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ERNST PLATNER
Von der Kritik des
höheren Erkenntnisvermögens


"Durch welche unbewundene Erklärung möchte man dem Einwand entgehen, daß alles, was hier objektiv genannt wird, doch nur subjektiv ist? Denn: sind Erkenntnisse denn objektiv, wenn ich sie auf Objekte, die aber etwas von meinem Vorstellungsvermögen Erzeugtes, und sonach größtenteils etwas Subjektives sind, beziehe? Sollte man nicht die allgemeine Subjektivität des menschlichen Erkenntnisses eingestehen, wenn von der Objektivität nichts gerettet werden kann, als der Name?"

"Die Kategorien sind angeborene Fähigkeiten zur Vorstellung der höchsten Gattungen des Vorstellbaren und insofern Begriffe: wenn in der Anschauung etwas vorkommt, was den Merkmalen eines dieser Begriffe analogisch ist: so wird die Anschauung unter diesen Begriff subsumiert; d. h. ihr diese Form des Vorstellbaren erteilt."

"Die Denkart des Skeptizismus beruth vornehmlich in diesem Gedanken, welcher zugleich der Mittelpunkt ist der ganzen skeptischen Kritik: Alle menschlichen Vorstellungen haben den Anschein nichts anderes zu sein, als Verhältnisse: folglich kann man sich von ihrer objektiven Wahrheit nicht überzeugen."

"Daß Kant über den Skeptizismus etwas gewonnen habe, will mir durchaus nicht einleuchten; indem seine Philosophie doch nicht über die Subjektivität des Erkenntnisses hinauskommt, welche die Skeptiker so wenig als die Wirklichkeit der Vorstellungen leugnen."

"Ja, spricht man, es ist töricht von den Sinnen über das Innere der Außenwelt ein Urteil zu erfragen. Das kann wohl sein: aber so täuschen sie doch; denn sie stellen mir etwas als außer mir vor, was größtenteils in mir ist. Am Ende kommt des darauf hinaus, daß die Sinnlichkeit nicht urteilt, sondern der Verstand. Was ist denn aber die Sinnlichkeit anders, als der Verstand wirksam durch die Sinne?"

§ 693. Die Kritik des höheren Erkenntnisvermögens wird hier betrachtet nur sofern sie das Resultat der höheren Logik ist, also nur im Hinblick auf die Frage von der Möglichkeit eines Systems der Metaphysik.

[War es auch Herr Kanten empfindlich, daß ihm der Ruhm, an eine Kritik der Vernunft zu allererst gedacht zu haben, abgesprochen wurde: so wird er doch, hoffe ich, nicht in Abrede sein, daß die Kritik des Erkenntnisvermögens, besonders in den neueren Zeiten, ein Hauptgegenstand der Philosophie gewesen ist. Die Schriften eines Locke, Leibniz, Wolff, Hume, Reid, Tetens, sind voll von Untersuchungen, welche darauf abzielen.]

§ 694. Es lassen sich zweierlei Arten einer solchen Kritik denken: eine dogmatische und eine skeptische. Welches der Geist ist von der einen und von der anderen: das zeigen die nachfolgenden Erörterungen.

§ 695.I. Die dogmatische Kritik will die Schranken des ganzen Erkenntnisvermögens ausmessen und daraus die Schranken der Metaphysik mit demonstrativer Genauigkeit bestimmen. Sie setzt zum Teil schon die Gewißheit des Erkenntnisvermögens voraus, welches sie prüft; angesehen sie voraussetzt die Gewißheit des Erkenntnisvermögens von sich selbst, und der Schlußarten des Erkenntnisvermögens, welche dabei eintreten.

§ 696. Die ausführliche dogmatische Kritik ist die kantische. Die Elemente derselben sind folgende teils psychologische, teils dialektische Ideen: Weite Trennung der Sinnlichkeit vom Verstand und der Anschauung vom Begriff; Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile a priori, und Unzulänglichkeit der ersteren für die Metaphysik; Beziehung der Kategorien auf Gegenstände; Beziehung der Gegenstände auf die Kategorien. Einschränkung des Erkenntnisvermögens auf Erfahrung und der Vernunft auf Ideen ohne Gegenstände. Antinomie der Vernunft. Glaube aus mehr subjektif, als objektiv hinreichenden Gründen.

§ 697.1. Weite Trennung der Sinnlichkeit vom Verstand, und der Anschauung vom Begriff. Womit kann man beweisen, aß die Sinnlichkeit vom Verstand so abgesondert ist im Vorstellungsvermögen, wie in der Analytik? Ist es nicht ein dasselbe Vorstellungsvermögen, welches jetzt Eindrücke empfängt und sie dann zu Vorstellungen formt? Mit welchem Grund behauptet man, daß das Formen der Sinnlichkeit (in Raum und Zeit) und das Formen des Verstandes (in den Kategorien), zweierlei ganz verschiedene Handlungen und der Raum neben der Zeit , von den Kategorien ganz getrennte Anlagen des Vorstlleungsvermögens sind? Sind nicht die leeren, entsinnlichten, formalen Kategorien vielleicht bloß logische Absonderungen? Womit erweist man, daß sie so formal im Erkenntnisvermögen, als Grundanlagen, enthalten sind? Durch welche Gründe wird ausgeschlossen die Erklärung, nach welcher die Grundanlagen des Vorstellungsvermögens in der Fähigkeit bestünden zur Vorstellung der höchsten Gattungen des Vorstellbaren, einer materiellen Welt? Wäre nicht sonach das Schema die Anschauungsform, ein Teil des Begriffs und von ihm unzertrennlich? Wenn die Sinnlichkeit ein bloß leidendes Vermögen ist: wie kann sie anschauen? Warum kann der Verstand, nicht beides - anschauen und denken? Worin liegt der Widerspruch, der dieses hindert?
[Abels "Plan einer systematischen Metaphysik", Seite 73f. Christian Gottlieb Selles "Grundsätze der reinen Philosophie", Seite 26. Brastbergers "Untersuchungen über Kants Kritik", Seite 28, 36. Auch Herr Maimon, sonst ein Freund des kantischen Systems, findet diese Trennung unnatürlich; "Transzendentalphilosophie, Seite 63, 183. Da diese Voraussetzung eigentlich der Grund der ganzen Kritik, und in einer kritischen Untersuchung des Vorstellungsvermögens von der größten Wichtigkeit ist: so hätte ich gewünscht, sie entweder von Herr Kanten, oder von Herr Reinholden bewiesen zu sehen. Vorderhand scheint es mir, daß man die Kategorien und die Formen der Sinnlichkeit - des Verstandes - ist doch noch immer weiter nichts, als eine Metapher. Ich komme also am Ende auf Anlagen - Fähigkeiten. ]

§ 698.2. Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile a priori, und Unzulänglichkeit der ersteren zur Metaphysik. Ist nicht erweislich die reale Trennung der Formen der Sinnlichkeit im Vorstellungsvermögen von den Formen des Verstandes, noch der Anschauung vom Begriff; können die Kategorien ursprünglich verbunden sein mit den Bestimmungen von Raum und Zeit, und insofern ursprünglich versinnlicht: was nötigt alsdenn zu den Künsten der Synthesis und des Schematismus? Wie soll man sich einen Begriff denken ohne alles Schema? d. h. die Fähigkeit zu einer Vorstellung, ohne die Fähigkeit das Vorgestellte anzuschauen? Ist aber mit jedem Begriff a priori, Anschauung a priori, (d. h. Fähigkeit zur Form der Anschauung) verbunden: wird nicht alsdann das, was in der Anschauung enthalten ist, sofern auch enthalten sein im Begriff? Wären nicht diesemnach alle Urteile analytische (1), ohne Ausnahme der mathematischen? Beruth nicht überdem der Unterschied unter analytischen und synthetischen Urteilen meist nur darin, daß in diesen das Prädikat das Subjekt, in jenen das Subjekt das Prädikat enthält? (2).

§ 699.3. Beziehung der Kategorien auf Gegenstände. Ist der Schluß: weil Gegenstände der Erfahrung nicht anders möglich sind, als durch die versinnlichten Kategorien; also haben die leeren Kategorien objektive Realität: auch bündig, und zu der sogenannten Deduktion (3) hinreichend? Durch welche unbewundene Erklärung möchte man dem Einwand entgehen, daß alles, was hier objektiv genannt wird, doch nur subjektiv ist? Denn: sind Erkenntnisse denn objektiv, wenn ich sie auf Objekte, die aber etwas von meinem Vorstellungsvermögen Erzeugtes, und sonach größtenteils etwas Subjektives sind, beziehe? Sollte man nicht die allgemeine Subjektivität des menschlichen Erkenntnisses eingestehen, wenn von der Objektivität nichts gerettet werden kann, als der Name? Ist die kantische Notwendigkeit auch etwas anderes, als die subjektive Notwendigkeit, die Gegenstände so zu denken? (4) Ist sonach der Satz, daß sich die Natur nach unserem Verstand richtet, und nicht unser Verstand nach der Natur, nicht übertrieben? Ist nicht dieser Gedanke, in einem gemäßigteren Sinn und Ausdruck, wahr auch dann, wenn die Form unseres Vorstellungsvermögens mit der Form der Natur einige Analogie hat, und durch dieselbe bestimmt wird? Sollten diese Zweifel einige Erheblichkeit haben: wäre dann nicht die ganze Beziehung der Kategorien auf Gegenstände überflüssig, und die Beziehung der Gegenstände auf die Kategorien hinreichend?

§ 700.4. Beziehung der Gegenstände auf die Kategorien. Warum wird hier bloß Rücksicht genommen auf Zeit, und nicht auch auf Raum? Wenn man zufolge der Trennung der Formen der Sinnlichkeit, von den Formen des Verstandes voraussetzt, daß die Zeit, als Form der Sinnlichkeit, abgetrennt ist von den Kategorien: wie können die Kategorien, bevor sie versinnlicht sind, unter der Zeit stehen? und wie können ihnen die Zeitbestimmungen zukommen? Wenn sie denselben aber ansich zukommen, wie werden sie erst mit ihnen vereinigt? Oder welche Bedeutung hat es sonst, wenn man sagt, die Kategorien stehen unter den Bedingungen der Zeit? Scheint dieses nicht in Widerspruch zu stehen auch mit der Trennung der Sinnlichkeit vom Verstand? Sollte man nicht mehr berechtigt sein, die Beziehung der Gegenstände auf die Kategorien folgendermaßen zu erklären? Die Kategorien sind angeborene Fähigkeiten zur Vorstellung der höchsten Gattungen des Vorstellbaren und insofern Begriffe: wenn in der Anschauung etwas vorkommt, was den Merkmalen eines dieser Begriffe analogisch ist: so wird die Anschauung unter diesen Begriff subsumiert; d. h. ihr diese Form des Vorstellbaren erteilt. Woher weiß man so gewiß, daß, da Dinge an sich sind, sie in die Form unserer Vorstellungen gar keinen Einfluß haben? daß, sobald sie in die Urformen der Sinnlichkeit aufgenommen sind, alles in ein rohes, formloses Mannigfaltiges zergeht? daß also für die Form der Vorstellungen gar kein realer Grund außer dem Vorstellungsvermögen stattfindet? Ist der Gedanke einer möglichen Analogie von Dingen ansich mit unseren Vorstellungen, schon einerlei mit der unphilosophischen Behauptung, daß die Vorstellungen Abdrücke oder Bilder von den Dingen ansich sind? (5) Wenn nichts in den Dingen ansich den Formen unserer Vorstellungen entspricht: wie erklärt es doch die kritische Psychologie, daß ich mir jetzt Substanz, ein andermal Akzidenz vorstelle? ohne, daß etwas die Formen der Sinnlichkeit und dann durch diese die Formen des Verstandes, zu der einen, oder der andern Vorstellung bestimmt. (6)

§ 701.5. Einschränkung des Erkenntnisvermögens (und mithin aller Gewißheit) auf sinnliche Erfahrung und der Vernunft auf Ideen ohne Gegenstände. Verfährt man bei der Bestimmung des Wortes Erkennen nicht allzu willkürlich? Worin beruht denn der als so wesentlich betrachtete Unterschied unter sinnlicher Erfahrung und Vernunft, in Anbetracht der Gewißheit? Sind im transzendentalen Idealismus die Gegenstände des Vorstellungsvermögens nicht seine eigenen Erzeugnisse? Und wenn in diesem System die Existenz von Dingen-ansich vorausgesetzt wird: wie geschieht das anders, als durch Vernunft? Oder soll von Dingen ansich auch die Wirklichkeit nicht erkennbar sein: was sind denn die erkennbaren Erscheinungen anderes, als subjektive Veränderungen des Vorstellungsvermögens? und welches sind die Gegenstände, die die sinnliche Erfahrungserkenntnis so sehr auszeichnen? Haben die Vernunftideen darum keine Gegenstände, weil die Vernunft die sinnliche Vorstellungsart der Phantasie nicht gelten läßt und von derselben Gegenständen die sinnlichen Prädikate verneint? Wenn es der transzendentale Idealismus dahin gestellt sein läßt, ob allen denkenden Wesen die sinnliche Form des Vorstellungsvermögens zukommt: schränkt er nicht damit selbst die Behauptung ein, daß alle mögliche Erfahrung sinnlich sein muß? Wenn auch der in der Wirklichkeit dem Menschen keine andere Erfahrung gegeben ist als die sinnliche: warum kann sich die Vernunft nicht, indem sie von ihren Gegenständen die Prädikate der sinnlichen Erfahrung verneint, in eine nicht sinnliche Erfahrung versetzen? Versetzt sich nicht in eine solche der transzendentale Idealismus selbst, indem er die Alleinmöglichkeit der sinnlichen für unausgemacht erklärt? Wenn die Vernunft ihren Objekten die sinnlichen Prädikate absprechen muß, wegen der Idee des Möglichen und Notwendigen: muß sie nicht dann von der Nicht- oder Übersinnlichkeit ihrer Objekte überzeugt sein? Wie vermag der Verstand sich der Herrschaft der Vernunft zu entziehen? Warum soll er eher das Widersprechende denken, als sich die Verneinung sinnlicher Prädikate erlauben? Wenn ein nicht sinnlicher Gegenstand mit einem sinnlichen, mittels der Gesetzgeber Vernunft, verbunden ist: wird dann nicht sein Dasein durch die Vernunft mittelbar erkannt? Worin anders als in der Beziehung der Vorstellung auf ein Objekt besteht auch das Objektive der sinnlichen Erfahrungserkenntnis? Werden aber nicht die Vernunftideen ebenfalls auf ein Objekt bezogen? Oder warum soll das Transzendentale nicht ein Objekt sein können? Wird nicht bei der Lehre, welche diese Frage verneint, immer willkürlich vorausgesetzt, daß jedes Objekt sinnlich sein muß?

§ 702.6. Herabsetzung des Grundsatzes vom Widerspruch. Beruth nicht diese Herabsetzung ganz auf der gewaltsamen Trennung der Sinnlichkeit vom Verstand, und auf der davon abhängenden Trennung der Anschauung vom Begriff? Warum stellt man diesen Grundsatz nur vor, als die Regel des logisch Denkbaren? und nicht zugleich als die Quelle der Sätze vom Grund, und vom Notwendigen? Ist es, abhängig vom Satz des Widerspruchs, unserer Vernunft unmöglich, das (obwohl nur logisch) Notwendige zu denken: wie kann ein Gegenstand nicht gedacht werden, dessen Nichtsein nach dem Prinzip der Kausalität widersprechend und dessen Dasein mithin notwendig ist? Ist nicht die Unmöglichkeit etwas als nicht wirklich zu denken, eine Erkenntnis von der Wirklichkeit des gedachten Gegenstandes. Ist die Notwendigkeit eine Sinnen-Welt anzuerkennen, im Grunde etwas anderes, als die Unmöglicheit die Vorstellung davon nicht zu haben?
[Ich will lieber glauben, daß ich den von Herrn Reinhold anstatt des Satzes vom Widerspruch, als höchstem Grundsatz der Philosophie, aufgestellten Satz des Bewußtseins, in seiner Bedeutung nicht verstehe, und in seinem Umfang nicht übersehe; als daß ich mit dem Verfasser des Aenesidemus, Seite 60f, denkens ollte, dieser scharfsinnige Philosoph habe nicht überlegt, wie der Satz des Bewußtseins den Satz des Widerspruchs offenbar voraussetzt. Denn freilich: hat dieser nicht erst seine Richtigkeit: so kann das Objekt so gut auf die Vorstellung und auch auf gar nichts, als die Vortsellung auf das Objekt bezogen werden. Jedoch Herr Reinhold erinnert selbst ("Fundament des philosophischen Wissens", Seite 85), daß der S. d. B. dem S. d. W. nicht widersprechen darf: eine Einschränkung, die auch Kant mehrmals in Anbetracht seiner synthetischen Urteile macht, die mir aber nie hat einleuchten wollen. Denn einem Grundsatz nicht widersprechen dürfen, und ihm untergeordnet sein: wie ist das unterschieden? Und hätte auf allen Fall Aenesidemus nicht zumindest zu Recht zu sagen (Seite 127): So ist der S. d. B. auch nur ein Satz, dem die anderen Sätze nicht widersprechen dürfen, indem sie ihm darum nicht untergeordnet sein; siehe Schwab, "Über die Reinholdischen Beiträge; in Eberhards Magazin IV. 3. Crusius, der in seinem System so manchen Begriff zu beweisen hatte, den man beim hellen Licht des Satzes vom Widerspruch nicht beleuchten sollte, verwirft ihn; indem er ihn unter dem Titel principium inconiungibilium et inseparabilium wieder vorbringt, den höchsten Grundsatz aber in einer wahren Zirkelerklärung so ausdrückt: Was sich nicht anders als wahr denken läßt, das ist wahr. ("Metaphysik", § 258f) Nun fragt sichs aber, was ist denn das Merkmal dessen,was sich nicht anders, als wahr, gedenken läßt? - Basedow ("Philatelie", Bd. 2, § 143) ändert nichts an der Sache, indem er statt des Satzes vom Widerspruch, seine Regel widersinniger Ausdrücke einführen will. - Lambert ("Architektonik", erstes Hauptstück, § 7) merkt nur an, daß der Satz der Wahrheit nicht auf einfache Begriffe paßt.]

§ 703. 7. Antinomie der Vernunft. Ist das, was so genannt wird, nicht vielmehr Streit der Phantasie mit der Vernunft, als der Vernunft mit sich selbst?
[Von der Antinomie wird in den angehängten skeptischen Fragen die Rede sein, wo ich sie von jeher betrachtet hatte.]

§ 704.8. Glaube aus mehr subjektiv als objektiv zureichenden Gründen. Wie ist diese Art des Fürwahrhaltens psychologisch zu begreifen? Wo ist, ausgenommen die davon ganz unterschiedene Überzeugung des Gefühls, ein Glaube zu finden, der mehr subjektiv, als objektiv wäre? Heißt das glauben, wo man nicht überzeugt ist? oder kann man da überzeugt sein, wo man sich von einem Satz eingesteht, daß er nicht gewiß ist, wiewohl man ihn um eines Zweckes willen so behandelt, als ob er gewiß wäre? Fehlt es nicht diesem Glauben fürs Erste an der psychologischen Möglichkeit? Führt diese Lehre nicht leich zu dem Wahn, daß die Überzeugung willkürlich ist? Ist es nicht z. B. weit natürlicher zu sagen: das Erkenntnisvermögen wird durch die Gesetze der Vernunft genötigt, die Wirklichkeit Gottes für wahr zu erkennen: als: das spekulatie Interesse der Vernunft erfordert es einen Gott zu glauben, weil die Vernunft eine teleologische Einheit denken will? Und wenn am Ende eingestanden die Unmöglichkeit eingestanden wird, sich der Vernunftideen zu entschlagen, sie nicht anzunehmen: heißt das nicht mit anderen Worten eingestehen, daß sie für uns Realität haben? daß wir von ihrer Wahrheit überzeugt sein müssen? Müssen wir aber von ihrer Wahrheit überzeugt sein: warum sind sie, bei ihrer nicht geleugneten Subjektivität, weniger wert, als die ebenso subjektiven Erkenntnisse der Erfahrung?
[Von seinem doktrinalen Glauben sagt Kant, daß er wankend ist, weil man durch spekulative Schwierigkeiten so leicht aus demselben herausgesetzt wird. Wie aber der praktische Glaube fest sein kann, das ist mir, so wie dieser ganze Glaube überhaupt, psychologisch unbegreiflich. Sei auch der dabei statt des Grundes dienende Zweck festgestellt; sei es auch gewiß (wie auch immer es gewiß ist), daß ohne den praktischen Glauben alle meine sittlichen Grundsätze umgestürzt würden: sind denn, wenn auch Glaube, d. h. wahre Überzeugung bei nicht zureichenden Gründen möglich ist, im Menschen Anwendungen von einem moralischen Gesichtspunkt seines Lebens weniger zu befürchten, als spekulative Schwierigkeiten? Oder sind sie etwa weniger vermögend? Vorderhand bin ich der Meinung, daß, wenn von einer Art des Glaubens die Rede ist, es fürs Erste darauf ankommt, ob sie psychologisch möglich ist. Nun kann der praktische, welchen Kant an die Stelle des theoretischen setzen will, in einigen Menschen, selbst durch den Einfluß des Vorurteils für ihn und durch eine lebhafte oft wiederholte Anstrengung ihn hervorzubringen, zustande kommen: das will ich zugeben; und so erkläre ich mir auch den Eifer, mit welchem einige wackere Männer ihn als wirklich behaupten. Daß er aber, so wie die vollständige (wenn auch subjektive) Überzeugung, in der Natur des Menschen überhaupt gegründet ist, in allen Gemütern, aucht unter den erforderlichen Bedingungen, mit Dauer bestehen kann, das wird mir nie einleuchten.]

§ 705. II. Die skeptische Kritik. Wenn Köpfe, welche mit einem hohen Grad der psychologischen Einsicht und des dialektischen Scharfsinns, eine besondere Laune, d. h. die Gabe und Geneigtheit, die Dinge von einer eigenen Seite anzusehen, verbinden; das Innere des menschlichen Erkenntnisvermögens und alle die Verhältnisse betrachten, von denen Vorstellung, Urteil, Überzeugung abhängen; und dabei hinblicken auf die gegeneinander laufenden Denkarten und Meinungen der Menschen: so entsteht in ihnen eine Art von schwindelnder Unstetigkeit, welche alle Überzeugung unmöglich macht: - bis endlich, mit Hinzukunft einer Art von Gemütsbewegung, der Entschluß zustande gebracht und durchgesetzt wird: nichts weder zu bejahen, noch zu verneinen; alle Ideen der Menschen, ohne Parteinehmung (epoche), von sich zu weisen, und, bei den scheinbarsten Anlässen zum Glauben, in einer unverrückten Selständigkeit (ataraxia) zu beharren - mithin dem Rätsel der Welt, ruhig zuzuschauen und allen metaphysischen Nachforschungen darüber zu entsagen. Diese Denkart ist der Skeptizismus.
[Der wahre, vollendete Skeptizismus, so wie ich ihn hier geschildert habe, brach zuallererst im Geist des Pyrrho aus, eines in mehreren Betrachtungen großen Mannes, welcher ungefähr um die 110. Olympiade berühmt war. Seine Schule erlosch jedoch schon mit dem Tod des Timon, eines seiner vorzüglichsten Zuhörer, und wurde erst um die Zeit des dritten Triumvirats durch den Aenesidemus wiederum in Aufnahme gebracht; aus dessen hypotyposei pyrrhoneioi ein ziemlich langer Auszug in Photii Biblioth. Cod. 212 zu lesen ist. daß alle die Lehrer, welche Diogenes (IX. 116) von Aenesidemus bis zum Sextus Empiricus aufführt, wahre Skeptiker gewesen sein sollten, läßt sich schwerlich glauben. Denn der Skeptizismus ist eine Denkart, welche sich nicht so, wie Systeme, durch förmliche Sekten fortpflanzen läßt. Vermutlich beschäftigten sich diese Männer in ihren Schulen nur mit der Erweiterung und Erklärung der Lehre des Pyrrhon; welche sehr früh in eine bestimmte Form und, ihrem wahren Charakter zuwider, in eine Art von System gebracht worden zu sein scheint. Die Hauptsache darin machen die sogenannten tropoi tus epoches aus, deren Sextus 17 nacheinander abhandelt (Hypot. I, 14-16). Die ersten zehn waren von Pyrrho selbst, die fünf folgenden von Agrippa, einem späteren Nachfolger des Aenesidemus, (Diogenes IX, 88). Die beiden letzten sind von einem ungewissen Urheber. Es läuft aber in allen diesen tropoi auf den einzigen Hauptgedanken hinaus: Alle unsere Vorstellungen ohne Ausnahme sind bloß etwas Subjektives: folglich findet in einem Vorstellungsvermögen keine Begreifsamkeit statt und also auch kein Maßstab der Wahrheit (Sext. Emp. P. H. II. 4-7). Man hat von jeher viele Lehrarten zum Skeptizismus gerechnet, welche den echten Charakter desselben, ich meine die epoche und atraxia, gar nicht haben. Sextus will daher sogar die Akademiker nicht für Skeptiker erkennen; kaum mit Ausnahme des Arkesilas. Und auch diesen schließt Aenesidemus aus; weil er doch wenigstens das behauptet habe, daß man nichts behaupten könne: dieses widerspricht jedoch dem Zeugnis des Cicero. Man hat den Arkesilas ohne hinlänglichen Beweis für einen Schüler des Pyrrho gehalten, obwohl dem Zeitverhältnis nach, die Möglichkeit nicht ganz geleugnet werden kann. Karneades, welcher schon dem Charakter der alten Sophisten näher zu kommen scheint, läßt von der Strenge seines Vorgängers, des Arkesilas, sehr viel nach, indem er [...] behauptet, daß nichts gewiß ist. Herr Tiedemann ("Geist der spekulativen Philosophie", Bd. 2, Seite 575) sieht hier einen Widerspruch, welchen ich nicht finden kann. Auch die Sophisten sind keine wahren Skeptiker; obwohl sie, so, wie der eleatische Zeno und die Megariker, durch ihre Disputierkunst zum Skeptizismus Anlaß gegeben hatten. Die Sophisten muß man liener aus den alten Schriftstellern und vornehmlich den Gesprächen des Plato, als aus den kurzen Lebensbeschreibungen des Philostratus kennenlernen; obwohl allerdings zu vermuten ist, daß Plato in den Rollen, welche er sie spielen läßt, nicht allzeit die Wahrheit ganz genau beobachtet haben wird. Wenigstens sagte Gorgias, als er das platonische Gespräch seines Namens gelesen hatte: er habe etwas der Art niemals von Plato gehört, noch bei Plato selbst gesprochen. Kein Schriftsteller hat den Wert und Unwert der Sophisten richtiger bestimmt, als Herr Meiners in seiner "Geschichte der Wissenschaft", Bd. 2, VI, 2. und Herr Tiedemann, a. a. O., Bd. 1, Kap. 15. Ihre Zweifel gegen die Zuversichtlichkeit des menschlichen Erkenntnisses gehen schon sehr weit. Gorgias sagt in seinem Buch, daß nichts wahr ist; wäre auch etwas wahr, so könnte es der Mensch dennoch nicht begreifen; und könnte der Mensch auch etwas begreifen, so könnte er es nicht ausdrücken. Protagoras lehrte, nach dem Bericht des Diogenes (IX, § 50), daß der Mensch das Maß aller Dinge ist. Auch der Eingang seines Buches von den Göttern, ist im höchsten Grad skeptisch. Protagoras hebt den Unterschied zwischen sinnlicher Empfindung und Vernunfteinsicht auf; so wie Demokrit und mehrere Weltweise dieser Denkungsart. Dieser Irrtum, zu dessen Bestreitung der Theaetet des Plato bestimmt ist, muß notwendig dahin führen, daß das wahr ist, was jeder Mensch als wahr empfindet. Und so ist es auch zu verstehen, wenn Aristipp und Epikur die Untrüglichkeit der Sinne behaupten. Die Täuschungen der Sinne wollen sie damit nicht leugnen, sondern nur zeigen, daß, obwohl es keinen allgemeinen Maßstab der Erkenntnis gibt, dennoch jeder einzelne Mensch richtig urteilt, wenn er nach seinem besonderen Schein urteilt. Aristoteles zeigt sehr deutlich, wie selbst zu den sinnlichen Vorstellungen der bloße Reiz der Organe nicht hinreichend ist, sondern Vergleich und Unterscheidung der Gegenstände, folglich Vernunfteinsicht erfordert wird. Daß, außer den Sophisten andere Weltweise vor dem Pyrrho, neben den Sinnen auch die Gültigkeit der Vernunft bezweifelt haben sollen: das ist mir weder historisch, noch ansonsten wahrscheinlich. Die meisten aber wurden durch ihre physischen Hypothesen zu einer gewissen Kritik des Sinnenerkenntnisses veranlaßt; und diese führte, wie wir oben im Beispiel des Aristipp und Epikur gesehen haben, sehr natürlich auf den Satz hin: daß die Sinne, im Allgemeinen täuschen, im Besonderen aber, jedem einzelnen Menschen wahre, nämlich für ihn wahre Vorstellungen geben. So folgt freilich aus den Systemen, welche dem Xenophanes und Parmenides zugeschrieben werden, die Betrüglichkeit des Sinnenerkenntnisses. Eben diese Vorstellung habe ich mir allzeit auch von der Lehre des Heraklit gemacht, worin entweder gar nichts, oder ein genauer Zusammenhang zwischen Physik und Logik deutlich ist. Dei einzige selbständige Kraft (das Feuer) welche Heraklit annimmt, ist bei ihm einesteils die Regel der Natur, anderntheils die Quelle der Vernunft. Die Erscheinungen, welche von dieser Grundkraft ausströmen, sind in einem steten Fluß und zugleich in einem steten Streit und Widerspruch untereinander; denn er sagt ausdrücklich, daß in der Materie allzeit zweierlei widersprechende Zustände zugleich stattfinden. Also können auch unsere Sinne nichts Selbständiges, Einstimmendes, Wahres begreifen. Nach dem Aristoteles (Metaphysik IV, 3) scheint Heraklit beinahe den Satz des Widerspruchs bestritten zu haben. Aber Sextus merkt ausdrücklich an, daß Heraklit, indem er das Sinnenerkenntnis verwart, die Vernunft als wahr erkannte. Eben diese Physik, und folglich auch eben diese Logik schreibt Sextus dem Empedokles zu. - Unter den Neueren sind nur sehr wenige, welche den wahren Charakter des Skeptizismus ausdrücken: außer etwa Le Vayer, Charron, Huet. Alle alte und neuere Skeptiker übertrifft an Scharfsinn und Stärke David Hume (hierher gehören außer seinem "Treatise on human nature", die "Essay on human understanding" in den "Essay on several subjects"). Bayle war meines Bedenkens so wenig ein Skeptiker, als er ein Manichäer war; und wenn er die Rolle des Pyrrhonisten spielt, so tut er es, um eine gewisse deductionem ad absurdum gegen die Theologie seines Zeitalters auszuführen. Andere, z. B. Sanchez und Agrippa ("de Vanitate scientiarum") wollten nur die Eitelkeit und den Demonstriergeist der Gelehrten beschämen. - Vom historischen Skeptizismus insbesondere muß ich anmerken, daß man bei den Alten wenig Spuren davon findet. Was Sextus davon sagt, ist ohne Bedeutung. Man sieht deutlich, daß Zweifel gegen die Religion zuerst Anlaß gegeben haben, etwas mehr Durchgedachtes gegen die historische Gewißheit zu sagen. Der historische Skeptizismus könnte sehr lehrreich und nützlich sein, wenn man sich dieser Anwendung enthielte. [...] - An Widerlegungen des Skeptizismus hat es niemals gefehlt (siehe die Anmerkung in § 710).]

§ 706. Indem der Skeptizismus, aufgefordert von der Dogmatik, die seine Denkart rechtfertigt aus dem verdächtigen Anschein des menschlichen Erkenntnisvermögens: so entsteht die skeptische Kritik (7).

§ 707. Die skeptische Kritik hat gar nicht den Zwecke, die Richtigkeit des Erkenntnisvermögens zu beweisen sondern sie erörtert nur die Ursachen, warum der Skeptizismus in ihm nicht anerkennen will den Maßstab der Wahrheit.

§ 708. Die Denkart des Skeptizismus beruth vornehmlich in diesem Gedanken, welcher zugleich der Mittelpunkt ist der ganzen skeptischen Kritik: Alle menschlichen Vorstellungen haben den Anschein nichts anderes zu sein, als Verhältnisse: folglich kann man sich von ihrer objektiven Wahrheit nicht überzeugen.
[Der Skeptizismus leugnet also die Wirklichkeit der Vorstellungen nicht. Jedoch - das ist eine Erinnerung nur für Anfänger: aber auch für manche, die mehr als Anfänger in der philosophischen Gelehrsamkeit sind, möchte vielleicht diese Erinnerung nötig sein: daß die Skeptiker nicht allein das Dasein der Vorstellungen der Sinne und der Phantasie, sondern auch derer die von der Vernunft abhängen, und also überhaupt das Dasein der ganzen menschlichen Erkenntnis zugestehen. (Und wie wäre es auch anders möglich?) Nur wollen sie sich weder von jenen Vorstellungen, noch von diesen einen objektiven Gebrauch erlauben; obwohl im Übrigen sie den Eindrücken der Sinne und der Vernunft gemäß denken und leben. Der Verfasser des Aenesidemus hat das, was die Skeptiker nicht leugnen, sehr richtig angegeben. Herr Jakob nennt das Prinzipien des Skeptizismus, von denen er jedoch am Ende abgehen mußte. Beides ist nicht im Geist dieser Denkart: Prinzipien haben und von etwas abgehen.]

§ 709. Diesen verdächtigen Anschein des Erkenntnisvermögens zeigt der Skeptizismus,
    1) in Anbetracht des niederen und

    2) in Anbetracht des höheren, aus der psychologischen Geschichte seiner Wirkungsart; und führt

    3) die unendliche Verschiedenheit der menschlichen Denkart an, als eine natürliche Anweisung, alle Vorstellung und Überzeugung für weiter nichts zu achten, als für subjektive und zum Teil individuelle Bestimmungen der menschlichen Natur.
All dieses läßt sich zergliedern in folgende Hauptideen, welche die Elemente der skepitischen Kritik ausmachen.
    1) Die sinnlichen Vorstellungen werden, selbst von den strengsten Dogmatikern, angesehen nur als das Resultat der Verhältnisse unbekannter Objekte mit unerklärbaren Organen, und dieser wiederum mit einem durchaus unbegreiflichen Vorstellungsvermögen. Sonach sind sie nur Schein.

    2) Alle Grundbegriffe des sogenannten Verstandes, alle Grundsätze der sogenannten Vernunft, sind so viel der Anschein davon angibt, nichts anderes als Abstraktionen; also Erzeugnisse der Sinne und folglich Schein, wie die sinnlichen Vorstellungen, von denen sie abstammen.

    3) Sollte das Erkenntnisvermögen für das Kriterium der objektiven Wahrheit gehalten werden können: so müßten wir einen wahrhaftig objektiven Grund von Allgemeinheit und Notwendigkeit unserer Vernunfturteile deutlich einsehen.

    4) Alles, was man im höheren, ja wohl gar schon im niederen Erkenntnisvermögen als a priori bestimmt anführt, ist nichts als Hypothese, zugunsten irgendeines dogmatisch kritischen Systems. Das menschliche Erkenntnisvermögen hat nicht das Ansehen sich selbst erklären zu können.

    5) Wäre auch das a priori Bestimmte erweislich: so folgte daraus, selbst nach dogmatischer Art zu schließen, keine objektive Allgemeinheit und Notwendigkeit irgendeines reinen Begriffs, oder Grundsatzes; sondern bloß die von den Skeptikern nie geleugnete subjektive Einrichtung unseres sogenannten Erkenntnisvermögens.

    6) So ist also ein reales Kriterium der objektiven Wahrheit nicht zu erfinden; und ein bloß formales ist nicht hinreichend.

    7) Gäbe es ein reales Kriterium, so müßten aller Menschen Urteile ihm anpassend sein; und der Einfluß der körperlichen Anlagen und Zustände, sowie der äußeren Verhältnisse (Himmelsstrich, Landesart, Gewohnheit, Religion, Gesetzgebung) in die menschliche Denkart, würde wegfallen.

    8) Bei dieser anscheinenden Beschränkung und Unzuverlässigkeit des Erkenntnisvermögens, ist das natürlichste, daß man sich über das Rätsel der Welt und der menschlichen Dinge kein System erlaube; und es ist kein Grund, unter tausenderlei Systemen eines mehr für wahr zu halten, als das andere.

    9) All dem zufolge sind wir nicht befugt, irgendetwas für wahr und gewiß zu halten, als das Dasein unserer Vorstellungen; der sinnlichen und der vernunftmäßigen: die Gegenstände von jenen und die Gründe von diesen sind uns völlig unbekannt.

    10) Aber mit unseren Vorstellungen, den sinnlichen wie auch den vernunftmäßigen, ist verbunden die Unmöglichkeit sie zu ändern, indem wir sie haben, und dem Schein nicht zu folgen, den sie angeben.

    11) Dieser Schein unserer Vorstellungen wirkt eine vollkommene subjektive Überzeugung; die wir ebensowenig vermögend sind, durch dogmatische Zergliederungen zu vernichten, als durch skeptischen Widerstand zu unterdrücken: indem es auch unnütz ist, etwas außer und über diesen Schein für unsere Urteile zu suchen. Wir urteilen und leben also diesem Schein gemäß; d. h. wir nehmen das für Wahrheit und für Regel an, worauf er uns hinweist.

    12) Diese theoretische und praktische Befolgung des subjektiven Scheins ist aber keineswegs das Wert eines von uns entdeckten Interesse und einer abhängig davon für Glauben und Leben klüglich genommenen Maßregel: sie ist die unabänderliche Wirkung der Vorstellungen auf unsere uns unbekannte Natur. Mithin ist es nicht etwa eine Mäßigung des Skeptizismus, wenn wir die Wirklichkeit der materiellen Welt und die Wahrheit aller unserem Erkenntnisvermögen angemessenen Denk- und Schlußarten annehmen; sondern es ist bloß das Eingeständnis von der Wirklichkeit unserer Vorstellungen, und von der weder abzuändernden, noch zu verleugnenden Herrschaft, welche sie über unser ganzes Denken und Leben ausüben.
§ 710. Der Skeptizismus ist durchaus unwiderlegbar (8):
    1) weil er nichts behauptet noch verneint, folglich gar nichts enthält, was mit irgendeinem anderen Satz in Widerspruch stünde;

    2) weil er den ersten Gründen der menschlichen Erkenntnis nicht traut, mittels derer doch allein die Widerlegung angestellt werden müßte;

    3) weil er bei seinen Zweifeln keine Ansprüch macht auf Allgemeinheit (Anmerkung zu § 708).
§ 711. Sofern der Skeptizismus die subjektive Überzeugung eingesteht, von den Vorstellungen des niederen und höheren Erkenntnisvermögens: sofern ist er die einzige konsequente Denkart für die Philosophie und die einzige konsequente Philosophie für die geoffenbarte Religion.
[Es ist von der größten Wichtigkeit, hier nicht zu vergessen, was bereits in Anmerkung zu § 709 erinnert worden ist, daß der Skeptiker nicht etwa nur in seinem Leben, sondern auch in seinem Denken und Glauben, den Vorstellungen nachfolgt, die er durch Erfahrung und Vernunft hat. Er ist also vom dogmatischen Kritiker nur darin unterschieden, daß er zu seiner Überzeugung keine objektive Erkenntnis herauskünstelt. Da dieses nun, wie so viele mißlungene Versuche zeigen, durchaus vergeblich ist: so ist der Skeptizismus als Philosophie offenbar konsequent. Was nun sein Verhältnis gegen die geoffenbarte Religion betrifft: so ist der Glaube an ihre Geschichte und Lehre durch den Skeptizismus nicht allein nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr durch denselben geboten; nämlich insofern, wie seine Denkart es mit sich bringt, daß er den Eindrücken des Vorstellungsvermögens und des Verstandes insbesondere, mit seiner Überzeugung nachfolgt. Der Skeptiker glaubt also geoffenbarte Religion, sobald ihre Beweisgründe als Vorstellungen so auf ihn wirken, daß sie nach der Einrichtung der Natur eine Überzeugung hervorbringen müssen. Und weil er die Meinung etwas Objektives für seine Erkenntnis zu finden überhaupt gar nicht hat: so untersucht und zergliedert er seine Überzeugung davon nicht weiter, und begnügt sich mit dem Gedanken: das ist für mich Wahrheit. Ein Skeptiker kann auf diese Weise die geoffenbarte Religion so fest glauben, wie die Wirklichkeit der materiellen Welt. Sextus kommt bei jeder Gelegenheit dem Gedanken zuvor, daß der Skeptizismus mit Irreligion verbunden ist und rühmt vielmehr das Gegenteil von ihm. [...] Gelehrte Theologen wissen, daß man auch wirklich von jeher den (wahren, wohlverstandenen) Skeptizismus, namentlich für die christliche Religion, als die beste Philosophie angesehen hat. Nur muß man sich nicht einbilden, daß durch diese Art der Philosophie etwas gegen die Rechte der Vernunft gewonnen wird. Zu einer gewissen Zeit war es Ton, beständig von der Schwäche und Gebrechlichkeit derselben zu reden. Wer die Schriften von Le Vayer, Montaigne und Huet kennt, die es wohl nicht so ernstlich meinen mochten, wie etwa Poiret, der wird wissen, daß diese scheinbare philosophische Bescheidenheit oft die allergefährlichsten Angriffe gegen die Religion verbirgt; wie ich am Ausgang meiner "Gespräche übe den Atheismus" gezeigt habe. Wie des Descartes versteht, wenn er sagt: das Widersprechende könne doch wohl vielleicht in dem göttlichen Verstand gedenkbar sein: das ist mir ein Rätsel.]

§ 712. Wo der Skeptizismus auch jene subjektive Überzeugung nicht eingesteht: da ist er, weil dieses Geständnis von der Natur des Menschen erzwungen wird, entweder eine Rolle, oder eine gänzliche Verirrung des Verstandes. Einem solchen Skeptizismus können entgegengestellt werden die nachfolgenden Betrachtungen (§ 713-717).

§ 713.1. Obgleich der sinnliche Schein oft verfälscht wird, teils durch bleibende Besonderheiten, teils durch vorübergehende Zustände der zum Vorstellungsvermögen gehörigen Werkzeuge und Kräfte: so gibt es doch in den Vorstellungen der Sinne Einheit und Regel. Und diese Einheit und Regel des sinnlichen Scheins ist der Maßstab des sinnlichen Erkenntnisses; dergestalt, daß das für den Menschen sinnlich wahr ist, was ihm erscheint beim natürlichsten Zustand des Vorstellungsvermögens.
[Ich lese jetzt sehr oft, daß die Sinne nicht täuschen: aber wie soll ich das nennen, daß sie dem Menschen von seiner ersten Kindheit an mit Vorstellungen und Berichten von Außenwelt entgegen kommen, die objektiv nicht wahr sind; ihm sagen, hier ist Raum und Ausdehnung, und da Farbe, und dort Bewegung; indem doch alles dieses nur Erscheinungen sind. Ja, spricht man, es ist töricht von den Sinnen über das Innere der Außenwelt ein Urteil zu erfragen. Das kann wohl sein: aber so täuschen sie doch; denn sie stellen mir etwas als außer mir vor, was größtenteils in mir ist. Am Ende kommt des darauf hinaus, daß die Sinnlichkeit nicht urteilt, sondern der Verstand. Was ist denn aber die Sinnlichkeit anders, als der Verstand wirksam durch die Sinne? Ich gestehe es: mir kommt das alles etwas gesucht und gezwungen vor. Indessen sehe ich wohl ein, wie es gemeint ist. (Kants "Kr. d. r. V.", Seite 350; Borns "Grundlagen", Seite 61).]

§ 714. So wie die einzelnen sinnlichen Vorstellungen wahr sind: so sind es auch die daraus abgezogenen Allgemeinbegriffe und Grundsätze.

§ 715. Die Vernunftideen des Möglichen und Notwendigen und die davon abhängenden Grundgesetze der Vernunft, sind keine Folgen sinnlicher Einrücke: sonach findet bei ihnen nichts statt von sinnlicher Täuschung: denn die Einsicht des Möglichen und Notwendigen ist keine Vorstellung, sondern eine Weise Vorstellungen zu verbinden (9). Demnach ist die Vernunft das Kriterium der Wahrheit in sich selbst: und so wie die Vernunft unwiderstehlich fordert, daß alles Gedachte ihren Regeln gemäß ist: so kann der Verstand es bewirken, daß er denselben zuwider das für wahr hält, was unmöglich, oder das nicht für wahr hält, was das Gegenteil des Unmöglichen also notwendig ist.

§ 716. Alle Menschen stimmen überein in den Ideen des Möglichen und Notwendigen, und in den davon abhängenden Grundgesetzen der Vernunft. Die Verschiedenheit der menschlichen Meinungen und Denkarten entsteht bloß aus den Verschiedenheiten des Vorstellungsvermögens; welche verursachen, daß ein und dieselbe Vorstellung in verschiedenen Köpfen eine ganz verschiedene Gestalt haben kann. Dieses ist der psychologische Schein, welcher erklärbar ist aus dem Einfluß der Nebenvorstellungen und vornehmlich der Sprache.

§ 717. Daß die Verschiedenheit der menschlichen Meinungen bloß und allein herrührt von den Verschiedenheiten des Vorstellungsvermögens: das zeigt die allgemeine Einstimmigkeit aller Köpfe über Gegenstände der reinen Mathematik (10); indem die mathematischen Begriffe
    1) durchaus bestimmt, unveränderlich und von allem Einfluß des psychologischen Scheins ganz entfernt,

    2) in wesentliche, keiner Vieldeutigkeit ausgesetzte Zeichen eingekleidet,

    3) jeder Denkungsart vollkommen gleichgültig sind; anstatt daß die philosophischen Begriffe, mit Vorurteilen und Leidenschaften aller Art in Zusammenhang stehen.
§ 718. Vorzüglich lehrreich und anmerkenswert sind in der skeptischen Kritik folgende Winke und Maximen:
    1) Daß die wirkliche Welt etwas ganz anderes ist, als die sinnliche;

    2) Daß die materielle Welt für uns nichts ist, als eine regelmäßige und zum Erfahrungsgebrauch geordnete Erscheinung;

    3) Daß die Besonderheiten des sinnlichen Scheins, in einzelne Menschen und in einzelnen Zuständen, einen großen Einfluß haben in die empirischen Wahrnehmungen;

    4) Daß der psychologische Schein, da wo die Begriffe nicht unmittelbar nahe liegen den Gesetzen der reinen Vernunft, eine große Verschiedenheit der menschlichen Meinungen wirken muß;

    5) Daß auch insbesondere der historischen Gewißheit große Hindernisse entgegen stehen, teil im Schein der Dinge, teils im Verstand und im sittlichen Charakter der Menschen;

    6) Daß eine allgemeine Gleichartigkeit der menschlichen Meinungen nicht möglich ist;

    7) Daß ein jeder, welcher das für wahr oder falsch hält, was ihm, nach seinem eigenen sinnlichen oder psychologischen Schein so dünkt, solange richtig und wahr urteilt, bis ihm das Gegenteil völlig einleuchtet; entweder durch klare Erfahrungen und durch die Regeln des allgemeinen Scheins oder durch deutliche aus den Grundsätzen der reinen Vernunft geführte Beweise;

    8) Daß also der bekannte Spruch des Protagoras [Der Mensch ist das Maß aller Dinge. - wp] in mancher Betrachtung sehr wahr ist.

LITERATUR: Ernst Platner, Philosophische Aphorismen [nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte] Leipzig 1793
    Anmerkungen
    1) Um den Unterschied unter analytischen und synthetischen Urteilen nicht falsch zu verstehen, muß man in Obacht nehmen, daß Kant nur den ersten rohen Begriff des Subjekts meint; Borns "Versuch über die ursprünglichen Grundlagen des menschlichen Denken", Seite 29. Mithin hat man nichts gewonnen, wenn man zeigt, daß alle Urteile, in einer gewissen Hinsicht analytische, oder daß alle synthetische sind. Titels "Kategorien", Seite 69f. Bornträge "Vom Dasein Gottes", Seite 25f. Sehr natürlich war es auch, daß Kant die Urteile, in welchen die Attribute des Subjekts ausgesagt werden, indem Herr Eberhard diese (jedoch nicht nach Kants, sondern nach seiner Erklärung), als die wahren synthetischen aufgestellt hatte, ansich weder für synthetische noch für analytische erkennen wollte. Kant, "Über eine Entdeckung etc.", Seite 81f. Mir scheint bei dieser Streitigkeit alles auf die Frage anzukommen: ob vom Begriff eines Dings die Anschauung, oder vielmehr das sinnliche Schema (nicht das Bild) an und für sich und vor geschehener Absonderung, im Vorstellungsvermögen getrennt ist; welches Herr Eberhard zu meiner Verwunderung einräumt. Denn das Schema des Raums in den geometrischen Begriffen vorausgesetzt: dann sind alle geometrischen Urteile analytisch. So verstehe ich die Einwendung des scharfsinnigen Reimarus gegen die kantische Einteilung; "Gründe der Erkenntnis", Seite 42f. Ich wundere mich, daß Herr Schulz in seiner vortrefflichen Prüfung der kantischen Kritik (erster Teil, Seite 51f) diesen wichtigen Punkt unerörtert läßt. Herr Schütz scheint ihn zu berühren; "Pr. de synth. Math. pronunc." Nur bitte ich, daß man mir den Satz: "die Anschauung, das sinnliche Schema, die Form von Raum und Zeit, gehört zum Begriff" nicht falsch auslegt.
    2) Dieses ist eine sehr treffende Bemerkung von Selle, in einer Abhandlung "Sur la Réalité des objets de nos connoissances"; in den "Mem. de l'Acad. de Berlin", Seite 601. So viel folgt daraus ganz offenbar, daß die Identität und also der S. d. W. auch bei den synthetischen Urteilen a priori der Maßstab der Wahrheit bleibt. Und das ist es eigentlich, was man zu beweisen hat: denn ohne den Einfluß auf die Rechte dieses Satzes kann der Unterschied unter analytischen und synthetischen Urteilen gar wohl zugegeben werden.
    3) Die sogenannte Deduktion der Kategorien hat insofern gar keine Schwierigkeit, sofern es wohl eine ganz unbestreitbare Wahrheit ist, daß die Art von Erfahrung, die wir haben, nicht anders möglich ist, als durch die Kategorien, unter denen wir die Gegenstände der Erfahrung denken. Kants "Kritik der reinen Vernunft", Seite 129f, 147f. Jacobs "Prüfung der M. Morgenst. IV Vorl. Schulz "Erl. über Kants Kritik", Seite 33. Peuckers "Darstelung des kant. Syst.", Seite 74f. Borns "Grundlagen", Bd. II, Kap. 2, Abschn. 2. Schmids "Kr.", Seite 66f. Wenn nun aber damit bewiesen werden soll, daß unsere Erkenntnis objektive Gültigkeit hat: so übt man doch fürwahr an dem Wort objektiv eine Gewalttätigkeit aus, die bisher im philosophischen Sprachgebrauch unerhört war: denn man deutet damit gerade den entgegengesetzten Begriff, subjektiv, an. Wirklich hat sich Herr Schmid, der nie von seiner Liebe zur Wahrheit abweicht, in der Notwendigkeit gesehen, die kantische Objektivität, subjektive Objektivität zu nennen und damit ihre Beschaffenheit ganz ausgedrückt ("Wörterbuch", Artikel "objektiv"). Sehr merkwürdig ist auch von einem so echten kritischen Philosophen das Bekenntnis, welches er in der ersten Ausgabe des Wörterbuch (Artikel "Erfahrung", Anm) ablegt. Wie diese Anmerkung durch Herrn Prof. Jacobs Gründe widerlegt und überflüssig geworden ist: das kann ich nicht finden: sie hätte also, billig auch in der neuen Ausgabe ihren Platz behaupten sollen. Keiner von den Freunden des kantischen Systems hat die allgemeine Subjektivität aller Erkenntnisse deutlicher eingestanden, als neuerlich Herr Abicht in der "Philosophie der Erkenntnisse", Seite 369-378.
    4) Abels "Versuch über die spekulative Vernunft", Seite 202f. auch Brastbergers "Untersuchung", Seite 128f. Was insbesondere die von Kant vorgeblich bewiesene objektive Notwendigkeit der synthetischen Urteile a priori betrifft: so kann ich diese wiederum nicht anders als, um diesen Ausdruck von Herrn Schmid zu entlehnen, subjektiv-objektiv finden. Herr Maimon sagt sehr aufrichtig (a. a. O. Seite 175) daß der Ausdruck objektive Notwendigkeit überhaupt keinen Sinn hat. Denn daß ich mir diese Objekte so denken muß: das ist gewiß; daß aber die den Objekten meines Vorstellungsvermögens zugrunde liegenden Dinge so beschaffen sind, daß sie von allen denkenden Wesen so gedacht werden müssen? jedoch das hat Herr Kant nicht sagen wollen. Nun wenn er es also nicht hat sagen wollen, (wie hätte auch ein solcher Philosoph das wollen können?) so sehe ich nicht ein, was wir nun eben gegen Hume gewonnen haben. Ist nicht die Gewohnheit, von welcher, mit Rücksicht auf die Gedächtnisverbindung, Hume alles herleitet, ebenso tief im Wesen unseres Vorstellungsvermögens gegründet, als die Kategorien? Ist es nicht für diese Art von Notwendigkeit einerlei, ob ich die Einrichtungen unserer Natur, vermöge derer wir uns Kausalität in der Welt denken, in zwölf Kategorien, oder ob ich sie in einer Anlage der Ideenverbindung suche, durch welche es mir unvermeidlich wird, Kausalität zu denken? Sind nicht diese Anlagen zur Ideenverbindung und mithin zum Begriff Ursache, so gut a priori, wie die Kategorien? Ist also nicht der Begriff Ursache auf beiderlei Art (in einem kantischen Sinn) notwendig? Kann nicht Hume von seinen Anlagen zur Ideenverbindung ebenso gut sagen, daß ohne sie keine Erfahrung möglich wäre? Auch der sorgfältige Widerleger dieses Schriftstellers, Herr Jakob, hat mich mit seinen fleißigen Erörterungen über diesen Punkt ("Kritischer Versuch über Hume", Seite 686f) nicht im Allergeringsten belehrt, sofern die kantische Notwendigkeit (die ich als subjektive vollkommen anerkenne), etwas gegen Humes Skeptizismus vermögen sollte. Immer kommt es mir vor, als wenn man die Notwendigkeit der reinen Erkenntnisse daraus beweisen wollte, weil sie ohne Notwendigkeit und Allgemeinheit bloße Wahrnehmungen sein würden. Wenn nun aber der Skeptiker antwortet: das mögen sie sein? Man lese hierüber Eberhard "Von den Kategorien" in dem Mag. IV. 2. Seite 183.
    5) Dieses scheint Herr Reinhold zu fürchten: allein seine Furcht ist bei weitem nicht gegründet. Denn wenn ich auch annehme, daß z. B. meinem Begriff Substanz etwas der Form dieses Begriffes Analogisches in den Dingen-ansich zugrunde liegt: so ist nichts desto weniger die Form meiner Vorstellung Substanz, das Werk meines Vorstellungsvermögens; obwohl von der Form des Urgegenstandes bestimmt: vielweniger folgt daraus, daß die wirklichen Substanzen ganz das sind an sich selbst, was sie in meiner Vorstellung sind. Daß überhaupt das Objekt nur dadurch zu Bewußtsein gelangen kann, wenn der ihm entsprechende Stoff der Vorstellung aufhört Stoff zu sein: das ist auch einer von den mehr nachdrücklich anempfohlenen, als gründlich bewiesenen Sätzen dieses wackeren, aber hin und wieder allzu unternehmenden Schriftstellers. Und warum kann denn die Form der Vorstellung das Werk meines Vorstellungsvermögens sein, wenn sie durch den Urgegenstand veranlaßt und bestimmt ist? "Theorie des Vorstellungsvermögens", Seite 235f, 283f. Zuweilen möchte man ungewiß werden, ob er das ganz leugnet; z. B. Seite 239, 240.
    6) Eben diese Frage tut auch der Rezensent des oben angeführten Aufsatzes von Selle, der in der Metaphysik gewiß kein Anfänger sein mag.
    7) Äußerst befremdlich ist es mir gewesen, von Kant folgende Beschreibung des Skeptizismus zu lesen: "das, ohne vorhergegangene Kritik, gegen die reine Vernunft gefaßte allgemeine Mißtrauen, bloß um des Mißlingens ihrer Behauptungen willen." ("Über eine Entdecktung etc.", Seite 78) Ich sollte meinen, und die Schriften eines Sextus und Hume zeigen es, keine Art von Philosophen hätte die Kritik - wenn auch nicht der Vernunft, nach Kants Weise - doch des Erkenntnisvermögens überhaupt, mit mehr Scharfsinn getrieben, als die Skeptiker. Ihre Entschlossenheit kein System anzunehmen, ist ja eben die Folge ihrer äußerst kritischen Psychologie. Auch das ist ganz und gar nicht im Charakter des wahren Skeptizismus (den Herr Reinhold, um ihn als den wahren zu bezeichnen, mit einem ganz unerwarteten Ausdruck den dogmatischen nennt), die Erweislichkeit der objektiven Wahrheit leugnen. Der wahre Skeptiker leugnet gar nichts; sofern leugnen so viel heißt wie eine Verneinung allgemeingültig setzen. Das heißt: er sagt nur von sich, daß es ihm für seine Person unmöglich ist, sich von der Erweislichkeit einer objektiven Wahrheit zu überzeugen: er behauptet aber nicht, daß es aus der natur des menschlichen Erkenntnisvermögens folgt, nicht davon überzeugt zu sein, und daß also kein Mensch davon überzeugt sein darf. Überhaupt wird der ganze Begriff des Skeptizismus verfälscht, sobald man sich ihn als eine Partei denkt, welche auf eine allgemeingültige Begründung ihrer Denkart ausgeht. Man muß ihn immer bloß als die Denkart des einzelnen Mannes betrachten, der ihn vorträgt. Dieser nun kündigt sich als einen solchen an, der von der objektiven Wahrheit nicht überzeugt ist; und rechtfertigt seine Nichtüberzeugung, sofern sie anderen auffallend ist, aus dem Verdacht, den er aus der kritischen Psychologie gegen das Erkenntnisvermögen geschöpft hat; will aber ganz und gar nicht dartun, daß das Erkenntnisvermögen jedermann so verdächtig vorkommen muß; wenn es ihm auch zum Vergnügen gereichen möchte, andere mit sich gleichartig denken zu sehen. So kenne ich den Skeptizismus aus dem Sextus; und hätte ihn Sextus nicht so geschildert und Pyrrho nicht so gedacht; so würde ich eher leugnen, daß jener in seiner Darstellung, dieser in seinem Geist das wahre Ideal des Skeptizismus erreicht hat, als daß ich mir den Skeptizismus, diesem Ideal zuwider denken sollte. Vielleicht haben wir den wahren Skeptizismus noch gar nicht gesehen; vielleicht irrt sich mancher im Charakter dieser Denkart ebenso sehr, wie andere sich im Sinn und Zweck der Vernunftkritik irren mögen. - Ich habe hin und wieder in den Schriften kritischer Philosophen noch andere Äußerungen über den Skeptizismus gefunden, welche es mir wahrscheinlich machen, daß man seinen wahren Geist gar sehr verkennt: z. B. daß er ein immerwährendes Hin- und Herschwanken, ein elender Zustand, eine peinliche Gemütsunruhe ist; daß er auf Trugschlüsse und Spophistereien ausgeht und dgl.
    8) Es ist mir nicht möglich diese Behauptung, die ich schon in meinem "Gespräch über den Atheismus" (Seite 20 der neuesten Ausgabe) geäußert habe, zurück zu nehmen, ungeachtet sie Herr Jakob übertrieben zu finden scheint. ("Kritischer Versuch über Hume", Seite 534). Was ich beim Skeptizismus einer Art von Affekt zugeschrieben habe: das hat Herr Jakob nicht recht nach meinem Sinn verstanden: der obige § 705 wird die beste Auslegung sein. Indessen hat es nie an Widerlegungen des Skeptizismus gefehlt. Man kann hierher vorzüglich im Aristoteles das IV. Buch der Metaphysik rechnen; sofern es, welches auch im Theaetet des Plato geschieht, den Unterschied unter Empfindung und Vernunfteinsicht auseinandersetzt; und sodann die bloße Subjektivität des Erkenntnisses gegen den Protagoras bestreitet, und die Grundsätze der Vernunft, besonders den Satz des Widerspruchs und das principium exclus medii [ausgeschlossenes Drittes - wp], beweist. Was die Stoiker gegen den Skeptizismus einwenden, ist allerdings von Bedeutung; wohin ich jedoch das eben nicht rechnen wollte, was sie vom inneren Zwang des Beifalls sagen. Wie sie die Begreifsamkeit unserer Vorstellkraft und das Merkmal der Wahrheit erklären, und aus den Vorstellungen der Sinne Anschauung herleiten, muß man aus den "Acad." des Cicero und aus den beiden Büchern des Sextus "adv. Log." lernen. Die Aufsätze wider den Skeptizismus, welche Eusebius "prep. Evangel. L. XIV. aus dem Numenius und Aristoteles gezogen hat, sind sehr seicht. Unter den neueren Bestreitern des Skeptizismus haben die meisten, die Crousaz gegen Bayle in seinem weitschweifigen "Examen du Pyrrhonisme", nur geschwatzt oder, wie Osswald in dem "Appeal to common sense" und Beattie in dem "Ess. on the Nature of Truth" gegen Hume, nur gepredigt. Reid ("Inquiry into the human mind") allein zeichnet sich aus, jedoch mehr durch andere Vollkommenheiten seines Werks als durch sehr treffende Gründe gegen Hume. Daß Kant über den Skeptizismus etwas gewonnen habe, will mir durchaus nicht einleuchten; indem seine Philosophie doch nicht über die Subjektivität des Erkenntnisses hinauskommt, welche die Skeptiker so wenig als die Wirklichkeit der Vorstellungen leugnen. Mendelssohns Preisschrift "Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften" ist von seinen Werken nicht das erste. Die meisten machen sich vom Skeptizismus eine ganz falsche Vorstellung (siehe die Anmerkung zu § 711.)
    9) Das ist es eben, was die Alten so sehr einschärfen, indem sie aisthesis [Wahrnehmung - wp] und episteme [Wissen - wp] auf das Sorgfältigste unterscheiden.
    10) Dieses würde Herr Kant auf eine andere Weise erklären (siehe Reimarus "Gründe der Erkenntnis", Seite 42f).