cr-2ra-1B. CroceSchleiermachervon HartmannTrendelenburgJ. Borelius     
 
KARL R. POPPER
Was ist Dialektik? (1)

"Ein Beispielt dafür, daß die  Metaphern, die von den Dialektikern verwendet und oftmals viel zu ernst genommen werden, bietet die dialektische Redewendung, daß die Thesis ihre Antithesis  hervorbringt. Tatsächlich ist es lediglich unsere kritische Attitüde, die die Antithesis hervorbringt, und wo es an dieser Attitüde fehlt - was oft genug der Fall ist -, wird keine Antithesis hervorgebracht. In gleicher Weise müssen wir uns vor der Auffassung hüten, daß es der  Kampf zwischen Thesis und Antithesis ist, der die Synthesis  hervorbringt. Es ist ein Kampf des Denkens, und das Denken muß neue Ideen hervorbringen."

"Kritik kann niemals etwas anderes tun, als entweder irgendeinen Widerspruch herauszustellen oder vielleicht einfach der Theorie zu widersprechen (d. h. Kritik kann dann einfach die Aufstellung der Antithesis sein). Die Kritik ist jedoch in seinem sehr bedeutungsvollen Sinn die wichtigste Triebkraft der geistigen Entwicklung. Ohne Widerspruch, ohne Kritik gäbe es kein vernünftiges Motiv für die Änderung unserer Theorien: es gäbe keinen geistigen Fortschritt."

"Gerade die Tatsache, daß die Welt voller Widersprüche ist, zeigt uns von einem anderen Blickpunkt her, daß das Gesetz vom Widerspruch aufgegeben werden muß. Das Gesetz impliziert, daß in der Natur, d. h. in der Welt der Fakten, niemals Widersprüche vorkommen können und daß Fakten sich niemals widersprechen können, da Ideen dies tun, und daß Fakten sich durch Widersprüche entwickeln, wie die Ideen es tun; somit muß also das Gesetz vom Widerspruch aufgegeben werden."

"Es gibt nichts, das wir uns vorstellen könnten,
so absurd und unglaublich es auch sein mag -
es ist doch von diesem oder jenem Philosophen
behauptet worden."
      - Descartes



I. Erklärung der Dialektik

Der obige Leitsatz läßt sich verallgemeinern. Er bezieht sich nicht nur auf Philosophen und auf die Philosophie, sondern auf den gesamten Bereich menschlichen Denkens und Tuns, auf Wissenschaft, Technik und Politik. Und tatsächlich läßt sich die Tendenz, alles einmal zu versuchen, der unser Leitsazt Ausdruck verleihen will, in einem noch weiteren Bereich erkennen - in der erstaunlichen Vielfalt der Formen und Phänomene, die das Leben auf unserem Leben hervorgebracht hat.

Wenn wir also zu erklären versuchen, warum das menschliche Denken geneigt ist, für jedes aufgeworfene Problem jede gangbare Lösung einmal zu probieren, dann können wir uns auf eine Regelmäßigkeit recht allgemeiner Art berufen. Die Methode, mit der man sich an die Lösung heranarbeitet, ist in der Regel die gleich: Es ist die  Trial-and-error-Methode [Versuch und Irrtum - wp]. Diese Methode wird grundsätzlich auch von lebenden Organismen im Anpassungsprozeß angewendet. Offensichtlich aber hängt der Erfolg dieser Methode in sehr großem Maß von der Anzahl und Vielfalt der "trials" ab: Je häufiger die "trials", desto wahrscheinlicher ist es, daß einer davon erfolgreich sein wird.

Die in der Entwicklung des menschlichen Denkens - und besonders der Philosophie - verwendete Methode können wir als eine besondere Variante der  Trial-and-error-Methode bezeichnen. Die Menschen scheinen die Neigung zu haben, auf ein Problem entweder durch die Aufstellung einer Theorie und ein zähes Festhalten daran (wenn sie falsch ist, werden sie lieber mit ihr zugrunde gehen, als sie aufgeben) (2) zu reagieren oder, wenn sie einmal deren Schwächen erkannt haben, durch die Bekämpfung einer solchen Theorie. Dieser Kampf der Ideologien, der sich offenbar mit Hilfe der  Trial-and-error-Methode  erklären läßt, scheint für die Gesamtheit dessen charakteristisch zu sein, was man als Entwicklung des menschlichen Denkens bezeichnen kann. Die Fälle, in denen ein solcher Kampf nicht stattfindet, sind in erster Linie dadurch gekennzeichnet, daß eine bestimmte Theorie oder ein System von Theorien über eine lange Zeitperiode hinweg dogmatisch aufrechterhalten wird; aber wenn überhaupt, dann werden sich nur wenige Beispiele für eine Entwicklung des Denkens finden, die sich langsam, stetig, kontinuierlich und durch sukzessive Fortschrittsstadien und nicht durch "trial and error" und einen Kampf der Ideologien vollzieht.

Wenn die  Trial-and-error-Methode  immer bewußter entwickelt wird, beginnt sie die charakteristischen Züge einer "wissenschaftlichen Methode" anzunehmen. Diese "Methode" (3) läßt sich kurz wie folgt beschreiben: Wenn ein Wissenschaftler einem Problem gegenübersteht, so wird er - versuchsweise - eine Art von Lösung vorbringen: eine Theorie. Und diese Theorie wird die Wissenschaft nur vorläufig akzeptieren - falls überhaupt; denn es ist äußerst charakteristisch für die wissenschaftliche Methode, daß die Wissenschaftler keine Mühe scheuen, die in Frage stehende Theorie zu kritisieren und zu testen. Kritisieren und Testen gehen Hand in Hand; die Theorie wird von sehr verschiedenen Seiten kritisiert, um die Punkte herauszufinden, die sich als verwundbar erweisen können. Und das Testen einer Theorie vollzieht sich dadurch, daß man diese verwundbaren Punkte einer möglichst harten Prüfung unterzieht. Dies ist natürlich wiederum eine Variante der  Trial-and-error-Methode.  Theorien werden versuchsweise aufgestellt und ausprobiert. Wenn das Ergebnis eines Tests zeit, daß die Theorie falsch ist, wird sie verworfen; die  Trial-and-error-Methode  ist im wesentlichen eine Methode der Ausscheidung. Ihr Erfolg hängt in erster Linie von drei Bedingungen ab: nämlich, daß genügend zahlreiche (und geistreiche) Theorien aufgestellt werden, daß die aufgestellten Theorien hinlänglich verschieden sind und daß ausreichend harte  Tests  durchgeführt werden. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, dann können wir - wenn wir Glück haben - das Überleben der tauglichsten Theorie durch eine Ausscheidung der weniger tauglichen sicherstellen.

Wenn diese Beschreibung (4) der Entwicklung des menschlichen Denkens im allgemeinen und des wissenschaftlichen Denkens im besonderen als mehr oder weniger korrekt akzeptiert wird, dann kann sie uns verstehen helfen, was diejenigen meinen, die sagen, daß sich die Entwicklung des Denkens  "dialektisch"  vorwärtsbewegt.

Dialektik (im modernen (5) Sinne, d. h. besonders in dem Sinne, in dem HEGEL den Ausdruck gebrauchte) ist eine Theorie, die behauptet, daß etwas - insbesondere das menschliche Denken - sich in einer Weise entwickelt, die durch die sogenannte dialektische Triade charakterisiert ist:  Thesis, Antithesis  und  Synthesis.  Zunächst gibt es eine Idee, eine Theorie oder eine Bewegung, die man als "Thesis" bezeichnen kann. Eine solche Thesis wird häufig Opposition hervorrufen, da sie, wie die meisten Dingen dieser Welt, von nur begrenztem Wert sein wird oder ihre schwachen Stellen hat. Die Gegenidee oder Gegenbewegung wird als "Antithesis" bezeichnet, da sie gegen die erste, die Thesis, gerichtet ist. Der Kampf zwischen Thesis und Antithesis dauert nun so lange, bis irgendeine Lösung zustande kommt, die in gewissem Sinne über Thesis und Antithesis hinausgeht, und zwar durch Anerkennung ihrer Vorteile und durch den Versuch, die Stärken beider zu bewahren und ihre Schwächen zu vermeiden. Diese Lösung, die den dritten Schritt darstellt, wird als  Synthesis  bezeichnet. Nachdem nun diese Synthesis einmal erreicht ist, kann sie ihrerseits zum ersten Schritt einer neuen dialektischen Triade verwendet werden, was eintreten wird, falls sich die erreichte Synthesis als einseitig oder sonstwie unbefriedigen erweist. Denn in diesem Fall wird wiederum eine Opposition auf den Plan gerufen werden, was bedeutet, daß die Synthesis nunmehr als eine neue Thesis bezeichnet werden kann, die eine neue Antithesis hervorgebracht hat. Somit wird sich die dialektische Triade auf einem höheren Niveau fortsetzen, und sie kann ein drittes Niveau erreichen, nachdem eine zweite Synthesis zustande gekommen ist. (6)

Soviel über die sogenannte "dialektische Triade". Nun läßt es sich kaum bezweifeln, daß die dialektische Triade recht gut bestimmte Schritte in der Geistesgeschichte beschreibt, besonders gewisse Entwicklungen von Ideen und Theorien sowie von sozialen Bewegungen, die auf Ideen oder Theorien gegründet sind. Eine derartige dialektische Bewegung kann durch den Nachweis "erklärt" werden, daß sie in Übereinstimmung mit der oben behandelten  Trial-and-error-Methode  fortschreitet. Es muß jedoch eingeräumt werden, daß eine solche dialektische Entwicklung nicht genau das gleiche ist, wie die oben beschriebene Entwicklung einer Theorie durch "trial and error". Unsere obige Beschreibung der  Trial-and-error-Methode  bezog sich lediglich auf eine Idee und ihre Kritik oder, um die Terminologie der Dialektiker zu verwenden, auf den Kampf zwischen Thesis und Antithesis; ursprünglich haben wir keine Andeutungen über eine Weiterentwicklung gemacht, wir haben nicht impliziert, daß der Kampf zwischen einer Thesis und einer Antithesis zu einer Synthesis führt. Wir haben vielmehr unterstellt, daß der Kampf zwischen einer Idee und ihrer Kritik bzw. zwischen einer Thesis und ihrer Antithesis zur Ausscheidung der Thesis (oder vielleicht der Antithesis) führt, falls sie sich als unbefriedigend erweist; und daß die Konkurrenz zwischen Theorien nur dann zur Annahme neuer Theorien führt, wenn genügend Theorien verfügbar sind und einer Bewährungsprobe unterworfen werden.

Somit kann man sagen, daß die Interpretation mit Hilfe der  Trial-and-error-Methode  geringfügig weiter gefaßt ist als die mit Hilfe der Dialektik. Sie ist nicht auf eine Situation beschränkt, in der anfänglich nur eine Thesis verfügbar ist, so daß sie leicht auf Situationen angewandt werden kann, in denen von Anfang an mehrere verschiedene Thesen verfügbar sind, die unabhängig voneinander sind und nicht 'notwendigerweise Gegensätze bilden müssen. Aber zugegebenerweise geschieht es sehr häufig - vielleicht ist es die Regel -, daß die Entwicklung eines Bereiches des menschlichen Denkens mit einer einzige Idee beginnt. Ist dies der Fall, so wird sich das dialektische Schema oft als anwendbar erweisen, da diese Thesis der Kritik ausgesetzt sein wird und auf diese Weise ihre Antithesis "hervorbringt", wie es die Dialektiker auszudrücken pflegen.

Die Dialektiker betonen noch einen weiteren Punkt, in dem die Dialektik geringfügig von der allgemeinen  Trial-and-error-Theorie  abweichen kann. Denn die oben angedeutete  Trial-and-error-Theorie  gibt sich mit der Behauptung zufrieden, daß eine unbefriedigende Ansicht widerlegt oder ausgeschieden wird. Der Dialektiker hingegen geht in seiner Behauptung weiter. Er betont, daß die in Betracht stehende Ansicht oder Theorie zwar widerlegt worden sein mag, daß sich aber höchstwahrscheinlich in ihr ein Element findet, welches der Bewahrung wert ist; denn sonst wäre es recht unwahrscheinlich, daß sie jemals aufgestellt und ernst genommen wurde. Und dieses wertvolle Element der Thesis wird wahrscheinlich von denen deutlicher herausgestellt werden, die die Thesis gegen die Angriffe ihrer Gegner, gegen die Verfechter der Antithesis, verteidigen. Somit wird sich als einzig befriedigende Lösung des Kampfes eine Synthesis erweisen, also eine Theorie, in der die besten Punkte sowohl der Thesis als auch der Antitheses bewahrt sind.

Es muß eingeräumt werden, daß eine derartige dialektische Interpretation der Geistesgeschichte recht befriedigend sein mag und daß sie wertvolle Details zur Interpretation mit Hilfe von "trial and error" beisteuern kann.

Als Beispiel wollen wir die Entwicklung der Physik heranziehen. Wir finden sehr viele Beispiele, die in das dialektische Schema passen, beispielsweise die Korpuskulartheorie des Lichts, die zunächst von der Wellentheorie ersetzt wurde und dennoch "bewahrt" bleibt in der neuen Theorie, die beide ersetzt. Um es genauer zu formulieren: Die alten Formeln können vom Standpunkt der neuen aus in der Regel als Annäherungen bezeichnet werden, d. h. sie erweisen sich als nahezu korrekt, so daß wir sie anwenden können, wenn wir keine sehr hohen Anfordernungen an die Exaktheit stellen, oder als völlig exakte Formeln, wenn wir in einem bestimmten begrenzten Anwendungsgebiet arbeiten.

All dies kann zugunsten der dialektischen Ansicht angeführt werden. Wir müssen uns jedoch hüten, zuviel zuzugestehen.

Wir müssen zum Beispiel vorsichtig umgehen mit einer Anzahl von Metaphern, die von den Dialektikern verwendet und oftmals viel zu ernst genommen werden. Ein Beispiel dafür bietet die dialektische Redewendung, daß die Thesis ihre Antithesis "hervorbringt". Tatsächlich ist es lediglich unsere kritische Attitüde, die die Antithesis hervorbringt, und wo es an dieser Attitüde fehlt - was oft genug der Fall ist -, wird keine Antithesis hervorgebracht. In gleicher Weise müssen wir uns vor der Auffassung hüten, daß es der "Kampf" zwischen Thesis und Antithesis ist, der die Synthesis "hervorbringt". Es ist ein Kampf des Denkens, und das Denken muß neue Ideen hervorbringen: Es gibt viele Beispiele für unfruchtbare Kämpfe in der Geschichte des menschlichen Denkens, für Kämpfe, die ergebnislos ausgefochten wurden. Und selbst wenn eine Synthesis erreicht wurde, wird sich die Behauptung, daß sie die besseren Teile sowohl der Thesis als auch der Antithesis "bewahrt", als recht oberflächliche Beschreibung dieser Synthesis erweisen. Diese Beschreibung wird auch dann irreführend sein, wenn sie zutrifft; denn die Synthesis wird zusätzlich zu den alten Ideen, die sie "bewahrt", in jedem Fall auch irgendeine neue Idee enthalten, die nicht auf frühere Entwicklungsstadien zurückgeführt werden kann. Mit anderen Worten: Die Synthesis wird in der Regel viel mehr darstellen, als eine Konstruktion aus dem von der Thesis und Antithesis bereitgestellten Material. In Anbetracht all dessen wird die dialektische Interpretation auch in den Fällen, in denen sie anwendbar sein mag, durch ihre Anregung, daß aus den in Thesis und Antithesis enthaltenen Ideen eine Synthesis konstruiert werden sollte, kaum jemals zur Entwicklung des Denkens beitragen können. Dies ist ein Punkt, den einige Dialektiker selbst betont haben; und dennoch bleiben sie fast immer bei der Annahme, daß die Dialektik als eine Methode verwendet werden kann, die ihnen hilft, die zukünftige Entwicklung des Denkens zu fördern oder zumindest vorauszusagen.

Die schwerwiegendsten Mißverständnisse und Verwechslungen entstehen jedoch aus der unklaren Weise, in der die Dialektiker von Widersprüchen sprechen.

Sie stellen völlig richtig fest, daß Widersprüche in der Geistesgeschichte von größter Bedeutung sind - genauso bedeutend wie die Kritik. Denn Kritik besteht steht in der Herausstellung irgendeines Widerspruchs: entweder eines Widerspruchs innerhalb der kritisierten Theorie oder eines Widerspruchs zwischen dieser Theorie und einer anderen, die wir aus irgendeinem Grund akzeptieren wollen, oder eines Widerspruches zwischen einer Theorie und bestimmten Tatsachen - oder genauer, zwischen einer Theorie und bestimmten Tatsachenaussagen. Kritik kann niemals etwas anderes tun, als entweder irgendeinen solchen Widerspruch herauszustellen oder vielleicht einfach der Theorie zu widersprechen (d. h. Kritik kann dann einfach die Aufstellung der Antithesis sein). Die Kritik ist jedoch in seinem sehr bedeutungsvollen Sinn die wichtigste Triebkraft der geistigen Entwicklung. Ohne Widerspruch, ohne Kritik gäbe es kein vernünftiges Motiv für die Änderung unserer Theorien: es gäbe keinen geistigen Fortschritt.

Nachdem die Dialektiker nun richtig festgestellt haben, daß Widersprüche - besonders natürlich der Widerspruch zwischen einer Thesis und einer Antithesis, der den Fortschritt in der Form einer Synthesis "hervorbringt" - äußerst fruchtbar, ja tatsächlich die Triebkräfte jedweden Fortschritt des Denkens sind, schließen sie - fälschlicherweise, wie wir sehen werden -, daß keine Notwendigkeit zur Vermeidung dieser fruchtbaren Widersprüche besteht. Und sie behaupten sogar, daß Widersprüche nicht vermieden werden können, da sie überall in der Welt auftreten.

Eine derartige Behauptung läuft auf einen Angriff gegen das sogenannte "Gesetz vom Widerspruch" (oder vollständiger: das "Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch") der traditionellen Logik hinaus, gegen ein Gesetz, welches besagt, daß zwei kontradiktorische Aussagen niemals beide zugleich wahr sein können bzw. daß eine Aussage, die aus einer Konjunktion zweier kontradiktorischer Aussagen besteht, aus rein logischen Gründen als falsch verworfen werden muß. Wenn sich die Dialektiker nun auf die Fruchtbarkeit der Widersprüche berufen, so fordern sie die Aufgabe dieses Gesetzes der traditionellen Logik. Sie behaupten, daß die Dialektik auf diese Weise zu einer neuen Logik führt - zu einer dialektischen Logik. Die Dialektik, die ich bislang als bloße Geschichtslehre dargestellt habe - als eine Theorie der historischen Entwicklung des Denkens -, würde sich nunmehr als eine davon sehr verschiedene Doktrin erweisen: Sie würde gleichzeitig eine Theorie der Logik und (wie wir sehen werden) eine allgemeine Theorie der Welt sein.

Dies sind gewaltige Ansprüche; sie entbehren jedoch jedweder Grundlage. Tatsächlich gründen sie sich auf nichts anderes als auf eine unklare und verschwommene Ausdrucksweise.

Die Dialektiker behaupten, daß Widersprüche fruchtbar sind oder daß sie einen Fortschritt hervorbringen, und wir haben eingeräumt, daß dies in gewissem Sinne zutrifft. Es trifft jedoch nur solange zu, wie wir entschlossen sind, keine Widersprüche zu dulden und jede Theorie zu ändern, die Widersprüche enthält; mit anderen Worten: solange wir entschlossen sind, niemals einen Widerspruch zu akzeptieren. Es ist lediglich in diesem unserem Entschluß begründet, daß Kritik, d. h. das Herausstellen von Widersprüchen, uns zur Änderung unserer Theorien und damit zum Fortschritt veranlaßt.

Es kann nicht deutlich genug betont werden, daß Widersprüche sofort jede Art von Fruchtbarkeit verlieren müssen, sobald wir diese Attitüde ändern und uns entschließen, Widersprüche zu dulden; sie würden dann keinen Fortschritt des Denkens mehr hervorbringen. Denn wenn wir bereit wären, Widersprüche zu dulden, könnte ihre Offenlegung in unseren Theorien uns nicht mehr veranlassen, diese zu ändern. Mit anderen Worten: Alle Kritik (die in der Herausstellung von Widersprüchen besteht) würde ihre Kraft verlieren. Auf Kritik könnte man dann antworten: "Und warum nicht?" oder vielleicht sogar mit einem begeisterten "Das ist es ja eben!" - d. h. mit einem Willkommensgruß für die Widersprüche, die uns aufgezeigt wurden.

Dies aber würde bedeuten, daß die Kritik und damit jeder Fortschritt des Denkens zum Stillstand kommen müßte, falls wir bereit wären, Widersprüche zu dulden.

Somit müssen wir dem Dialektiker sagen, daß er nicht beides zugleich haben kann: Entweder er ist an Widersprüchen infolge ihrer Fruchtbarkeit interessiert, dann muß er sie ablehnen; oder er ist bereit, sie zu akzeptieren, dann werden sie sich als unfruchtbar erweisen, und eine vernünftige Kritik, Diskussion und ein Fortschritt des Denkens werden unmöglich sein.

Die alleinige "Kraft", die die dialektische Entwicklung vorwärtstreibt, ist deshalb unser Entschluß, den Widerspruch zwischen Thesis und Antithesis nicht zu akzeptieren bzw. nicht zu dulden. Es ist keine mysteriöse Kraft im Inneren dieser beiden Ideen, keine mysteriöse Spannung zwischen ihnen, die die Entwicklung vorwärtstreibt - es ist lediglich unsere Entscheidung, unser Entschluß, keine Widersprüche zuzulassen, wodurch wir veranlaßt werden, uns nach einer neuen Ansicht umzuschauen, die uns die Vermeindung der Widersprüche ermöglichen kann. Und dieser Entschluß ist völlig gerechtfertigt. Denn es läßt sich leicht zeigen, daß man jedwede Art wissenschaftlicher Tätigkeit aufgeben müßte, wenn man bereit wäre, Widersprüche zu akzeptieren: es würde den völligen Zusammenbruch der Wissenschaft bedeuten; dies läßt sich durch den Beweis erhärten, daß,  falls zwei kontradiktorische Aussagen zugelassen werden, jede beliebige Aussage zugelassen werden muß - denn aus einem Paar kontradiktorischer Aussagen kann jede beliebige Aussage logisch gültig abgeleitet werden.

[...]

Gelegentlich wurde behauptet, die Tatsache, daß aus einem Paar kontradiktorischer Aussagen alles Beliebige abgeleitet werden kann, beweise nicht die Nutzlosigkeit einer kontradiktorischen Theorie: Erstens kann die Theorie als solche trotz ihres Widerspruchs interessant sein; sie kann zweitens zu Korrekturen Anlaß geben, die ihre Konsistenz herstellen; und schließlich können wir eine Methode entwickeln, auch wenn dies eine Ad-hoc-Methode ist (wie beispielsweise die Methode zur Vermeidung von Divergenzen in der Quantentheorie), die uns vor der Ableitung der falschen Schlüsse bewahrt, welche zugegebenermaßen aus der Theorie logisch folgen. All dies ist völlig richtig; aber eine solche behelfsmäßige Theorie bringt all die ernsten Gefahren mit sich, die wir oben behandelt haben: Wenn wir ernsthaft beabsichtigen, uns mit einer solchen Theorie zufriedenzugeben, dann kann uns nichts veranlassen, nach einer besseren Theorie zu suchen; und vice versa [umgekehrt - wp], wenn wir uns nach einer besseren Theorie umschauen, dann tun wir dies in der Meinung, daß die oben beschriebene Theorie untauglich ist, und zwar  wegen der in ihr enthaltenen Widersprüche.  Die Aktzentuierung von Widersprüchen muß hier wie überall der Kritik ein Ende setzen und damit zum Zusammenbruch der Wissenschaft führen.

Hier tauchen die Gefahren einer unklaren und metaphorischen Ausdrucksweise auf. Die Verschwommenheit der Behauptung der Dialektiker, daß Widersprüche unvermeidbar ind und daß ihre Vermeidung nicht einmal wünschenswert ist, da sie doch so fruchtbar sind, ist in gefährlicher Weise irreführend. Sie ist irreführend, weil, wie wir gesehen haben, die sogenannte Fruchtbarkeit der Widersprüche lediglich das Resultat unserer Entscheidung ist, keine Widersprüche zu dulden (eine Attitüde, die mit dem Gesetz vom Widerspruch übereinstimmt). Und sie ist deshalb gefährlich, weil die Behauptung, daß Widersprüche nicht vermieden zu werden brauchen, oder vielleicht sogar, daß sie nicht vermieden werden können, zum Zusammenbruch der Wissenschaft und der Kritik, d. h. des rationalen Denkens führen muß. Dies führt zu der Forderung, daß es für jeden Wissenschaftler, der Wahrheit und Aufklärung zu fördern wünscht, eine Notwendigkeit und sogar eine Pflicht sein sollte, sich in der Kunst des klaren und eindeutigen Ausdrucks zu üben - auch wenn dies die Aufgabe gewisser metaphorischer Spitzfindigkeiten und kluger Doppeldeutigkeiten mit sich bringt.

Aus diesem Grund erscheint es angezeigt, gewisse Formulierungen zu vermeiden. Anstelle der von uns verwendeten Terminologie: Thesis, Antithesis und Synthesis, benutzen die Dialektiker zur Beschreibung der dialektischen Triade oftmals die Ausdrücke "Negation (der Thesis)" für "Antithesis" und "Negation der Negation" für "Synthesis". Und sie verwenden gern den Ausdruck "Widerspruch" in Fällen, in denen Ausdrücke wie "Konflikt" oder vielleicht "Gegentendenz" oder "Gegeninteresse" usw. weniger irreführend wären. Ihre Terminologie würde keinen Schaden anrichten, wenn die Ausdrücke "Negation" und "Negation der Negation" (und in ähnlicher Weise der Ausdruck "Widerspruch") nicht klare und recht bestimmte logische Bedeutungen hätten, die sich von denen in ihrer dialektischen Verwendung unterscheiden. Und tatsächlich hat der Mißbrauch dieser Ausdrücke beträchtlich zur Verwechslung von Logik und Dialektik beigetragen, die in den Diskussionen der Dialektiker so oft zutage tritt. Häufig betrachten sie die Dialektik als einen Teil - den besseren Teil - der Logik oder als eine Art reformierter, modernisierter Logik. Die tiefer liegenden Gründe für eine derartige Attitüde werden weiter unten behandelt. An dieser Stelle möchte ich nur feststellen: unsere Analyse führt nicht zu dem Schluß, daß der Dialektik irgendeine Ähnlichkeit mit der Logik zukommt. Denn die Logik läßt sich - vielleicht grob, aber gut genug für unsere Zwecke - als eine Theorie der Deduktion bezeichnen. Wir haben jedoch keinen Grund zu der Annahme, daß Dialektik irgendetwas mit Deduktion zu tun hat.

Nun wollen wir zusammenfassen: Was ist Dialektik - Dialektik in dem Sinne, in dem wir der dialektischen Triade eine klare Bedeutung beimessen können -, läßt sich wie folgt beschreiben: Die Dialektik, oder genauer: die Theorie der dialektischen Triade, behauptet, daß sich bestimmte Entwicklungen oder bestimmte Geschichtsabläufe in einer gewissen typischen Weise vollziehen. Sie ist deshalb eine empirisch-deskriptive Theorie, vergleichbar zum Beispiel mit der Theorie, die besagt, daß die meisten lebenden Organismen während eines Stadiums ihrer Entwicklung an Umfang zunehmen, danach konstant bleiben und schließlich abnehmen, bis sie sterben; oder mit der Theorie, die besagt, daß Ansichten zunächst dogmatisch vertreten werden, dann skeptisch und danach erst - in einem dritten Stadium - in einem wissenschaftlichen, d. h. kritischen Geist. In der gleichen Weise wie solche Theorien ist die Dialektik nicht ohne Ausnahme anwendbar - es sei denn, wir erzwingen dialektische Interpretationen -, und ebenso wie solche Theorien hat die Dialektik keine besondere Verwandtschaft zur Logik.

Eine weitere Gefahr der Dialektik liegt in ihrer Verschwommenheit. Sie macht es nur allzu leicht, allen Arten von Entwicklungen und sogar ganz verschiedenen Dingen eine dialektische Interpretation aufzuzwingen. So finden wir beispielsweise eine dialektische Interpretation, die das Saatkorn mit der Thesis identifiziert, die sich daraus entwickelnde Pflanze mit der Antithesis und all die Getreidekörner, die die Pflanze hervorbringt, mit der Synthesis. Daß eine derartige Anwendung die ohnehin schon zu vage die Bedeutung der dialektischen Triade in einer Weise erweitert, die ihre Verschwommenheit in einem gefährlichen Maß erhöht, ist offensichtlich; sie führt uns zu einem Punkt, an dem wir durch die Beschreibung einer Entwicklung als dialektisch nicht mehr vermitteln als durch die Behauptung, daß es sich um eine Entwicklung in Stadien handelt - womit nicht viel gesagt ist. Wenn man jedoch diese Entwicklung dahingehend interpretiert, daß das Keimen der Pflanze die Negation des Saatkorns ist, weil dieses aufhört zu existieren, wenn die Pflanze zu wachsen beginnt, und daß die Hervorbringung einer Menge neuer Saatkörner durch die Pflanze die Negation der Negation ist - ein neuer Anfang auf einem höheren Niveau -, so ist das offensichtlich ein bloßes Wortspiel. (Ist dies der Grund dafür, weshalb ENGELS vom angeführten Beispiel sagte, daß jedes Kind es verstehen könnte?)

Die von den Dialektikern vorgebrachten Standardbeispiele aus dem Gebiet der Mathematik sind sogar noch schlechter. Wir wollen ein berühmtes Beispiel von ENGELS in der Kurzform zitieren, die ihm HECKER (7) verliehen hat:
    "Das Gesetz der höheren Synthesis ... wird in der Mathematik allgemein angewendet. Das Negative (-a) wird mit sich selbst multipliziert zu a2, d. h. die Negation der Negation hat eine neue Synthesis herbeigeführt."
Aber selbst wenn wir  a  als Thesis und  -a  als ihre Antithesis oder Negation annehmen, so sollte man erwarten, daß die Negation der Negation von der Größe  -(-a)  wäre, also gleich  a,  was allerdings keine "höhere Synthesis", sondern die Identität mit der ursprünglichen Thesis selbst bedeuten würde. Mit anderen Worten: Warum sollte die Synthesis ausgerechnet durch eine Multiplikation der Antithesis mit sich selbst zustande kommen? Warum nicht beispielsweise durch Addition von Thesis und Antithesis (wobei  0  herauskäme)? Oder durch eine Multiplikation von Thesis und Antithesis (was zum Resultat  -a2  anstelle von  a2  führen würde)? Und in welchem Sinn ist dann  a2  "höher" als  a  oder  -a?  (Sicherlich nicht in dem Sinne, daß es numerisch größer ist, denn wenn  a = 0,5  dann  a2 = 0,25).  Dieses Beispiel zeigt die extreme Willkürlichkeit, mit der die verschwommenen Ideen der Dialektik angewandt werden.

Eine Theorie wie die Logik kann man als "fundamental" bezeichnen, womit ausgedrückt wird, daß sie durchweg von allen Wissenschaften verwendet wird, da sie eine Theorie aller Arten von Schlüssen darstellt. Andererseits können wir sagen, daß die Dialektik in dem Sinn, in dem wir sie als sinnvoll anwendbar fanden, keine fundamentale, sondern lediglich eine deskriptive Theorie ist. Die Dialektik als Teil oder Bestandteil der Logik oder in einer Gegenüberstellung zu ihr zu betrachten, ist deshalb etwa genauso unangemessen wie beispielsweise eine solche Betrachtung der Evolutionstheorie. Nur die oben kritisierte verschwommen-metaphorische und mehrdeutige Ausdrucksweise konnte den Anschein erwecken, daß die Dialektik sowohl eine Theorie zur Beschreibung gewisser typischer Entwicklungen wie auch eine fundamentale Theorie wie die Logik ist.

Aus all dem geht klar hervor, daß wir bei der Verwendung des Ausdrucks "dialektisch" sehr vorsichtig sein sollten. Am besten wäre es vielleicht, wir würden ihn überhaupt nicht verwenden - wir können in jedem Fall die klarere Terminologie der  Trial-and-error-Methode  verwenden. Ausnahmen sollten nur dort gemacht werden, wo keine Mißverständnisse möglich sind, und wenn wir es mit der Entwicklung von Theorien zu tun haben, die sich tatsächlich im Dreischritt der Triade vollziehen.


2. Hegelsche Dialektik

Bislang habe ich versucht, die Idee der Dialektik so zu umreißen, daß sie hoffentlich begreiflich wurde, und es war meine Absicht, hinsichtlich ihrer Vorzüge nicht ungerecht sein. In diesem Abriß wurde die Dialektik als ein Weg zur Beschreibung von Entwicklungen dargestellt; als ein Weg unter anderen, nicht von grundsätzlicher Bedeutung, aber manchmal recht brauchbar. Im Gegensatz dazu wurde eine Theorie aufgestellt, zum Beispiel von HEGEL und seiner Schule, die übertrieben und in gefährlicher Weise irreführend ist.

Um HEGELs Dialektik verständlich zu machen, mag es vorteilhaft sein, kurz auf ein Kapitel der Philosophiegeschichte zurückzugreifen - auf ein meiner Meinung nach nicht sehr rühmliches.

Eines der größeren Problem der Geschichte der modernen Philosophie bildet der Kampf zwischen dem (in erster Linie kontinentalen) kartesianischen Rationalismus einerseits und dem (in erster Linie englischen) Empirismus andererseits. Der Ausspruch DESCARTES', den ich als Leitsatz für diese Abhandlung gewählt habe, war von seinem Autor, dem Begründer der rationalistischen Schule, nicht so gemeint, wie ich ihn hier gebraucht habe. Er sollte keinen Hinweis darauf geben, daß der menschliche Geist alles versuchen muß, um etwas zu erreichen - d. h. eine nützliche Lösung zu finden -, sondern war als feindselige Kritik an denen gemeint, die solche Absurditäten gewagt hatten. Was DESCARTES im Sinn hatte, die entscheidende Idee hinter seinem Ausspruch, ist eben, daß der wirkliche Philosoph all jene absurden und albernen Ideen vermeiden sollte. Um die Wahrheit zu finden, soll er lediglich jene seltenen Ideen akzeptieren, die durch ihre Klarheit, ihre Deutlichkeit und Distinktheit die Vernunft ansprechen - kurz gesagt, die "evident" sind. Die kartesianische Ansicht besteht darin, daß wir die erklärenden Theorien der Wissenschaften ohne jedweden Rückgriff auf die Erfahrung allein mit Hilfe unserer Vernunft konstruieren können; denn jeder vernünftige Lehrsatz (d. h. einer, der sich durch seine Klarheit empfiehlt) muß eine wahre Beschreibung der Fakten sein. Dies ist in wenigen Worten die Theorie, welche die Philosophiegeschichte als  "Rationalismus"  bezeichnet hat. (Eine bessere Bezeichnung wäre  "Intellektualismus").  Sie läßt sich (unter Verwendung einer Formulierung einer viel späteren Epoche, nämlich der HEGELschen) in den Worten zusammenfassen: "Was vernünftig ist, muß wirklich sein."

Im Gegensatz zu dieser Theorie behauptet der Empirismus, daß uns nur die Erfahrung instand setzt, über Wahrheit oder Falschheit einer wissenschaftlichen Theorie zu entscheiden. Reines Denken allein kann nach Ansicht des Empirismus niemals zur Wahrheit über Tatsachen führen; wir müssen dazu Erfahrung und Experiment heranziehen. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß die eine oder andere Form des Empirismus - obwohl vielleicht eine bescheidene und modifizierte Form - die einzige Interpretation der wissenschaftlichen Methode darstellt, die in der heutigen Zeit ernst genommen werden kann. Der Kampf zwischen den früheren Rationalisten und Empiristen wurde eingehend von KANT behandelt, der versuchte, zu einer  Synthesis - wie es ein Dialektiker (aber nicht KANT) ausdrücken würde - der beiden gegensätzlichen Ansichten zu gelangen, die sich jedoch, genaugenommen, als eine modifizierte Form des Empirismus erwies. Sein Hauptziel war es, den reinen Rationalismus zu widerlegen. In seiner  Kritik der reinen Vernunft behauptet er, daß der Bereich unserer Erkenntnis auf das Gebiet der möglichen Erfahrung begrenzt ist und daß spekulatives Denken jenseits dieses Gebietes - ein Versuch zum Aufbau eines metaphysischen Systems aus der reinen Vernunft heraus - keinerlei Rechtfertigung besitzt. Diese Kritik der reinen Vernunft wurde als furchtbarer Schlag gegen die Hoffnungen nahezu aller Philosophen des Kontinents empfunden. Doch die deutschen Philosophen überwanden diesen Schlag und, weit entfernt, die kantische Verwerfung der Metaphysik hinzunehmen, beeilten sie sich, neue auf  "geistige  Intuition" gegründete metaphysische Systeme aufzubauen. Dabei versuchten sie, bestimmte Züge des kantischen Systems zu übernehmen - in der Hoffnung, dadurch der Kraft seiner Kritik zu entgehen. Auf diese Weise bildete sich eine Schule daraus, die üblicherweise als die Schule der deutschen Idealisten bezeichnet wird; sie erreichte ihren Höhepunkt in HEGEL.

Zwei Aspekte der HEGELschen Philosophie müssen wir hier behandeln - seinen Idealismus und seine Dialektik. In beiden Fällen wurde HEGEL von kantischen Ideen beeinflußt, versuchte aber, darüber hinauszugehen. Um HEGEL zu verstehen, müssen wir deshalb aufzeigen, in welcher Weise seine Theorie die kantische verwendete.

KANT ging von der Tatsache aus, daß die Wissenschaft existiert. Und er wollte diese Tatsache erklären, d. h. er wollte die Frage beantworten: "Wie ist Wissenschaft möglich?" oder "Wie ist der menschliche Geist fähig, Erkenntnis von dieser Welt zu erlangen?" oder "Wie kann unser Geist die Welt erfassen?" (Diese Frage können wir als das epistemologische Problem bezeichnen.)

Sein Argument lautet etwa folgendermaßen: Der Geist kann die Welt erfassen, oder besser: die Welt, wie sie uns erscheint, weil diese Welt nicht völlig verschieden vom Geist ist - weil sie geist-gleich ist. (The mind can grasp the world, ... because it is mind-like.) Und sie ist es deshalb, weil der Geist im Prozeß der Erlangung von Erkenntnis bzw. des Erfassens der Welt alles Materials, das ihm die Sinne zuführen, sozusagen aktiv verarbeitet. Er formt und bearbeitet dieses Material; er drückt ihm seine eigenen inhärenten Formen oder Gesetze auf - die Formen oder Gesetze unseres Denkens. Was wir als "Natur" bezeichnen - die Welt, in der wir leben, die Welt, wie sie uns erscheint -, ist eine bereits verarbeitete Welt, eine von unserem Geist geformte Welt. Und da sie somit vom Geist assimiliert ist, ist sie geist-gleich.

Die Antwort: "Der Geist kann die Welt erfassen, weil die Welt, wie sie uns erscheint, geist-gleich ist", ist ein idealistisches Argument; denn was der Idealismus behauptet, ist eben gerade, daß der Welt etwas vom Wesen des Geistes zukommt.

Ich beabsichtige nicht, für oder gegen diese kantische Epistemologie zu argumentieren, und ich beabsichtige auch nicht, sie im Detail zu behandeln. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß sie sicherlich nicht rein idealistisch ist. Sie ist, wie KANT selbst feststellt, eine Mischung oder eine  Synthesis  zwischen einer Art von Realismus und einer Art von Idealismus - ihr realistisches Element besteht in der Behautung, daß die Welt, wie sie uns erscheint, eine Art  Material  ist, das von unserem Geist geformt ist, während ihr idealistisches Element in der Behauptung besteht, daß sie eine Art Material ist,  das von unserem Geist geformt ist. 

Soviel über KANTs recht abstrakte, abr sicherlich geniale Epistemologie. Ehe ich nun zu HEGEL übergehe, muß ich jene Leser (sie sind mir die liebsten), die keine Philosophen sind und sich gewohnheitsmäßig auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen, bitten, sich an den Anspruch zu erinnern, den ich als Leitsatz für diesen Aufsatz gewählt habe; denn was sie jetzt hören werden, wird ihnen vielleicht - meiner Meinung nach völlig zu Recht - als absurd erscheinen.

Wie ich bereits feststellte, ging HEGEL in seinem Idealismus über KANT hinaus. HEGEL beschäftigte sich ebenfalls mit dem epistemologischen Problem: "Wie kann unser Geist die Welt erfassen?", und wie die übrigen Idealisten antwortete auch er: "Weil die Welt geist-gleich ist." Seine Theorie war jedoch radikaler als die kantische. Er sagte nicht, wie KANT, "weil der Geist die Welt  verarbeitet  oder  formt".  Er sagte, "weil der Geist die Welt  ist";  oder mit einer anderen Formulierung, "weil das Vernünftige das Wirkliche  ist;  weil Wirklichkeit und Vernunft identisch sind".

Dies ist HEGELs sogenannte "Philosophie der Identität von Vernunft und Wirklichkeit", oder kürzer, seine Identitätsphilosophie". Nebenbei sei bemerkt, daß zwischen KANTs epistemologischer Antwort "weil der Geist die Welt formt" und HEGELs Identitätsphilosophie "weil der Geist die Welt ist" historisch eine Brücke bestand - nämlich FICHTEs Antwort: "Weil der Geist die Welt schafft". (8)

HEGELs Identitätsphilosophie, "Das, was vernünftig ist, ist wirklich, und das, was wirklich ist, ist vernünftig, also sind Vernunft und Wirklichkeit identisch", war zweifellos ein Versuch zur Wiederherstellung des Rationalismus auf einer neuen Grundlage. Sie gestattete es dem Philosophen, aus dem reinen Denken eine Theorie der Welt zu konstruieren und zu behaupten, daß dies eine wahre Theorie der wirklichen Welt sein muß. Somit ermöglichte sie genau das, was KANT für unmöglich erklärt hatte. Daher sah sich HEGEL zu dem Versuch gezwungen, KANTs Argumente gegen die Metaphysik zu widerlegen. Und dies tat er mit Hilfe seiner Dialektik.

Um seine Dialektik zu verstehen, müssen wir wiederum auf KANT zurückgreifen. Zuviele Details möchte ich vermeiden, weshalb ich die triadische Konstruktion der kantischen Kategorientafel nicht behandeln werden, obwohl sie HEGEL zweifellos inspiriert hat (9). Ich muß jedoch KANTs Methode der Verwerfung des Rationalismus erläutern. Oben habe ich bereits erwähnt, daß KANT behauptete, der Bereich unserer Erkenntnis sei auf das Gebiet der möglichen Erfahrung beschränkt und reines Denken sei jenseits dieses Gebietes nicht gerechtfertigt. In einem Abschnitt seiner  Kritik,  den er mit "Transzendentale Dialektik" überschrieb, bewies er dies wie folgt: Wenn wir versuchen, ein theoretisches System aus der reinen Vernunft heraus zu konstruieren - beispielsweise wenn wir zu argumentieren versuchen, daß die Welt, in der wir leben, unendlich ist (eine Vorstellung, die offensichtlich über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht) - so können wir dies tun; wir werden aber zu unserer Bestürzung feststellen, daß wir mit Hilfe analoger Argumente stets das gegensätzliche Resultat ebensogut beweisen können. Mit anderen Worten: wenn wir eine derartige metaphysische Thesis als gegeben annehmen, so können wir stets eine exakte Antithesis konstruieren und verteidigen; und für jedes Argument zugunsten der Thesis können wir unschwer sein Gegenargument zugunsten der Antithesis konstruieren. Und beide Argumente werden von ähnlicher Stärke und Überzeugungskraft sein - beide Argumente werden als gleich oder nahezu gleich vernünftig erscheinen. Somit stellte KANT fest, daß die Vernunft gegen sich selbst argumentieren und sich selbst widersprechen muß, wenn sie zum Überschreiten der Grenzen möglicher Erfahrung verwendet wird.

Wenn ich eine Art modernisierter Rekonstruktion bzw. Reinterpretation von KANT geben wollte, so würde ich - unter Abweichung von KANTs eigener Ansicht über seine Leistung - sagen, KANT habe nachgewiesen, daß das metaphysische Prinzip der vernünftigkeit oder Evidenz nicht eindeutig zu einem und nur einem Resultat bzw. zu einer und nur einer Theorie führt. Es ist stets möglich, mit der gleichen scheinbaren Vernünftigkeit zugunsten mehrerer verschiedener, ja sogar gegensätzlicher Theorien zu argumentieren. Wenn wir also keine Hilfe von der Erfahrung erhalten, wenn wir keine Experimente und Beobachtungen machen können, die uns zumindest zur Verwerfung bestimmter Theorien veranlassen - nämlich jener, die zwar ganz vernünftig erscheinen, aber den beobachteten Fakten widersprechen -, dann verbleibt uns keine Hoffnung darauf, über die Ansprüche konkurrierender Theorien jemals entscheiden zu können.

Wie hat nun HEGEL die kantische Widerlegung des Rationalismus überwunden? Sehr einfach durch die Feststellung, Widersprüche seien nicht von Bedeutung. Sie müßten in der Entwicklung des Denkens und der Vernunft eben auftauchen. Sie würden lediglich die Unzulänglichkeit einer Theorie aufzeigen, die die Tatsache nicht berücksichtigt, daß das Denken, d. h. die Vernunft und damit (gemäß der Identitätsphilosophie) die Wirklichkeit nicht etwas ein für allemal Abgeschlossenes ist, sondern sich entwickelt -, daß wir in einer Welt der Evolution leben. KANT, so sagte HEGEL, widerlegte die Metaphysik, nicht aber den Rationalismus. Denn was HEGEL als "Metaphysik" im Gegensatz zur "Dialektik" bezeichnete, ist lediglich ein solches rationalistisches System, das Evolution, Bewegung und Entwicklung nicht berücksichtigt und somit versucht, die Wirklichkeit als etwas Stabiles, Unbewegtes und Widerspruchsfreies zu begreifen. HEGEL folgert gemäß seiner Identitätsphilosophie, daß, da sich die Vernunft entwickelt, sich auch die Welt entwickeln muß und daß, da die Entwicklung des Denkens bzw. der Vernunft eine dialektische ist, sich auch die Welt in dialektischen Triaden entwickeln muß.

Somit finden wir in HEGELs Dialektik die folgenden drei Elemente:

(a) Einen Versuch, die kantische Widerlegung dessen, was KANT als "Dogmatismus" in der Metaphysik bezeichnete, zu umgehen. Diese Widerlegung betrachtet HEGEL als gültig nur für Systeme, die metaphysisch in seinem engeren Sinne sind, jedoch nicht für den dialektischen Rationalismus, der die Entwicklung der Vernunft berücksichtigt und deshalb Widersprüche nicht zu fürchten braucht. Indem HEGEL die kantische Kritik in dieser Weise umgeht, stürzt er sich in ein äußerst gefährliches Abenteuer, das zur Katastrophe führen muß; denn er argumentiert etwa folgendermaßen:
    "Kant  widerlegte den Rationalismus durch die Feststellung, er müsse zu Widersprüchen führen. Dies gebe ich zu. Aber es ist klar, daß dieses Argument seine Stärke aus dem Gesetz vom Widerspruch ableitet: es widerlegt nur solche Systeme, die dieses Gesetz akzeptieren, also solche, die beabsichtigen, frei von Widersprüchen zu sein. Das Argument ist nicht gefährlich für ein System wie das meinige, das bereit ist, Widersprüche zu akzeptieren - d. h. für ein dialektisches System."
Es besteht kein Zweifel, daß HEGELs Argument einen Dogmatismus von äußerst gefährlicher Art aufrichtet - einen Dogmatismus, der keinerlei Angriff mehr zu fürchten braucht. Denn jeder Angriff, jede Kritik irgendeiner Theorie muß sich auf die Methode stützen, irgendwelche Widersprüche aufzuzeigen, entweder in einer Theorie selbst oder zwischen einer Theorie und irgendwelchen Fakten - wie ich bereits festgestellt habe. HEGELs Methode, KANT zu übertreffen, ist somit wirkungsvoll - aber leider zu wirkungsvoll. Sie sichert sein System gegen jede Art von Kritik oder Angriff ab und ist daher dogmatisch in einem ganz besonderen Sinn, so daß ich sie als "doppelt verschanzten Dogmatismus" bezeichnen möchte. (Es sei noch darauf hingewiesen, daß ähnliche doppelt verschanzte Dogmatismen zur Stützung der Strukturen anderer dogmatischer Systeme ebenfalls beitragen können.)

(b) Die dialektische Beschreibung der Entwicklung der Vernunft ist ein Element in der HEGELschen Philosophie, das ein gut Teil Plausibilität für sich hat. Dies wird deutlich, wenn wir uns erinnern, daß HEGEL das Wort "Vernunft" nicht nur im in einem subjektiven Sinn gebrauchte, in dem es eine bestimmte geistige Fähigkeit bezeichnet, sondern auch in einem objektiven Sinn, in dem es alle Arten von Theorien, Gedanken, Ideen usw. bezeichnet. HEGEL vertrat die Ansicht, daß die Philosophie der höchste Ausdruck des Denkens ist, und hatte in erster Linie die Entwicklung des philosophischen Denkens im Sinn, wenn er von der Entwicklung des Denkens sprach. Tatsächlich kan die dialektische Triade kaum irgendwo erfolgreicher angewandt werden, als in Untersuchungen der Entwicklung philosophischer Theorien. Daher ist es nicht überraschend, daß HEGELs erfolgreichster Versuch zur Anwendung seiner dialektischen Methode seine Geschichte der Philosophie darstellte.

Um die mit einem solchen Erfolg verknüpfte Gefahr zu verstehen, müssen wir bedenken, daß zu HEGELs Zeit - und noch viel später - Logik üblicherweise als Theorie des Schließens und des Denkens (reasoning and thinking) bezeichnet und definiert wurde und daß demgemäß die fundamentalen Gesetze der Logik in der Regel als "Denkgesetze" bezeichnet wurden. Es ist daher völlig verständlich, daß HEGEL in dem Glauben, die Dialektik sei die wahre Beschreibung des tatsächlichen Schluß- und Denkvorgangs, zu der Ansicht gelangte, er müsse die Logik ändern, um die Dialektik zu einem wichtigen, wenn nicht zum wichtigsten Teil der Theorie der Logik zu machen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, das "Gesetz vom Widerspruch" zu beseitigen, das offensichtlich ein ernsthaftes Hindernis auf dem Weg zur Akzeptierung der Dialektik darstellte. Hier stoßen wir auf den Ursprung der Ansicht, die Dialektik sei "fundamental" in dem Sinne, daß sie mit der Logik konkurrieren kann, daß sie eine Verbesserung der Logik ist. Ich habe diese Ansicht der Dialektik bereits kritisiert, und ich möchte lediglich wiederholen, daß jede Art logischen Schließens, ob vor oder nach HEGEL, ob auf dem Gebiet der Naturwissenschaften oder der Mathematik oder einer wirklich rationalen Philosophie, stets auf das Gesetz vom Widerspruch gegründet ist. Aber HEGEL schreibt ("System der Philosophie", erster Teil: Die Logik, sämtliche Werke, hg. von HERMANN GLOCKNER, Bd. 8, Stuttgart 1958, § 81 Zusatz 1, Seite 190):
    "Das Dialektische aufzufassen und zu erkennen, ist von höchster Wichtigkeit. Es ist dasselbe überhaupt das Prinzip aller Bewegung, allen Lebens und aller Betätigung in der Wirklichkeit. Ebenso ist das Dialektische auch die Seele alles wahrhaft wissenschaftlichen Erkennens."
Wenn HEGEL aber unter dialektischem Schließen ein Schließen versteht, das das Gesetz vom Widerspruch verwirft, dann ist er sicherlich nicht in der Lage irgendein Beispiel für ein solches Schließen auf dem Gebiet der Wissenschaften anzuführen. (Die von vielen Dialektikern angeführten Beispiele bewegen sich ohne Ausnahme auf dem Niveau der oben angeführten ENGELSschen Beispiele - vom Getreidekorn oder  (-a)2 = a2 - oder noch schlimmer.) Es ist nicht das wissenschaftliche Schließen als solches, das auf die Dialektik gegründet ist; es sind lediglich die Geschichte und die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien, die mit einigem Erfolg mit Hilfe der dialektischen Methode beschrieben werden können. Und wie wir gesehen haben, kann diese Tatsache die Akzeptierung der Dialektik als etwas Fundamentalem nicht rechtfertigen, da die Theoriengeschichte auch im Rahmen der üblichen Logik erklärt werden kann, wenn wir uns an die Wirkungsweise der  Trial-and-error-Methode  erinnern.

Wie ich bereits feststellte, besteht die Hauptgefahr einer solchen Verwechslung von Dialektik und Logik darin, daß sie die dogmatische Argumentation fördert. Denn wir finden nur zu oft, daß Dialektiker in logischen Schwierigkeiten ihre letzte Zuflucht darin suchen, daß sie ihren Gegnern sagen, ihre Kritik sei abwegig, da sie sich auf die übliche Logik und nicht auf die Dialektik gründet; wenn sie nur die Dialektik anwenden wollten, würden sie feststellen, daß die Widersprüche, die sie in irgendeinem Argument der Dialektiker gefunden haben, völlig zu Recht bestehen (nämlich aus der Sicht des dialektischen Standpunktes).

(c) Ein drittes Element der HEGELschen Dialektik gründet sich auf seine Identitätsphilosophie. Wenn Vernunft und Wirklichkeit identisch sind und die Vernunft sich dialektisch entwickelt (wie es die Entwicklung des philosophischen Denkens so gut zeigt), dann muß sich auch die Wirklichkeit dialektisch entwickeln. Die Welt muß von den Gesetzen der dialektischen Logik beherrscht sein. (Diese Auffassung wurde als "Panlogismus" bezeichnet.) Somit müssen wir in der Welt die gleichen Widersprüche finden, wie sie die dialektische Logik zuläßt. Und es ist gerade diese Tatsache, daß die Welt voller Widersprüche ist, die uns von einem anderen Blickpunkt her zeigt, daß das Gesetz vom Widerspruch aufgegeben werden muß. Denn dieses Gesetz besagt, daß kein in sich widerspruchsvoller Satz oder kein Paar kontradiktorischer Sätze wahr sein, d. h. mit den Fakten übereinstimmen kann. Mit anderen Worten: das Gesetz impliziert, daß in der Natur, d. h. in der Welt der Fakten, niemals Widersprüche vorkommen können und daß Fakten sich niemals widersprechen können, da Ideen dies tun, und daß Fakten sich durch Widersprüche entwickeln, wie die Ideen es tun; somit muß also das Gesetz vom Widerspruch aufgegeben werden.

Aber abgesehen von dem, was mir als die äußerste Absurdität der Identitätsphilosophie erscheint (worauf ich später noch zu sprechen kommen werde), finden wir bei näherer Betrachtung dieser sogenannten kontradiktorischen Fakten, daß alle von den Dialektikern vorgebrachten Beispiele lediglich feststellen, daß die Welt, in der wir leben, manchmal eine bestimmte Struktur aufweist, die sich vielleicht mit Hilfe des Wortes "Polarität" beschreiben läßt. Ein Beispiel für eine solche Struktur wäre die Existenz positiver und negativer Elektrizität. Es wäre aber lediglich eine metaphorische und verschwommene Ausdrucksweise, zu sagen, daß sich positive und negative Elektrizität kontradiktorisch gegenüberstehen. Ein Beispiel für einen wahren Widersprch würden die beiden folgenden Sätze bilden: "Dieser Körper hier wurde am 1. November 1938 zwischen 9 und 10 Uhr vormittags positiv aufgeladen", und ein analoger Satz über den gleichen Körper, der aussagt, daß er zur gleichen Zeit  nicht  positiv aufgeladen wurde.

Dies wäre ein Widerspruch zwischen zwei Sätzen, und die entsprechende kontradiktorische Tatsache bestünde darin, daß ein Körper in seiner Gesamtheit gleichzeitig positiv und nicht positiv aufgeladen wäre und somit gleichzeitig gewisse negativ geladene Körper anziehen und auch nicht anziehen müßte. Die Feststellung jedoch, daß derartige kontradiktorische Fakten nicht existieren, erübrigt sich. (Eine tiefer gehende Analyse könnte zeigen, daß die Nichtexistenz solcher Fakten kein Gesetz nach der Art der Gesetze der Physik ist, sondern sich auf die Logik gründet, d. h. auf die Regeln, die den wissenschaftlichen Sprachgebrauch beherrschen.)


Somit gelangen wir zu drei Punkten:
    (a) zur dialektischen Opposition gegen  Kants  Antirationalismus und folglich zu einer durch einen doppelt verschanzten Dogmatismus gestützten Wiederherstellung des Rationalismus;

    (b) zur Eingliederung der Dialektik in die Logik, gegründet auf die Mehrdeutigkeit solcher Ausdrücke wie "Vernunft", "Denkgesetze" usw;

    (c) zur Anwendung der Dialektik auf "die ganze Welt", gegründet auf  Hegels  Panlogismus und seine Identitätsphilosophie.
Diese drei Punkte erscheinen mir als die Hauptelemente der HEGELschen Dialektik. Ehe ich zu einer kurzen Darstellung des Schicksals der Dialektik nach HEGEL übergehe, möchte ich meiner persönlichen Ansicht über HEGELs Philosophie und besonders über seine Identitätsphilosophie Ausdruck verleihen. Ich bin der Ansicht, daß sie die übelste all jener absurden und unglaublichen philosophischen Theorien darstellt, auf die DESCARTES sich in seinem Ausspruch bezieht, den ich als Leitsatz für diese Abhandlung gewählt habe. Nicht nur, daß die Identitätsphilosophie ohne jede Art ernsthafter Rechtfertigung dargeboten wird; auch das Problem, zu dessen Beantwortung sie erfunden wurde - die Frage "Wie kann unser Geist die Welt erfassen?" -, scheint mir keineswegs klar formuliert zu sein. Und die idealistische Antwort, die von den verschiedenen idealistischen Philosophen variiert wurde, aber grundsätzlich die gleiche geblieben ist, nämlich "weil die Welt geist-gleich ist", ist nur dem Anschein nach eine Antwort. Wir können deutlich sehen, daß es keine wirkliche Antwort ist, wenn wir ein analoges Argument in Betracht ziehen, zum Beispiel: "Wie kann dieser Spiegel mein Gesicht reflektieren?" - "Weil er gesicht-gleich ist." Obwohl ein solches Argument offensichtlich völlig unsinnig ist, ist es dennoch immer wieder formuliert worden. Wir finden es beispielsweise in unserer Zeit von JEANS etwa folgendermaßen formuliert: "Wie kann die Mathematik die Welt erfassen?" - "Weil die Welt mathematik-gleich ist." Somit argumentiert er, daß die Wirklichkeit der Mathematik wesensgleich ist, daß die Welt ein mathematischer Gedanke (und deshalb ideell) ist. Dieses Argument ist offensichtlich nicht sinnvoller als das folgende: "Wie kann die Sprache die Welt beschreiben?" - "Weil die Welt sprach-gleich ist - sie ist linguistisch", und nicht sinnvoller als: "Wie kann die englische Sprache die Welt beschreiben?" - "Weil die Welt wesentlich englisch ist." Daß das letzte Argument dem von JEANS vorgebrachten tatsächlich analog ist, wird deutlich, wenn wir anerkennen, daß die mathematische Beschreibung der Welt lediglich eine bestimmte Art der Beschreibung dieser Welt ist und daß die Mathematik uns ein Mittel zur Beschreibung in einer besonders reichhaltigen Sprache bietet.

Vielleicht läßt sich dies am leichtesten mit Hilfe eines trivialen Beispiels zeigen. Es gibt primitive Sprachen, die keine Zahlen verwenden, sondern versuchen, numerische Vorstellungen mit Hilfe von Ausdrücken für eins, zwei und viele auszudrücken. Es ist klar, daß eine solche Sprache nicht in der Lage ist, kompliziertere Beziehungen zwischen bestimmten Gruppen von Objekten zu beschreiben, die sich mit Hilfe der numerischen Ausdrücke "drei", "vier", "fünf" usw. leicht beschreiben lassen. Eine primitive Sprache kann ausdrücken, daß  A  viele Schafe hat und daß er mehr Schafe hat als  B;  aber sie kann nicht ausdrücken, daß  A  neun Schafe hat und daß er fünf Schafe mehr hat als  B.  Mit anderen Worten: Mathematische Symbole werden in die Sprache eingeführt, um gewisse kompliziertere Beziehungen zu beschreiben, die anderweitig nicht beschrieben werden können; eine Sprache, die die Arithmetik der natürlichen Zahlen enthält, ist einfach reicher, als eine Sprache, der die entsprechenden Symbole fehlen. Und alles, was wir aus der Tatsache, daß wir zur Beschreibung der Welt eine mathematische Sprache verwenden müssen, über ihr Wesen schließen können, besteht darin, daß die Welt einen bestimmten Grad von Komplexität hat, so daß in ihr bestimmte Beziehungen bestehen, die mit zu primitiven Mitteln nicht beschrieben werden können.

JEANS hatte ein ungutes Gefühl angesichts der Tatsache, daß unsere Welt zu mathematischen Formeln paßt, die ursprünglich von reinen Mathematikern erfunden wurden, welche keinerlei Absicht hatten, ihre Formeln auf die Welt anzuwenden. Ursprünglich begann er anscheinend als das, was ich einen "Induktivisten" nennen würde; das heißt, er war der Ansicht, daß Theorien durch ein mehr oder weniger einfaches Schlußverfahren aus der Erfahrung abgeleitet werden. WEnn man von einer solchen Position ausgeht, muß die Entdeckung Erstaunen auslösen, daß sich eine von reinen Mathematikern auf rein spekulative Weise formulierte Theorie nachträglich als auf die physische Welt anwendbar erweist. Für diejenigen hingegen, die keine Induktivisten sind, ist dies keineswegs erstaunlich. Sie wissen, daß sich recht häufig eine ursprünglich als reine Spekulation, als bloße Möglichkeit aufgestellte Theorie später als empirisch anwendbar erweist. Sie wissen auch, daß es oftmals diese spekulative Antizipation ist, die den Weg für empirische Theorien ebnet. (Auf diese Weise ist das Problem der Induktion, wie es allgemein genannt wird, mit dem Problem des Idealismus verknüpft, mit welchem wir es hier zu tun haben.)


3. Die Dialektik nach Hegel

HEGELs Philosophie der Identität von Vernunft und Wirklichkeit wird gelegentlich als (absoluter) Idealismus charakterisiert, weil sie behauptet, die Wirklichkeit sei geist-gleich oder ihrem Wesen nach vernünftig. Aber offensichtlich läßt sich eine derartige dialektische Identitätsphilosophie unschwer umkehren, so daß sie zu einer Art Materialismus wird. Die Verfechter dieses Materialismus würden argumentieren, daß die Wirklichkeit in ihrem Wesen materiell oder physisch ist, wie es dem ungeschulten Denken entspricht; und mit der Aussage, daß sie mit der Vernunft oder dem Geist identisch ist, würde man implizieren, daß der Geist ebenfalls ein materielles oder physisches Phänomen ist - oder, um weniger radikal zu sein, daß, falls der Geist sich als irgendwie unterschiedlich von der materiellen Wirklichkeit erweisen sollte, dieser Unterschied nicht von großer Bedeutung sein kann.

Ein solcher Materialismus kann als Renaissance gewisser durch Verknüpfung mit der Dialektik modifizierter Aspekte des Kartesianismus betrachtet werden. Aber durch die Aufgabe ihrer ursprünglichen idealistischen Grundlage verliert die Dialektik alles, was sie plausibel und verständlich machte; wir müssen uns vergegenwärtigen, daß die besten Argumente zugunsten der Dialektik in ihrer Anwendbarkeit auf die Entwicklung des Denkens lagen, besonders des philosophischen Denkens. Und nun sehen wir uns unmittelbar der Behauptung gegenüber, die physische Wirklichkeit entwickle sich dialektisch - eine äußert dogmatische Behauptung mit so geringer wissenschaftlicher Untermauerung, daß die materialistischen Dialektiker sich gezwungen sehen, eine vielseitige Verwendung von der uns bereits beschriebenen Methode zu machen, durch die jede Kritik als nichtdialektisch zurückgewiesen wird. Somit befindet sich der dialektische Materialismus in einer Überstimmung mit den oben diskutierten Punkten (a) und (b), ändert aber Punkt (c) beträchtlich ab, allerdings, so glaube ist, ohne Vorteile für seine dialektischen Züge. Wenn ich diese meine Ansicht ausspreche, möchte ich betonen, daß ich zwar kein Materialist bin, meine Kritik aber auch nicht gegen den Materialismus richte, den ich persönlich vielleicht dem Idealismus vorziehen würde, wenn ich zur Wahl zwischen beiden gezwungen wäre (was glücklicherweise nicht der Fall ist). Es ist lediglich die Kombination zwischen Dialektik und Materialismus, die mir als noch übler erscheint als der dialektische Idealismus.

Diese Bemerkungen beziehen sich besonders auf den von MARX entwickelten "Dialektischen Materialismus". Das materialistische Element dieser Theorie läßt sich relativ leicht derart umformulieren, daß sich dagegen keine ernsthaften Einwände erheben lassen. Soweit ich sehe, läßt sich der wichtigste Punkt wie folgt darstellen: Es besteht kein Grund für die Annahme, daß die Sozialwissenschaften einen idealistischen Unterbau HEGELscher Art brauchen, während die Naturwissenschaften sich auf der Grundlage der realistischen Anschauungen des normalen Menschen entwickeln können. Nun wurde die erwähnte Annahme in der Zeit von KARL MARX oft gemacht, und zwar infolge der Tatsache, daß HEGEL mit seiner idealistischen Staatstheorie die Sozialwissenschaften stark beeinflußte, ja sogar förderte, während die Unfruchtbarkeit der von ihm vertretenen Ansichten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften nur zu offensichtlich war (10). Ich glaube, die Ideen von MARX und ENGELS fair zu interpretieren, wenn ich feststelle, daß einer ihrer Hauptgründe für die Betonung des Materialismus darin bestand, jede Theorie zu verwerfen, die unter Berufung auf das rationale oder spirituale Wesen des Menschen behauptet, die Soziologie müsse auf eine idealistische oder spiritualistische Basis oder auf die Analyse der Vernunft gegründet werden. Im Gegensatz dazu betonten sie, daß die materielle Seite der menschlichen Natur - und insbesondere der Bedarf an Nahrungsmitteln und anderen materiellen Gütern - von grundsätzlicher Bedeutung für die Soziologie ist.

Diese Ansicht war zweifellos vernünftig; und ich bin der Meinung, daß die diesbezüglichen MARXschen Beiträge von wirklicher Bedeutung und anhaltendem Einfluß sind. Jedermann lernte von MARX, daß die Entwicklung selbst der Ideen nicht voll verstanden werden kann, wenn die Ideengeschichte als solche behandelt wird (obwohl eine solche Behandlung oftmals ihre großen Vorzüge haben kann), d. h. ohne eine Erwähnung der Bedingungen ihres Ursprungs und der Situation ihrer Begründer, also der Bedingungen, deren ökonomischer Aspekt von größter Bedeutung ist. Dennoch bin ich persönlich der Ansicht, daß der MARXsche Ökonomismus - seine Betonung des ökonomischen Hintergrundes als letzte Grundlage jeder Art von Entwicklung - einen Irrtum darstellt und tatsächlich unhaltbar ist. Ich glaube, daß die gesellschaftliche Erfahrung eindeutig beweist, wie unter bestimmten Umständen der Einfluß von Ideen (vielleicht von Propaganda unterstützt) die ökonomischen Kräfte kompensieren und sogar überkompensieren kann. Und selbst wenn wir zugeben, daß es unmöglich ist, geistige Bewegungen ohne ihren ökonomischen Hintergrund voll zu verstehen, so ist es zumindest ebenso unmöglich, ökonomische Entwicklungen zu verstehen ohne ein Verständnis beispielsweise der wissenschaftlichen oder religiösen Ideen.

Für unsere gegenwärtigen Zwecke ist es nicht so wichtig, den MARXschen Materialismus oder Ökonomismus zu analysieren, als vielmehr festzustellen, was in seinem System aus der Dialektik geworden ist. Zwei Punkte scheinen mir wichtig. Der eine betrifft die MARXsche Betonung der historischen Methode auf dem Gebiet der Soziologie, eine Tendenz, die ich als "Historizismus" bezeichnet habe. Der zweite bezieht sich auf die anti-dogmatische Tendenz der MARXschen Dialektik.

Zum ersten Punkt müssen wir uns daran erinnern, daß HEGEL einer der Begründer der historischen Methode war, ein Begründer jener Schule von Denkern, die glaubten, daß man eine Entwicklung durch ihre historische Beschreibung kausal erklärt habe. Diese Schule war der Ansicht, daß man beispielsweise bestimmte soziale Institutionen dadurch erklären kann, daß man aufzeigt, wie die Menschheit sie allmählich entwickelt hat. Heute wird oftmals anerkannt, daß die Bedeutung der historischen Methode für die Sozialtheorei weit überschätzt worden ist; der Glaube an diese Methode ist jedoch keineswegs erloschen. Ich habe an anderer Stelle versucht, diese Methode zu kritisieren (besonders in meinem Buch "Das Elend des Historizismus"). Hier möchte ich lediglich betonen, daß die MARXsche Soziologie von HEGEL nicht nur die Ansicht übernahm, daß ihre Methode eine historische sein muß und daß Soziologie und Geschichte Theorien der sozialen Entwicklung werden müßten, sondern auch, daß diese Entwicklung dialektisch erklärt werden muß. Für HEGEL war die Geschichte die Geschichte der Ideen. MARX ließ den Idealismus fallen, behielt aber HEGELs Lehre bei, daß die dialektischen "Widersprüche", "Negationen" und "Negationen der Negationen" die dynamischen Kräfte der geschichtlichen Entwicklung darstellen. In dieser Hinsicht hielten sich MARX und ENGELS tatsächlich sehr eng an HEGEL, wie sich anhand folgender Zitate zeigen läßt: HEGEL sprach in seinem  System der Philosophie  (a. a. O., § 81 Zusatz 1, Seite 193) von der Dialektik als von "der allgemeinen unwiderstehlichen Macht, vor welcher nichts, wie sicher und fest dasselbe sich auch dünken möge, zu bestehen vermag". Und in ähnlicher Weise schreibt ENGELs ("Anti-Dühring", Teil 1, Dialektik: Negation der Negation):
    "Was ist nun die Negation der Negation? Ein äußerst allgemeines ... Entwicklungsgesetz der Natur, der Geschichte und des Denkens; ein Gesetz, das ... gültig ist im tierischen und pflanzlichen Reich, in der Geologie, der Mathematik, der Geschichte und in der Philosophie."
Nach Ansicht von MARX ist es die Hauptaufgabe der Soziologie, "zu zeigen, wie diese dialektischen Kräfte in der Geschichte am Werk sind, und auf diese Weise den Geschichtslauf vorauszusagen" oder, wie er im Vorwort zum  Kapital  sagt, "es ist das letzte Ziel dieses Werkes, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft aufzudecken". Und dieses dialektische Bewegungsgesetz, die Negation der Negation, bietet die Grundlage für die MARXsche Prophetie des bevorstehenden Zusammenbruchs des Kapitalismus ("Kapital", Bd. I, Kap. 24):
    "Die kapitalistische Produktionsweise ... ist die erste Negation ... Aber der Kapitalismus erzeugt mit der Unausweichlichkeit eines Naturgesetzes seine eigene Negation. Es ist die Negation der Negation."
Eine Voraussage braucht sicherlich nicht unwissenschaftlich zu sein, wie Voraussagen von Sonnenfinsternissen und anderen astronomischen Ereignissen beweisen. Aber weder die HEGELsche Dialektik noch ihre materialistische Version können als eine vernünftige Grundlage für wissenschaftliche Voraussagen akzeptiert werden. ("Aber alle  Marxschen  Prognosen haben sich erfüllt", pflegen die Marxisten zu antworten. Sie haben sich nicht erfüllt. Um ein Beispiel von vielen zu zitieren: Im "Kapital", unmittelbar nach dem obigen Zitat, sagte MARX, daß der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus natürlicherweise ein unvergleichlich weniger "langwieriger, heftiger und schwieriger" Prozeß sein müsse als die industrielle Revolution, und in einer Fußnote stützte er diese Prognose durch einen Hinweis auf die "unentschlossene und keinen Widerstand leistenden Bourgeoisie". Es wird heute nur wenige Marxisten geben, die behaupten, daß sich diese Prognosen erfüllt haben.) Wenn auf die Dialektik gegründete Voraussagen ausgearbeitet werden, werden sich einige als wahr erweisen, andere nicht. Im letzteren Fall wird dann offensichtlich eine Situation entstehen, die nicht vorausgesehen wurde. Aber die Dialektik ist verschwommen und elastisch genug, um diese unvorhergesehene Situation ebenso zu interpretieren und zu erklären, wie sie jene Situation interpretiert und erklärt hatte, die sie vorausgesagt hatte und die nicht eingetreten war. Jede beliebige Entwicklung paßt in das dialektische Schema; der Dialektiker braucht eine Widerlegung durch zukünftige Erfahrung niemals zu fürchten (11). Wie bereits erwähnt, ist es weniger die dialektische Schauweise als vielmehr die eigentliche Idee von einer Soziologie als Theorie der geschichtlichen Entwicklung - die Vorstellung, daß historische Voraussagen großen Stils das Ziel der wissenschaftlichen Soziologie darstellen -, die falsch ist. Dies aber beschäftigt uns hier nicht.

Neben der Rolle, die die Dialektik in MARX' historischer Methode spielt, sollte die anti-dogmatische Attitüde von MARX behandelt werden. MARX und ENGELS haben fest darauf bestanden, daß die Wissenschaft nicht als Bestand einer endgültigen und wohlbegründeten Erkenntnis oder "ewiger Wahrheit" interpretiert werden darf, sondern vielmehr als etwas, das sich entwickelt, fortschreitet. Der Wissenschaftler ist nicht der Mann, der viel weiß, sondern der Mann, der entschlossen ist, die Suche nach Wahrheit niemals aufzugeben. Wissenschaftliche Systeme entwickeln sich, und sie entwickelns sich - nach MARX - dialektisch.

Gegen diesen Punkt läßt sich nur wenig einwenden - obgleich ich persönlich der Ansicht bin, daß die dialektische Beschreibung der Entwicklung der Wissenschaft nicht immer ohne Gewaltsamkeit anwendbar ist und daß es besser ist, die wissenschaftliche Entwicklung in weniger ambitiöser und vieldeutiger Weise zu beschreiben, zum Beispiel mit Hilfe der  Trial-and-error-Theorie.  Doch ich bin bereit zuzugeben, daß diese Kritik nicht von großer Bedeutung ist. Es ist aber von wirklicher Bedeutung, daß MARX' fortschrittliche und anti-dogmatische Ansicht von der Wissenschaft von orthodoxen Marxisten auf ihrem eigenen Tätigkeitsfeld niemals angewandt worden ist. Progressive, anti-dogmatische Wissenschaft ist kritisch - Kritik ist ihr eigentliches Leben. Aber Kritik am Marxismus, am dialektischen Materialismus ist von Marxisten niemals geduldet worden.

HEGEL war der Ansicht, daß sich die Philosophie entwickelt; sein eigenes System aber sollte als letztes und höchstes Stadium dieser Entwicklung bestehenbleiben und nicht übertroffen werden können. Die Marxisten haben sich die gleiche Attitüde gegenüber dem MARXschen System zueigen gemacht. Daher existiert die anti-dogmatische Attitüde von MARX nur in der Theorie und nicht in der Praxis des orthodoxen Marxismus, und die Dialektik wird von den Marxisten in einer Nachahmung des von ENGELS mit dem  Anti-Dühring  gegebenen Beispiels in erster Linie zu apologetischen [rechtfertigenden - wp] Zwecken verwendet - um das MARXsche System gegen die Kritik zu verteidigen. In der Regel werden Kritiker mit der Bemerkung abgewiesen, daß sie die Dialektik oder die proletarische Wissenschaft nicht verstehen, oder mit dem Vorwurf des Verrats. Dank der Dialektik ist die anti-dogmatische Attitüde verschwunden und der Marxismus hat sich als ein Dogmatismus etabliert, der durch die Verwendung der dialektischen Methode elastisch genug ist, jedem zukünftigen Angriff auszuweichen. Somit ist er zu dem geworden, was ich den doppelt verschanzten Dogmatismus bezeichnet habe.

Es gibt aber kein größeres Hindernis für den Fortschritt der Wissenschaft als einen derartig doppelt verschanzten Dogmatismus. Es kann keine wissenschaftliche Entwicklung ohne freie Konkurrenz der Gedanken geben - dies ist der harte Kern der von MARX und ENGELS einst so stark vertretenen anti-dogmatischen Attitüde, und im allgemeinen kann es keine freie Konkurrenz wissenschaftlicher Gedanken geben ohne Freiheit für alles Denken.

Die Dialektik hat also eine sehr unglückliche Rolle gespielt, nicht nur in der Entwicklung der Philosophie, sondern auch in der Entwicklung der Theorie der Politik. Ein volles Verständnis dieser unglücklichen Rolle wird durch den Versuch erleichter, zu erfahren, wie MARX ursprünglich zur Entwicklung einer solchen Theorie gelangte. Dazu müssen wir die Situation in ihrer Gesamtheit in Betracht ziehen. MARX geriet als junger Mann mit progressivem, evolutionärem und sogar revolutionärem Denken unter den Einfluß HEGELs, des berühmtesten deutschen Philosophen. HEGEL war ein Repräsentant der preußischen Reaktion; er benutzte sein Prinzip der Identität von Vernunft und Wirklichkeit zur Stützung der bestehenden Gewalten - denn was existiert, ist vernünftig - und zur Verteidigung der Idee des absoluten Staates (einer Idee, die wir heute als "Totalitarismus" bezeichnen.) MARX bewunderte ihn, war aber von sehr unterschiedlichem politischen Temperament und benötigte eine Philosophie zur Begründung seiner eigenen politischen Ansichten. Und nun können wir verstehen, wie fasziniert er von der Entdeckung sein mußte, daß HEGELs dialektische Philosophie leicht gegen ihren Meister gewendet werden konnte und daß die Dialektik mehr für eine revolutionäre politische Theorie streitet als für eine konservative und apologetische. Abgesehen davon entsprach die Dialektik in hervorragender Weise seinem Bedarf nach einer Theorie, die nicht nur revolutionär, sondern auch optimistisch sein sollte, also einer Theorie die den Fortschritt durch eine Betonung des Aufstiegs von Schritt zu Schritt voraussagt.

Diese Entdeckung war zwar zweifellos faszinierend für einen Schüler HEGELs, und noch dazu in einer von HEGEL beherrschten Ära; sie hat aber heute zusammen mit dem Hegelianismus alle Bedeutung verloren und kann kaum noch als mehr angesprochen werden, denn als eine kluge  "tour de force" [mit erheblicher Anstrengung verbundenes Handeln - wp] eines hervorragenden jungen Studenten, der in den Spekulatioen seines unverdientermaßen berühmten Meisters eine Schwäche entdeckt hat. Diese Entdeckung aber wurde zur theoretischen Grundlage des sogenannten "wissenschaftlichen Marxismus". Und sie trug zur Erstarrung des Marxismus zu eingem dogmatischen System bei, indem sie die wissenschaftliche Entwicklung verhinderte, deren er vielleicht fähig gewesen wäre. Somit hat der Marxismus jahrzehntelang seine dogmatische Attitüde aufrechterhalten und gegen seine Gegner stets die gleichen Argumente wiederholt, die ursprünglich von seinen Begründern gebraucht wurden. Es ist betrüblich, aber aufschlußreich, festzustellen, wie der orthodoxe Marxismus heute offiziell das Studium von HEGELs  Logik  als Grundlage für das Studium der wissenschaftlichen Methodologie empfiehlt - eines Buches also, das nicht nur veraltet, sondern typisch ist für vorwissenschaftliches und sogar vorlogisches Denken. Diese Empfehlung ist übler, als die Empfehlung von ARCHIMEDES' Mechanik als Grundlage für den modernen Maschinenbau.

Die ganze Entwicklung der Dialektik sollte als Warnung dienen gegen die dem philosophischen Systembauen inhärenten Gefahren. Sie sollte uns daran erinnern, daß die Philosophie nicht zur Grundlage für irgendwelche Arten wissenschaftlicher Systeme gemacht werden darf und daß die Philosophen in ihren Ansprüchen viel bescheidener sein sollten. Eine Aufgabe jedoch, die sie in sehr nützlicher Weise erfüllen können, besteht in der Untersuchung der kritischen Methoden der Wissenschaft.
LITERATUR - Karl R. Popper, Was ist Dialektik?, Ernst Topitsch (Hg), Logik der Sozialwissenschaften, Köln-Berlin 1966
    Anmerkungen
    1) Im Original: What is dialectic? Aus:  Mind, (New Series), Bd. 49, 1940. Wiederabgedruckt in:  Conjectures and refutations,  London 1963, Seite 312-335. Aus dem Englischen übersetzt von Johanna und Gottfried Frenzel, Lehrbeauftragte am Dolmetscher-Institut der Universität Heidelberg.
    2) Die dogmatische Attitüde, an einer Theorie solange wie möglich festzuhalten, ist von beachtlicher Bedeutung. Ohne diese Attitüde könnten wir niemals herausfinden, was in einer Theorie enthalten ist - wir würden sie aufgeben, bevor wir Gelegenheit zur Feststellung ihrer Stärke gehabt hätten; und folglich könnte keine Theorie jemals ihre Rollen spielen beim Ordnen der Welt, bei unserer Vorbereitung für zukünftige Ereignisse, bei der Hinlenkung unserer Aufmerksamkeit auf Ereignisse, die wir ohne Theorie niemals beobachten würden.
    3) Es ist keine Methode in dem Sinne, daß ihre Anwendung zum Erfolg führt oder daß sie im Fall eines Mißerfolgs nicht angewendet wurde; d. h. es handelt sich dabei nicht um einen definitiven Weg zum Erfolg. Eine Methode in diesem Sinn existiert nicht.
    4) Eine eingehendere Diskussion findet sich in POPPER, Die Logik der wissenschaftlichen Forschung, London 1959.
    5) Der griechische Ausdruck  dialektike (techne) kann übersetzt werden: "(die Kunst des) argumentativen Gebrauchs der Sprache". Diese Bedeutung des Ausdrucks geht bis auf PLATON zurück; er tritt aber auch bei PLATON in verschiedenen Bedeutungen auf. Zumindest eine ihrer antiken Bedeutungen kommt sehr nahe an das heran, was ich oben als "wissenschaftliche Methode" beschrieben habe. Denn man verwendete sie zur Beschreibung der Methode der Konstruktion erkärender Theorien sowie der Methode der kritischen Diskussion dieser Theorien, was die Frage einschließt, ob sie der empirischen Beobachtung entsprechen bzw. ob sie - in der alten Terminologie ausgedrückt - dem  Grundsatz "die Erscheinungen  zu bewahren" genügen.
    6) In HEGELs Terminologie werden sowohl Thesis als auch Antithesis durch die Synthesis -1-  zu bloßen Komponenten (der Synthesis) reduziert  und dabei -2-  beseitigt  (oder  negiert)  und gleichzeitig -3-  bewahrt  (oder  aufbewahrt)  und -4-  erhoben  (oder  auf ein höheres Niveau emporgehoben).  Die kursiv gesetzten Ausdrücke geben die vier Hauptbedeutungen des einen deutschen Wortes  "aufheben"  wieder, von dessen Vieldeutigkeit HEGEL reichhaltigen Gebrauch macht.
    7) JULIUS FRIEDRICH HECKER, Moscow Dialogues, London 1936, Seite 99. Das Beispiel ist dem  Anti-Dühring  entnommen.
    8) Diese Antwort ist nicht einmal originell; KANT hatte sie vorher bereits in Betracht gezogen, aber natürlich verworfen.
    9) MacTAGGART hat diesen Punkt zum zentralen Thema seiner interessanten  Studies in Hegelian Dialectic  gemacht.
    10) Dies sollte zumindest all denen klar werden, die als Beispiel die folgende erstaunliche Analyse des Wesens der  Elektrizität  in Betracht ziehen, die ich übersetzt habe, so gut ich es vermag - wobei ich so weit gegangen bin, zu versuchen, es irgendwie besser verständlich zu machen als den HEGELschen Text im Original. Die Stelle lautet im Original: "Die Elektrizität ist der reine Zweck der Gestalt, der sich von ihr befreit; die Gestalt, die ihre Gleichgültigkeit aufzuheben anfängt; denn die Elektrizität ist das unmittelbare Hervortreten, oder das noch von der Gestalt herkommende, noch durch sie bedingte Dasein, - oder noch nicht die Auflösung der Gestalt selbst, sondern der oberflächliche Prozeß, worin die Differenzen die Gestalt verlassen, aber sie zu ihrer Bedingung haben, und noch nicht an ihnen selbständig sind." - G. W. F. HEGEL, System der Philosophie, zweiter Teil: Die Naturphilosophie, Sämtliche Werke, hg. von HERMANN GLOCKNER, Bd. 9, Stuttgart 1958, § 323 Zusatz, Seite 369. Vgl. auch zwei ähnliche Stellen über den Schall und über die Wärme, die ich in meiner "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", Princeton 1950, Bern 1957 in Fußnote 4 zu Kapitel 12 zitiert habe, sowie den Text.
    11) In meinem Buch "Die Logik der wissenschaftlichen Forschung", a. a. O., habe ich zu zeigen versucht, daß der wissenschaftliche Gehalt einer Theorie umso größer ist, je mehr Information sie vermittelt, je mehr sie riskiert, je mehr sie sich der Widerlegung durch eine zukünftige Erfahrung aussetzt. Wenn sie keine derartigen Risiken eingeht - hat sie keinen wissenschaftlichen Gehalt, ist sie metaphysisch. An dieser Norm gemessen, können wir sagen, daß die Dialektik unwissenschaftlich ist: sie ist metaphysisch.