche Philosophen gegeben? Selbst in PLATOs Staat würden wir sie vergeblich suchen; dort sind die Philosophen Könige, nicht Tyrannen. - Was "der ganzen Menschheit zugeteilt ist" und nur in langsamer, geschichtlicher Arbeit erwächst, in beständiger Wechselwirkung des Einzelnen und der Gemeinschaft -, wird hier der Kraft eines Einzelnen oder einer Klasse von Einzelnen übertragen, die unter der Last einer so ungeheuren Verantwortlichkeit erliegen müßten, wie NIETZSCHEs Geist ihrer bloßen Vorstellung erlag. Was für ein Schwindel erregender Gedanke, sich selber zu den Philosophen nach diesem Bild zu zählen und, wie es NIETZSCHE, nach dem Zeugnis eines Freundes geschah, als "Inkarnation des Willens zur Menschheitserhöhung" zu empfinden! Was sich NIETZSCHEs Phantasie in Wahrheit gestaltet hat, ist nicht, wie er meinte, das Bild des Philosophen, sondern das Bild des Genius der Kultur, die dichterische Personifikation der kulturschaffenden historischen Mächte, - der Mächte des geistigen Gesamtlebens, das mit unbewußter Weisheit Sprache und Vernunft, Sitte und Recht, Religion und Kunst aus sich hervorgehen läßt. Die großen geschichtlichen Persönlichkeiten sind die Leiter, aber nicht die Urheber dieser Mächte.

Wir versuchen jedoch die Entstehung dieser Idee vom Philosophen als dem Kulturschöpfer zu erklären und zu zeigen, wie sie von NIETZSCHEs Geist Besitz ergriffen hat.

Auch ohne die eigene Erklärung NIETZSCHEs zu kennen, müßten wir schon durch den ungleichen Charakter seiner Schriften bestimmt werden, diese in drei Gruppen zu sondern und drei Perioden der philosophischen Entwicklung des Autors zu unterscheiden. - Er habe sich zweimal überlebt, schreibt NIETZSCHE an BRANDES; "manchen Abschied nahm ich schon, ich kenne die letzten herzbrechenden Stunden" läßt er "Zarathustra" sagen.

Von den drei Perioden, deren erste wir bereits gekennzeichnet haben, ist die mittlere, obgleich im Leben NIETZSCHEs nur ein Zwischenspiel und eine Übergangszeit, in mancher Hinsicht die erfreulichste. Es ist die Zeit seiner Genesung, - der Genesung seines Geistes vom doppelten Gift der philosophischen und der musikalischen Romantik. Und Etwas von der Stimmung eines Genesenden ist in die Schriften dieser Zeit hineingekommen, - Etwas von jener optimistischen Stimmung, in welcher die wiedererwachenden Sinne der Dinge wie zum erstenmal gewahr werden, der Vorliebe für stille Luft, mäßige Wärme, heitere, nicht grelle Farben. Eingeleitet wird diese Periode - NIETZSCHE nannte sie die Zeit seiner antiromantischen Selbstbehandlung - durch seine Loslösung von SCHOPENHAUER und dem "romantischen" Pessimismus, - seine Loslösung von der Metaphysik.

Es bedurfte dazu keines Anstoßes von außen, - auch nicht durch den "Hauptsatz", zu dem einer der "kühnsten und kältesten Denker" (PAUL RÉE) gelangt war: "daß der moralische Mensch der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher steht als der physische Mensch"; sollte auch dieser Satz, wie NIETZSCHE meint, "als die Axt dienen" können, welche dem "metaphysischen Bedürfnis der Menschen" an die Wurzel gelegt wird. Eine in seiner vielseitigen Natur und Begabung von vornherein vorhandene Richtung brauchte nur hervorzutreten und vorübergehend zur Herrschaft zu gelangen, um die neue Epoche seines Denkens heraufzuführen. NIETZSCHE war diesem kritischen Zug seines Geistes zeitweilig schon früher einige Schritt nachgegangen, wie dies zahlreiche Aufzeichnungen aus seiner Jugendzeit beweisen, unter diesen eine seiner ersten Reflexionen: "es gibt keine Frage, die notwendig nur durch die Annahme einer intelligiblen Welt gelöst wird." Jetzt aber überließ er sich der verstandesmäßigen Auffassung der Dinge mit jener Ausschließlichkeit, die jeder Umwandlung seiner Anschauungen, jeder seiner "Überwindungen" eigen ist. Dürfen wir dem Pathos seiner eigenen Erzählung glauben, so kam "die große Loslösung" für ihn "plötzlich wie ein Erdstoß", der ihn mit einemmal aus dem Kreis herausriß, wo "er bis dahin anbetete und liebte." Denn auch Neigung und Abneidung schlagen bei ihm, mit dem Wechsel seiner Anschauungen zugleich, bis zu dem Punkt des äußersten Gegensatzes um.

An SCHOPENHAUER findet er nur noch "den harten Tatsachensinn" zu loben, - "den guten Willen für Helligkeit und Vernunft, der ihn oft so englisch erscheinen läßt." (- Dieses: englisch bedeutete damals noch ein Lob.) Jetzt sah er, was er gleich hätte sehen können, daß SCHOPENHAUER mit "der Ausnahme, daß alles was da ist, nur ein Wollendes ist", nur eine "uralte Mythologie" auf den Thron gehoben hat. Selbst das Bild des Philosophen hat sich ihm verdunkelt und erscheint in beinahe feindseliger Auffassung: der Charakter SCHOPENHAUERs zeige "eine gewisse heftige Häßlichkeit der Natur in Haß, Begierde, Eitelkeit, Mißtrauen". Von der Lehre SCHOPENHAUERs aber heißt es jetzt: viel Wissenschaft klingt in sie hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte "metaphysische Bedürfnis".

Als das Werk der neuen Epoche entstand das "Buch für freie Geister:  Menschliches, Allzumenschliches"  und seine Fortsetzung: "Der Wanderer und sein Schatten". - Das "souveräne Buch" nannte es JAKOB BURCKHARDT und schrieb ihm die "Vermehrung der Unabhängigkeit in der Welt" als Wirkung zu. Die Worte, mit denen DESCARTES das Leben des Erkennenden preist, jene schlichten und darum eindrucksvollen Worte in der "Abhandlung über die Methode" sollten dem Buch statt der Vorrede dienen. Auch NIETZSCHE sah, zur Zeit der Abfassung desselben, im Erkennen den Zweck des Daseins: mit dem "großen Intellekt" schien ihm damals das Ziel der Kultur erreicht zu sein. - "Das Leben ein Werkzeug und Mittel zur Erkenntnis - das Leben ein Experiment des Erkennenden, - keine Pflicht, kein Verhängnis, keine Betrügerei" so lautet die Antwort, die er für jetzt der SCHOPENHAUERschen Frage gibt: "hat das Dasein überhaupt einen Sinn?"

Der ganze Ernst dieser Frage, das Gewicht, womit sie auf der Seele lastet, konnte auch für NIETZSCHE erst zur Empfindung kommen, nachdem er jede metaphysische Deutung der Welt, auch die eigene ästhetisch-metaphysische, von sich gewiesen hatte. - "Man darf, heißt es jetzt, die Metaphysik als die Wissenschaft bezeichnen, welchen von den Grundirrtümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten." Mit der Verdoppelung der Welt fällt auch die Möglichkeit einer Flucht aus der Welt dahin; gibt es aber keine Erlösung von der Welt, auch nicht ihre Selbsterlösung durch die Kunst, wie sie die "Geburt der Tragödie" angenommen hatte, so bleibt nur übrig, sich entschlossen an das einzige, gegebene Sein zu halten, das der Metaphysiker die "Vorstellung" nennt. "Nicht die Welt als Ding-ansich", erklärt NIETZSCHE, "die Welt als Vorstellung (oder - was für ihn dasselbe ist: als Irrtum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoß tragend." - Die neue Philosophie NIETZSCHEs verrät einen heraklitischen Geist: sie wendet sich dem Werden und dem Werdenden zu und will alles Dingartige, Stoffliche in Bewegung und Tätigkeit auflösen. - "Die Materie ist eben ein solcher Irrtum wie der Gott der Eleaten", heißt es in der "Morgenröte".

Auch als "Freigeist" ist NIETZSCHE Künstler geblieben. Was er eigentlich darstellt, ist nicht die Philosophie der Aufklärung und des Positivismus, sondern der aufgeklärte Philosoph, der "die Fahne mit dem Namen  Petrarca, Erasmus, Voltaire  weiterträgt" - seine Stimmung, sein Charakter; kurz: NIETZSCHE zeichnet den psychologischen Typus des erkennenden Geistes, dessen Erlebnisse Gedanken sind. - "Das freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge, - die Freude an diesem wünschenswerten Zustand - teilt der Erkennende gerne mit." "Das Glück des Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt." - Man sehe, wie in "Wanderer und sein Schatten" dieses Glück beschrieben wird: "Ruhe, Größe, Sonnenlicht - diese  guten Drei  umfassen alles, was ein Denker wünscht und auch von sich fordert. - Ihnen entsprechen einmal  erhebende  Gedanken, sodann  beruhigende,  drittens  aufhellende, - viertens aber Gedanken, welche an allen drei Eigenschaften Anteil haben, in denen alles Irdische zur Verklärung kommt: es ist das Reich, wo die große  Dreifaltigkeit der Freude  herrscht." -
    "Nur dem veredelten Menschen darf aber diese Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens; er zuerst darf sagen, daß er um der Freudigkeit willen lebt und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Mund wäre sein Wahlspruch gefährlich: Friede um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. - Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen." 
Es ist schwer zu entscheiden, wie tief NIETZSCHE von Stimmungen und Gedanken wirklich ergriffen war, die er mit so sichtlicher Kunst und Freude an seiner Kunst zur Darstellung bringt, - was hier wahre Gestalt, was Maske ist. Alle seine Wertschätzungen scheinen sich aber in dieser Zeit seines Intellektualismus in ihr Gegenteil verkehrt zu haben. Der Wissenschaft wird der Vorrang vor der Kunst gegeben und der wissenschaftliche Geist in der Methode gefunden, die ein mindestens ebenso wichtiges Ergebnis der Forshung ist, als irgendein sonstiges Resultat derselben. Die Stelle der "älteren Griechen" - jener Pessimisten und Wagnerianer vor WAGNER, an deren selbstgeschaffenem Bild NIETZSCHE sich einst begeistert hatte - nehmen die Athener zur Zeit des SOPHOKLES und nach ihm ein: "ihr Adelsvorrecht war - Nüchternheit und Grazie verbunden". Selbst für SOKRATES, mit dem er sonst in einem beständigen Streit liegt, zeigt NIETZSCHE in dieser Zeit Verständnis. Er nennt ihn den "einfachsten und unvergänglichen Mittler-Weisen" mit der "fröhlichen Art des Ernstes" und einer "Weisheit voller Schelmenstreiche"; die Zeit werde kommen, "da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des  Sokrates  zur Hand nimmt, als die Bibel". - Auch das Verhältnis zur Kunst hat sich geändert. NIETZSCHE wendet jetzt Sinn und Neigung dem Maßvollen, Einfach-Großen und Gesunden, mit  einem  Wort: dem Klassischen zu. Er schätzt den hellen Dialog im Drama und sieht in der Darstellung "des Gleichbleibenden, in sich Ruhenden, Hohen, Einfachen, vom Einzelreiz weit Absehenden: die schwerste und letzte Aufgabe des Künstlers".
    "Deshalb werden die höchsten Gestaltungen sittlicher Vollkommenheit von den schwächeren Künstlern als unkünstlerische Vorwürfe selbst abgelehnt. - Der Darstellung des höchsten  Menschen, das heißt des einfachsten und zugleich vollsten, war bis jetzt kein Künstler gewachsen; vielleicht aber haben, von allen bisherigen Menschen, die Griechen - im Ideal der Athene - am weitesten den Blick geworfen", -
so lautet sein Kunstbekenntnis aus dieser Zeit.

Noch größer ist der Gegensatz zwischen den moralphilosophischen Anschauungen in dieser und der folgenden Periode. Hier mag wirklich PAUL RÉE die Richtung gegeben haben; vertritt doch NIETZSCHE eine Zeit lang den Utilitarismus, das Prinzip des Nutzens, in der Moral, - sogar für HELVETIUS hat er ein Lob. Er nennt es  nachgewiesen,  daß man zu Anfang unpersönliche Handlungen ihres allgemeinen Nutzens wegen lobte und auszeichnete, und behauptet: solche Handlungen, an denen das Grundmotiv, das der Nützlichkeit,  vergessen  worden sei, heißen dann  moralische.- In der "Genealogie der Moral" hat er für diese Vergeßlichkeitstheorie nur noch Geringschätzung; er wirft ihr psychologischen Widersinn in sich selbst vor. Wie, frägt er, ist ein solches Vergessen nur  möglich?  hat die Nützlichkeit solcher Handlungen irgendwann einmal aufgehört? Das Gegenteil ist der Fall; diese Nützlichkeit ist vielmehr die Alltagserfahrung zu allen Zeiten gewesen, Etwas, das fortwährend immer neu unterstrichen wurde. - Der Moral des Mitleidens, dieser "instinktiven" Moral, welche "keinen Kopf hat, sondern nur aus Herz und hilfreichen Händen zu bestehen scheint", wird noch nicht die Moral des herrschaftlichen Willens zur Macht entgegengesetzt: Instinkt wider Instinkt, sondern die "Moralität der Vernunft". Diese betrachtete NIETZSCHE in der Zeit, von der wir handeln, als die höchste und letzte Stufe der Sittlichkeit; als solche sei sie über die illusionären Motive der Moral hinaus. Die Einsicht trete an die Stelle der "Handlungsweise nach moralischen Gefühlen". - "Sokrates  und  Plato  haben Recht: der Mensch tut immer das Gute, je nach dem Grad seines Intellekts, dem jedesmaligen Maß seiner Vernünftigkeit." - Noch ist es schließlich nicht das isolierte Individuum, das zum Schöpfer der Werte und der Moral gemacht wird, sondern nach NIETZSCHEs eigenem Ausdruck: das  Kollektiv-Individuum  die Gesellschaft, der Staat -, das "die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet." Damit "kann erst der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden", bemerkt NIETZSCHE. Später hat er die soziale Morals als "Herdentier-Moral" mit allen Worten und Waffen der Leidenschaft bekämpft. Jetzt erhebt er selbst noch, um zwischen Besitz und Gerechtigkeit einen Ausgleich zu finden, die Forderung: "die Gerechtigkeit muß in allem größer werden und der gewalttätige Instinkt schwächer." - "Lieber zugrunde gehen, als hassen und fürchten" ruft er in "Wanderer uns sein Schatten" aus, "und  zweimal lieber zugrunde gehen, als sich hassen und fürchten machen - Dies muß einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden!" - Ähnlich wie LOMBROSO faßt NIETZSCHE in dieser Zeit grausame Menschen als Rückschlag, als Stufen  früherer Kulturen  auf. "Es sind zurückgebliebene Menschen, deren Gehirns nicht so zart und vielseitig fortgebildet worden ist; sie zeigen uns, was wir alle  waren."  Noch erfahren eben bei Instinkt und Gefühl in ihrer Bedeutung für die Kultur eine seiner späteren entgegengesetzte Schätzung. Die Vorstellung, daß Gefühle etwas Letztes, Ursprüngliches sind, wird ausdrücklich zurückgewiesen. "Hinter den Gefühlen stehen Urteile, welche uns in der Form von Gefühlen vererbt werden. Die Inspiration, die aus dem Gefühl stammt, ist das Enkelkind eines Urteils - und oft eines falschen" - erklärt NIETZSCHE in der "Morgenröte" - und in barocker Wendung fährt er fort: "seinem Gefühl vertrauen - das heißt seinem Großvater und seiner Großmutter und deren Großeltern mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung." - Im Aufhören von Gewalt, in der Abschwächung und Verfeinerung der Instinkte hat auch NIETZSCHE einmal das Anzeichen und die Wirkung einer höheren Kultur erblickt. Wie weit hatte er sich damit von dem Standpunkt entfernt, der in einem Hauptsatz seiner späteren Lehre wieder eingenommen wird: "Alles Gute ist Instinkt" - wie weit von seiner eigensten, inneren Natur!

Seine "Aufklärungszeit" war für NIETZSCHE zugleich eine "Dunkelzeit" - nach dem schönen, den nordischen Wintertagen entlehnten Gleichnis: die "Sonne der Menschheitszukunft" war ihm zeitweilig verschwunden. - "Zuviel klärte sich mir auf, nun geht es mich nichts mehr an. - Habe  ich  noch ein Ziel? einen Hafen, nach dem  mein  Segel läuft? Was blieb mir noch zurück? Ein Herz, müde und frech, ein unsteter Wille; Flatter-Flügel; ein gebrochenes Rückgrat. - Deine Gefahr ist keine kleine,  du freier Geist und Wanderer!  Du hast das Ziel verloren - damit - hast du auch den Weg verloren" -, läßt er von jener Zeit und aus der Stimmung jener Zeit heraus, wie er sie nachempfand, "Zarathustra" sagen.

Die Kultur des Verstandes, welche man die Aufklärung nennt, ist in ihrer Wirkung negativ, sie macht den Menschen frei und mündig, aber sie gibt ihm nicht das Wozu? seiner Freiheit zu erkennen. - "Es hat sich als unmöglich erwiesen, eine Kultur auf das Wissen zu bauen", hatte NIETZSCHE einst in seiner Jugend geschrieben. Jetzt schien er selbst eine Zeit lang an die Möglichkeit einer rein wissenschaftlichen Kultur zu glauben; in Wahrheit strebt er freilich über den Intellektualismus in demselben Augenblick hinaus, da er sich zu ihm bekennt. Er hält nach Überwindung der Metaphysik eine "rückläufige Bewegung" für nötig, "um die historische Berechtigung, ebenso die psychologische solcher Vorstellungen zu begreifen und zu erkennen, daß die größte Förderung der Menschheit von dorther gekommen ist, und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde." - "Das Beste an uns, erklärt er, ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt. Die Sonne ist schon untergegangen; aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, auch wenn wir sie schon nicht mehr sehen." - Wer erkennt nicht, daß hier zugleich eine sehr verbreitete Stimmung unserer Zeit ihren Ausdruck findet! -

Im Übergang von der Zeit des "Menschlichen, Allzumenschlichen" zur Periode des "Zarathustra" mag ein Wort über die Stellung NIETZSCHEs zur Wissenschaft und "wissenschaftlichen" Philosophie am Platz sein.

Ein richtiger Philosoph der Aufklärung ist NIETZSCHE nie geweesen. Wie alle Denkrichtungen, die er zeitweilig einschlägt, hat er auch die rationalistische noch über ihr Ziel hinaus verfolgt, um sie dadurch, wie er meinte, aufzuheben, zu "überwinden". "Das sind noch keine  freien  Geister", spottet er (in der "Genealogie der Moral") -; "denn sie glauben noch an die Wahrheit."  Sein "freies Schweben über den herkömmlichen Schätzungen der Dinge" trug ihn auch über die Schätzung der Logik und ihrer Grundsätze hinaus; mit dem Glauben an die Logik aber, an die Vernunft, war der Aufklärung selbst der Glaube gekündigt. - Die Wissenschaft fordert für Erkenntnisse Allgemeingültigkeit und folglich Unpersönlichkeit; kein Satz bei NIETZSCHE dagegen, der nicht eine persönliche Farbe trägt, einen Zug seiner Person. NIETZSCHE weiß in Worten die "Methode" zu rühmen; selbst aber hält er es wie "Zarathustra": wo er  erraten  konnte, daß haßte es sein ungeduldiger Geist, zu  erschließen.  Wie hätte ihm "die neue Gewohnheit des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Überschauens", die von der Wissenschaft gepflanzt wird, zur zweiten Natur werden können, da ihr seine erste, ursprüngliche Natur mit ihrem ganzen Wesen widersagte? Auch zur Erkenntnis und ihren Problemen hat NIETZSCHE ein wesentlich künstlerisches Verhältnis. "Was zwingt uns überhaupt zur Annahme, daß es einen wesenhaften Gegensatz von  wahr  und  falsch  gibt?" fragt er. "Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Gesamttöne des Scheins, - verschiedene Valeurs,  um die Sprache der Maler zu reden?" NIETZSCHE will durch das Erkennen erregt werden; die Gedanken sollen ihn überraschen. Ihn gelüstet nach Abenteuern der Vernunft, nach dem Seltsamen, abseits Liegenden, Gefährlichen; er sucht das  "Wehtuende  der Erkenntnis" auf, wie einen neuen Reiz, der von ihr ausgeht. "Neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit" hat er sich selbst genannt und verheißen, man werde ihm eine "ausschweifende Redlichkeit" nachsagen, nachrühmen. Das Wort:  "Don Juan  der Erkenntnis" ist nicht nur  von  ihm, sondern teilweise auf  für  ihn erfunden. - Und derselbe Denker, der vor der Maxime nicht zurückscheut: "unsere höchsten Einsichten müssen - und sollen! - wie Torheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen" -, teilt uns auch wieder, namentlich in seiner zweiten Periode, große und stille Stimmungen mit, wenn er verherrlicht, was er entbehrte, und seine Sehnsucht vergoldet, was er nicht erreichen sollte: den Glanz der Weisheit und des Alters.
    "Dasselbe Leben, welches seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit; beiden, dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf einem Bergrücken des Lebens, - so wollte es die Natur. - Dem Licht zu - deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntnis - dein letzter Laut."
In der Folge hat NIETZSCHE im Leben für die Erkenntnis nur noch eine Abart des "asketischen Ideals" gesehen, - einen anderen "Schleichweg zum Nichts", zur Flucht von sich selbst, zum Loskommen vom Willen; in diesem Sinne sollte in der "Umwertung aller Werte" die Philosophie eine "nihilistische Bewegung" heißen.
LITERATUR - Alois Riehl, Friedrich Nietzsche - der Künstler und der Denker, Stuttgart 1898