ra-2ra-1ra-1SchleiermacherB. CroceTrendelenburgK. Popper     
 
EDUARD von HARTMANN
Über die dialektische Methode
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"Nun aber sind in der Tat die Beweise, welche  Kant für seine Thesen und Antithesen beibringt, als bloße Scheinbeweise zu betrachten, da dasjenige, was bewiesen werden soll, immer schon in den Voraussetzungen enthalten ist, von denen ausgegangen wird, und nur durch das weitschweifige apagogische Verfahren der Schein einer Vermittlung hervorgebracht wird."

"Wenn  Kant die Antinomien als einen  direkter weise unzerstörbaren Schein hinstellt, so liegt dies nur daran, daß der praktische Instinkt eo ipso die Welt als Realität zu fassen genötigt ist, und durch alle Korrektion von Seiten des Verstandes dieser praktische instinktive Glaube nicht zerstört werden kann. Dieser Instinkt ist praktisch notwendig, weil wir ohne ihn verhungern würden."


5. Übergang zur Neuzeit

Wie das schnell zerfallene Weltreich KARLs des Großen in der Staatengeschichte, so taucht das System des JOHANNES SCOTUS ERIGENA als eine blendend großartige, aber unreife und folgenlose Erscheinung in der Geschichte der Philosophie auf. Genährt von den Überlieferungen der griechischen Kirchenväter und vielfach in wunderbarer Übereinstimmung mit der Sankhya-Philosophie, steht er in seiner pantheistischen Gesamtanschauung wie in vielen bewundernswerten Einzelheiten als verfrühter SPINOZA da. Was er über alles hervorhebt, ist die  Unendlichkeit  Gottes, welche nicht duldet, daß er von seinen Geschöpfen verschieden ist, weil er sonst durch diese beschränkt wäre, und welche bewirkt, daß wir ihm alle Prädikate nur in uneigentlicher und symbolischer Redeweise beilegen dürfen, weil jedes Prädikat ihn  bestimmen,  also  verendlichen  würde. Aber auch die Negationen gelten nur uneigentlich von ihm, da sie ihn ebenfalls beschränken würden (z. B. Ruhe). Ja nicht einmal solche Ausdrücke darf man als eigentliche gelten lassen, welche seine Erhabenheit über endliche Bestimmungen oder über Ausdrücke von entgegengesetzter Natur bezeichnen sollenm, z. B. wenn DIONYSIUS AREOPAGITA sagt, daß er "über dem Sein" sei; denn auch so würde man ihn nochnicht als unaussprechlich anerkennen. Aber gleichwohl, wenn auch kein Prädikat auf ihn anwendbar ist,sind sie doch alle in ihm enthalten; denn was könnte sein, das nicht in ihm enthalten wäre? Da nichts als Gott ist, so ist alles in ihm zu einer unaussprechlichen Einheit verbunden. - Man sieht hier wie aus denselben Ursachen dieselben Wirkungen hervorgehen, wie in der Geschichte der neuesten Philosophie, nämlich aus dem Bestreben, die als selbstverständlich angenommene Absolutheit Gottes nicht zu stören, das Aufhören jeder Erkenntnis und den Mischmasch aller Gegensätze und Widersprüche im Absoluten.

Wenn die Lehre des JOHANNES SCOTUS vom Absoluten sich wie das Lallen eines Kindes mit dem Aussprechen des Unaussprechlichen vergebilch abmüht, und sich gar bald mit der Erkenntnis Gottes in seinen Erscheinungen (Theophanien genügen läßt, so macht dagegen der hochstrebedes Geist des NICOLAUS CUSANUS den Versuch, das Unfassbar wirklich, wenn auch nur in einer unendlichen Annäherung, zu fassen, und nähert sich HEGEL in seiner Theorie des Erkennens in der Tat auf erstaunliche Weise.

NICOLAUS kennt den JOHANNES SCOTUS sehr wohl, er ist aber von der Mystik des Mittelalters durchdrungen, und die griechische Philosophie, speziell PLATO und PARMENIDES, sind ihm wohl bekannt. Außer den sonst üblichen Ableitungen und Einführungsweisen des Absoluten finden sich eine ihm eigentümliche, welche an SCHELLING erinnert:
    "Was unmöglich ist, kann nicht geschehen. Dem, was geschieht, liegt daher notwendig das Geschehenkönnen zugrunde; das Möglichsein ist  vor allem Werden, und mithin ewig. Das Seinkönnen kann aber nicht sich selbst zur Wirklichkeit bringen; denn sonst würde es früher in Wirklichkeit sein, als es in Wirklichkeit ist; daher muß es seinen Grund in einem wirklichen Sein haben, welches alles mögliche Sein begründet, und der Grund all dessen ist, was sein kann. Jedoch darf auch dieses wirkliche Sein nicht früher sein, als das mögliche Sein, weil das letztere, wie gesagt wurde, ewig ist. Daher sind beide und ihre Verbindung in dem einen Grund des möglichen Seins als gleich ewig zu setzen. Diese Einheit der Wirklichkeit und der Möglichkeit (potentia) im ewigen Sein nennt nun der Cusaner  Gott."  (Ritter, Geschichte der Philosophie, Bd. IX, Seite 161)
Der Auffassung des SCOTUS über das Absolute schließt er sich vollständig an, resigniert aber nicht so kurz wie dieser auf die Erkenntnis Gottes.

NICOLAUS unterscheidet im Menschen drei Stufen:  sensus, ratio (was HEGEL  Verstand  nennt) und  intellectus (was HEGEL  Vernunft  nennt), wozu als vierte hinzukommt:  veritas ipsa, quae deus est. [Die Wahrheit selbst, das ist Gott. - wp] Der Weg des Erkennens, der diese Stufenreihe aufwärts führt, ist der umgekehrte wie der Weg der Erzeugung der Dinge, da von Gott zuerst die Intelligenzen hervorgebracht werden, welche das vernünftige Denken erzeugen, welches sich dann in das Sinnlich und Körperliche versenkt. Alle vier Stufen gehen durch eine gradweise Steigerung ineinander über, jede nächsthöhere ist die Genauigkeit (praecisio) der nächstniederne. Der Sinn kann nichts als Empfinden; er ist keiner Negation, also auch einer Unterscheidung des Empfundenen fähig, welche schon der Vernunft zufällt. Zwischen  sensus  und  ratio  schiebt sich als Zwischenstufe die  imaginatio  ein, deren sinnliche Bilder alles Denken der  ratio  begleiten, während der  intellectus  über jedes Bild der Einbildungskraft hinaus, ja sogar über Zeit und Welt erhaben ist (De docta ignorantia III. 1 und 6). Da erst die  ratio unterscheidet,  so beginnt auch mit ihr erst die Erkenntnis der Gegensätze, die ihr eigentliches Geschäft ist. Sie kennt diese nur als Verschiedene, und schreitet bei ihrer Begründung nach dem Satz vom Widerspruch vor. Die Begriffe, welche die  ratio  bildet, haben für sich kein wahres Sein, da das Allgemeine nur in den Individuen ist, sondern sie sind "notionalia a ratione nostra elicita, sine quibus non posset in suum opus procedere" [Fiktionen, aus unserer Vernunft hervorgerufen, ohne die sie nicht in der Lage wäre, mit ihrer Arbeit fortzufahren - wp] Sie haben also wie bei HEGEL nur subjektive Existenz. Weil die  ratio  am Endlichen haftet und nie zum Unendlichen kommen kann, nach welchem sie gleichwohl (z. B. in der Mathematik) streben muß, weil aber doch das Endliche nicht ohne das Unendliche, sondern nur von diesem aus erkannt werden kann, darum besteht die Nötigung über die  ratio  fort zum  intellectus  zu gehen. Wo die  ratio  in der Mathematik sich mit dem Unendlichen beschäftigt, da berührt sie den  intellectus,  indem ihr die Gegensätze (z. B. Kreisbogen und gerade Linie) anfangen, zusammezufallen. Diese vom höchsten Grad der  ratio  an gestrebte Einheit der Gegensätze wird nun vom  intellectus  wirklich vollzogen. CUSANUS vergleicht diese Einheit mit der der spezifischen Differenzen in der höheren Allgemeinheit, der Wurzel der Spezien. So steht der  intellectus  am Horizont der Ewigkeit, wo Gegenwärtiges und Nichtgegenwärtiges, Sein und Nichtsein usw. umfaßt werden.

Aber bald kommt der hinkende Bote nach. Man wird auf einen trostlosen unendlichen Prozeß der Annäherung vertröstet, und erst dann, wenn man diesen unendlich ferne Ziel, die höchste Stufe des Verstandes, erreicht hätte, dann würde man erst an die Wahrheit selbst, welche Gott ist, rühren. So kommt man schließlich dahinter, daß man doch eigentlich um seine ganze Mühe des Aufsteigens betrogen wäre, wenn einen die dabei erlangte endliche Erkenntnis der weltlichen Dinge nicht schadlos hielte, und so bleibt das Beste an dieser Lehre der Hinweis auf den von unten aufsteigenden Weg und die Erkenntnis des Weltlichen. NICOLAUS muß dies selbst gefühlt haben, da er eine Ergänzung unserer  docta ignorantia  in einem mystischen unmittelbaren Gottesbewußtsein, im  Glauben sucht. So hoch stellt er den Glauben, daß er die Glaubensfestigkeit des armen und rohen Volkes der Wissenschaft der Gelehrten vorzieht. Er vertraut der göttlichen Gnade, die er mit dem höchsten Grad der Natur für eins hält, daß sie uns gewähren kann, was die Natur uns versagt zu haben scheint, und wonach wir dennoch dürsten. Vom Glauben müßten wir das unmittelbare Schauen Gottes erwarten, das uns nur in einem  raptus (Ekstase) zuteil werden kann, der uns von der Welt loslöst.

Wenn diese Lehre in ihrer Unterscheidung von  ratio  und  intellectus  und dem Prinzip der  coincidentia  contrariorum [Zusammenfall der Gegensätze - wp] für letzteren die größte Ähnlichkeit mit HEGEL hat, so unterscheidet sie sich doch wesentlich sowohl durch die selbständige Bedeutung, die dem  sensus  beigelegt wird, als durch die  über  den  intellectus  gesetzte höchste Stufe, als auch durch den ohnmächtigen unendlichen Prozeß des Aufsteigens. Am wichtigsten aber für uns ist das, daß NICOLAUS die dialektischen Grundsätze zu keiner Methode verwertet, sondern mit ihnen höchstens einige ausgeführte Beispiele von dialektischer Behandlung zustande bringt, und im übrigen bei einer aufsteigenden Methode stehen bleibt, die man wesentlich Induktion nennen muß. Gleichwohl dürfte man vergeblich in der Geschichte der Philosophie eine den Grundsätzen der HEGELschen Dialektik so verwandte Erscheinung suchen, welche HEGEL in seiner "Geschichte der Philosophie" wunderbarerweise ebensowenig als den JOHANNES SCOTUS berücksichtigt hat.-

GIORDANO BRUNO fügte der Lehre des NICOLAUS, was die Dialektik betrifft, wenig Neues hinzu. Er hob besonders hervor, daß nur in Gott selbst alle Gegensätze  zugleich  und ohne Unterschied der Zeit geeinigt sind, daß dagegen in allen weltlichen Dingen die Vollkommenheit nur darin besteht, daß alles und jedes  mit der Zeit  zu allem und jedem Andern werden kann und muß. Er stützt sich auf den schon von ARISTOTELES ausgesprochenen Satz, daß die Wissenschaft der Entgegengesetzten  eine  ist (weil sie beide derselben Gattung angehören). In begrifflicher Beziehung sucht er nach dem Punkt der Vereinigung für die Gegensätze, nach den  vermittelnden  Begriffen, durch welche sich die scheinbaren Widersprüche der Welt lösen.
    "Aber den Punkt der Vereinigung zu finden, ist nicht das größte, sondern aus demselben auch sein Entgegengesetztes zu entwickeln, dieses ist das eigentliche und tiefste Geheimnis der Kunst." ("Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen", Dialog IV - Seite 275; V - Seite 291)
Man sieht also, daß BRUNO, wenn er einerseits die Härten des NICOLAUS für die Anwendung auf das Weltliche mindert, er auf der anderen Seite eine Anforderung hinzubringt, welche die Ähnlichkeit mit HEGEL vergrößert. Freilich ist zwischen beiden immer noch der himmelweite Unterschied, daß bei BRUNO der  Philosoph  den Begriff aus seinem Gegenteil entwickeln soll, bei HEGEL aber der Begriff  sich selbst.  Daß dem BRUNO die Dialektik des NICOLAUS nicht Hauptsache war, kann man schon daraus sehen, daß er mit derselben, ja, mit fast noch größerer Wäreme die große Kunst des RAIMUNDUS LULLUS empfiehlt, einen noch gehaltloseren Begriffsschematismus, als der des Proklos war, ohne daß er, wie dieser, den Vorteil gehabt hätte, sich an ein bestehendes großes System, wie das den Neuplatonismus für PROKLOS war, anlehnen zu können.

HEGEL behauptet, daß SPINOZAs Gott sich dialektisch verhält und den Widerspruch in sicht trägt, Ursache seiner selbst zu sein. Hätte SPINOZA dies so gemeint, wie SCHOPENHAUER es versteht, wenn er es mit  Münchhausen  vergleicht, der sich an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht, dann hätte HEGEL recht. SPINOZA meint es aber so, daß Gott in einer anderen Beziehung  Ursache,  in einer anderen Beziehung  Wirkung  ist; er ist nämlich als  natura naturans  [Schöpferkraft als Urgrund der Dinge - wp] Ursache von sich als  natura naturata [Inbegriff der geschaffenen Dinge - wp], oder, um es in moderne SCHELLINGsche Ausdrücke zu übersetzen, er als Wille oder Potenz ist Ursache von sich als Wollen oder Aktus. Hieran aber ist weder etwas Dialektisches noch ein Widerspruch. Im übrigen widerspricht die mathematisch deduzierende Methode des SPINOZA vollständig der HEGELschen Dialektik.


6. Kant

Einen Wendepunkt auch in Bezug auf den Gang des Philosophierens bildet KANT. Bisher war alle Philosophie auf die  Dinge  gegangen, von nun an geht sie auf das  Denken.  Die Grundfrage KANTs ist: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" Er fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit einer apodiktisch gewissen und doch inhaltvollen Erkenntnis, vorausgesetzt, daß es eine solche Erkenntnis gibt, worüber ihm kein Zweifel entsteht. Jene Bedingungen bilden die neue Philosophie. Gleichwohl ist die Methode im engeren Sinn für die theoretische Philosophie eine  empirisch-psychologische,  sie stellt nur eine  andere als die bisher übliche Erklärung  der zu erklärenden Tatsachen auf. (Vgl. Hegels Werke VI, Seite 85-86) Das Resultat, was er erhielt, war das, daß Raum, Zeit, Kausalität und die anderen Kategorien nur  Formen  der Sinnlichkeit und des Verstandes ohne transzendente Realität sind, d. h. ohne als Bestimmung zur Erkenntnis einer das subjektive Gebiet überschreitenden Wahrheit dienen zu können. Wenn also KANT behauptet hat, daß das in den Verstandesbestimmungen sich bewegende Denken nicht zur transzendenten Wahrheit, zur Erkenntnis des Intelligiblen kommen kann, so ist es nicht deshalb, wie HEGEL ihm unterschiebt (Werke VI, Seite 123), weil die Verstandesbestimmungen endlich sind, - denn Raum und Zeit, die Formen der Sinnlichkeit, sind ja unendlich und doch bloß immanent -, sondern weil es immanente Formen der subjektiven Erkenntnisvermögen sind, welche nicht fähig sind, über das Transzendente etwas auszusagen, weil sie gar nicht ihm, sondern bloß dem Subjekt zukommen und inhärieren. Daß KANT die Inkonsequenz begeht, die eben ausgeschlossenen Kategorien hernach doch zur Erkenntnis des Intelligiblen zu gebrauchen, tut nichts zu Sache. Was die Kategorien selbst betrifft, so stellt er deren zwölf auf, mit der naiven Bemerkung, daß er zwar im Besitz einer Deduktion derselben ist, sie aber aus Privatgründen für sich behalten will. Von den zwölfen, welche KANT angibt, gehören, wie auch HEGEL bemerkt (Werke I, Seite 162), die drei der Modalität gar nicht unter die Kategorien, weil sie nur verschiedene Auffassungsweisen des Subjekts sind, die das empirische Objekt nicht alterieren [verändern - wp]. In Bezug auf die neun übrigbleibenden verweise ich auf SCHOPENHAUERs Kritik in "Welt als Wille und Vorstellung" (dritte Auflage, Bd. I, Seite 539-559).

HEGEL legt auf die kantische Dreiteilung der Kategorien einen besonderen Wert, und in der Tat haben sie auf FICHTE einen großen Einfluß gehabt; doch ist es nicht schwer zu sehen nach wie äußerlichen Gründen und mit wie zwangsweiser Einschachtelung diese Einteilung vollzogen ist, selbst abgesehen vom geradezu Falschen, das darin ist (wie der Begriff der "Wechselwirkung").

Nachdem KANT einmal die Scheidung des Immanenten vom Transzendenten zu seinem Prinzip gemacht hatte, mußte es ihm natürlich darum zu tun sein, diese neue Lehre auf alle Weise zu stützen, und womöglich zu zeigen, daß durch sie eine Menge Schwierigkeiten des früheren Standpunkts gehoben werden. Aus diesem Bestreben entspringen die Paralogismen und Antinomien, welche aber wohl unbestritten in Bezug auf das, was sie zu beweisen bestimmt sind, sämtlich als  verfehlt  angesehen werden dürfen. So sagt HEGEL von den  Paralogismen (Werke VI, Seite 101):
    "Daß  Kant durch seine Polemik gegen die alte Metaphysik jene Prädikate von der Seele und vom Geist entfernt hat, ist als ein großes Resultat zu betrachten, aber das Warum? ist bei ihm ganz verfehlt."
Und über die Antinomien sagt er (Werke VI, Seite 105):
    "Nun aber sind in der Tat die Beweise, welche  Kant für seine Thesen und Antithesen beibringt, als bloße Scheinbeweise zu betrachten, da dasjenige, was bewiesen werden soll, immer schon in den Voraussetzungen enthalten ist, von denen ausgegangen wird, und nur durch das weitschweifige apagogische [indirekter Beweis durch Aufzeigen der Unrichtigkeit des Gegenteils - wp] Verfahren der Schein einer Vermittlung hervorgebracht wird." (Vgl. Hegel, Werke III, Seite 216-226, 274-279 und Schopenhauers Kritik in "Welt als Wille und Vorstellung, a. a. O., Seite 583-594).
Der letztere sagt ganz richtig, daß die dritte und vierte Antinomie tautologisch sind. Die zweite Antinomie ist ganz einfältig. Eine diskrete  zusammengesetzte  Substanz kann natürlich nur aus  Teilen  zusammengesetzt sein, und eine nicht zusammengesetzte muß einfach sein, dabei aber teilbar, wenn sie kontinuierlich raumerfüllend ist. (Keine von beiden aber braucht, wie KANT voraussetzt, räumlich zu sein.) Ob aber die Materie diskret zusammengesetzt oder kontinuierlich teilbar ist, kann niemals a priori, sondern nur durch Induktion entschieden werden. - Was von den Antinomien übrig bleibt, ist also die Frage, ob die Welt in Raum, Zeit und Kausaliltät  endlich  oder  unendlich  ist. Dabei kommt es nun zunächst darauf an, ob man der Welt eine transzendente Realität zuschreibt oder nicht. Tut man es, so wird die Unendlichkeit der Welt in allen drei Beziehungen zur Unmöglichkeit; denn eine reale und vollendete Unendlichkeit wäre ein Widerspruch. Dies ist der Standpunkt des Verteidigers der Thesis, und nur aus diesem Standpunkt heraus zieht er seine Argumente. Der Verteidiger der Antithesis dagegen steht auf dem entgegengesetzten Standpunkt, welcher die transzendent Realität der Welt leugnet; nur aus diesem Standpunkt heraus sind, wie SCHOPENHAUER Seite 592-594 nachweist, seine Argumente  zulässig. (1) Der kantische Standpunkt ist also, weit entfernt die  Lösung  der Antinomie zu sein, nur die  Voraussetzung  der einen, sowie der gemeine Standpunkt die der anderen Seite. Hieraus folgt,  daß in der Tat gar keine Antinomie existiert,  weder vom kantischen, noch viel weniger aber vom gemeinen Standpunkt, sondern nur der  Schein  von Antinomien durch die  Verwirrung  beider Standpunkte. Es liegt so sehr auf der Hand, daß KANT sich diese Antinomien seiner, noch dazu verunglückten, Lösung zuliebe erfunden habe, daß nicht zu begreifen ist, wie man von verschiedenen Seiten soviel Wert hat auf dieselben legen können, oder wie HEGEL nach dem von ihm selbst gefällten Urteil dabei hat beharren können, daß durch KANTs Antinomien der Widerspruch als etwas  Notwendiges bewiesen  ist und diese Wahrheit nur von den vier kosmologischen Antinomien auf alle anderen Dinge zu übertragen übrig geblieben ist.

Betrachten wir aber noch einen Augenblick, was die Antinomien  in Kants eigenen Augen waren.  Er erklärt sie für Täuschungen des Verstandes und allerdings  insofern  für unzerstörbare (notwendige) Täuschungen, als dieser nicht imstande ist, sich auf  direktem  Weg von ihnen zu befreien, sondern nur indirekt durch die Erkenntnis von der transzendentalen Idealität von Raum, Zeit und Kausalität. Der Verstand befindet sich also, insofern er sich dem instinktiven Schein der Objektivität hingibt, in einem Widerspruch, der darin besteht, daß  beide  Seiten eines als kontradiktorisch erscheinenden Gegensatzes als  falsch  behauptet werden (nur durch indirekte Beweise als  richtig).  Indem aber der Verstand die transzendentale Idealität der Welt entdeckt, gewinnt er den  neuen Gattungsbegriff,  welcher den  vorher allgemein scheinenden  Gegensatz der Thesis und Antithesis zu einem  parikulären  herabsetzt. Sowie der Gegensatz partikulär wird,  hört er auf, kontradiktorisch  zu sein; der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (daß die Welt nur entweder endlich oder unendlich sein muß) hört mithin auf, auf ihn anwendbar zu sein, weil das nun eintretende  allo genos [andere Gattung - wp] gefunden ist, und der Widerspruch hat sich als ein nur  scheinbarer,  nicht vorhandener, ausgewiesen. Hierin ist nichts von den dialektischen Prinzipien HEGELs zu finden. Weit entfernt, daß die Vernunft an den Widerspruch herantritt, mit dem der Verstand fertig werden kann, und die spekulative Vereinigung desselben vollzieht, geht vielmehr die ganze Lösung der Verlegenheit vom Verstand aus, wird rein nach den Regeln der formalen  Verstandeslogik  vollzogen, und endet damit, die Einheit der Widersprechenden als vollzogen zu setzen, sondern damit, den Widerspruch als einen  bloß scheinbaren,  aus Unvollständigkeit des Wissens hervorgegangenen und durch eine Vervollständigung der Erkenntnis aufgehobenen darzustellen. Wenn gleichwohl KANT die Antinomien als einen  direkter weise unzerstörbaren Schein hinstellt, so liegt dies nur daran, daß der praktische Instinkt eo ipso [schlechthin - wp] die Welt als Realität zu fassen genötigt ist, und durch alle Korrektion von Seiten des Verstandes dieser praktische instinktive Glaube nicht zerstört werden kann. Dieser Instinkt aber ist praktisch notwendig, weil wir ohne ihn verhungern würden.

Was schließlich an KANT wichtig ist für die spätere Benutzung, ist der Begriff der  Vernunft KANT hatte in seiner kritisch sichtenden Methode die Eigentümlichkeit, für jede besondere Tätigkeit des Geistes ein besonderes Vermögen hinzustellen. Wenn die andern Dutzende von Vermögen bald dem gerechten Schicksal der Vergessenheit anheimfielen, so hatte leider sein Vermögen der Vernunft das Unglück, zunächst noch viel Unheil anrichten zu sollen durch das böse Beispiel eines Organs für ein unmittelbares, durch keine Verstandestätigkeit vermitteltes Wissen, wenn dasselbe sich auch bei KANT selbst noch in  praktischen  Postulaten erschöpfte. Wenn es erlaubt ist, einen Blick auf die unbewußte psychologische Entstehung jener Aufnahme in KANTs Kopf zu werden, so ist dieselbe wohl so zu denken, daß der kühne Denker, schaudernd vor dem gähnenden, alles verschlingenden Abgrund des Nichts, den seine ursprüngliche Kritik der reinen Vernunft aufgerissen hatte (vgl. Kant, Werke II, Seite 477 unten), beeinflußt von der pietistischen Erziehung seiner Jugend und in den Tiefen seines Herzens sich zurücksehnend nach der imposanten Positivität des noch keineswegs überwundenen Christentums, den letzten Ausweg zur Umkehr ergriff und durch das einfache Postulat: "Ich wünsche, ich hoffe, ich glaube" die vom Verstand soeben ausgekehrten Götzen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, zur Hintertür wieder einschmuggelt, mit frommem Gemüt feierlich restituierte. Wenn er sich gleichwohl bisweilen in der Weise zu täuschen sucht, als ob das Sittengesetz mit seinem ganzen Inhalt aus einem reinen  Formal prinzip abzuleiten wäre, und aus diesem nun wieder die anderen Postulate folgen, so ist dieser verfehlte Selbsttäuschungsversuch, wenn er auch an FICHTE einen eifrigen Nachahmer und Übertrager ins theoretische Gebiet fand, doch nur ein Beweis, wie sehr KANT sich danach sehnte, den  unmittelbaren kategorischen  Charakter der praktischen Vernunft  wenn möglich  durch einen  aus  formellen Verstandesprinzipien vermittelten zu ersetzen. Ist ihm dies für das praktische Gebiet  nicht gelungen,  so hat er es für das theoretische Gebiet  niemals versucht.  Allerdings kennt KANT den Unterschied von  Vernunft  und  Verstand  auch dort; wie unklar aber diese Begriffe, namentlich der der Vernunft, von ihm bestimmt und abgegrenzt sind, hat schon SCHOPENHAUER in seiner Kritik (W. a. W. u. V., a. a. O., Seite 511-513, 521-523) gezeigt. Für uns ist hier nur das  eigene Eingeständnis  HEGELs von Wichtigkeit, daß KANTs Vernunft in theoretischer Beziehung nichts Positives gibt, also in der Tat über die anerkannte Leistungsfähigkeit des Verstandes gar  nicht hinauskommt  (Werke VI, Seite 114:
    "Nun aber besteht nach  Kant die Tätigkeit der Vernunft ausdrücklich nur darin, den durch die Wahrnehmung gelieferten Stoff durch eine Anwendung der Kategorien zu systematisieren, d. h. in eine äußerliche Ordnung zu bringen, und ihr Prinzip ist dabei bloß das der Widerspruchslosigkeit."
Und (Werke VI, Seite 116):
    "Während, wie in den vorhergehenden Paragraphen bemerkt wurde, die theoretische Vernunft nach KANT bloß das negative Vermögen des Unendlichen und, ohne eigenen positiven Inhalt, darauf beschränkt sein soll, das Endliche der Erfahrungserkenntnis einzusehen, so hat derselbe dagegen die positive Unendlichkeit der praktischen Vernunft ausdrücklich anerkannt."
Wie abgeneigt KANT selbst allen dialektischen Bemühungen, allen Versuchen, aus der logischen Verarbeitung bekannter Begriffe neue unbekannte Wahrheiten herauszuspinnen, war, dies hat er so unverhohlen und nachdrücklich geäußert, als hätte er denn ganzen Schwindel, der sich über seinem Grab erheben sollte, vorausgesehen ("Kritik der reinen Vernunft", zweite Auflage, Seite 630):
    "Ein Mensch möchte wohl ebensowenig aus bloßen Ideen an Einsichten reicher werden, wie ein Kaufmann an Vermögen, wenn er, um seinen Zustand zu verbessern, an seinen Kassenbestand einige Nullen anhängen wollte."
Werke II, Seite 62:
    "Diese (die formal-logischen) Kriterien aber betreffen nur die  Form der Wahrheit, d. h. des Denkens überhaupt, und sind sofern ganz  richtig, aber nicht hinreichend. Denn obgleich einer Erkenntnis der logischen Form völlig gemäß sein möchte, d. h.  sich selbst nicht widerspräche, so kann sie doch noch immer  dem Gegenstand widersprechen. Also ist das bloß logische Kriterium der Wahrheit, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes  und der Vernunft, zwar die  conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp], mithin die  negative Bedingung aller Wahrheit: weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrtum, der nicht die Form, sondern den  Inhalt betrifft, kann die  Logik durch keinen Probierstein entdecken." 
Seite 63:
    "Gleichwohl liegt so etwas Verlockendes im Besitz einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, wenn man auch in Anbetracht des Inhalts derselben noch sehr leer und arm sein mag, daß jene allgemeine Logik, die bloß ein  Kanon zur Beurteilung ist, gleichsam wie ein  Organon zur wirklichen Hervorbringung, wenigstens zu einem Blendwerk von objektiven Behauptungen gebraucht, und mithin in der Tat dadurch mißbraucht wurde. Die allgemeine Logik nun, als verneintes Organon (diese Logik des Scheins) heißt Dialektik."
Vgl. auch die Ausführung dieser Sätze auf Seite 64-65. Die Wahrheit des Inhalts dagegen ist nach KANT nur aus der  Erfahrung  zu schöpfen (Kr. d. r. V., a. a. O., Seite 194-195):
    "Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d. h. sich auf einen Gegenstand beziehen, und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muß der Gegenstand auf irgendeine Art  gegeben werden können. Ohne das sind die Begriffe leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken  nichts erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen  gespielt. Einen Gegenstand  geben wenn dies nicht wiederum nur mittelbar gemeint sein soll, sondern unmittelbar in der Anschauung darstellen, ist nichts anderes als dessen Vorstellung auf eine  Erfahrung (es sei eine wirkliche oder mögliche) beziehen." (2)

7. Fichte

Indem sich bei FICHTE das Ding-ansich in das abstrakte vom Ich gesetzte Nicht-Ich verwandelt und somit ausdrücklich aller Inhalt des Bewußtseins als ein vom Ich produzierter ausgesprochen wird, tritt ihm der Vorwurf nahe, vom Standpunkt des subjektiven Idealismus den Versuch zu wiederholen, den SPINOZA vom Standpunkt der naiven Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gemacht hatte, nämlich ein System der Philosophie auf  rein deduktivem  Weg zu gewinnen, nun nicht mehr wie SPINOZA von der Definition der absoluten Substanz ausgehend, sondern von den formalen Voraussetzungen allen Denkens, dem Satz der Identität und des Widerspruchs. SPINOZA hatte gut deduzieren aus seiner Substanz, weil er von vornherein allen Inhalt in sie hineingeworfen hatte, aber FICHTE konnte seine "Wissenschaftslehre" nur in dem großen Irrtum unternehmen, allen Inhalt aus einem rein formalen,  allen Inhalt entbehrenden  Prinzip deduzieren zu wollen, wohingegen HEGEL sehr wohl weiß, "daß aus einer absoluten Formalität zu keiner Materialität zu kommen ist" (Werke I, Seite 281). So weit war also FICHTE davon entfernt, an den Sätzen der Identität und des Widerspruchs zu rüttlen, daß er sie vielmehr als die formalen  Prinzipien  hinstellt, von denen er sein gesamtes System  ableitet. 

Die Ziele, welche FICHTE zunächst im Auge hatte, waren einerseits die Deduktion der kantischen Kategorien, andererseits die der kantischen Ethik. Betrachten wir die Art und Weise seiner Ableitung, so sagt er ("Wissenschaftslehre", erste Ausgabe, Seite 25f) etwa folgendes:
    "Das Resultat des bisherigen ist: wenn Ich = Ich ist, so ist Ich nicht=Ich. Wenn diese Folgerung richtig wäre, so würde dadurch die Identität des Bewußtseins,  das einzige absolute Fundamentum unseres Wissens, aufgehoben. Hiermit tritt die Aufgabe ein, etwas zu finden, mittels dessen jene Folgerung richtig sein kann, ohne daß die Identität des Bewußtseins aufgehoben wird. Wir müssen uns fragen, wie lassen  A und  -A, Sein und Nichtsein, Realität und Negation, sich zusammen denken, ohne daß sie sich vernichten und aufheben.  Es ist nicht zu erwarten, daß irgendjemand diese Frage anders beantworten wird, als folgendermaßen: sie werden sich gegenseitig  einschränken. Etwas einschränken heißt: die Realität desselben durch Negation nicht  gänzlich, sondern nur  zum Teil aufheben. Der Begriff der Schranke schließt also auch den der  Teilbarkeit (Quantitätsfähigkeit überhaupt) in sich. Die Lösung des obigen Widerspruchs ist also: das Ich setzt sich als beschränkt durch das Nicht-Ich, und das Ich setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch sich; d. h. sowohl Ich als auch Nicht-Ich wird als teilbar gesetzt, und ein Teil der Realität, nämlich derjenige, der dem Nicht-Ich beigelegt wird, ist dem Ich entzogen, so daß ihm nur der Rest bleibt."
Das Prinzip der FICHTEschen Dialektik ist hiermit klar ausgesprochen.

Niemals deduziert er, wie HEGEL, die Antithesis  aus der Thesis,  sondern beide sind ihm auf gleiche Weise entweder als Prinzipien gegeben oder aus einem Dritten entwickelt. Thesis wie Antithesis sind stets in einer Satzform ausgesprochen, nicht bloße Begriffe; sie sind aufzufassen als ein und dasselbe Urteil, das eine Mal mit positiver, das andere Mal mit negativer Kopula; sie stellen also den Widerspruch in reinster Form dar. Sofort ergibt sich aber, daß dieser Widerspruch  nur durch die Ungenauigkeit des Verbalausdrucks  in die Sache hineingebracht worden ist; denn die Synthesis  widerruft  die Allgemeinheit, in welcher Thesis wie Antithesis sich ausdrückten, und schränkt ihre Bedeutung und Geltung auf solche Weise ein, daß nunmehr  jeder  der Sätze etwas anderes sagt, und sie  sich nicht mehr widersprechen.  Die Synthesis hat demnach auch noch die Form eines Doppelsatzes, dessen beiden Seiten die  nunmehr berichtigte  Thesis und Antithesis darstellen. Dieser synthetische Doppelsatz als solcher enthält keinen Widerspruch mehr, wohl aber ist es möglich, daß sich aus  jedem  der beiden  Teile  dieses Doppelsatzes neue Widersprüche zu ergeben scheinen, wobei dieser Schein in derselben Weise durch eine gegenseitige Beschränkung gelöst wird. Hierin liegt die Möglichkeit des Fortgangs der Deduktion. So wird z. B. bei der ersten Synthesis: "Das Ich setzt sich als beschränkt durch das Nicht-Ich und setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch sich" aus dem ersten Teil die theoretische, aus dem zweiten die praktische Philosophie abgeleitet. Vollständig und lückenlos durchgeführt würde also das Schema der FICHTEschen Dialektik [...] ins Unendliche gehen.  Nur der willkürlich eintretende Machtspruch der praktischen Vernunft  vermag die  theoretische  Entwicklung  abzubrechen,  aber die  praktische  Entwicklung ihrerseits bleibt auch in diesem  fruchtlosen unendlichen Prozeß  stecken.

Fragt man sich nun, was die FICHTEsche Methode  wirklich  zu leisten vermag, so bleibt nichts übrig, als  die alte sokratische Begriffsberichtigung,  die Berichtigung der fehlerhaften Voraussetzungen durch derartige Änderungen derselben, daß die aus jenen Fehlern entspringenden Widersprüche verschwinden. Der Schein einer Entwicklung von positiven Erkenntnissen verschwindet aber schon vor der einfachen Erwägung, daß aus rein formellen Prinzipien keine materielle Erkenntnis zu schöpfen ist, er ist aber auch im einzelnen ohne Mühe durch den Nachweis zu beseitigen, wie die einzelnen Bestimmungen teils künstlich eingeschoben werden, teils aber ihnen (z. B. dem Grund) eine ganz unvollständige Bedeutung beigelegt wird. Fragen wir aber, worauf in FICHTEs eigenen Augen sein ganzes System ruht, d. h.  wie er zu seinen Prinzipien kommt,  so sind es ihm nichts anderes als "Tatsachen des empirischen Bewußtseins". Alles entwickelt sich bei ihm  aus  Verstandesprinzipien, oder vielmehr  er,  der Denker, entwickelt die Bestimmungen des Wissens  aus jenen obersten Tatsachen des empirischen Bewußtseins nach den allgemein angenommenen Gesetzen des Verstandes. 

Ich will hier schließlich noch anfügen, wie HERBART über FICHTEs dialektische Tendenzen urteilte. HERBARTs Werke V, Seite 259:
    "Daß ein Undenkbares nicht sein kann, - daß derjenige sein eigenes Denken aufhebt, welcher von einem Undenkbaren denken will, es sei, - daß also, wenn der Lauf der Spekulation auf einen solchen Punkt geführt hat, man denselben schlechterdings verlassen muß; dies leuchtet unmittelbar ein. Nachdem also  Fichte sich den Begriff des Ich dergestalt analysiert hatte, daß er einsah, derselbe sei undenkbar: mußte schon dieses, noch ohne eine vollständigere Entwicklung aller Widersprüche im Ich, ihn bestimmen, die zuerst angenommene Realität des Ich, samt der vermeintlichen intellektuellen Anschauung desselbenm, völlig zu verwerfen."
Seite 260:
    "Aber  Fichte hatte einmal seinem Wollen Einfluß auf das Denken verstattet. Er glaubte, im Ich die Freiheit zu finden, und von der Freiheit wollte er nicht lassen. Er behielt also den undenkbaren Gedanken; er gab ihm Autorität durch das Vorgeben einer intellektuellen Anschauung, denn dafür hielt er den Zustand der Anstrengung, mit welcher das Undenkbare als ein Gegebenes der inneren Wahrnehmung festgehalten wurde; und so wurde einer der größten Denker, die je gewesen sind, zur Urheber einer Schwärmerei, die in der Folge, als sie sich die sogenannte absolute Identität zum Mittelpunkt erkoren, und diese mit Spinozismus, Platonismus, Physik und Physiologie amalgamiert hatte, in einem weiten Kreis die Stelle der Philosophie besetzte, und aus einem noch viel weiteren Kreis die Philosophie verscheuchte, weil man über der intellektuellen Anschauung nicht den Verstand verlieren wollte."
HERBART selbst gibt in seier "Methode der Beziehungen" eine erweiterte Ausbildung der sokratischen Begriffsberichtigung.


8. Schelling

In seiner vorhegelschen Periode (transzendentale Idealismus und Naturphilosophie) folgt SCHELLING in der Methode wesentlich der FICHTEs, nur daß er sie freier und gewissermaßen künstlerischer behandelt und zum Ausgangspunkt die Identität des Subjekts und Objekts nimmt, zu welcher er nur auf dem Weg der transzendentalen Vernunftanschauung gelangen zu können meint, obwohl er in Werke I. 10, Seite 147-151 die Bedeutung und das Objekt dieser transzendentalen Anschauung auf eine so vorsichtige Weise einschränkt, daß, wenn er niemals etwas anderes damit im Sinn gehabt hätte, seine Klage über das Mißverstehen dieses Begriffs ganz gerechtfertigt wäre, Er nennt die Methode, deren er sich bedient, die  synthetische  Methode, und skizziert das Schema derselben in unvollkommener Weise mit folgenden Worten (Werke I. 3, Seite 412:
    "Zwei Gegensätze, a und b (Subjekt und Objekt), werden vereinigt durch die Handlung  x, aber in  x ist ein neuer Gegensatz  c und  d (Empfindendes und Empfundenes), die Handlung  x wird also selbst wieder zum Objekt; sie ist selbst nur erklärbar durch eine neue Handlung  = z, welche vielleicht wieder einen Gegensatz enthält usw."
Auch ihm ist der Widerspruch, welcher sich zeigt, nichts Wirkliches, sondern ein Schein, der vernichtet werden muß, indem man den  Mittelbegriff  findet, welcher den Gegensatz so verknüpft, daß das scheinbar Widersprechende desselben verschwindet. Es gelingt aber der Kraft des Denkens nicht, den Widerspruch mit  einem  Schlag bis in die fernsten Winkel hinein zu vertilgen, sondern er findet gleichsam Schlupflöcher, in die er sich verkriecht, und aus denen er nach und nach vertrieben werden muß. So sagt er (Werke I. 3, Seite 538):
    "Für diesen Widerspruch muß ein vermittelnder Begriff gefunden werden ... Wir verfahren auch bei der Lösung dieses Problems, wie wir bei der Auflösung anderer Probleme verfahren sind, nämlich so, daß wir die Aufgabe  immer näher und näher bestimmen, bis  die einzig mögliche Auflösung übrigbleibt."
Anderwärts (Werke I. 3, Seite 562) erklärt er  die Zeit  für das allgemein Vermittelnde zur Aufhebung von Widersprüchen. Betrachtet man Beispiele, wie Werke I. 3, Seite 542, so geht auf das Deutlichste hervor, daß für SCHELLING der Widerspruch nur aus der unrichtigen, subjektive Auffassung entspringt und seine Aufhebung und eine wahre Vernichtung und ein Nachweis seiner bloßen Scheinbarkeit durch die Berichtigung der Auffassung ist. In Werke II. 1, Seite 301 sagt er: "Man muß wirklich denken, um zu  erfahren,  daß das  Widersprechende nicht zu denken ist."  Hier spricht er sein Festhalten am Satz des Widerspruchs deutlich aus. Wenn er von einer  Identität  der Gegensätze redet, so ist dies nur ein Mißbrauch des Wortes; denn er meint damit keineswegs "Dieselbigkeit" oder "Einerleiheit", sondern eine "organische Einheit" (vgl. Werke I. 7, Seite 421-422), d. h. also entweder eine reale Verbundenheit (vgl. Werke I. 4, Seite 389.390) oder eine begriffliche Zusammengehörigkeit der ideell Entgegengesetzen; keins von beiden schließt einen Widerspruch ein. (HEGEL aber gebraucht, wie wir sehen werden, das Wort "Identität" bald im SCHELLINGschen, bald in seinem eigentlichen [aristotelischen] Sinn, und bringt dadurch eine grenzenlose Verwirrung hervor).

In der Naturphilosophie wird die synthetische Methode bei SCHELLING mehr und mehr zu einem unfruchtbaren spielenden Schematismus. HEGEL sagt darüber (Werke XV, Seite 614):
    "Bei  Schelling wird die Form dagegen mehr zu einem äußerlichen Schema und die Methode ist das Anhängen dieses Schemas an äußerliche Gegenstände. Dieses äußerlich angebrachte Schema tritt an die Stelle des dialektischen Fortgangs; dadurch hat sich die Naturphilosophie nun besonders in Mißkredit gesetzt, indem sie auf ganz äußerliche Weise verfahren ist, ein fertiges Schema zugrunde legt und darunter die Naturanschauung bringt."
Die Methode, welche der Philosophie apodiktische Gewißheit verleihen und sie zur absoluten Wissenschaft erheben soll, heißt hier die der  Konstruktion.  Konstruktion ist die reale Gleichsetzung des Allgemeinen und Besonderen in der reinen Anschauung (Werke I. 5, Seite 131-132). Die Einheit des Allgemeinen und Besonderen, die bei HEGEL  Begriff  heißt, heißt bei SCHELLING  Idee was also nach SCHELLING konstruiert wird, ist nur die Idee, und zwar eigentlich nur die  eine  Idee, nämlich für den Philosophen die des Absoluten, wie für den Geometer die des Raumes (Werke I. 5, Seite 135). Das Produktive bei diesem Konstruieren ist die supraindividuelle Vernunft; ihm steht die unproduktive individuelle Reflexion gegenüber, die entweder bloß passiv diesem Produzieren zuschaut, indem sie es retardiert [verzögert - wp] und so jedes Moment der Produktion Stand zu halten zwingt, oder aber durch Fragen die Antworten hervorlockt (Werke I.9, Seite 237-238 und 243). Dieses innere Wechselspiel von Frage und Antwort zwischen den gespaltenen Seiten des Denkens ist die wahre philosophische Dialektik (Werke I. 10, Seite 98; I. 8, Seite 201-202; I. 9, Seite 238-239).

Die ursprüngliche noch ungeschiedene Einheit, aus der erst alle Differenzen hervorgehen, heißt in SCHELLINGs erster Periode "absolute Identität", in der zweiten "Indifferenz"; die synthetische Verknüpfungseinheit, in welche die differenzierten Gegensätze zusammen eingehen, heißt in der ersten Periode "Indifferenz" oder schlechtweg "Identität" (ohne den Zusatz "absolute"), in der zweiten Periode nur noch "Identität" (Werke I. 6, Seite 209; I. 7, Seite 154, 406, 422, 433). Die wiederhergestellte Einheit wird auch als der Sieg der Einheit über den Gegensatz, oder als Einheit der Einheit und des Gegensatzes bezeichnet (Werke I. 4, Seite 295; I. 2, Seite 390; I. 7, Seite 445). Dabei kommt die Dreiteiligkeit in Schwierigkeiten. Anfangs bildeten Thesis, Antithesis und Synthesis die Trias, jetzt ist es eine ursprüngliche Einheit, der aus ihr entsprungende Gegensatz und die Verschmelzungseinheit. Im ersteren Fall fehlt die ursprüngliche Einheit, die Indifferenz vor der Differenzierung; im letzteren Fall sind die Thesis und Antithesis als Gegensatz in Eins gefaßt. Darum hat JOHANN JACOB WAGNER die SCHELLINGsche Philosophie zu verbessern geglaubt, indem er sie im Sinne einer Vierteiligkeit umbildete. - Den Gegensatz faßt der reflektierende Verstand entweder als "sowohl - als auch" oder als "entweder - oder" oder als "weder - noch" auf, und verwickelt so beim Versuch, die Bestimmungen des Gegensatzes als einseitige festzuhalten, in Widersprüche, während doch das schlechthin einfache Absolute nur durch eine einfache (intellektuelle) Anschauung zu erkennen ist (Werke I. 6, Seite 23-25; I. 7, Seite 151-155). Aber hier ist doch das Sein und das wahre Erkennen widerspruchsfrei und nur die endliche diskursive Verstandesreflexion ist es, die durch ihre Unangemessenheit an die Sache Widersprüche schafft (Werke I. 7, Seite 151).

Wie SCHELLING über die HEGELsche Methode dachte, hat er unumwunden ausgesprochen in seiner Kritik der hegelschen Philosophie (Werke I. 10); besonders lehrreich ist Seite 132-135, wo er den Anfang der hegelschen Logik behandelt. Über das Prinzip der Selbstfortbewegung bei HEGEL sagt er ferner (Werke I. 10, Seite 132):
    "Aber das stillschweigend Leitende dieses Fortgangs ist doch immer der  terminus ad quem [Zeitpunkt, zu dem etwas gilt oder ausgeführt werden muß - wp], die wirkliche Welt, bei welcher die Wissenschaft zuletzt ankommen soll ... Es ist also in dieser angeblichen notwendigen Bewegung eine doppelte Täuschung:  1.  indem dem  Gedanken der  Begriff substituiert und dieser als sich selbst Bewegendes vorgestellt wird, und doch der Begriff für sich selbst ganz unbeweglich liegen würde, wenn er nicht der Begriff  eines  denkenden Subjekts, d. h. wenn er nicht Gedanke wäre;  2.  indem man sich vorspiegelt, der Gedanke werde nur durch eine in  ihm selbst  liegende Notwendigkeit weiter getrieben, während er doch offenbar ein  Ziel  hat,  nach  welchem er hinstrebt, und das, wenn der Philosophierende auch noch so sehr dessen Bewußtsein zu verbergen sucht, darum nur umso entschiedener bewußtlos auf den Gang des Philosophierens einwirkt."
Seite 162:
    "Wer aber unter dem Vorwand, dies seien bloß endliche Verstandesbestimmungen, sich über alle natürlichen Begriffe erheben will,  der beraubt sich eben damit selbst aller Organe der Verständlichkeit, denn  nur in diesen Formen kann uns alles verständlich werden."
So weit entfernt war der einzige ebenbürtige Zeitgenosse HEGELs, sich von dessen Dialektik blenden zu lassen. Der Mann, der sich so gern an Fremdes anlehnte, der Mann, der HEGELs  Resultate,  wenn auch etwas widerwillig, als  bleibenden Gewinn  der Wissenschaft  akzeptierte,  dieser Mann hätte sich nimmermehr aus kleinlicher Eifersucht sträuben können, von seinem Universitätsfreund die  Methode  zu akzeptieren, wenn er sie für akzeptabel gehalten hätte. Schon in der 1801 erschienen Schrift HEGELs: "Die Differez des Fichteschen und Schellingschen Systems" ist die dialektische Methode in ihren Prinzipien auf das Klarste entwickelt; SCHELLING hätte also sehr wohl frühzeitig die Methode seines Mitkämpfers benutzen können, um die von ihm damit erzielten Resultate zu  überbieten,  wenn er sie für richtig gehalten hätte; aber er durchschaute bald die Unmöglichkeit dieses Gebildes. -

In seiner  späteren  Zeit wandte sich SCHELLING von der deduktiven FICHTEschen Dialektik ab und der indutiven Seite der platonischen Dialektik zu, indem er sich an der HEGELschen Philosophie überzeugt hatte, daß es der apriorischen Idee unmöglich ist, von sich aus  zur Wirklichkeit  zu kommen, daß das rein logische Philosophieren ewig ein  hypothetisches  bleibt und daß ARISTOTELES  recht hat,  wenn er sagt, daß zu den Prinzipien nicht auf deduktivem, sondern nur auf dem alsdann allein übrigbleibenden, induktivem Weg zu gelangen ist (vgl. Werke II. 1, Seite 297). Wir lassen SCHELLING selbst reden, wie er seine  nunmehrige  Dialektik auffaßt. Werke II. 1, Seite 325 sagt er, daß die Dialektik ihre Bestimmungen nach reinster  formaler  Denknotwendigkeit setzt, über die sich niemand täuschen kann. Seite 302 bestätigt er dies mit den Worten:
    "In der Tat, rufen wir uns zurück, wie wir zu unseren Momenten des Seienden gekommen sind, so zeigt sich, daß wir dabei nur durch das  im Denken Mögliche und Unmögliche bestimmt werden." Das  Unmögliche im Denken ist aber nur  das sich Widersprechende, das  Mögliche also,  alles sich nicht Widersprechende." 
Seite 321 sagt er, daß man die Induktion in zweierlei Sinn denken muß:
    "Die eine Art der Induktion schöpft die Elemente aus der Erfahrung, die andere aus dem Denken selbst, und diese letzte ist die, durch welche die Philosophie zum Prinzip gelangt."
Der Gegensatz von  Erfahrung  und  Denken  löst sich aber sogleich in den von  äußerer  und  innerer  Erfahrung auf. Seite 326:
    "Denn allerdings gibt es auch solche, die vom Denken wie einem Gegensatz aller Erfahrung reden, als ob das Denken selber nicht eben auch eine Erfahrung wäre. Man muß  wirklich denken, um zu  erfahren, daß das Widersprechende nicht zu denken ist. man muß den Versuch machen, das Unvereinbare  zumal zu denken, um der Notwendigkeit inne zu werden, es in  verschiedenen Momenten,  nicht zugleich, zu setzen,  und so die schlechthin einfachen Begriffe zu gewinnen. Wie es zwei Arten von Induktion gibt, so auch zweierlei Erfahrung. Die eine sagt, was  wirklich und was  nicht wirklich ist: diese ist die insgemein so genannte; die andere sagt, was  möglich und was  unmöglich ist: diese wird im Denken erworben. Das Denken ist also auch Erfahrung.  Geradezu ist vom dem so im Denken erworbenen kein Beweis möglich, nur ad hominem [Angriff auf persönliche Umstände und Eigenschaften - wp]. Man denkt sich dabei immer einem andern gegenüber, dem man anheimstellt zu finden, was er dem reinen Subjekt vorsetzen könnte, sicher, daß er nichts dergleichen finden, also (?) nicht antworten wird. Man verfährt auch ohne die äußerliche Form gesprächsweise, wovon ja auch der Name des dialektischen Verfahrens herkommt, das  Aristoteles auf das Bestimmteste der apodiktischen Wissenschaft entgegenstellt."
Nun ist aber klar, wenn ich Bestimmungen nur deshalb setze, weil ich  erfahre,  daß es  mir  unmöglich ist, ihr Gegenteil zu setzen, daß das, was ich durch diese Erfahrung konstatiert habe, nichts anderes als eine  Tatsache der Einrichtung meines Denkvermögens  ist, daß also alle Erfahrungen, aus denen sich die Dialektik aufbaut,  psychologische  sind, wenngleich das Gebiet der psychologischen Erfahrungen sehr viel  weiter  ist, als der Teil desselben, welcher hier zur Sprache kommt. Wie sehr erstaunt man daher, wenn man (Seite 299f) folgendes liest:
    "Fügen wir nun außerdem hinzu, daß die auf solche Weise zu Werke Gehenden als die für ihre Zwecke geeigneten nur psychologische Tatsachen annehmen, so zeigt sich auch hier, wie beschränkt sie die Aufgabe fassen. Psychologie ist eine Wissenschaft für sich, und selbst eine philosophische, die ihre eigene nicht geringe Aufgabe hat, und daher (!?!) nicht nebenbei noch zur Begründung der Philosophie dienen kann."
Der Grund dieses Widerspruchs wird aus dem folgenden klar werden.
    "Lassen wir aber diese Mißverständnisse beiseite, und nehmen wir an, die Induktion, die wir verlangen, sei auf der breitesten Grundlage ausgeführt, und auf dem Weg der reinsten und genauesten Analysis wirklich zu den Prinzipien und durch diese zum Prinzip gelangt, wird man alsdann nicht eben dieses Aufsteigen schon selbst als Philosophie ansehen müssen, und wird man noch zur Deduktion übergehen wollen, nur um denselben Weg langweiligerweise zum zweitenmal in umgekehrter Richtung zurückzulegen?"
Man ist in der Tat gespannt auf SCHELLINGs Antwort, und was kommt heraus?
    "Wie vertrüge sich diese Vorstellung  mit dem Begriff absoluter Wissenschaft, der sich uns  unwillkürlich (!) mit Philosophie verbindet?"
Er  schämt  sich also, dem  alten Vorurteil  der  absoluten  Wissenschaft untreu geworden und zur besseren Erkenntnis gekommen zu sein, daß nur auf induktivem Weg etwas Inhaltliches zu lernen ist, was man nicht schon längst wüßte, und schämt sich am meisten des Verdachtes, am Ende gar die plebejische Psychologie zur Grundlage der Philosophie gemacht zu haben.

Ein reeller Grund bleibt ihm freilich übrig, warum die  von ihm verlangte  Induktion nicht ausreicht, d. h.  ihre willkürliche Beschränkung  nicht nur auf eine innere, d. h. psychologische Erfahrung, sondern auf einen ganz beschränkten Teil derselben. Zur Philosophie aber kann nur eine Induktion auf  "breitester Grundlage"  führen, d. h. eine Induktion, die sich auf alle nur irgendwie zugängliche Erfahrung stützt, wie schon ARISTOTELES sich um eine solche "breiteste Basis bemühte. So springt SCHELLING möglichst schnell von dieser unbehaglichen Grundlegung ab, und setzt das Verhältnis des Logischen und des Dialektischen in einem engeren Sinn auseinander. Diese unterscheidet er so, daß das Logische die Bestimmungen nach einer formalen Denknotwendigkeit als Prinzipien  setzt,  das Dialektische aber sie als  Prinzipien aufhebt  und nur als Voraussetzungen, als  Stufen  zum Prinzip bestehen läßt (Seite 328). Immer aber hält er fest, daß dieses Aufsteigen durch platonische Voraussetzungen eine  Induktion  ist, und erläutert dies am Beispiel des Experimentators (Seite 329):
    "Der denkende und sinnreiche Experimentator ist der Dialektier der Naturwissenschaft, der ebenfalls durch Hypothesen, durch Möglichkeiten, die vorerst bloß im Gedanken sein können, und auf die er auch durch bloß logische Konsequenz geführt ist, hindurchgeht, ebenfalls um sie aufzuheben, bis er zu derjenigen gelangt ist, welche sich durch die letzte entscheidende Antwort der Natur selbst als Wirklichkeit erweist." (3)
LITERATUR - Eduard von Hartmann, Über die dialektische Methode, Bad Sachsa 1910
    Anmerkungen
    1) Selbst HERMANN COHEN gesteht dies in "Kants Theorie der Erfahrung", Seite 261 zu, räumt also damit implizit ein, daß der angebliche indirekte Beweis für den transzendentalen Idealismus gar kein solcher ist, da er sich in einem  circulus vitiosus [Teufelskreis - wp] dreht.
    2) Vgl. meine Schrift "Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik in den vier Perioden ihrer Entwicklung", 1894 (Die transzendentale Dialektik, Seite 183-228 und 246-248).
    3) Vgl. hierzu meine Schrift "Schellings philosophisches System", 1897, Seite 25-51.