H. GrosseW. OstermannM. OffnerK. HaslbrunerF. Burckhardt | ||||
Studien zur Lehre vom Gedächtnis
1) Wohl auf keinem Gebiet der Psychologie hat die experimentelle Forschung so fruchtbare Resultate erbracht wie auf dem Gebiet des Gedächtnisses, Resultate, die auch für die Praxis des Lebens von größtem Wert zu sein versprechen (1). Wir gehen dabei von der Tatsache aus, daß die meisten Gedächtnisinhalte höchst komplexer Natur sind, daß sie keineswegs alle als Reproduktionen von Empfindungen anzusehen sind, wie die ältere Assoziationspsychologie annahm. Gewiß war es eine hochinteressante Untersuchungsmethode, durch sinnlose Silben eine solches Gedächtnismaterial zu schaffen, das in der Tat die Gefühle wirklich in sehr hohem Grad, wenn auch nicht völlig, ausschloß. Indessen ist im Leben eine solche Isolation verhältnismäßig selten. Im Gegenteil, die meisten Vorstellungen, Begriffe usw. enthalten Gefühlsmomente, die nicht bloß zufällige Begleiterscheinungen, sondern integrierende Bestandteile sind. So enthalten meine "Vorstellungen" von "Goethe" oder "Venedig" oder "Kreuzotter" als sehr wesentliche Elemente auch Gefühle, und die Vorstellung ist keineswegs auf die reproduktiven Faktoren allein zu beschränken (2). Wir werden nun für unsere Untersuchungen gerade dem Gefühlsfaktor besonders Rechnung tragen und hoffen, dadurch einige Dinge in eine neue Beleuchtung rücken zu können. Aber noch in einer anderen Weise werden wir gegen jene Anschauung, die das Wesen des Gedächtnisses bloß in einem "Reproduzieren" sieht, Stellung zu nehmen haben. Wir werden zeigen, daß es auch Fälle gibt, wo von einem Reproduzieren im Sinne der Assoziationspsychologie gar nicht die Rede sein kann. Das ist einmal dort der Fall, wo wir nichts zu reproduzieren vermögen und wo dennoch gewisse Anhaltspunkte im Gedächtnis geblieben sind, an Hand deren wir uns orientieren können und die Möglichkeit schaffen, die gesuchten Inhalte neu zu gewinnen. Ich spreche in diesem Fall von einem orientierenden Gedächtnis. Daneben unterscheide ich noch ein produktives Gedächtnis, das zwar ebenfalls der Rekonstruktion früherer Erlebnisse dient, aber auf dem Weg des kombinierenden Neuschaffens, nicht der einfachen Reproduktion. Diese Formen des Gedächtnisses werden neben das reproduzierende gestellt, und ihr Wesen wird zu analysieren gesucht. 2) Ehe wir an eine Darstellung des Gedächtnisses und seiner Möglichkeiten gehen, gilt es, einen Irrtum der Assoziationspsychologie zu beseitigen, der für die Pädagogik zum Teil sehr bedenkliche Folgen gehabt hat. Die Assoziationspsychologie (und in gleicher Weise die in unserer Pädagogik noch oft genug wirksame, ganz unwissenschaftliche Seelenbetrachtung) setzt nämlich "Gedächtnis" gleich der Reproduktion, d. h. dem Neuauftauchen früherer Sinnesinhalte. So schreibt EBBINGHAUS:
Jeder wird derartige Fälle bei einiger Selbstbeobachtung in Menge an sich konstatieren können. Im Grunde haben wir ja bei den meisten unserer Wahrnehmungen, wie oben gezeigt, Verwandtes, denn viele unserer Wahrnehmungen vermögen wir nur sehr ungenau zu rekonstruieren, obwohl unser Gedächtnis durchaus mit ihnen vertraut ist. Wir haben also in unserem Fall wieder jenen Fehler der Assoziationspsychologie, den wir schon oben gekennzeichnet haben, daß sie nämlich Gedächtnisspur oder Disposition ohne weiteres gleichsetzt mit Erinnerungsbild. Selbst wenn man nur einen Grad unterschied einräumt, ist die Schwierigkeit nicht behoben, denn es hieße schon sehr weit gehen in der Verwischung tatsächlicher seelischer Verschiedenheiten, wollte man das oben beschriebene vage "Gefühl des Andersseins" mit einer schwachen Vorstellung gleichsetzen. Verfährt man so, so kann man überhaupt alle seelischen Gebilde gleichsetzen, nur läßt man dabei die allereinfachsten logischen Forderungen außer acht, und damit hört jede Möglichkeit der Verständigung auf. Nein, wir müssen durchaus ein Gedächtnis anerkennen auch ohne Reproduktionen. Dieses Gedächtnis ist zum großen Teil auf Gefühle aufgebaut, umfaßt also all jene Stellungnahmen des Vertrautseins, des Bekanntseins, des Andersseins usw., die alle ein Gedächtnis voraussetzen, keineswegs aber eine Reproduktion, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß sie nicht unter Umständen zur Reproduktionen führen können. Aber auch eine ganze Reihe aktiver Stellungnahmen sind diesem Gedächtnis zuzurechnen. Wenn mman mit SEMON den Begriff der Mneme (4) über das Individuum hinaus ausdehnt, so gehören auch alle Reflexe, Instinkte usw. hierher. Da, wie wir später zeigen werden, dieses nichtreproduktive Gedächtnis praktisch meist der Orientierung dient, so nenne ich es das orientierende Gedächtnis. Haben wir es nun in diesem orientierenden Gedächtnis mit einer seelischen Funktion zu tun, die, was die entwicklungsgeschichtliche Stellung anlangt, dem reproduzierenden Gedächtnis vorausgeht, indem wir sie auch solchen Tieren zuweisen müssen, von denen wir eine bewußte Reproduktion unmöglich annehmen können, so haben wir auch noch ein Gedächtnis, das eine höhere Stufe noch als das einfach reproduzierende vorstellt. Von einer wirklichen Reproduktion können wir nämlich streng genommen nur da sprechen, wo ein bestimmtes Erlebns als solches noch einmal in unserem Bewußtsein erscheint. Nun zeigt jedoch die exakte Selbstprüfung, daß dieser Fall verhältnismäßig recht selten ist, daß vielmehr meist eine geringere oder größere Änderung am neuerlebten Inhalt eingetreten ist. Die Psychologie hat das dann auch anerkannt, indem sie einräumte, daß der Unterschied zwischen Erinnerungs vorstellung und Phantasie vorstellung sehr unsicher ist. So erweitert WUNDT in seiner Völkerpsychologie den Begriff der Phantasie so, daß er jede Art "der bildenden Tätigkeit der Seele" umfaßt, daß also die bloß nachbildende Funktion, also das Gedächtnis, nur eine Form der Phantasie wäre (5). In der Tat läßt sich oft der Tätigkeit unseres Vorstellungslebens als solcher kaum ansehen, ob wir es mit Phantasie- oder Erinnerungsvorstellungen zu tun haben, erst der Zusammenhang, die Richtung, wie MEUMANN (6) sagt, läßt uns den Charakter unserer psychischen Tätigkeit erkennen. Jedenfalls ist soviel sicher, daß verhältnismäßig sehr selten jene Fälle erscheinen, bei denen es sich um eine getreue Reproduktion eines bestimmten Inhaltes handelt, und auch da spielt oft die frei kombinierende Phantasie hinein. Fast immer jedoch verschmelzen miteinander und modifizieren sich verschiedene Reproduktionen, so daß der reine Reproduktionscharakter schon aufgehoben ist, der jedoch fast immer von schöpferischer Phantasie ergänzt wird. Belegen wir das indessen zunächst durch einige Beispiele. Man nehme sich etwa vor, aus der Erinnerung heraus ein Dreieck zu zeichnen oder den Lauf des Rheins. Im einen Fall wird man aus dem im Wort schon ausgesprochenen begrifflichen Wissen heraus ohne weiteres die drei Seiten zu zeichnen vermögen, ohne daß es sich im geringsten um die Kopie irgendeines bestimmten Dreiecks handelt. Es ist ja möglich, daß man sich ein bestimmtes Dreieck innerlich vorstellt und es dann nachzeichnet, obwohl es nicht nötig ist; bei den meisten Menschen wird es aber auch dieses vorgestellte Dreieck keineswegs die Kopie eines bestimmten Dreiecks sein, das man irgendwo einmal bestimmt vor sich gesehen hat. Es handelt sich also keineswegs um eine einfache Reproduktion, sondern um eine freie Produktion nach bestimmten, hier begrifflich fixierten Anhalten. Nicht viel anders verhält es sich mit der zweiten Aufgabe. Hier sind nach meinen Versuchen die meisten Leute nicht ohne weiteres imstande zu der Zeichnung oder auch nur einer klaren inneren Vorstellung. Manche verfahren so, daß sie sich einzelne Anhaltspunkte schaffen, daß sie sich vergegenwärtigen, daß der Rhein in den Bodensee fließt, bei Basel, später bei Mainz und Bingen scharfe Biegungen macht, und nach diesen Stützpunkten konstruieren sie nun das Bild. Kann man nun ein solches Verfahren reproduktiv nennen? Liegt hier der Fall vor, daß unter bestimmten Umständen ein ursprünglich in sinnlicher Anschaulichkeit gegebener Inhalt noch einmal in schwächerer Auflage erlebt wird, worin nach der Assoziationspsychologie das Gedächtnis bestehen soll? Ich füge noch ein weiteres Beispiel aus einem anderen Gebiet hinzu. Man gebe einer Anzahl von Leuten die Aufgabe, die Geschichte des 30-jährigen Krieges kurz zu erzählen. Bei solchen Versuchen macht man natürlich zunächst die Erfahrung, wie unglaublich wenig auch sogenannte "Gebildete" an Bildung im Gedächtnis behalten haben. Dann aber fällt vor allem auf, daß einige markante Ereignisse die Stützpunkte abgeben, um die herum nun die Phantasie frei schöpferisch ihre Fäden spinnt. Solche Stützpunkte sind etwa das Eingreifen der Schweden, GUSTAV ADOLFs Tod, WALLENSTEINs Ermordung. Diese sind in der Regel als Tatsachen feststehen. Was sonst hinzukommt, ist Vermutung oder freie Kombination. Es handelt sich hier natürlich nicht um das Mehr oder Weniger, nur um die Qualität der Gedächtnisleistung. Und hier zeigt es sich, daß rein reproduktiv fast nichts außer ein paar wörtlich erlernten Zahlen oder Namen ist, daß im Großen und Ganzen die übrige "Gedächtnisleistung" als ein Werk der schöpferischen Phantasie bezeichnet werden muß, die in einzelnen Tatsachen eine feste Stütze hat. Wirklich reproduktiv im Sinne der Kopie eines Vorbildes ist dabei am ganzen Vorgang fast gar nichts, denn selbst wo das Tatsächliche der Ereignisse festlag, sind doch der Wortlaut und die Stilgebung eine ganz eigene Schöpfung. - Ähnliches aber ergibt sich bei fast allen Aussageversuchen, wie sie ja in jüngster Zeit so zahlreich gemacht sind. Zurückblickend also können wir sagen, daß in den meisten Gedächtnisleistungen, die nicht das Aufsagen auswendig gelernter Sätze sind, es sich nicht um eine Reproduktion im Sinne des Kopierens einer Vorlage handelt, daß vielmehr in den meisten Gedächtnisleistungen die frei kombinierende, schöpferische Phantasie eine große, oft die weitaus überwiegende Rolle spielt, während die reproduktiven Elemente in der Regel nur vereinzelte Stützpunkte abgeben, die aber auch ihrerseits nicht rein reproduktiven Charakter tragen. - Wir können also dieses Gedächtnis, das eine mit ursprünglich natürlich einmal reproduktiv gegebenen, aber ganz umgeformten Elementen freischaltende Tätigkeit ist, als das produktive Gedächtnis bezeichnen. Was es von der freien Phantasie des Künstlers unterscheidet, ist nur die Absicht der Rekonstruktion, denn die Elemente der rein schöpferischen Phantasie sind natürlich denselben Quellen entnommen wie die des produktiven Gedächtnisses. Fassen wir nun die Ergebnisse unserer bisherigen Feststellungen zusammen, und versuchen wir eine Einteilung, so ergeben sich etwa folgende drei Arten des Gedächtnisses:
2) Das reproduzierende Gedächtnis, wobei wieder ein Unterschied zu machen ist, ob die Reproduktionen sensorischen oder motorischen Charakters sind, das heißt, ob wir Wahrnehmungs inhalte reproduzieren oder motorische Funktionen, wozu vor allem die Worte gehören. Denn es sind uns zwar die Worte auch als Wahrnehmungen ursprünglich gegeben, indessen ist das Auswendiglernen zum großen Teil ein mechanischer Vorgang, der seinem Wesen nach sorglich zu unterscheiden ist vom Reproduzieren von Gesichtsbildern z. B., wenn auch intellektuelle Inhalte sehr wohl das mechanische Auswendiglernen unterstützen (7). Jedenfalls unterscheiden wir das sensorisch-reproduzierende und das motorisch-reproduzierende Gedächtnis. 3) Als letzte Art unterscheiden wir das schöpferische oder produktive Gedächtnis, welches sich zwar auf gewisse, durch Reproduktion gewonnene Elemente stützt, in der Hauptsache jedoch frei kombinierend verfährt, und das sich nur durch seine Richtung auf ein Rekonstruieren von der schöpferisch freien Phantasie des Künstlers unterscheidet. Hier handelt es sich nicht um ein Kopieren von Inhalten, sondern um ein freies Schalten mit freigestalteten Elementen. Das sensorisch-reproduzierende Gedächtnis, das heißt die Fähigkeit zur Reproduktion von Wahrnehmungsinhalten, wird man höheren Tieren kaum absprechen dürfen, wenn wir natürlich nach Lage der Sache auch über Analogieschlüsse dabei nicht hinauskommen. Indessen lassen z. B. manche Beobachtungen an Tieren im Schlaf den Schluß nahekommen, daß die Tiere träumen, also wohl zu anschaulichen Vorstellungen fähig sein müssen. Daß der Mensch, besonders im Kindheitsalter, im allgemeinen ein gutes sensorisches Reproduktionsvermögen hat, wird im allgemeinen angenommen, und die Sprache und Ausdrucksweise primitiver Menschen und Völker läßt ebenfalls auf ein sehr bildliches Denken schließen. Indessen vermindert sich diese sensorisch-reproduzierende Fähigkeit bei der Ausbildung zur höheren Abstraktion, also besonders bei wissenschaftlichen Arbeitern sehr stark, wie die bekannten Untersuchungen GALTONs gezeigt haben. Das motorisch-reproduzierende Gedächtnis, speziell das verbale, ist ein Kunstprodukt, das der Mensch eingeführt hat. Bei Tieren kommt es nicht vor, obwohl auf dem Weg der Dressur der Mensch Ähnliches auch bei Tieren erreicht hat. Im allgemeinen aber hat besonders in früheren Zeiten die Schule gerade in der Ausbildung dieser Gedächtnisart ihr Hauptziel gesehen, obwohl mit Recht gerade in diesem Punkt scharfe Kritik eingesetzt hat. Diese Fähigkeit ist im allgemeinen bei Kindern recht groß, wenn auch die scheinbare Überlegenheit der kindlichen Psyche nach Ausweis der modernen Experimentalpsychologie nur auf einer Vernachlässigung dieser Technik bei den Erwachsenen beruth. Dort, wo Erwachsene andauernd diese Technik üben, erreichen sie Leistungen, wie Kinder sie nie erlangen; so ist es bekannt, daß Schauspieler neue Rollen schon nach ganz raschen Überlesen können. Die höchste und schwierigste Gedächtnisleistung ist die freischöpferisch-produktive Funktion. Diese wird in der Regel meisterlich nur von Erwachsenen, und zwar intellektuell hochstenden Erwachsenen, geleistet. Wenn Kinder oder schwache Köpfe den Inhalt einer Erzählung oder eines Vortrags wiederzugeben haben, so klammern sie sich an den Wortlaut und sind selten fähig, das Wesentliche hervorzuheben. Anders verfährt der reife und klare Kopf. Er kümmert sich dort, wo es nicht auf eine wörtliche Wiedergabe ankommt, nicht im geringsten um den Wortlaut, sondern zieht zusammen und gestaltet um, läßt weg und hebt hervor, ganz wie es seinem frei schaltenden Geist gut dünkt, und er erreicht eben durch diese scheinbare Freiheit ein viel treuere Wiedergabe des zu reproduzierenden Inhalts als der wörtlich Wiederholende. Auch hierin gleich das Verfahren des produktiven Gedächtnisses dem des schöpferischen Künstlers: denn dieser vermag durch wenig Striche ein unendlich viel charakteristischers und darum in einem höheren Sinne treues Bild zu schaffen als der Fotograf. Wir werden später noch zu zeigen haben, daß nicht das wörtlich wiederholende Gedächtnis, sondern das möglichst plastische und frei verfügende Gedächtnis das wertvollste ist für das Leben. Jenes findet sich nur bei geistig schwachen Menschen. Je höher ein Mensch steht, umso mehr pflegt seine Gedächtnisleistung zugleich eine Gestaltung im Sinne des Hervorhebens des Wesentlichen zu sein. Es wird also die vornehmste Aufgabe der Pädagogik sein, gerade das produktive Gedächtnis zu fördern. 3) Bei allen Untersuchungen des Gedächtnisses jedoch ist eins zu bedenken: wir vermögen eigentlich niemals das Gedächtnis selber zu prüfen, sondern nur insoweit, als es sich zu äußern vermag, sei es in Worten, sei es in Handlungen irgendwelcher Art. Für unsere Zwecke ist das kein Mangel, denn ein Gedächtnis, dessen Inhalte sich nicht irgendwie in Taten umsetzen lassen, ist pädagogisch und ethisch wertlos. Gewiß ist ein Gedächtnis denkbar, das z. B. über die Fähigkeit verfügt, sich Bilder oder Musikwerke vorzuzaubern: indessen, wenn der Betreffende dabei nicht die Gabe hat, sich darüber in irgendeiner Form zu äußern, so ist für die Praxis des Lebens jenes Gedächtnis so gut wie nicht vorhanden. Für die Pädagogik kommt das Gedächtnis nur soweit in Betracht, als es sich in Worte oder Tathandlungen umsetzen läßt. Das "Gedächtnis üben" heißt also zugleich auch die Fähigkeit üben, die aufbewahrten Inhalte in irgendwelche Taten umzusetzen. Und zwar wird ein Gedächtnis umso wertvoller sein, je mehr es sich in möglichst mannigfaltiger Weise umsetzen läßt in Handlungen. Auch hierin ist die neuere Pädagogik ja bereits ein gutes Stück weitergekommen. Man ist nicht mehr damit zufrieden, wenn ein Schüler mit Worten etwas zu beschreiben vermag, mit vollem Recht verlangt man auch, daß er einen Gegenstand des naturwissenschaftlichen Unterrichts z. B., wenn auch nur schematisch, zu zeichnen vermag. Ja, in der Einteilung der Gedächtnisstufen haben wir auch Dinge in das Gedächtnis miteinbegriffen, die, wie z. B. die allgemeine Orientierung, in der Regel nicht als Gedächtnisleistungen angesehen werden. Wir unterscheiden uns also von der traditionellen Gedächtnislehre in zwei Punkten: einmal legen wir viel geringeren Wert auf das Reproduzieren, das allgemeine Aufstapeln von möglichst getreuen Inhalten, dafür betonen wir aber in einem viel höheren Grad die Fähigkeit, Inhalte des Gedächtnisses (auch unanschauliche) in die Tat umzusetzen. Das aber führt zugleich hinüber zu einem anderen Punkt, den die assoziationistische Gedächtnislehre oft übersehen hat. 4) Ehe ich nun in die Betrachtung der einzelnen Stufen des Gedächtnisses und ihrer Möglichkeiten eintrete, gilt es noch einen weiteren Irrtum zu beleuchten, der über das Gedächtnis kursiert und selbst in psychologischen Lehrbüchern nicht immer scharf genug erkannt ist. Man sieht nämlich fälschlich den Begriff "gutes Gedächtnis" als etwas Absolutes an, d. h. man sieht nicht ein, daß es für ein "gutes", d. h. brauchbares Gedächtnis, nicht genügt, daß möglichst viel behalten wird und im rechten Augenblick ins Bewußtsein gebracht wird. Mit anderen Worten: für ein "gutes" Gedächtnis ist das bloße Behalten und Aufstapeln von Eindrücken nur eine Vorbedingung, die Hauptsache ist die zweckentsprechende Verfügung über jenen Schatz. Man hat also in diesem Sinn ein gutes Gedächtnis nur im Hinblick auf gewisse Ziele, und die Organisation im Hinblick auf diese Ziele macht das gute Gedächtnis aus. Das "gute Gedächtnis" ist also nichts Absolutes, sondern es ist etwas Relatives und zwar etwas Teleologisches. Ein gutes Gedächtnis ausbilden heißt also nicht etwa bloß einen möglichst großen Schatz von Erinnerungsbildern aufstapeln, sondern heißt vor allem, diesen Schatz gewissen Zielen unterordnen können. Wir haben diesen Umstand bereits weiter oben bedacht, als wir das produktive Gedächtnis besprochen haben, und in der Tat tritt der teleologische Charakter hier besonders deutlich hervor. Indessen wäre es falsch anzunehmen, daß die anderen Gedächtnisse nicht teleologisch organisiert zu sein brauchten. Nehmen wir das verbal-reproduktive Gedächtnis. Es genügt hier durchaus nicht, daß ein Schüler seine Vokabeln gelernt hat und in einer bestimmten Reihenfolge aufsagen kann. Damit er darüber verfügen kann, muß er sie auch in jedem Augenblick, wo er ihrer bedarf, reproduzieren können. Denn schon darum, weil das reproduzierende Gedächtnis oft bloß das Material liefert für das produktive, ist auch dieses teleologischen Gesichtspunkten untergeordnet. Selbst für das reproduzierende Gedächtnis also gilt, daß nicht das bloße Behalten, sondern nur die freie Verfügbarkeit das Kriterium jenes Wertes abgeben kann. Die Assoziationspsychologie steht dem teleologischen Prinzip, wie überall, auch hier ziemlich hilflos gegenüber. Da ihre Assoziationsgesetze mechanisch-kausal sind, so versagen sie überall dort, wo etwas Teleologisches ins Spiel tritt. Ich habe das bereits an anderer Stelle (8) gezeigt, wo ich die Unzulänglichkeit der assoziationistischen Erklärung für das Zustandekommen des analytischen Apperzipierens darzulegen suchte. Dasselbe gilt auch hier. Soweit die Assoziationspsychologie ihrem Prinzip wirklich treu bleibt, reicht sie nicht aus; sobald sie, was sie oft tut, Gefühle hineinbringt, durchbricht sie eben jenes Prinzip. Es seien hier nur ganz kurz noch einige Punkte erwähnt, die das Unzureichende jener Erklärungen belegen können. Um die geringere oder größere Verfügbarkeit (ich brauche diesen Ausdruck statt des sehr anfechtbaren "Assoziabilität") eines Gedächtnisinhaltes zu erklären, hat ZIEHEN z. B. vier Punkte aufgestellt, die sich ungefähr decken mit jenen 4 Punkten, die zusammen den assoziativen Impuls ausmachen. Der Unterschied liegt hier nur darin, daß es sich jetzt um das Bewußtwerden eines Gedächtnis inhaltes handelt, während des sich dort um das Aufnehmen und Hervorheben eines neuen Wahrnehmungs inhaltes handelte. Prinzipiell ist jedoch der Vorgang derselbe. Die 4 Punkte, die für die Verfügbarkeit eines Gedächtnisinhaltes entscheidend sind, heißen nach ZIEHEN:
2. Deutlichkeit der Vorstellungen 3. der Gefühlston und 4. die Konstellation (9) Betrachten wir indessen, wie es mit den anderen Punkten der Assoziationspsychologie steht. Hier stellt ZIEHEN an die erste Stelle die assoziative Verwandtschaft, die darin besteht, daß eine Vorstellung b sehr oft gleichzeitig mit a aufgetreten ist und darum mit a assoziativ sehr verbunden ist, wobei freilich zu bedenken ist, daß diese Verknüpfung sich im Laufe der Zeiten lockert, wenn längere Zeit eine gleichzeitige Erregung ausbleibt. Übergehen wir an dieser Stelle alle theoretischen Bedenken, die man gegenüber dieser Theorie haben kann, und untersuchen wir nur, wie sich diese "assoziative Verwandtschaft" zu unserem teleologischen Prinzip stellt, so werden wir finden, daß sie in einem direkt entgegengesetzten Sinn arbeitet. Ein Gedächtnis, das uns nur solche Vorstellungen liefert, die zufällig gleichzeitig mit anderen aufgetreten sind, müßte unser Gehirn mit dem überflüssigsten und gleichgültigsten Zeug anfüllen und jedes zielstrebige Denken unmöglich machen. Gewiß kann die Gleichzeitigkeit als heuristisches Prinzip zuweilen ihren Wert haben, auch als Materiallieferung sehr wichtig sein, aber für das teleologische Denken ist fast wichtiger, daß sie durchbrochen, als daß sie geübt wird. ZIEHEN selbst sieht daher auch ein, daß man noch andere Momente braucht, um den tatsächlichen Verostellungsverlauf zu erklären. Er führt daher weiter die Deutlichkeit der in Betracht kommenden Erinnerungsbilder an. Nun ist ansich schon der Begriff der "Deutlichkeit latenter Erinnerungsbilder" logisch sehr bedenklich, vor allem aber scheint die Deutlichkeit einen sehr geringen Einfluß für die Verfügbarkeit zu haben, auch für das Wiedererkennen, für das ZIEHEN sie besonders heranzieht. Ich erkenne Dinge wieder, die ich nur undeutlich, ja mir gar nicht vorstellen kann, während umgekehrt die Dinge meines täglichen Lebens, meines Zimmers z. B., von denen ich sehr deutliche Vorstellungen habe, fast nie in meinen Gedankenkreis treten. Vermutlich jedoch verwechselt ZIEHEN hier "Deutlichkeit" mit "Erregbarkeit" der Vorstellungen. Dieser letzte Punkt hat mit intellektueller Deutlichkeit und Klarheit gar nichts zu tun, äußert sich jedoch vor allem bei Vorstellungen, die noch nicht lange abgeklungen sind. Man könnte den vielverwendeten Begriff der "Perseveration" [Nachwirken psychischer Eindrücke - wp] hier heranziehen, der eine unbestreitbare Tatsache festhält, nämlich daß unsere aus dem aktuellen Bewußtsein abtretenden Erlebnisse noch eine Zeitlang leichter erregbar sind als lange vergangene. Dieser Umstand trägt ja ohne Zweifel oft dazu bei, das teleologische Verfügen über Erinnerungen zu erleichtern, es reicht aber auch nicht aus, und vor allem fragt es sich, ob nicht auch hier Gefühle die Hauptrolle spielen, so daß dieser Punkte seine Selbständigkeit einbüßen würde. Als letzter Punkt wird von ZIEHEN und anderen Assoziationisten die Konstellation herangezogen. Ich halte diesen Begriff ansich für sehr wertvoll, doch glaube ich, daß er durch Gefühle und nicht durch Vorstellungen erklärt werden muß, da die ihm zugrunde liegende Theorie von der gegenseitigen Hemmung und Förderung der Vorstellungen eine hypothetische Konstruktion ist. Im übrigen lassen die Beispiele der Assoziationisten auch anderweitige Deutungen zu. So ein Beispiel RICHARD WAHLEs (10): Es war ihm lange keine Erinnerung an Venedig aufgetaucht, obwohl das gotische Rathaus seiner Heimatstadt, an dem er täglich vorüberging, mit dem Stabwerk an den Fensterbogen sehr wohl geeignet gewesen wäre, die Erinnerung an die Bogen der Arkaden des venetianischen Dogenpalastes wachzurufen. Das Rathaus brachte ihm zahlreiche andere Assoziationen, aber nie eine an Venedig. Plötzlich trat WAHLE eines Tages beim Anblick des Rathauses das Erinnernungsbild des Dogenpalastes vor Augen. Er besann sich, und es fiel ihm ein, daß er vor zwei Stunden bei einer Dame eine Brosche in der Form einer Venetianer Gondel gesehen hatte. - Hier soll der Einfluß der Konstellation vorliegen. - Gewiß hat es ja stets seine Schwierigkeiten, wenn man die Beispiele anderer analysiert, indessen scheint es mir gerade hier recht schwer, die von ZIEHEN beschriebene gegenseitige Hemmung und Förderung der Vorstellungen durchzuführen, denn vor allem müßte einmal plausibel gemacht werden, in welcher Weise es die Vorstellungen anfangen, sich gegenseitig zu hemmen. Plausibler scheint mir die Erklärung, daß der Anblick der venetianischen Brosche ein lebhaftes Erinnerungs gefühl an Venedig erweckt hatte, das nun als irradiierendes [ausstrahlendes - wp] Bindeglied auftrat, weil es noch frisch im Gedächtnis war. Auch alle anderen Beispiele für die Konstellation lassen sich auf Gefühle und Stimmungen zurückführen. So das von MOSKIEWICZ, der sich ausführlich mit diesem Begriff beschäftigt hat:
Überblicken wir also, was die Assoziationspsychologie uns liefert, um die Auswahl unter den Erinnerungsvorstellungen zu erklären, so ist für ein teleologisch arbeitendes Gedächtnis das Prinzip der assoziativen Verwandtschaft öfter ein hemmendes als ein förderndes Element. Sie kommt höchstens als vorbereitende Materiallieferung in Betracht, jenseits deren die eigentliche Auswahl erst zu beginnen hätte. Das Prinzip der Deutlichkeit ist hinfällig und muß durch das der "Erregbarkeit" ersetzt werden, wofür jedoch die Gefühle von ausschlaggebender Bedeutung sind. Das gleiche gilt für den Begriff der Konstellation, von dem eigentlich die Erregbarkeit nur ein Sonderfall ist. Wenn wir nun auch nicht so weit gehen wollen, die Gefühle und affektiven Faktoren ausschließlich verantwortlich zu machen für die Auswahl im teleologisch orientierten Gedächtnis, das eine jedenfalls ist sicher, daß Gefühle eine überwiegende Rolle dabei spielen. Alles in allem ergibt sich, daß die Assoziationspsychologie nicht fähig ist, aus ihren intellektualistischen Prinzipien heraus das teleologisch orientierte Gedächtnis zu erklären. Unter der Durchbrechung ihres Prinzips führt sie zwar den "Gefühlston" als richtunggebend für den Vorstellungsverlauf an, erkennt ihm aber eine viel zu geringe Wichtigkeit zu und unterläßt es im einzelnen nachzuweisen, wie jene teleologischen Wirkungen zustande kommen. Da sich das teleologische Gedächtnis jedoch nur als ein Teil, eine Bedingung des gesamten teleologischen Denkens darstellt, so können wir die Betrachtung des Zustandekommens der teleologischen Gedankengänge, ebenso wie die Wirkung der Gefühle im Einzelnen bis zur allgemeinen Betrachtung des zielstrebigen Denkens überhaupt zurückschieben. Hier kam es uns nur darauf an, zu zeigen, daß ein "gutes" Gedächtnis nicht eines ist, das möglichste Massen an Material anhäuft, sondern ein solches, das gut organisiert ist. Organisation aber heißt Unterordnung unter bestimmte Zielgedanken. Nicht die Masse, sondern die Verfügbarkeit der Inhalte macht den Wert des Gedächtnisses aus. Die Verfügbarkeit eines Inhaltes aber liegt in erster Linie an seiner Gefühlsbetonung, womit wir natürlich nicht nur allgemein seinen Lust- oder Unlustcharakter meinen, sondern jene gefühlsmäßige Erregbarkeit, die ihn in Beziehung treten läßt mit unseren Interessen. Interesse aber ist eine bestimmte Gefühlsrichtung, und die Verfügbarkeit eines Gedächtnisinhaltes beruth auf seinen Beziehungen zu dieser Gefühlsrichtung. Um also einen Inhalt zu möglichster Verfügbarkeit zu bringen, gilt es, ihn vor allem mit Interessen zu verknüpfen, mit anderen Worten, seine Gefühlsmomente frisch und lebhaft zu erhalten. Ein Inhalt, der gefühlsstark ist, drängt sich immer in den Vordergrund; er wird es besonders tun, wenn er in jener Richtung gefühlshaltig ist, in der sich das dominierende Interesse bewegt. 5) Nach zwei Seiten hin sind Gefühle und Willensmomente von größter Wichtigkeit für das Gedächtnis: erstens steigern sie die Erregbarkeit der Inhalte ganz im allgemeinen, zweitens aber sind sie auch ausschlaggebend für die Einordnung und die Verfügbarkeit der Inhalte für ganz bestimmte Zwecke. Von diesen beiden Punkten ist der erste aus täglicher Erfahrung auf das Beste bekannt. Wenn wir eben eine freudige oder auch eine traurige Nachricht erhalten haben, so schiebt sich der Gedanke daran beständig in alle unsere Gedankengänge hinein. Mögen wir uns noch so viel Mühe gehen, ihn zu verdrängen; ehe wir es uns versehen, ist es wieder da und zerstört die kunstvollsten Zirkel. Man kann nun diesen Umstand, daß die Gefühle erregend und antreibend wirken, praktisch ausnutzen, und hat das oft getan; und zwar hat man sowohl Lust- wie Unlustgefühle angerufen, um den Eifer zu beflügeln. Lustgefühle hat man verwandt, indem man durch Lob, Versprechungen, Preise usw. die allgemeine Arbeitsfreudigkeit zu steigern suchte, Unlustgefühle, indem man durch Tadel, Zwang, Drohungen usw. anzuspornen suchte, d. h. strenggenommen, indem man nicht die Unlustgefühle selbst, sondern die Reaktion dagegen zu Hilfe rief. Daß diese Dinge das Gedächtnis, wie übrigens auch die Aufnahme von Inhalten und jede andere psychische Leistung, steigern können, ist auch experimentell nachgewiesen worden. Vor allem zeigt es sich darin, daß eine größere Aufgabe verhältnismäßig leichter erlernt wird als eine kleinere, weil eben dort die Willensanspannung stärker und lebhafter ist. Trotzdem haben besonders alle solchen äußeren Unlusteinwirkungen wie Zwang usw. viel gegen sich, weil sie oft auch lähmend wirken, und bloß unter Zwang erlernte Inhalte sehr bald notorisch vergessen werden, was auch ein Grund sein mag, daß das Examenswissen, das unter starkem Druck eingepaukt wurde, oft nur so lächerlich kurzen Bestand hat. Indessen ist wohl von diesen von außen an die Aufgaben herangebrachten Gefühlen zu unterscheiden, die ich darum auch als äußere Gefühle bezeichne, jene Art der Gefühle, die ich sachliche Gefühle nenne, und die jene spezifische Stellungnahme ausmachen, die auch die Wahrnehmung bildet, indem sie zur Empfindung hinzutritt. Genau wie sie es dort sind, die einen perzipierten Empfindungskomplex erst zur Apperzeption machen, genauso sind sie es, die eine "Vorstellung" ins Blickfeld des Bewußtseins ziehen. Genau so, wie ich auf einem Spaziergang alle diejenigen Gegenstände wahrnehme, die für mich mit ganz spezifischen Gefühlsdispositionen zusammentreffen, genau in derselben Weise werden mir alle Vorstellungen umso leichter lebendig, wenn sie mit gewissen Gefühlsdispositionen verknüpft sind, besser gesagt, diese Gefühlsdispositionen erwecken die Vorstellungen. Wir wollen diese spezifischen Gefühlsdispositionen, die wir auch als Willensrichtungen ansprechen können, als Interessen bezeichnen. Und in der Tat ist es für ein teleologisch wertvolles Gedächtnis die Hauptsache, daß es starke Interessen hat. Mit vollem Recht hat man gesagt, das Genie sei das Interesse. Jedenfalls unterscheidet sich der bedeutende Mensch vor allem durch seine Interessen vom Durchschnittsmenschen. Dieses Interesse kann einseitig sein oder vielseitig. Die Hauptsache ist, daß es wirksam wird. Diese Interessen also sind spezifische Gefühle, sie sind gleichsam Strömungen in der Seele, die alles, was in ihre Sphäre gerät, in einer bestimmten Richtung forttragen. In dieser Weise bewirken die Gefühle jene Zielstrebigkeit des Gedächtnisses, die so oft übersehen wird. Interessen sind also gewissermaßen eine Organisation des Gedächtnisses, Prädispositionen, die in einer bestimmten Richtung einstellen, und darum also sind jene spezifischen Gefühle, die die Zugehörigkeit der Vorstellungen zu gewissen Interessenrichtungen gewährleisten, von so außerordentlicher Wichtigkeit, und die schematische Anschauung der Vorstellungspsychologie, die nur Lust und Unlustgefühle unterscheidet, reicht natürlich nicht aus zur Erklärung der spezifischen Interessen. 6) Die unterste Stufe des Gedächtnisses, die wir beschrieben hatten, nannten wir das orientierende Gedächtnis. Dieses braucht nicht reproduzierend zu sein, d. h. ich kann mich z. B. in einer Stadt orientieren, ohne fähig zu sein, irgendwie ein adäquates Erinnerungsbild der mich leitenden Einzelheiten zu bilden. - Ich erkenne Dinge und Menschen wieder, weiß mich zu ihnen zu stellen, ohne irgendwie fähig gewesen zu sein, ihr Bild einigermaßen ähnlich zu reproduzieren. - Diese Art des Gedächtnisses müssen wir besonders bei niederen Tieren annehmen, doch ist es auch beim Menschen von großer Bedeutung. Wir haben in unserem Gedächtnis eine Menge von Dispositionen und Stellungnahmen, die sofort in Kraft treten, sowie sie ausgelöst werden, ohne daß wir fähig wären, die betreffenden Objekte anschaulich zu reproduzieren. Gewiß spielen da auch individuelle Unterschiede hinein, aber bei sehr vielen Menschen jedenfalls ist die Fähigkeit des Reproduzierens auffallend gering. Aber diese ist auch nicht nötig, wenn nur die betreffenden passiven oder aktiven Stellungnahmen erregt werden. Ich gebe zunächst ein paar Beispiele: Die wenigsten Leute sind fähig, wie ich schon bei früherer Gelegenheit erwähnt habe, sich eine anschauliche Reproduktion der großen gotischen Drucklettern zu bilden, obwohl sie in jeder Zeitung solche zu Hunderten sehen. Ist es nun nötig, daß wir derartige Reproduktionen bilden? Keineswegs; es genügt völlig, wenn wir uns daran orientieren, d. h. wenn in unserem Fall die entsprechende Lesereaktion eintritt. Beim Lesen eines fremdsprachlichen Werkes verstehen wir in der Regel eine große Menge von Worten, die wir nicht im Entferntesten zu reproduzieren vermögen, wenn der betreffende Gegenstand uns gezeigt würde oder wenn uns das deutsche Wort genannt würde mit der Aufforderung, es zu übersetzen. Die Zahl unserer Gedächtnisinhalte, mit denen wir uns zu orientieren vermögen, ist sehr viel größer als die Zahl derjenigen, die wir reproduzieren können. Ähnlich wird oft das Reproduktionsbild durch eine allgemeine räumliche Orientierung ersetzt, in welche zwar allerlei Hilfsvorstellungen hereinspielen, die aber in keiner Weise in der Gesamtheit als Reproduktion des betreffenden Objekts angesehen werden kann. So hat ein Arzt nicht seine sämtlichen Rezepte, ein Rechtsanwalt nicht sämtliche Paragraphen und Reichsgerichtsentscheidungen im Kopf, aber er weiß ganz genau, wie er ihren Wortlaut mit wenigen Griffen feststellen kann. Auch hier ist das Gedächtnis nicht reproduzierend, sondern nur orientierend. Und noch ein letztes Beispiel: ich habe vor einigen Jahren eine Buch über die Geschichte Altägyptens gelesen. Was mir heute geblieben ist, sind nur sehr vage Erinnerungen; kaum vermöchte ich Einzelheiten zu reproduzieren, die Namen und Zahlen sind mir meist entglitten. Dennoch ist mein Wissensbestand auch heute noch ein anderer als er damals war, ehe ich das Buch gelesen hatte. Kommt mir durch Zufall einer jener Namen zu Gesicht, so ist er doch mit einem Gefühl der Vertrautheit umgeben, ich weiß sofort, wo ich ihn "unterzubringen" habe, ich kann mich auch sofort über ihn orientieren, denn ich weiß, wo ich über ihn nachlesen kann. All das nenne ich orientierendes Wissen im Gegensatz zum reproduzierbaren Wissen. Diese orientierenden Gedächtnisinhalte sind von größter Wichtigkeit im Leben, wenn sie auch von Psychologie und Pädagogik im allgemeinen wenig beobachtet worden sind. Die Pädagogik verlangt - und mit einem gewissen Recht - vor allem ein möglichst exaktes und deutliches Wissen. Sie vergißt aber, daß es zwischen diesen deutlichen Gedächtnisinhalten, die sich jederzeit wörtlich reproduzieren lassen, und dem völligen Nichtwissen noch die Zwischenstufe des orientierenden Wissens gibt, die in sehr vielen Fällen genügt, um mit dem Gedächtnis arbeiten zu können. Wir alle erinnern uns wohl aus der Schule jenes Zustandes, daß, wenn wir etwas gefragt wurden, wir genau wußten, wo wie die betreffende Vokabel gelesen hatten, die wir im Zusammenhang auch hätten verstehen können, während wir sie nur nicht wörtlich zu reproduzieren vermochten. Wir wurden wohl in den meisten Fällen dann als gänzliche Nichtwisser behandelt und empfanden das als schweres Unrecht. In der Tat müßte die Pädagogik diesem rein orientierenden Gedächtnis mehr Respekt entgegenbringen, denn es reicht tatsächlich in sehr vielen Lebenslagen aus. Die Notwendigkeit des exakten Reproduzierens nämlich ist außerhalb der Mauern der Schule in der Regel viel seltener, als man innerhalb dieser Mauern annimmt. Biologisch nämlich können wir dieses bloß orientierende Gedächtnis als eine große Entlastung ansehen; denn das Gesamtgedächtnis würde, wenn bloß exakte Reproduktionen seine Aufgabe leisten könnten, sich vor die ungeheure Aufgabe gestellt sehen, die Reproduktionen beständig frisch zu erhalten, weil sie ohne eine solche Arbeit rasch verblassen und dann wertlos werden würden. Glücklicherweise verhält es sich in Wirklichkeit nicht so, daß nur exakte Reproduktionen die vom Gedächtnis geforderte Arbeit leisten könnten. Es genügt in sehr vielen Fällen, daß uns von einer Sache, einem Namen usw. nur die ungefähre Orientierungsmöglichkeit bleibt, um damit arbeiten zu können. Wir lesen z. B. täglich in der Zeitung und in Büchern eine Menge Namen von Menschen und fremden Orten, über die wir vielleicht gar nichts Genaues wissen, die wir nur ungefähr "unterbringen" können. Dies genügt aber in der Regel zum Verständnis; genügt es aber nicht, so haben wir doch kraft jenes orientierenden Wissens die Möglichkeit, uns leicht genauer zu unterrichten. Es liegt kein Grund vor, in diesem Fall über Oberflächlichkeit zu schelten. Es ist nicht nur nicht nötig, sondern auch praktisch unmöglich von allen Objekten, über die wir lesen, ein ganz exaktes Bild zu haben. Statt das orientierende Wissen gering zu schätzen, sollte man daran gehen, es bewußt auszubilden, wovon unsere Pädagogik freilich noch weit entfernt ist. Psychologisch stellen sich die Elemente des orientierenden Gedächtnisses als sehr vage "Vorstellungen" dar. Indessen verhalten sie sich zu den exakten Reproduktionen nicht etwa so wie eine unklare, verwaschene Photographie zu einer scharfen. Ich habe an anderen Stellen wiederholt darauf hingewiesen, daß man unter "Vorstellung" nicht etwa einen bloß intellektuellen Inhalt, die schwache Wiederholung eines Empfindungskomplexes, sehen darf (14). Nein, eine Vorstellung ist nicht die Reproduktion eines bloßen Empfindungskomplexes, sondern einer Wahrnehmung; das heißt aber, es werden alle jene subjektiven Zutaten, Gefühle, Stellungnahmen, räumliche Orientierung, Willensmomente usw. ins Bewußtsein gerufen, die zu einer komplexen Wahrnehmung gehörten. Meine Vorstellung "Kreuzotter" ist nicht etwa bloß ein rein intellektuelles Bild, sondern sowie ich mir eine Kreuzotter vorstelle, tritt auch die ganze Stellungnahme ins Bewußtsein, jenes Gefühl des Gefährlichen, Giftigen usw., das auch die Wahrnehmung begleitet. Und im Gegensatz zum Assoziationismus muß man nun betonen, daß diese Stellungnahmen viel wichtiger sind für die "Vorstellung" als der intellektuelle Inhalt. Sie sind es, die den Begriff ausmachen. Ich kann einen Begriff von der Kreuzotter haben, ohne fähig zu sein, ein visuelles Bild derselben zu reproduzieren; das Wort mit dem Gefühlskranz, der Stellungnahme, genügt vollkommen. Es sind also die Stellungnahmen viel wichtiger als die Reproduktion der Empfindungsinhalte. Das ist zu beachten für das Verständnis des bloß orientierenden Gedächtnisses. Was dieses festhält, sind vor allem solche Stellungnahmen, räumlich orientierende oder sonstwie unser Handeln beeinflussende Stellungnahmen, während der anschauliche Inhalt leichter schwindet, was der biologischen Notwendigkeit entspricht; denn wir kommen öfter in die Lage, uns an den gegebenen Objekten orientieren zu müssen, als sie zu reproduzieren, wobei dann noch weiter zu bedenken ist, daß das Verfahren, sich stets aufs Neue an die Wahrnehmung selber zu halten statt sich auf das reproduzierende Gedächtnis zu verlassen, schon aus dem Grund empfehlenswerter ist, weil das reproduzierende Gedächtnis ein Idealfall ist. In Wirklichkeit gibt es kein völlig treues Gedächtnis, und auch das hat biologisch seinen Grund, weil es biologisch viel wertvoller ist, ein plastisches Gedächtnis zu haben als ein getreues, ganz exakt repetierendes. Für die Praxis können wir jedenfalls aus diesen Betrachtungen die Lehre ziehen, daß man dieses nicht reproduzierende, bloß orientierende Gedächtnis nicht unterschätzen darf, was aber gleichbedeutend ist mit der Lehre, daß man das reproduzierende nicht über schätzen darf. Leider aber bestehen in unseren Schulen und Prüfungen noch immer jene oft recht unfruchtbaren Köpfe am Besten, die am getreuesten reproduzieren. Im übrigen sind es doch nicht die orientierenden Elemente allein, die von etwas früher genauer Gewußtem bleiben. Es bleibt auch für den reproduzierenden Teil der Vorstellung eine Disposition zurück. Auch von dieser Seite her also braucht man das "Vergessen" nicht ganz so tragisch zu nehmen, wie so manche Pädagogen tun, die am Schluß des Jahres konstatieren, wie wenig hängen geblieben ist von allem Fleiß. Auch falls es sich später um ein wirkliches Reproduzieren handelt, ist das "Vergessen" nicht so völlig hoffnungslos. Denn nur ganz selten wird etwas völlig vergessen, auch wenn es lange nicht mehr reproduzierbar ist. Es bleibt doch eine Erleichterung für jedes spätere Lernen. Experimentell ist das wiederholt festgestellt worden. So lernte EBBINGHAUS (15) die Stanzen [acht elfsilbige Verszeilen - wp] aus BYRONs Don Juan 24 Stunden später zum zweiten Mal mit rund 50% Ersparnis an Wiederholungen gegen nur 34% bei sinnlosen Silbenreihen. Ja, als er 22 Jahre später die gleichen Stanzen noch einmal lernte, die er damals bis zur ersten Reproduktion erlernt und später nie wieder angesehen hatte, fand er doch durchschnittlich 7% Ersparnis gegen andere, niemals früher gelernte Stanzen des Gedichts. Beträchtlicher noch war die Ersparnis bei Stanzen, die nicht nur ein einziges Mal, sondern mehrfach, nämlich an 4 aufeinander folgenden Tagen, jedesmal bis zur ersten Reproduktion auswendig gelernt worden waren. Diese wurden 17 Jahre später noch mit einer Ersparnis von nahezu 20% gegen neue Stanzen wiedererlernt. - Ein bewußtes Erinnern hatte hier nirgends stattgefunden; dennoch war über so lange Zeit hinaus die Nachwirkung verblieben. Wir sind damit freilich schon stark an das reproduzierende Gedächtnis herangekommen. Wir haben diese Tatsachen bereits vorweggenommen, weil auch sie zeigen, daß es ein Gedächtnis gibt, das sich nicht im unmittelbaren Reproduzieren auswirkt. Auch dieses bloß disponierende Gedächtnis ist nicht ganz gering zu achten.
1) Die wichtigsten Arbeiten über das Gedächtnis findet man in reicher Übersicht zusammengefaßt in ERNST MEUMANNs grundlegenden Werken: "Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik", zweite Auflage und "Technik und Ökonomie des Gedächtnisses", dritte Auflage. 2) Man vergleiche zu diesen Ausführungen besonders meine "Das Denken und die Phantasie", Leipzig 1915; ferner noch meine Abhandlung "Der Einfluß der Gefühle und motorischer Faktoren auf Assoziation und Denken" im "Archiv für die gesamte Psychologie", Bd. 27, Seite 381-431 und "Typenvorstellungen und Begriffe" (Untersuchung zur Psychologie des Denkens),"Zeitschrift für Psychologie", Bd. 64, Seite 386-434 3) HERMANN EBBINGHAUS, Grundzüge der Psychologie, Bd. I, Seite 634f. 4) Vgl. besonders RICHARD SEMON, Die Mneme, Bd. I 5) WILHELM WUNDT, Völkerpsychologie, Bd. III, Seite 13f 6) ERNST MEUMANN, Intelligenz und Wille, Seite 122f 7) Eine Trennung des motorischen Gedächtnisses vom reinen Gedächtnis (mémoire pure) hat übrigens schon HENRI BERGSON für nötig gehalten. Freilich scheint es uns unmöglich, den "rein psychischen" Charakter seiner "mémoire pure", die ganz in der Luft schwebt, zu halten. Vgl. "Matiére et Mémoire, Kapitel II. Dazu meine Kritik, "Zeitschrift für Psychologie", Bd. 60. 8) Vgl. meine Kritik in "Das Denken und die Phantasie", Kap. VI. 9) THEODOR ZIEHEN, a. a. O., Seite 184 (?) 10) RICHARD WAHLE, Besprechung und Einteilung der Ideenassoziation, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1885, Bd. IX. 11) MOSKIEWICZ, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. XVIII, Seite 329 12) EBBINGHAUS, a. a. O., Seite 699 13) So ist auch die Ansicht von WUNDT, LIPPS und anderen. Vgl. besonders die Diskussion dieser Fragen bei OESTERREICH, Phänomenologie des Ich, 1911. 14) Vgl. "Das Denken und die Phantasie", a. a. O., Kap. I 15) EBBINGHAUS, a. a. O., Seite 681 |