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MAX FRISCHEISEN-KÖHLER
Über die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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"Daß der Historiker aus Gründen allgemeiner Verständlichkeit in seiner Darstellung nur Worte mit allgemeiner Bedeutung gebrauchen, daß er in seiner Erzählung, welche eine Reihe von Urteilen ist, durch die Natur der Urteile gebunden, des Allgemeinen nicht entbehren kann, ist mit dem Wesen des logischen Denkens, das sich mitteilen will, gegeben."

"Rickert  betont durchgängig die  totale Irrationalität  des Wirklichen, und indem er von der Fiktion ausgeht, daß die volle Realität in ihrer Totalität gegeben ist, reduziert sich ihm das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis auf die Herstellung einer Übersicht der gegebenen Mannigfaltigkeit."


II.
3. Individual- und Allgemeinbegriffe
in der Geschichte

Das Ziel von RICKERTs Methodologie liegt in einer Begründung des logischen Begriffs der Geschichte; indem er das eigentümliche Wesen des historischen Denkens aufzuklären unternimmt, gelangt er aber zu einer Theorie der Individualbegriffe, die als grundsätzlich verschieden gebildet den naturwissenschaftlichen Allgemeinbegriffen gegenüberzustellen sind. Wir können nunmehr die Berechtigung dieser versuchten Erweiterung der Logik des Begriffs bestimmen.

Was heißt Individualbegriff? Geht man von den Definitionen der älteren Logik aus, so reduziert sich diese Bezeichnung schließlich auf diejenige Einzelvorstellung, deren Inhalt die Gesamtheit der wesentlichen allgemeinen und der wesentlichen eigentümlichen Eigenschaften oder Merkmale eines Individuums in sich faßt (9). Aber die Unzulänglichkeit dieser Definition ist offensichtlich: denn wäre auch eine allgemeingültige Ermittlung der  wesentlich eigentümlichen  Eigenschaften möglich, so liegt doch in dem Umstand, daß dieser Komplex von Merkmalen tatsächlich nur ein einziges Mal auf der Welt vorhanden ist, kein hinreichender Grund, den ihn als seinen Inhalt in sich fassenden Begriff als Individualbegriff zu bezeichnen. Der empirische Umfang hat schon SIGWART (10) mit vollem Recht betont, daß ein Individualbegriff niemals bloß deshalb ein solcher heißen kann, weil zufällig in der empirischen Wirklichkeit bloß ein Ding existiert, das ihm entspricht; vielmehr ist nur der als ein Individualbegriff anzusehen, durch dessen Merkmale schon die Einzigkeit eines ihm entsprechenden Objekts gegeben ist. Der Mittelpunkt oder die Entropie der Welt sind Beispiele dafür.

Legt man diesen Maßstab an RICKERTs historische Individualbegriffe, so leuchtet sofort ein, daß ihnen diese Bezeichnung im strengen Sinn nicht zukommen darf. Unter den Merkmalen des Tatbestandes, den sie darstellen, ist das Moment seiner Singularität nicht enthalten; die Wertbeziehung, welche die Ausscheidung der historischen Individuen aus der unendlichen Mannigfaltigkeit des Wirklichen gestatten soll, setzt wohl die praktische Unersetzlichkeit des Objekts voraus, aber sie fordert nicht denknotwendig, daß dasselbe nur einmal auf der Welt vorhanden ist. So unwahrscheinlich auch das Vorkommen von zwei einander völlig gleichen oder zumindest für uns nicht mehr anders als durch Raum- und Zeitangaben unterscheidbaren Dinge sein mag: daß dem RICKERTschen Individualbegriff nur ein einmaliger Sachverhalt entspricht, ist logisch zufällig; seine logische Natur bleibt von der faktischen Anzahl der unter ihn fallenden Existenzen unberührt.

Erscheint so die von RICKERT entwickelte Theorie der historischen Begriffe als eine Ausgestaltung der Lehre von den Individualbegriffen anfechtbar, so erweist sie sich als gänzlich unhaltbar, wenn auch die zentrale Bedeutung der Werte als leitender Prinzipien für die Bildung dieser angeblichen Individualbegriffe bestritten wird. Indem wir deren Einfluß nur auf den ersten Ansatz der Stoffauswahl einschränken und zugleicht die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte betonen, die für die begriffliche Behandlung des einzelnen Falles nach seinen näheren Umständen in Betracht kommen, sind wir berechtigt, grundsätzlich die Existenz selbständiger Prinzipien für die historische Begriffsbildung und damit auch diese als ein im logischen Sinn eigentümlich denkendes Verfahren in Frage zu stellen. Aber eine Begründung dieser Anschauung läßt sich auch unabhängig von der Diskussion des Wertprinzips gewinnen.

Zunächst gibt RICKERT es selbst [305] zu, daß die als  historischer Begriff  eingeführte Bezeichnung eine Erweiterung des Sprachgebrauchs bedeutet. In der Tat wird man ohne weiteres schwerlich geneigt sein, etwa RANKEs "Geschichte der Päpste"  einen  Begriff zu nennen, ebensowenig wie die Summe von Formeln, welche den Inhalt der KIRCHHOFFschen Mechanik ausmachen. Läßt man freilich RICKERTs Terminologie gelten, nach welcher sich im Begriff das als fertig darstellt, was durch die Forschung geleistet ist [23], so kann mit gleichem Recht die ganze Naturwissenschaft wie die gesamte Geschichte ein Begriff heißen. Beide Disziplinen geben jedoch eine Zusammenfügung oder ein System von Begriffen, und es entsteht die Frage, ob der Charakter des Historischen dem ersteren nur vermöge dieser Zusammenfügung zukommt, oder ob auch schon die Struktur der in ihr aufgenommenen Begriffe Eigentümlichkeiten erkennen läßt, die sie von den naturwissenschaftlichen Begriffen unterscheiden. Hier liegt nun das Schwergewicht in der Klarstellung der Bedeutung der Allgemeinbegriffe für das geschichtliche Denken. Daß dieses niemals ohne solche - auch wenn man von den spezifisch naturwissenschaftlichen Bestandteilen absieht - auskommen kann, betont RICKERT auf das Entschiedenste; aber da das Allgemeine von der Geschichte nur als Mittel verwendet, jedoch nicht als Ziel erstrebt wird, scheint ihm dieses die Selbständigkeit einer historischen Begriffsbildung nicht zu gefährden. Allein die hierin enthaltenen Zugeständnisse sind doch von einer größeren Tragweite, als RICKERT zuzugeben bereit ist.

Daß der Historiker aus Gründen allgemeiner Verständlichkeit in seiner Darstellung nur Worte mit allgemeiner Bedeutung gebrauchen, daß er in seiner Erzählung, welche eine Reihe von Urteilen ist, durch die Natur der Urteile gebunden, des Allgemeinen nicht entbehren kann, ist mit dem Wesen des logischen Denkens, das sich mitteilen will, gegeben; und insofern die Darstellung letzten Endes der Beschreibung einer einmaligen Wirklichkeit dienen soll, ist das Allgemeine sicherlich nur Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Aber man wird doch eine doppelte Bedeutung des Sinnes, in welchem es Mittel ist, hervorheben müssen. VOLKELT (11) auf das verschiedene Verhalten des Subjekts- und des Prädikatbegriffs in dieser Hinsicht aufmerksam gemacht; für ersteres, sofern es sich um Aussagen über ein Einzelnes handelt, erfüllen die Worte mit allgemeiner Bedeutung eine ganz andere Funktion als für letztere. Bezieht sich das Subjekt eines Urteils auf eine Singulare, so ist der sprachliche Ausdruck allerdings nur die Anweisung, wenn auch nicht immer zur Reproduktion der ihm entsprechenden Vorstellung, so doch zu seiner Anerkennung als dessen, wovon die Prädikation gelten soll: das Singulare ist das in der Subjektvorstellung Gemeinte oder Gedachte. Wir wissen bereits, daß es in der Regel die Positionsbestimmungen sind, die, obgleich selbst allgemein, einen auch wiederum allgemeinen Begriff in seinem empirischen Umfang eindeutig auf ein Exemplar beschränken. Anders verhält es sich mit dem Prädikatsbegriff; bei ihm fungiert die allgemeine Wortbedeutung nicht nur als Mittel, um den Sinn der entsprechenden Worte überhaupt zu verstehen, sondern das in ihr gemeinte Allgemeine bildet auch zugleich den Inhalt der Prädikation, den Gegenstand des Denkens selbst. Sage ich: mein Vater lebt, so bezieht sich die Subjektvorstellung auf ein Individuum; doch das von ihm prädizierte Leben ist allgemein. Auf die Geschichte angewendet besagt diese Einsicht, daß die Verwendung allgemeiner Worte als Verständigungsmittel allerdings logisch indifferent ist, denn sie verhindert nicht die gedankliche Heraushebung eines einmaligen Tatbestandes; aber da der Inhalt aller möglichen Prädikation immer ein allgemeiner ist, erweist sich dieses von einer fundamentalen Bedeutung. Nun mag ja für viele Zwecke der Geschichtserzählung das Allgemeine in der Form der allgemeinen, verschwommenen und unbestimmten Wortbedeutung genügen; es wird etwa in dem angegebenen Beispiel kaum erforderlich sein, den Begriff  Leben  in seinem reinen physiologischen Sinn zu fassen oder gegenwärtig zu haben, und RICKERT hat gewiß Recht, wenn er darauf hinweist [341], daß in der vorhandenen Geschichtswissenschaft sehr wenig von Versuchen zu spüren ist, die allgemeine Wortbedeutung bestimmter zu gestalten. Hat er doch auch gezeigt, wie gegebenfalls eine Grenzverengung der Unbestimmtheit eines Begriffs durch die Angabe von selbst unbestimmten Elementen möglich ist und so können, ohne prinzipiell die Unbestimmtheit der allgemeinen Wortbedeutung aufzugeben, schon weitergehende logische Bedürfnisse befriedigt werden. Aber da der Sprachgebrauch nicht etwas Naturhaftes ist, vielmehr in hohem Grad von der Wissenschaft der Zeit oder richtiger früherer Zeiten beeinflußt wird, so kann auch RICKERT die Forderung nach einer fortschreitenden Bestimmung der allgemeinen Wortbedeutungen nicht ablehnen. Konstruiert man aber das logische Ideal der Geschichte, so muß man von einem zufälligen Stand der Bestimmtheit der verwendeten Wortbedeutungen absehen und der Anspruch auf ihre wissenschaftliche Bestimmtheit erscheint als Bedingung seiner Vollkommenheit. Bezeichnet man das Verfahren der Bestimmung des Allgemeinen als naturwissenschaftliche Begriffsbildung, so ergibt sich, daß die logische Voraussetzung einer wissenschaftlichen Geschichte in der tatsächlichen Existenz eines Systems von naturwissenschaftlichen Allgemeinbegriffen liegt.

Hieraus erhellt sich nun zunächst die Begründung des Zweifels, die Darstellungsgebilde der Geschichte als Begriffe zu bezeichnen. Denn offenbar ist - vom Bildungsprinzip abgesehen - ein großer Unterschied in der Art, wie die Naturwissenschaft und wie die Geschichte die begriffliche Bearbeitung der Wirklichkeit vollzieht. RICKERT betont, daß die Naturwissenschaft sich im Maß ihrer Vervollkommnung von der Wirklichkeit entfernt. Wie es sich nun auch damit verhalten mag: jedenfalls nimmt sie ihren Ausgang von der Wirklichkeit: sie bildet die Begriffe aufgrund von Daten, die selbst nicht Begriffe sind. Indem aber die Geschichte diese naturwissenschaftliche Begriffsbildung voraussetzt, hat sie ein ganz anderes Verhältnis zur Wirklichkeit. Mag sie auch nach dem Singularen in ihr streben, so gibt sie doch stets eine Kombination, oder wie man sonst das Verfahren der Zusammenstellung nennen will, von naturwissenschaftlichen Begriffen. Es ist nicht so, daß der Historiker (wie in RICKERTs Buch anscheinend durchgängig angenommen wird) aus einer in der Erfahrung gegebenen Mannigfaltigkeit gewisse Merkmale heraushebt und sie zu einem  individuellen Begriff  zusammenschließt; vielmehr wählt er aus dem vorhandenen Schatz von naturwissenschaftlichen Begriffen oder von allgemeinen Worten als deren vorläufigen Ersatz eine gewisse Anzahl zu einer Verknüpfung aus. In diesem Sinne muß die logisch vollkommene Geschichte als angewandte Naturwissenschaft bezeichnet werden, und so wenig wie es gebräuchlich und fruchtbar ist, die Diagnose des Arztes als eine eigentümliche Begriffsbildung anzusprechen, kann dies vom historischen Denken, das im Prinzip gleichartig verfährt, ausgesagt werden. Das heißt natürlich nicht, daß die geschichtliche Methode der naturwissenschaftlichen gleichzusetzen oder ihr unterzuordnen ist; denn sie unterscheidet sich eben von ihr durch den Gesichtspunkt der Anwendung, wie sich die Technik von der reinen Theorie unterscheidet. Aber es besagt zumindest, daß von historischer und naturwissenschaftlicher Begriffsbildung nicht im gleichen Sinn zu reden ist.

Das Problem der historischen Methode bleibt jedoch bestehen. Und zwar wird nun vor allem für ihre Durchführbarkeit der Umstand, daß naturwissenschaftliche Bestandteile in weitem Umfang, und zwar nicht nur als Verständigungsmittel, sondern als Aussageinhalt von ihr benutzt werden müssen, von ausschlaggebender Bedeutung sein. Das Bild des Umwegs, das RICKERT so oft zur Kennzeichnung der Funktion des Allgemeinen gebraucht, deckt den Sachverhalt nicht. Ein Umweg führt zum Ziel, aber er ist nicht Bestandteil desselben. Dagegen bilden die Allgemeinbegriffe, wie sie auch zusammengeschlossen werden, als solche dauernde Elemente jeder historischen Beschreibung. Bezeichnet man sie als bloße Mittel, so muß man doch beachten, daß sie Mittel in demselben Sinn wie es die Buchstaben der Schrift für die Schrift sind; sie dienen nicht der Herstellung oder Herbeiführung eines anderen, sondern sie bilden in ihrer Gesamtheit eben dieses andere. Daher besitzt die reine Theorie doch einen höheren Wert für die Geschichte, als den einer bloßen Hilfswissenschaft. Man mag dieser auch das Recht zur Bildung eigener Theorien bestreiten, so wird sie doch immer auf theoretische Einsichten zurückgreifen müssen. In idealer Vollendung stellt sie die Anwendung der Theorie oder einer Mehrheit von ihnen auf einen konkreten Fall dar. Wie ist eine Kosmogonie heute noch denkbar, die nicht jeden ihrer Begriffe und Sätze der Mechanik entnimmt?

Man muß diese in RICKERTs Sinn historische Behandlung körperlichen Geschehens gegenwärtig haben, um die Bedeutung der Allgemeinbegriffe für die Darstellung geistigen Lebens zu ermessen. Wir treten damit vor die Frage nach der Stellung der Psychologie zur Geschichte. RICKERT löst sie, indem er die Psychologie lediglich als eine und zudem noch sehr wenig bedeutungsvolle Hilfswissenschaft der Geschichte angesehen wissen will. Er gibt zwar zu, daß die historische Darstellung eventuell gewinnen kann, wenn sie statt der unwillkürlich entstandenen Wortbedeutungen wissenschaftlich fixierte Begriffe benutzt. Aber, so meint er [549], daß das Bedürfnis sehr groß sein soll, wird man bezweifeln. Denn auch wenn es sich um die Darstellung komplizierter und fremdartiger seelischer Vorgänge handelt, verstehen wir auch ohne die Zuhilfenahme streng wissenschaftlich-psychologischer Begriffe, was gemeint ist. Schon die Werke von Historikern, zu deren Zeiten es Psychologie als Wissenschaft noch nicht gab, können uns lehren, wie wenig wir von der Verwendung derartiger Begriffe als Mittel der Darstellung zu erwarten haben. Und zudem ist entscheidend, daß das Unterordnen unter ein System allgemeingültiger Begriffe niemals das miterlebende Verstehen ersetzen kann; denn das sind zwei geistige Prozesse, die sich ausschließen [540]. So ist der Historiker nur in dem Sinne  Psychologe,  daß er Kenntnisse von bestimmten individuellen psychischen Vorgängen besitzt [541].

Diese Argumentation ist in jeder Hinsicht unhaltbar. Zunächst ist, wie schon angedeutet, der Rückgang auf den tatsächlichen Zustand der Geschichtsschreibung und die  Bedürfnisse  des Lesers, welcher die Einschränkung der Verwendung psychologisch-wissenschaftlicher Begriffe für die Geschichte begründen soll, in einem Zusammenhang der Konstruktion eines logischen Ideals wenig zwingend. RICKERT liebt allerdings zu betonen, daß seine Untersuchung lediglich die wirklich ausgeübte wissenschaftliche Tätigkeit verstehen, nur die faktisch vorhandene logische Struktur der Wissenschaften zu Bewußtsein bringen will. Aber wenn sie doch wie in der Ableitung des Ideals einer  letzten Naturwissenschaft,  die nirgends verwirklicht ist, vor den äußersten Konsequenzen, welche aus dem Postulat einer vollkommenen Auflösung der gesetzten Aufgabe entspringen, nicht Halt macht, so dürfte auch hier die Forderung nach größtmöglicher Vollendung der Mittel im Prinzip gerechtfertigt sein. Daher muß die Tragweite der psychologischen Begriffe für das geschichtliche Denken grundsätzlich klargestellt werden.

Nun hat RICKERT den förmlichen Nachweis unternommen, daß eine begriffliche Bearbeitung seelischen Lebens nach naturwissenschaftlicher Methode durchaus möglich ist. Demgemäß erstrebt auch die Psychologie eine Vereinfachung der psychischen Mannigfaltigkeiten mittels der Bildung von allgemeinen Begriffen, denen auch die Bestimmtheit und Geltung der naturwissenschaftlichen Begriffe zukommen muß. So bildet folgerichtig das logische Ideal dieser Psychologie eine Theorie, die der  letzten Naturwissenschaft  analog ist. Aber es erscheint im höchsten Maß problematisch, ob diese naturwissenschaftliche Psychologie jemals imstande sein dürfte, der Geschichte das zu bieten, was diese mit Recht von ihr verlangen kann. Wenn auch die von ihr erarbeiteten Begriffe auf Anschaulichkeit verzichten müssen, wenn die höchsten und vollkommensten von ihnen geradezu Begriffe von unerfahrbaren psychischen Elementen [200f] sein werden, dann wird durchaus unverständlich, was der Historiker noch mit ihnen anfangen kann. Nach welchem Prinzip er sie auch gruppiert oder kombiniert, niemals vermögen diese leeren, alles anschaulichen Inhaltes entkleideten Formeln eine hinreichende Darstellung historischer Individualitäten zu geben. Gesetzt, das von MÜNSTERBERG entworfene psychologische Begriffssystem wäre haltbar, auf welches RICKERT mit Vorliebe als dasjenige rekurriert, das die größte Annäherung an sein logisches Ideal aufweist, dann wären auch alle Willensvorgänge und Gefühle letztlich Komplexe von einfachen, als einfache aber niemals erlebbaren Empfindungen gleichzusetzen. Ist es denkbar, daß jemals die Charakteristik einer historischen Persönlichkeit oder die Beschreibung einer ihrer Handlungen, Stimmungen in Urteile über die einfachen Empfindungen und ihre Relationen auflösbar sein wird, welche diese wissenschaftliche Psychologie jenen erlebbaren Zuständen zu substituieren sich verpflichtet fühlt?

Am schärfsten tritt dieser Gegensatz zwischen den aus RICKERTs Methodologie konsequent fließenden Forderungen und der Leistungsfähigkeit seiner naturwissenschaftlichen Psychologie hervor, wenn es sich darum handelt, einen Einblick in die Notwendigkeit des Ablaufs von Ereignissen zu gewinnen. Der Psychologe als Naturforscher wird zur Bildung unbedingt geltender Begriffe, d. h. von Gesetzesbegriffen, bestrebt und befähigt sein. Nun unterscheidet RICKERT zwischen dem allgemeinen Kausalprinzip, welches nur die Annahme einschließt, daß jedes Geschehen eine Ursache hat, und den Kausalgesetzen der Naturwissenschaft, in denen förmlich die Gleichheit von Ursache und Wirkung vorausgesetzt wird. In Wirklichkeit, so meint er, ist alles Geschehen individuell und niemals die Wirkung der Ursache gleich; daher gelten dann auch die Kausalgesetze nur für die Abstraktionen der Naturwissenschaft (12). Will aber der Historiker nicht nur die zeitliche Folge von Ursache und Wirkung angeben, sondern es als notwendig begreifen, wie aus dieser individuellen, nie wiederkehrenden Ursache diese individuelle, nie wiederkehrende Wirkung hervorgeht, dann ist ein  Umweg  über allgemeine Begriffe von Kausalverhältnissen und eventuellen Kausalgesetzen nicht zu vermeiden. Wir haben, so wenig die Kausalverbindung als empirische Wirklichkeit allgemein genannt werden darf, zum wissenschaftlichen Ausdruck ihrer Notwendigkeit nur das räumliche und zeitliche "Schema" des überall und immer, und dadurch verknüpft sich mit der wissenschaftlichen Darstellung auch der individuellen kausalen Notwendigkeit stets die Bildung eines allgemeinen Begriffs oder, wo dies erreichbar ist, eines allgemeinen Kausalgesetzes, ein Umstand, der zugleich die übliche Verwechslung von Gesetz und Kausalität erklären kann. Dies zwingt auch die Geschichte, wenn sie zwischen einer individuellen Ursache und ihrer individuellen Wirkung eine Brücke so schlagen will, daß sich der Kausalzusammenhang als notwendig begreifen läßt, allgemeine Begriffe von Kausalverbindungen zu gebrauchen. Sie erreicht ihr Ziel dadurch, daß sie den Begriff des individuellen Objektes, der als notwendiger Effekt begriffen werden soll, in seine stets allgemeinen Elemente zerlegt, diese Elemente dann mit ebenfalls allgemeinen Elementen des Begriffs der individuellen Ursache verbindet, so daß jede dieser Verbindungen von allgemeinen Begriffselementen den notwendigen kausalen Zusammenhang der unter sie fallenden Wirklichkeiten zum Ausdruck bringt. Ist dies geschehen, so schließt die Geschichte die für sich betrachtet allgemeinen Elemente des Begriffs der Ursache zu einem die Individualität dieser Ursache darstellenden Begriff wieder zusammen und hat dann auf dem Umweg über die allgemeinen Kausalbegriffe eine wissenschaftliche Einsicht in die notwendige Verbindung der individuellen historischen Ursache mit der individuellen historischen Wirkung gewonnen. (13)

Man erprobe nunmehr dieses Verfahren in seiner Anwendung auf die Geistesgeschichte. Wenn hier schon die Auflösung gewisser gegebener Zuständlichkeiten in Elemente schwierig erscheint, so wird die Reduktion der Notwendigkeit ihrer Entstehung auf Kausalrelationen ihrer Elemente vollends zur Unmöglichkeit. Der Historiker will etwa die Entwicklung des Beharrungsgesetzes im Denken von GALILEI schildern. Was heißt Zerlegung dieser Idee in ihre psychischen Komponenten? Was heißt Ableitung derselben aus anderen vorgängigen unter Benutzung allgemeiner Kausalrelationen? Ist nicht vielmehr die Vorstellung des Beharrungsgesetzes - wie sie auch im einzelnen ausgebildet ist - eine Einheit, die wohl auf verschiedene Tatbestände bezogen, durch wechselnde Gründe gestützt, in mannigfache Formen gekleidet werden kann? und ist es denkbar, daß jemals der Zusammenhang logischer Betrachtungen, welche zu ihrer Klarstellung geführt haben, in eine oder mehrere durch bloß äußere Beziehungen verbundene Reihen von Sukzessionen einfacherer oder gar einfachster, nie erfahrbarer Elemente ersetzt werden kann? Die Stellung des zeiterfüllenden Erlebnisses als ein psychisches im Ablauf der psychischen Vorgänge interessiert die Geschichte wenig. Es handelt sich für sie in erster Linie um den Inhalt des Erlebnisses, nicht um das faktische Gedachtwerden eines Gedankens, sondern um das Gedachte, um den Gegenstand des Gedankens. Der Zusammenhang solcher Inhalte, das gegenständliche Denken kann aber nie durch Kausalbeziehungen der psychischen Verläufe ausgedrückt oder begriffen werden. Und was vom vernünftigen Denken gilt, gilt gleichermaßen von jeder bewußten Zweckhandlung; auch in ihr liegt ein erlebtes Verhältnis der Mittel zum vorgestellten Zweck vor, das auf kein Schema von regelmäßigen Sukzessionen zurückgeführt werden kann. Soweit die Geistesgeschichte als eine Verwirklichung von Zwecken, als ein Aufbau von Zwecksystemen angesehen werden darf, sind psychologische Gesetze im Sinne von RICKERTs naturwissenschaftlicher Psychologie zur Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Entwicklung wertlos.

Aus dem Gefühl dieser prinzipiellen Unzulänglichkeit ist es wohl zu verstehen, wenn RICKERT der wissenschaftlichen Psychologie so wenig Einfluß auf das geschichtliche Denken einräumen will und dem  nacherlebenden Verstehen  die größere Rolle zuspricht. Aber dieses Zugeständnis steht im schroffen Widerspruch zur Konsequenz seines Systems. RICKERT wendet sich gelegentlich [542] gegen den Vorwurf, daß er zwei verschiedene psychologische Wissenschaften, eine naturwissenschaftliche und eine historische, für möglich und notwendig hält; in dieser Wendung ist freilich der Einwand unberechtigt, denn RICKERT hebt stets hervor, daß allein in der naturwissenschaftlichen Psychologie wissenschaftliche Erkenntnis zu erblicken ist. Aber den Gegensatz einer historischen Psychologie und naturwissenschaftlichen Psychologie hält er selber fest. Und so entsteht folgendes Dilemma. Auf der einen Seite erfordert die logisch vollkommene Geschichte auch logisch vollkommene psychologische Allgemeinbegriffe, aber niemals führt deren Aufnahme zu einer wissenschaftlichen Vertiefung, vielmehr zur gänzlichen Aufhebung historischer Erkenntnis; auf der anderen Seite ist das  nacherlebende Verstehen  keine wissenschaftliche Erkenntnis, denn es wendet sich an die Phantasie und bedient sich Mittel, die nicht auf eine logische Formel gebracht werden können. Ist aber der Historiker für immer dazu verurteilt, sich mit unbestimmten allgemeinen Wortbedeutungen und subjektiven Phantasiebildern zu begnügen, dann heißt das nichts anderes, als daß Geistesgeschichte als logisch vollkommene Wissenschaft unmöglich ist.

Nun ist bekannt, daß gerade das Problem der Bedeutung des nacherlebenden Verstehens für das geschichtliche Denken es ist, welches die Arbeiten von DILTHEY, WUNDT und SIMMEL aufzulösen unternehmen. Sie versuchen Methoden zu entwickeln, dieses Nachverstehen aus der subjektiven Sphäre der Willkür, der genialen Intention zur Allgemeingültigkeit zu erheben. Hat RICKERT das Recht begründet, von einer Diskussion der positiven Lösungsversuche, welche diese Forscher vorlegen, abzusehen?

RICKERT knüpft seine Darlegungen, welche die Möglichkeit einer naturwissenschaftlichen Bearbeitung seelischen Lebens erweisen sollen, an die Ausführungen DILTHEYs über das Programm einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie an. Nachdem er nun gezeigt hat, daß das Seelische als solches uns nicht unmittelbarer und anschaulicher als die Körperwelt gegeben ist - denn das Subjektive ist weder als  Inneres  noch als  Bewußtseinsvorgang  ausgezeichnet [181] -, schließt er, daß der Objektivierung des Psychischen ebenso wie der des Physischen nichts im Wege steht. So findet sich im Material der Psychologie nichts, was seine nach naturwissenschaftlicher Methode zu vollziehende begriffliche Erkenntnis von vornherein verhindert. Hierbei ist jedoch der springende Punkt in der Argumentation DILTHEYs übersehen. Denn wie es sich auch erkenntnistheoretisch mit der Behauptung DILTHEYs verhalten mag, daß die physischen Tatsachen  von außen, durch die Sinne, als Phänomene,  die psychischen  von innen, als Realitäten  gegeben sind: das Entscheidende ist, daß jene  einzeln,  diese in ihrer Mehrheit  als ein lebendiger Zusammenhang originaliter  auftreten. Hinter diesen Zusammenhang, wie er in der inneren Erfahrung gegeben ist, kann keine Wissenschaft vom Seelenleben zurückgehen. Will das Denken hinter dieser letzten uns gegebenen Wirklichkeit einen rationalen Zusammenhang konstruieren, so kann dies nur aus Teilinhalten zusammengesetzt sein, die in dieser Wirklichkeit selber vorkommen. Wenn daher die naturwissenschaftliche Psychologie das in der Erfahrung gegebene Leben auf einen hinter ihr liegenden rationalen Zusammenhang zurückführen will, so kann diese Konstruktion des im Leben Gegebenen durch ein ihm Unterlegtes unser Wissen vom lebendigen Zusammenhang nicht ergänzen wollen, sondern bedeutet immer eine Verkürzung seiner Lebendigkeit. Denn die Regelmäßigkeiten im Ablauf des psychischen Lebens sind nicht durchweg solche der äußeren Sukzession; vielmehr müssen von diesen die Regelmäßigkeiten geschieden werden, in denen die Art der Beziehung zwischen den Gliedern des Vorgangs selbst erlebbar und daher ein charakteristisches Moment das Erlebnis selbst ist. (14) Hierin sind die Grenzen gelegen, die eine vollständige naturwissenschaftliche Bearbeitung der seelischen Wirklichkeit unmöglich oder jedenfalls doch unfruchtbar zu machen scheinen. RICKERT hat dieses Argument nicht erwogen und nicht widerlegt. Und solange das nicht geschieht, muß das Material der Psychologie gerade in methodologischer Hinsicht als ungleichartig dem der Naturwissenschaften angesehen werden.

Aber gibt man selbst die Berechtigung der Versuche zu, das gesamte Seelenleben nach naturwissenschaftlicher Methode aus letzten Elementen zu konstruieren, so ist doch jedenfalls eine nicht abzuweisende Aufgabe, durch alle hypothetischen Annahmen zunächst die psychischen Leistungen, Gliederungen, Beziehungen und Verhaltensweisen, so wie sie in der inneren Erfahrung auftreten, zu sondern und zu beschreiben. Bezeichnet man mit DILTHEY eine solche Psychologie als Strukturlehre, so liegt in ihr die Grundlage der Geisteswissenschaften, welche allein dem Subjektivismus in der Anwendung psychologischer Begriffe ein Ende machen kann. Nun wendet RICKERT allerdings seinerseits gegen DILTHEYs positives Programm einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie ein, daß dasselbe ein logisch unmögliches Unternehmen ist [188] und um dem damit gesetzten Relativismus zu entgehen, konstruiert er das Ideal der absoluten aber leeren Werte. Aber diese Behauptung gründet sich nur auf seine Auffassung vom Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, welche grundsätzlich keine Rücksicht auf das nimmt, was unter  Zergliederung  oder Analyse zu verstehen ist: und so kann sie keine Beweiskräftigkeit beanspruchen.

Wir haben nun schon früher die Einseitigkeit des Standpunktes hervorgehoben, für den die naturwissenschaftliche Begriffsbildung ausschließlich in Generalisationen besteht. Sind aber diese Bedenken in ihrer ganzen Tragweite berechtigt, dann kann offenbar, was hier von RICKERTs naturwissenschaftlicher Psychologie gilt, auch von seinem gesamten Ideal der Naturwissenschaft gefolgert werden. So wenig wie die psychologisch vollkommenen Begriffe zur Leistung dessen befähigt sind, was die Geschichte von ihnen verlangt, können überhaupt die nach RICKERTs naturwissenschaftlicher Methode gebildeten allgemeinen Begriffe als das in der Geschichte unentbehrliche Allgemeine fungieren. Hier tritt ein innerer Widerspruch dieser Methodologie zutage. Entweder ist die von RICKERT entwickelte Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung im wesentlichen richtig, dann bleibt unverständlich, wie die so gewonnenen Begriffe die unbestimmten Wortbedeutungen im historischen Denken jemals ersetzen können. Oder die Notwendigkeit der Verwendung wissenschaftlich fixierter Allgemeinbegriffe für dieses ist unbestreitbar, dann genügt jene Theorie nicht. Denn die Naturwissenschaft handelt nach RICKERT vom Unwirklich-Allgemeinen; wie ist denkbar, daß ein Komplex von Unwirklichkeiten jemals ein Wirkliches darstellen kann? Wenn RICKERT dem Umstand, daß die  Elemente unseres Denkens  für sich genommen allgemein sind, keine Bedeutung zuschreibt, da sie selbst noch keine wissenschaftlichen Begriffe sind, sondern erst in ihrer Zusammenstellung etwas für die Wissenschaft bedeuten, und wenn er weiter schließt, daß daher diese Zusammenstellung durchaus nicht in der Weise vorgenommen zu werden braucht, daß dadurch wieder ein Begriff mit allgemeinem Inhalt entsteht, vielmehr sie auch erfolgen kann, daß der sich ergebende Komplex von allgemeinen Elementen als Ganzes einen Inhalt hat, der sich nur an einem einmaligen und besonderen Objekt findet [339]: so verwendet er offenbar das Wort  Element des Denkens  hier in einem doppelten Sinn. Denn  Element  bedeutet für den naturwissenschaftlichen Begriff etwas ganz anderes als für den historischen. Nur sofern das Element als unbestimmte Wortbedeutung gefaßt wird, könnte überhaupt von allgemeinen Elementen des Denkens schlechthin die Rede sein. Aber für die Naturwissenschaft ist das Allgemeine, was in den unbestimmten Wortbedeutungen vorliegt, zugleich das, was sie weiter auszubilden sich bemüht. Erstrebt aber die Geschichte logische Vollkommenheit, so wird sie das Allgemeine nur in der von der Naturwissenschaft erarbeiteten vollkommenen Form übernehmen. Dann ist aber, was für das naturwissenschaftliche Denken der Abschluß der Begriffsbildung ist, Element des historischen Begriffes. Geschichte und Naturwissenschaft benutzen nicht dasselbe Allgemeine als Element zu verschiedener Kombination, sondern erst vollendet die Naturwissenschaft das Allgemeine zum allgemeinen Begriff; und für die Geschichte wird das Allgemeine nur in dieser Form Element ihrer Begriffe.

Aber nur unter einer einzigen Bedingung können Urteile, die wissenschaftliche Allgemeinbegriffe zu Prädikaten haben, in ihrer Gesamtheit eine einmalige und besondere Wirklichkeit darstellen. Nur wenn diese allgemeinen Begriffe einen Wirklichkeitsgehalt in sich schließen, sind sie zur Synthesis zu einem wirklichen Ganzen geeignet; oder anders ausgedrückt: nur eine analytisch verfahrende Naturwissenschaft, welche nicht zu unwirklichen Abstraktionen und Generalisationen aufsteigt, sondern die Wirklichkeit in Teilinhalte zu zerlegen und deren Gesetzmäßigkeiten zu erfassen sucht, kann eine Rekonstruktion des Ganzen aus Teilinhalten wieder unternehmen. Es ist bemerkenswert, daß RICKERT dort, wo er den synthetischen Charakter des historischen Denkens erwähnt, von einer vorgängigen  Zerlegung  oder  Auflösung  des Komplexes in seine Elemente spricht. Da er aber die zergliedernde Tätigkeit noch der Geschichte zuweist, wird bei ihm nicht zur Klarheit gebracht, wie sich der Begriff des Elementes, das sich hier als das Auflösungsprodukt erscheint, zum Begriff des naturwissenschaftlich Allgemeinen verhält. Wenn wir jedoch dieses zerlegende Verfahren für die Hauptleistung des naturwissenschaftlichen Denkens erachten, können wir auch umgekehrt die naturwissenschaftlichen Begriffe, die im wesentlichen nur der begriffliche Ausdruck für die durch die Analyse isolierten Tatbestände sind, als Konstruktionselemente für das geschichtliche Denken gelten lassen.

Damit ist aber der letzte Grund für die Annahme einer selbständigen historischen Begriffsbildung ausgeräumt. Denn unter der Voraussetzung einer solchen analytischen Naturwissenschaft ist, wie früher bereits ausführlich gezeigt, die Beschreibung einmaliger Wirklichkeiten im Prinzip mit rein naturwissenschaftlichen Begriffen möglich. Natürlich heißt das nicht, um es noch einmal zu wiederholen, daß sich die historische Darstellung oder Erklärung eines individuellen Sachverhaltes in der Subsumtion unter  einen  naturwissenschaftlichen Allgemeinbegriff oder  ein  Kausalgesetz erschöpft. Vielmehr erfordert die Mehrseitigkeit jedes Tatbestandes die isolierte oder isolierende Betrachtung der verschiedenen Seiten, und nur durch eine gegenseitige Zuordnung der Reihen kann aus den Teilen das Ganze gewonnen werden. Was RICKERT als den  Umweg  des historischen Denkens durch das Allgemeine bezeichnet, kommt diesem Verfahren im Schema wenigstens nahe. Aber in seiner Methodologie bleibt dasselbe eben nur ein  Umweg,  bildet es einen der Geschichte logisch nicht wesentlichen Bestandteil. Erkennt man es jedoch in seiner prinzipiellen Bedeutung, ja, muß dieses geradezu als einer der wesentlichen Züge der historischen Methode bezeichnet werden, dann fällt jede Nötigung fort, derselben die Bildung eigener Begriffe nach einem eigenen Prinzip zuzuweisen. Die Geschichte ist die Anwendung der von den analysierenden Wissenschaften erarbeiteten theoretischen Einsichten auf konkrete Fälle.



RICKERTs Werk kann als eine außerordentlich scharfsinnige Durchführung der von WINDELBAND zuerst entworfenen Wissenschaftslehre bezeichnet werden. Er hat es unternommen, die von diesem entwickelte Klassifikation der Erfahrungswissenschaften nach ihren letzten formalen Zielen wirklich zu begründen und im einzelnen zu zeigen, wie die Rücksicht auf das Allgemeine die naturwissenschaftliche, die Rücksicht auf das Besondere die historische Begriffsbildung fundiert. Ist es ihm gelungen, die Berechtigung dieser Teilung zu erweisen, hat er, indem er von der Frage nach dem Wesen der Begriffsbildung ausging, das geschichtliche Denken, das bei WINDELBAND ein offenes Problem blieb, in seiner logischen Eigenart zu erfassen und eben dadurch die Logik selbst zu bereichern vermocht?

Wir ziehen die Summe.

Isoliert man das Problem der historischen Methode für die Erforschung des körperlichen Geschehens, so stellt sie sich uns als eine bloße Anwendung der Naturwissenschaft dar. Begriffsbildung
Bezeichnet man letztere als reine Theorie, so rechnet die Geschichte als Geologie, als historische Biologie, als Kosmogonie nicht zu den rein theoretischen Wissenschaften. Dadurch verliert sie aber ebensowenig ihren wissenschaftlichen Charakter als irgendeine andere angewandte Wissenschaft. Erkennt man das Wesen des naturwissenschaftlichen Denkens in der Analyse, so darf das Eigentümliche des historischen Denkens in logischer Hinsicht als sein synthetischer Charakter angesehen werden.

Dagegen treten erhebliche Modifikationen in der Beziehung der Geschichte auf geistiges Leben ein. Dieselben beruhen in erster Linie auf der Eigenart des psychischen Materials, das uns nun einmal auf einer vom physischen Sein grundsätzlich verschiedenen Weise gegeben ist. Denn den Zusammenhang, in welchem die Tatsachen der Natur auftreten, können wir nur als einen äußerlichen von Raum und Zeit bestimmen, während die Beziehungen zwischen den geistigen Tatsachen für uns erlebte und erlebbar sind. Die Frage der naturwissenschaftlichen Erkenntnis seelischen Lebens ist daher nocht nicht im Sinne der naturwissenschaftlichen Psychologie beantwortet; auch RICKERT hat weder die Möglichkeit noch ihre Notwendigkeit beweisen können; so besteht hier das Problem der Verwendung spezifischer Begriffe zur Einsicht und zum Verständnis des teleologischen Zusammenhangs geistigen Geschehens fort. Insofern tritt die Geistesgeschichte aus dem Rahmen der angewandten Wissenschaften heraus; denn sie ist nicht oder jedenfalls nicht allein die Anwendung eines nach naturwissenschaftlicher Methode geschaffenen Begriffssystems. Daher kann sie auch mit gutem Recht den Namen der Geisteswissenschaft beanspruchen, in welchem zugleich ihre Besonderheit zum Ausdruck gebracht wird.

Denn der Gesichtspunkt der Charakterisierung der Wissenschaften nach deren letzten formalen Zielen hat sich uns als zu ihrem logischen Verständnis nicht ausreichend erwiesen. Das Ziel allein bestimmt nicht die Methode, denn die zu seiner Erreichung notwendigen Mittel hängen nicht allein von ihm ab. Vielmehr ist für sie in erster Linie die Beschaffenheit des Materials, zu dessen Bewältigung sie dienen sollen, entscheidend. Als solche inhaltliche Einsicht, die zwar bei RICKERT stillschweigend eingeführt, aber eben darum in ihrem methodologischen Wert nicht genügend gewürdigt wurde, trat uns die Annahme einer durchgängigen Kausalbestimmtheit des körperlichen Geschehens unter Ausscheidung der Hypothese von der Wirksamkeit objektiver Zwecke entgegen; eine weitere liegt in der Erkenntnis, daß der Zusammenhang psychischer Tatsachen uns in einer anderen Weise als der physischen gegeben ist. So kann die deduktiv-teleologische Konstruktion RICKERTs nicht als ein methodischer Fortschritt in der Behandlung methodologischer Fragen gegenüber den Arbeiten von DILTHEY, SIGWART und WUNDT angesehen werden.

Der letzte Grund für diese wie uns scheinen will unhaltbare Isolierung des Denkens von der Wirklichkeit liegt in einer grundsätzlichen Auffassung vom Verhältnis des Denkens zur Wirklichkeit. RICKERT betont durchgängig die  totale Irrationalität  des Wirklichen, und indem er von der Fiktion ausgeht, daß die volle Realität in ihrer Totalität gegeben ist, reduziert sich ihm das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis auf die Herstellung einer Übersicht der gegebenen Mannigfaltigkeit. Wir erblicken hierin das positivistische Vorurteil, das RICKERT, auch nachdem er unter WINDELBANDs Einfluß zum Kritizismus fortgeschritten ist, nicht hat überwinden können. Uns ist das Wirkliche nicht ein total Irrationales; vielmehr möchten die Tatsachen des Experiments, der Vorausberechnung, der Technik doch beweisen, daß im Bestand wie im Verlauf des empirisch Realen, das sich, obwohl ganz unabhängig von unseren geistigen Operationen, dennoch mit ihnen in Kongruenz verhält, etwas enthalten ist, das sehr wohl als ein rationaler Charakter ausgesprochen zu werden verdient. Darum legen wir auch das Schwergewicht der wissenschaftlichen Forschung in die Analyse. Und zwar ist darunter nicht nur ein begriffliches Arrangement, sondern eine tatsächliche, in einer realen Handlung vollziehbare Zergliederung des Wirklichen, eine  Zerschneidung der Natur,  wie sie schon BACON forderte, zu verstehen. Eine begriffliche Zerlegung tritt erst da ein, wo unsere Hilfsmittel ein weiteres Eindringen nicht mehr gestatten, wo die reelle Scheidung zurzeit oder für immer unmöglich ist. So ist auch die  begriffliche Darstellung  von der Erschließung des Materials nicht prinzipiell zu trennen. RICKERTs Auffassung nähert sich dagegen dem aristotelischen Standpunkt, auf welchem das Denken nur die Aufgabe hat, eine Übersicht über die Totalität des unanalysierten Seienden herzustellen. Daher erblicken wir den Grundfehler seines Werkes, der die ganze Methodologie aufhebt, in der Vernachlässigung der Bedeutung, welche die Analyse beanspruchen darf. Verfährt doch auch die Geschichte, obwohl sie eine Synthesis analytisch gefundener Elemente ist, nicht zur ungegliederten Totalität zurück; indem sie sich nur in Einzelwissenschaften des Ganzen bemächtigen kann, vollzieht sie auf höherer Stufe gleichsam noch einmal eine spezifisch analytische Leistung. Gegenüber der Tragweite des analytischen Verfahrens tritt, was RICKERT als Rücksicht auf das  Allgemeine  oder gar als  Wertbeziehung  hervorhebt, durchaus zurück.

Die großen Verdienste, die RICKERTs Werk sich erworben hat, können nicht geschmälert werden. Sie liegen vor allem in dem Umstand, daß in ihm mit außerordentlich logischer Energie Fragen diskutiert und zur Klarheit gebracht werden, die zumal in gewissen historischen Kreisen bisher nur sehr dilettantisch behandelt worden waren. Niemand wird seine Lektüre beenden können, ohne sich selbst in verschiedener Hinsicht erheblich gefördert zu finden. Der Begriff einer universalen naturwissenschaftlichen Methode, wie er in einigen Köpfen umging, ist durch dasselbe wohl definitiv zerstört worden. Und zudem weist diese Methodologie eine Geschlossenheit auf, die ihr fast eine Art von architektonischer Schönheit verleiht. Aber dieser Charakter eignet ihr nur vermöge der Einseitigkeit der Gesichtspunkte. RICKERT verwahrt sich gegen den Vorwurf, daß seine Wissenschaftslehre der wissenschaftlichen Arbeit in ihrer Lebendigkeit nicht entspricht. Entscheidend ist aber, daß sie wesentliche Tendenzen, die in dieser wirksam sind, nicht aufgenommen hat und sich somit von ihr in einer Weise entfernt, daß sie nicht mehr als ihr hinreichender, wenn auch auf rein logische Formeln gebrachter Ausdruck angesehen werden kann. Und solange nicht gezeigt ist, daß vor allem die Vernachlässigung der Analyse den Wert ihrer Ergebnisse nicht zu beeinträchtigen imstande ist, können diese nicht für die Logik fruchtbar gemacht werden. Sie erscheinen als zum Teil willkürliche Konstruktionen, und insbesondere hat die von RICKERT entwickelte Theorie der historischen Begriffsbildung nicht den Nachweis erbracht, daß die Lehre von der historischen Methode als der Methode der Geisteswissenschaften, wie sie in den Werken von DILTHEY, SIGWART und WUNDT herausgearbeitet worden ist, für das Verständnis des geschichtlichen Denkens entbehrlich oder ansich zu weiterer Entwicklung unfähig ist.
LITERATUR - Max Frischeisen-Köhler, Über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge, Bd. 12, Berlin 1907
    Anmerkungen
    9) So z. B. ÜBERWEG, Logik, § 59.
    10) SIGWART, Logik I. Vgl. als Ergänzung hierzu die Bemerkungen von RIEHL, Der philosophische Kritizismus II, Seite 106
    11) Was RICKERT allerdings Seite 44, Anm. für den Zusammenhang seiner Erörterungen für belanglos hält. (VOLKELT, Erfahrung und Denken, 1885, Seite 317f)
    12) Es darf wohl angemerkt werden, daß diese Begriffe von Kausalität und Naturgesetz mancherlei Bedenken ausgesetzt sind. Wenn RICKERT z. B. [422] sagt, daß für die Welt der naturwissenschaftlichen Begriffe der Satz: kleine Ursachen - große Wirkungen falsch ist, während der Historiker sich niemals zu scheuen braucht, historisch wesentliche Wirkungen aus historisch unwesentlichen Ursachen entstehen zu lassen, so bleibt zumindest ungeklärt, wie die Erscheinungen der Auslösung, der Katalyse, der Reizungen aufzufassen sind. Das FECHNERsche Gesetz z. B. ist logisch gewiß ein Naturgesetz; es besagt aber - seine inhaltliche Richtigkeit angenommen - gerade die Inkongruenz von Ursache und Wirkung. Ist es aber möglich, diese Fälle im Rahmen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (etwa wie RIEHL, ROBERT MAYERs Entdeckung und Beweis des Energieprinzips, "Philosophische Abhandlungen, Sigwart gewidmet, Seite 182f) begreiflich zu machen, dann fällt das Argument aus der Ungleichheit von Ursache und Wirkung zugunsten einer besonderen historischen Kausalität weg. Gleich befremdlich erscheint auch die Behauptung [429], daß in der Naturwissenschaft Ursache und Wirkung  in ihrer Totalität  einem allgemeinen Naturgesetz untergeordnet werden, hier tritt wieder die Verkennung der analytischen Methode zutage. Es ist bemerkenswert, daß auch sonst sehr weit zustimmende Anhänger RICKERTs, wie z. B. TROELTSCH (Theologische Rundschau VI, 1903, Seite 109) in seiner Kausalitätstheorie Schwierigkeiten gefunden haben.
    13) So die kurze Zusammenfassung in "Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts", herausgegeben von WINDELBAND, Bd. 1, Seite 72f.
    14) Vgl. DILTHEY, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie , Sitzungsbericht der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1894, Seite 1363f. Vgl. dazu DILTHEY, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Sitzungsbericht a. a. O., 1905, Seite 333f.

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