p-4 F. SchumannG. HeymansAugustinusA. DöringH. Bender    
 
MAX EYFFERTH
Über die Zeit
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"Das Bewußtsein ist eine Tätigkeit und innere Erscheinung so gut wie alle übrigen und kann für sich nicht den Zusammenhang bewerkstelligen. Es würde für sich selbst in viele unzusammenhängende Akte zerfallen, wenn nicht eine Verknüpfung vorhanden wäre, welche selbst keine Erscheinung ist. Daß wir in unserem Bewußtsein eine Vielheit von Vorstellungen vereinigt besitzen, kann niemand leugnen. Eine solche Vereinigung von Tätigkeiten kann aber nur durch ein Subjekt geschehen, welches selbst nicht Erscheinung sein kann, und dies nennen wir in diesem Fall unseren Geist."

"Der rotierende Farbkreisel liefert uns im Moment der Beleuchtung eine zu langsame Bewegung. Hieraus folgt, daß wir von unseren eigenen Bewegungen nicht einmal die Kontinuität als empirisch feststehend behaupten dürfen, da unser Verstand diese erst aus den Daten zusammensetzt, welche ihm Sinnesorgane und Nerven überliefern, und da alle Sinnesempfindung über die Kontinuität durchaus nichts aussagt."


III. Was dem Begriff der Zeit
in der Wirklichkeit entspricht.


A. Von der Realität der
Zeit im Allgemeinen

Weder mit den äußeren Sinnen noch mit dem inneren Sinn kann die Zeit wahrgenommen, sondern nur aufgrund der Vergleichungen mehrerer Erscheinungen erschlossen werden. Im vorigen Abschnitt sahen wir, wie und in welcher Gestalt der Begriff der Zeit zustande kommt, jetzt haben wir zu untersuchen, mit welchem Recht.

Gegeben sind uns zunächst nur Erscheinungen. Diese aber dürfen wir nicht ganz und gar als unsere eigenen Tätigkeiten auffassen, denn einige unter ihnen können Unlust in uns erregen oder gegen unseren Willen sein. Mag man über den freien Willen denken, wie man will, so viel ist an dem uns empirisch erscheinenden Willen gewiß, daß der, welcher will, wissen muß, was er will, und was gegen seinen Willen geschieht. Es würde nun nichts gegen unseren Willen geschehen können, und wir würden keine Unlust zu empfinden imstande sein, wenn es nicht außer uns eine fremde Macht gäbe. Wo wir daher Unlust empfinden oder etwas gegen unseren Willen erklären, da erkennen wir eine empirische Notwendigkeit (scheinbar eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp]) an, welche von den Arten der philosophischen Notwendigkeit zu unterscheiden ist; wir erkennen an, daß etwas Fremdes auf uns einwirkt. Man kann diese Notwendigkeit nicht für eine innere erklären oder für Selbstbeschränkung, denn sie kann nicht aus derselben Quelle fließen mit dem Bewußtsein, gegen dessen Willen sie stattfindet, und welches sich gegen sie sträubt.

Haben wir aber in einem einzigen Fall eine Macht außerhalb von uns anerkannt, so werden wir diese auch in denjenigen Fällen anerkennen müssen, wo wir nicht gerade in Konflikt mit ihr geraten, wo wir aber die Möglichkeit dazu einsehen. Diese Einsicht aber können wir uns durch Experimente verschaffen, wir können experimentieren, wie weit unsere Macht reicht.

Zunächst müssen wir für jede Erscheinung, welche nicht in unserer Macht steht, eine besondere fremde Macht voraussetzen, welche sie hervorruft. Nichts würde uns berechtigen, alle äußeren Einwirkungen einer einzigen Macht oder Ursache zuzuschreiben, bevor wir diese Verhältnisse genauer untersucht haben. Eine Vielheit uns gegenüberstehender Objekte ist das Erste, wohin wir gelangen müssen.

Eine solche Vielheit realer Objekte sind die Realen HERBARTs, welche ich nicht mit den kantischen Dingen-ansich, sondern nur mit KANTs Erscheinungswelt auf die gleiche Stufe setzen kann, weil der Schein der Inhärenz nach HERBART immer auf eine Mehrheit von Realen hinweisen soll. Eine solche Vielheit ist ohne jeden Zusammenhang; ein jedes existiert abgeschlossen für sich. Der Zusammenhang entsteht demnach erst in unserem Bewußtsein.

Im Leben wird uns aber der Zwang, welchen die Natur einer einzelnen Erscheinung auf uns ausübt, weniger fühlbar, als derjenige, welchen eine bestimmte Ordnung und Kombination von Erscheinungen liefert. Ein bestimmter Zusammenhang und bestimmte Kombinationen von Erscheinungen sind es zumeist, was wir erstreben, und was unserem Willen zuwider sein kann. Zwar kommen uns auch nach HERBART nur die Verhältnisse der Realen zum Bewußtsein, ihr eigentliches Wesen nicht; aber diese Verhältnisse entstehen erst durch ein Zusammenfassen und Vergleichen in unserem Bewußtsein und bezeichnen keinen Verkehr zwischen den Realen außerhalb unseres Bewußtseins.

Wollen wir jedoch anerkennen, daß uns auch in gewissen Fällen ein Zusammenhang der Erscheinungen als fremde Macht, freilich nicht unseren Sinnen, wohl aber unserem Verstand gegenübersteht, so darf dieser Zusammenhang nicht wieder durch ein ähnliches Objekt hervorgebracht werden wie das, welches das Reale der einzelnen Erscheinung darstellt; denn dann ständen nur reale Objekte immer noch ohne Zusammenhang nebeneinander. Dasjenige, was den Zusammenhang liefert, darf niemals selbst als Objekt oder Erscheinung betrachtet werden können, sondern muß als das unanschaubare Band der Erscheinungen oder Objekte oder Tätigkeiten angesehen werden, und als solches können wir es Subjekt nennen. Jedes Subjekt übt dann eine Vielheit von Tätigkeiten aus, und wenn diese angeschaut werden, heißen sie Erscheinungen; als reale Grundlage der Erscheinungen heißen sie Objekte.

Erst ein solches Subjekt würde mit dem kantischen Ding-ansich ungefähr den gleichen Rang haben. Nur würde der Unterschied stattfinden, daß KANT meinte, man müsse den Mangel unserer Anschauung nicht auf jede mögliche übertragen, und das Ding-ansich könnte möglicherweise von anderen Wesen als wir angeschaut werden. Soll aber das Ding oder Subjekt den Zusammenhang von Erscheinungen bewirken, so muß es sich ganz und gar von den Tätigkeiten, Erscheinungen oder Objekten unterscheiden. Würde es nun direkt angeschaut, so wäre es ein Objekt, hinter welchem man wieder ein Subjekt vermuten könnte. Als Objekt darf es nur in seinen Tätigkeiten auftreten, die gegen andere Wesen anders sein können, und diese Tätigkeiten können angeschaut werden; selber muß es aber immer unanschaubar dahinter stehen.

Hiergegen wird man einwenden, daß auch Tätigkeiten verschiedener Subjekte in einen Verkehr miteinander treten müssen, und daß ein solches Subjekt für deren Zusammenhang dann nicht Genüge leisten kann. Dieser Fall aber wird nur so stattfinden können, daß das eine Subjekt produktiv tätig ist und das andere rezeptiv [empfangend - wp]. Eine rezeptive Tätigkeit kann aber immer nur dem eigenen Subjekt eine Erscheinung liefern und niemals einem fremden. Von fremden Subjekten kann man nur produktive Tätigkeiten wahrnehmen, wenn sie auch von rezeptiven veranlaßt wären. Da also unserer Erscheinungswelt von fremden Subjekten nur produktive Tätigkeiten zugrunde liegen können, so hat ein fremdes Subjekt zunächst nur die Aufgabe, den Zusammenhang produktiver Tätigkeiten zu erklären. Hat man es für diese erschlossen, so kann man ihm dann auch rezeptive zuschreiben.


Man wird nun fragen, was denn die Zeit noch für eine Verknüpfung zu bewirken hat, wenn das Subjekt schon den Zusammenhang von Tätigkeiten genügend erklärt. Die Zeit bringt auch in der Tat nichts Neues mehr hinzu. Sie tritt überall da ein, wo ein Subjekt mehrere Tätigkeiten ausübt. Sie ist eine der Formen, in welchen Subjekte mit Tätigkeiten verknüpft werden können. Das Subjekt, obwohl zunächst wegen des Zusammenhangs mehrerer Tätigkeiten angenommen, kann nun auch, da es die Ursache aller seiner Tätigkeiten ist, im Verhältnis zu nur einer Tätigkeit betrachtet werden. Nur dieses Verhältnis ist eigentlich das der schaffenden Kausalität. Kausalität, das Verhältnis von Ursache und Wirkung, besteht zwischen jeder einzelnen Ursache und Wirkung. Ob es aber möglich ist, daß eine Ursache mehrere Wirkungen, daß ein Subjekt mehrere Tätigkeiten ausüben kann, davon weiß und sagt die Kausalität durchaus gar nichts. Erst die Verschmelzung von Kausalitäten, welche mehrere Tätigkeiten demselben Subjekt zuspricht, führt uns dieses Verhältnis vor Augen und wird mit dem Namen Zeit belegt. Die Zeit macht es also möglich, daß ein Subjekt mehrfach tätig sein kann, und wird als Verbindungsform immer da real sein, wo ein Subjekt in Wirklichkeit mehr als eine Tätigkeit ausübt.


Wir haben nun zu untersuchen, was uns berechtigt, mehrere Erscheinungen teils einem Subjekt, teils verschiedenen zuzuschreiben, um so die Fälle aufzufinden, wo ein Subjekt mit mehreren Tätigkeiten verknüpft ist.

Das Gesamtgebiet unserer Erscheinungen teilt sich zunächst in Erscheinungen äußerer Sinne und Erscheinungen des inneren Sinnes. Da wir diese als gegeben aufnehmen, so müssen uns bei allen Sinnesanschauungen reale Objekte gegenüberstehen. Aber wir können auch eine Vorstellung von Erscheinungen und mit diesen von Objekten haben, ohne daß dieselben in Wirklichkeit vorhanden sind. Die Fähigkeit dazu nennen wir Einbildungskraft, deren Gebilde sich durch einen ganz bestimmten Mangel, den die Vergleichung mit den Anschauungen bemerkbar macht, kennzeichnen.

Wie uns aber die Sinnesanschauungen nach Abzug der Realität der Objekte eine Klasse von Vorstellungen liefern, die wir empirisch wohl zu unterscheiden imstande sind, so liefern sie uns ebenfalls eine Klasse von Erscheinungen, wenn man die Realität der Objekte zwar bestehen läßt, aber die dahinter stehenden Subjekte streicht. Auf dem Gebiet dieser Erscheinungen entspricht den Erinnerungen das Nachklingen von Sinnesempfindungen, der Phantasie aber die Träume. (1) In diesen Fälen nehmen wir in der Tat Sinneserscheinungen wahr, Objekte (nächste Ursachen der Empfindung) sind vorhanden, aber die Realität der entsprechenden Subjekte fehlt. Dieser Mangel kann uns nur dann bemerkbar werden, wenn wir ihn mit den Zuständen vergleichen, in denen wir ihn ergänzt vorfinden. Wir können daher nur im Wachen gewiß sein, daß wir nicht träumen, im Traum aber, wo wir den Traumzustand nicht mit dem des Wachens vergleichen, glauben wir meist ebenfalls zu wachen. Schon der Umstand also, daß wir die Fähigkeit besitzen, zwischen Traum und Wachen zu unterscheiden, berechtigt uns, ein gewisses Etwas noch hinter den Objekten anzunehmen, welches bei den Erscheinungen des wachen Zustandes vorhanden ist. Da aber im Wachen die Erscheinungen mehr Zusammenhang haben als im Traum, so wird dieser Zusammenhang ebenfalls in jenem Etwas, also in den Subjekten stecken müssen. Träumen können wir nun aber sowohl von äußeren Erscheinungen als von inneren. Hinter beiden werden wir also Subjekte zu suchen haben.

Wir lassen es hier dahingestellt, ob ein und dasselbe Subjekt imstande ist, sowohl innere Erscheinungen als auch äußere hervorzubringen, und bezeichnen vorläufig ein Subjekt, welches für den Zusammenhang von nur äußeren Erscheinungen erschlossen wurde, mit dem Wort Materie und ein Subjekt, welches nur für den Zusammenhang von inneren Erscheinungen angenommen wurde, mit dem Wort Geist. Wenn oben gesagt wurde, die äußeren Erscheinungen können wir als Tätigkeiten des Leibes auffassen und die inneren als Seelentätigkeiten, so ist damit gemeint, daß die Qualität der Erscheinungen von Leib und Seele geliefert oder zumindest bedingt wird, für den Zusammenhang, den jedesmaligen Eintritt und die Ordnung derselben sind aber Materie und Geist die Subjekte.

In den Träumen, wo direkt weder Materie noch Geist für die Erscheinung schaffend tätig ist, da muß Leib und Seele auch den Zusammenhang der Erscheinungen selbständig liefern, und dies gelingt ihnen schlecht genug. In der Einbildung aber muß der Geist die Materie und Leib und Seele dazu ersetzen, und das geht schon weit besser. Ordnung und Zusammenhang kann der Geist den Gebilden der Einbildungskraft sehr leicht aus eigenen Mitteln verschaffen, aber den Mangel namentlich der Tätigkeiten des Leibes vermag er schwer zu überwinden. Für den Geist selber aber gibt es keinen Stellvertreter. Zusammenhang kann zwar auch die Materie herstellen, aber Ordnung, welche nur für einen Geist existiert, kann auch nicht ohne Geist zustande kommen.

Träume können in Erfüllung gehen und Phantasien verwirklicht werden, wenn sie sich wiederholen in Verbindung mit der Wirklichkeit der in ihnen vorgestellten Subjekte. Die eigentliche Realität findet also erst da statt, so zu den Erscheinungen ein Subjekt hinzutritt, welches sie als ihre Ursache zusammenhält, obwohl Erscheinungen als solche schon eine empirische Realität besitzen.


Was berechtigt uns nun, alle inneren Erscheinungen auf ein einziges reales Subjekt, nämlich unseren Geist, zu beziehen, während wir für die äußeren Erscheinungen eine Vielheit von Materie annehmen? Dies kann nur im Zusammenhang sämtlicher Erscheinungen des inneren Sinnes liegen. Ein solcher Zusammenhang findet nur in der Tat statt, weil sie alle auf ein und dasselbe Bewußtsein bezogen werden oder von ihm begleitet sind. Das Bewußtsein ist eine Tätigkeit und innere Erscheinung so gut wie alle übrigen und kann für sich nicht den Zusammenhang bewerkstelligen. Es würde für sich selbst in viele unzusammenhängende Akte zerfallen, wenn nicht eine Verknüpfung vorhanden wäre, welche selbst keine Erscheinung ist. Daß wir in unserem Bewußtsein eine Vielheit von Vorstellungen vereinigt besitzen, kann niemand leugnen. Eine solche Vereinigung von Tätigkeiten kann aber nur durch ein Subjekt geschehen, welches selbst nicht Erscheinung sein kann, und dies nennen wir in diesem Fall unseren Geist.

Da der Geist selbst niemals erscheinen kann, sondern nur seine Tätigkeiten, so ist es auch falsch von einer Wahrnehmung unserer selbst zu reden, wenn wir nicht unsere Tätigkeiten meinen, oder von einem Subjekt zu reden, das zugleich Objekt ist, oder gar von einem Subjekt-Objekt. Das Subjekt muß immer Subjekt bleiben, nur seine Tätigkeiten können erscheinen und als solche Objekte sein. Wenn das Subjekt aber auch nicht wahrgenommen werden kann, so muß es doch gedacht werden können, denn sonst würden wir überhaupt nicht auf ein Subjekt als Grundlage der Erscheinungen schließen. Dann ist aber das Objekt unseres Denkens nicht das Subjekt selbst, sondern der Begriff desselben und dieser nur so weit, als er sich für uns aus den Erscheinen folgern läßt.

Auch die äußeren Erscheinungen begleiten wir, weil sie unsere Anschauungen sind, mit unserem Bewußtsein; und in dieser Beziehung gehören sie ebenfalls zu den Tätigkeiten unseres Geistes und zwar zu den rezeptiven. Die Tätigkeiten fremder Subjekte aber, welche ihnen zugrunde liegen, werden nicht auf ein einziges fremdes Subjekt, sondern auf eine Vielheit derselben bezogen, weil uns in der Außenwelt nichts gegeben ist, was der Einheit unseres Bewußtseins analog wäre. Aber auch hier werden wir eine Vielheit von Tätigkeiten mit Recht auf ein einziges Subjekt beziehen, wo wir ein und dieselbe Tätigkeit mit einem Komplex anderer Tätigkeiten verbunden sehen, wo wir gezwungen sind, einen Zusammenhang außerhalb von uns anzuerkennen.


Der Begriff von einem Subjekt gilt zwar zunächst nur für den Zusammenhang derjenigen Tätigkeiten, welche wir verbunden wahrnehmen und für keine anderen uns unbekannten. Aber das Subjekt muß doch die Fähigkeit haben, die von wahrgenommenen Tätigkeiten auszuüben. An einem Komplex von Erscheinungen, mit dem wir eine andere Erscheinung einmal verbunden sahen, dürfen wir vermuten, daß sich dieselbe wiederholen kann. Auf diese Weise können wir die Fähigkeiten der Subjekte, also auch unseres Geistes, studieren.

Es sind also die Subjekte nicht lediglich aus ihren Eigenschaften zusammengesetzt, so daß nichts übrig bleibt, wenn man die Eigenschaften fortnimmt, sondern sie sind grade als Träger der Eigenschaften, als Ursache der Tätigkeiten der Rest, welcher übrig bleiben muß nach Abzug derselben. Wie dieser Rest aber sonst noch beschaffen sein mag, das zu erforschen übersteigt die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens. Aber wir haben alle Ursache lieber noch ein unbekanntes Mehr in ihm zu vermuten, als ihn gänzlich zu streichen.

Da wir nun über die eigentliche Natur der Subjekte also keinen Aufschluß erhalten können, so kann ihre Realität auch nicht direkt nachgewiesen werden, sondern nur indirekt, wie es hier eben versucht wurde: unsere Welt, in welcher wir leben, würde uns nicht so erscheinen können, wie sie uns erscheint, wenn es keine Subjekte oder Dinge-ansich gäbe. Wer den Beweis nicht für genügend erachten sollte, der wird darin wenigstens die Hauptmotive der Berechtigung der vorgetragenen Ansicht niedergelegt finden.


Die Realität der Zeit aber ist von der Realität der Subjekte abhängig, wenn die Zeit eine der Verknüpfungsformen zwischen Subjekten und Tätigkeiten darstellen soll. Die einfachste Form einer solchen Verknüpfung wäre die zwischen einem Subjekt und einer Tätigkeit; diese Form ist die schaffende Kausalität. Die Zeit aber setzt die Eigenschaft eines Subjekts voraus, mehrfach tätig zu sein, oder ihre Wirklichkeit verleiht diese Eigenschaft. Wäre diese Eigenschaft nicht vorhanden, so würde jedes Subjekt immer nur eine einzige Tätigkeit ausüben können und damit seine Wirksamkeit beschlossen haben; die Zeit verbindet ein Subjekt mit mehreren Tätigkeiten. Die Zeit wird also immer da real sein, wo ein Subjekt mehrere Tätigkeiten ausübt, real aber weder als Ding-ansich noch als Erscheinung.

Sie steht vielmehr mit einem Fuß in der Welt der Dinge-ansich, mit dem andern in der Welt der Erscheinungen und stellt einen der Fäden dar, welche zwischen beiden Welten hinüber und herüber laufen. Wenn man daher beide Welten auseinander reißt und jede für sich betrachtet, so findet man die Zeit in keiner von beiden. Denn die Dinge ansich ohne Tätigkeiten haben schlechterdings keinen Verkehr miteinander und würden eine zusammenhanglose Vielheit bilden; die Erscheinungen aber ohne Dinge würden ganz in derselben Weise auseinanderfallen und sich am allerwenigsten in eine zusammenhängende Reihe wie die Zeitreihe ordnen lassen. So wie man aber beide Welten miteinander vereinigt, so werden sich mit dieser Vereinigung auch die verschiedenen Verknüpfungsformen zeigen, deren eine die Zeit ist.

Wollte man alles real nennen, was zur Welt der Dinge ansich gehört, und ideal die Welt der Erscheinungen oder auch umgekehrt, so wäre die Zeit weder ideal noch real. Wenn man sie aber ideal und real zugleich nennt und sowohl den Dingen den Erscheinungen zuspricht, so kann man damit, wenn auch unbewußt, nur gemeint haben: daß die Zeit die Dinge mit ihren Tätigkeiten ebenso verbindet, wie sie uns mit unseren Tätigkeiten verbindet. Denn als ein Verhältnis zwischen den Tätigkeiten der Dinge und unseren Tätigkeiten darf man sie nicht auffassen; dies wäre eine bedingende Kausalität zwischen den Tätigkeiten verschiedener Subjekte, welche keiner Zeit bedarf.

Nennt man die Zeit in diesem Sinne ideal und real zugleich, so darf man sich nicht mehr über die Übereinstimmung auf beiden Seiten wundern, denn diese fließt aus dem Wesen der Zeit selber, daß sie mehrere Tätigkeiten mit einem Subjekt verknüpft und immer da real ist, wo diese Verknüpfung stattfindet. Unser eigenes Subjekt aber mußten wir auf ganz dieselbe Weise erschließen wie die fremden Subjekte, denn von allen Subjekten sind uns immer nur die Tätigkeiten gegeben. Von allen Tätigkeiten sehen wir aber auch nur die Seite, welche sie unserer Beoachtung zukehren, und nicht die, welche der schaffenden Kausalität zugewandt ist, selbst nicht von unseren eigenen. Wir erschließen auch die Tätigkeiten nur aus ihrem Erscheinen. Die Erkenntnis unserer Innenwelt geschieht in derselben Weise wie die Erkenntnis der Außenwelt, nur liefert sie andere Qualitäten. Dementsprechend muß auch die Zeit in beiden Fällen analog sein. Auch unser Einwirken auf die Außenwelt und auf die Innenwelt wird sich analog verhalten.


Aus den verschiedenen Formen der Urteile leitete KANT die Kategorien als ebenso viele verschiedene Funktionen des Verstandes ab. Würde es nicht dieser Ableitung entsprechen, wenn die Kategorien Verbindungsformen der Welt der Erscheinungen mit der Welt der Dinge-ansich darstellen, ebenso wie die verschiedenen Formen der Urteile Verbindungsformen zwischen Prädikaten und Subjekten sind? Würde KANT nicht durch diese Fassung die immer wiederkehrende Unsicherheit vermieden haben, mit welcher er das Ding-ansich bald die Ursache der Erscheinungen nennt, bald die Kategorien und mit ihnen die Kausalität gänzlich in die Erscheinungswelt setzt? Hätte er dann nicht auch die Zeit in einen gleichen Rang mit den Kategorien setzen müssen, da sie ebenso wie die anderen verschiedenen Formen der Urteile liefert? Denn wenn die Kopula nichts weiter als die Verbindungsform im Urteil ausdrücken soll, so wird sich diese Form sicher danach ändern, ob die Kopula Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft in sich aufnimmt.

In der Tat wäre der Name Zeitwort nicht erfunden, wenn die Zeit nicht in der Form der Urteile eine Rolle spielen würde. Damit sie dies aber kann, würde jedes Urteil die Verknüpfung einer Vielheit von Tätigkeiten mit einem Subjekt aussagen müssen. Und wirklich verkündet auch jedes Urteil, daß einem Subjekt, welches bereits durch eine Reihe von Erscheinungen hinlänglich bekannt ist, nun auch die Tätigkeit, welche eben das Prädikat bezeichnet, zugesprochen werden soll. Vergangenheit und Zukunft aber kann ein Urteil gar nicht in sich aufnehmen, ohne zwei verschiedene Tätigkeitszustände desselben Subjekts in einen Vergleich zu bringen, und wäre dieses Subjekt auch nur ein gedachtes oder die bloße leere Stelle desselben im unvollständigen Urteil.


B. Zwei abgeleitete Merkmale
des Zeitbegriffs

Zwei Begriffe, welche man gewöhnlich für unabtrennbar vom Zeitbegriff hielt, haben wir nicht mit unter die konstituierenden Merkmale aufgenommen, nämlich die Kontinuität und die Unendlichkeit. Wir haben daher jetzt zu untersuchen, ob und wie weit sie sich als abgeleitete Merkmale aus dem bisher Erörterten ergeben und welche Bedeutung ihnen in der wirklichen Welt zukommt.


1. Die Kontinuität der Zeit

Die Zeit verknüpft eine Vielheit von Tätigkeiten mittels eines Subjekts. Ohne diese Verknüpfung müßten die Tätigkeiten eine Vielheit diskreter Größen darstellen, und Kontinuität wäre unmöglich. Die Zeit aber ist nicht die eigentliche Macht der Verknüpfung, sondern nur die Form derselben. Den Zusammenhang bewirkt das Subjekt. Aber den Zusammenhang kann es nur bewirken zwischen seinen eigenen Tätigkeiten, also nur, wenn alle Tätigkeiten demselben Subjekt angehören. Ein solcher Zusammenhang muß aber kontinuierlich sein; denn befände sich eine Unterbrechungsstelle zwischen zwei Tätigkeiten, während jederseits viele Tätigkeiten und alle mit demselben Subjekt verbunden wären, so würde man statt des einen Subjekts zwei annehmen müssen, und man hätte nicht mehr eine Zeit, sondern zwei. Wegen der Einheit und Identität des Subjekts muß der Zusammenhang aller Tätigkeiten, welche zu einer Zeit gehören, ein ununterbrochener sein.

Da aber die Zeit nicht unmittelbar in der Welt der Erscheinungen anzutreffen ist, sondern in dieser nur eine Vielheit von Tätigkeiten gegeben wird, so scheint es, muß die Erscheinungswelt diskontinuierlich gegeben werden, und die Zeit erst den ununterbrochenen Zusammenhang hineinbringen. Und dies ist auch in der Tat beinahe so. Wir müssen den Verlauf der Zeit als kontinuierlich fortfließend denken, wenn er auch für uns von großen Lücken unterbrochen wäre. Denn wenn wir Morgens nach ein festen gänzlich traumlosen Schlafen erwachen, ohne ein Bewußtsein von der verschlafenen Zeit gehabt zu haben, so wären wir seit dem vorigen Abend doch um eine Nacht älter geworden. Wenn wir nicht annehmen würden, daß inzwischen eine Zeit verflossen ist, so würde unsere Ansicht von der Außenwelt, die wir vor dem Einschlafen hatten, und unsere Ansicht beim Erwachen, weil sich inzwischen die Außenwelt verändert hat, als zwei unvermittelte Momente nebeneinander stehen. Es würde uns ergehen wie dem Dornröschen, das bei Erwachen keine Ahnung von der langen Zeit haben konnte, welche während seines Schlafes ohne es zu verändern verflossen war, oder jenem Bergmann, der in voller Jugendkraft eingeschlafen war und mit einem langen weißen Bart erwachte.

Ganz ebenso machen wir uns die Erscheinungen erst kontinuierlich, welche uns während des Wachens gegeben werden. Wenn wir einen Vortrag anhören, so setzen wir aus geistlosen und unzusammenhängenden Lauten einen inhaltvollen Gedankengang zusammen, ebenso beim Lesen aus einzelnen Buchstaben. Was die Sinne liefern, sucht man auf Bewegungen zurückzuführen. Bewegungen wirken aber auf uns auch nicht kontinuierlich ein, sondern werden vielleicht erst durch das Nachklingen unserer Sinnesempfindungen kontinuierlich. Erleuchten wir einen rotierenden Farbenkreisel momentan durch einen elektrischen Funken, so erscheint er ruhend. Sollte hieraus folgen, daß jede Bewegung im Grunde diskontinuierlich stattfindet, wie die Eleaten demonstrierten? Sehen wir unsere Sinnesorgane an, so sind diese zumindest für den Raum auch nicht auf Kontinuität ausgerichtet. Zwei Eindrücke auf sehr nahe gelegene Hautstellen verschmelzen für uns zu einem einzigen; aus einer Vielheit gesonderter Eindrücke muß unser Verstand die Wahrnehmung einer kontinuierlichen Fläche zusammensetzen. Unser Sehnerv breitet sich auch nicht in eine kontinuierliche Fläche aus, sondern endet in einzelne Zapfen und Stäbchen, deren einzelne Empfindungen wir zu einem kontinuierlichen Gesichtsfeld zusammensetzen.

Wie sich nun in dieser Beziehung die Sinne zur Zeit verhalten, ist weniger deutlich einzusehen; indessen scheint dasselbe Verhältnis stattzufinden, da weder eine allzu schnelle noch eine allzu langsame Bewegung als Bewegung wahrgenommen werden kann, sondern eine bestimmte Schnelligkeit innerhalb gewisser Grenzen dazu erforderlich wird. Diese wird dann abhängen von der Schnelligkeit der Zirkulation unseres Blutes, von unseren Pulsschlägen. Daß wir den rotierenden Farbkreisel als ruhend sehen können, könnte gerade hierin seinen Grund haben; er liefert uns im Moment der Beleuchtung eine zu langsame Bewegung. Hieraus folgt, daß wir von unseren eigenen Bewegungen nicht einmal die Kontinuität als empirisch feststehend behaupten dürfen, da unser Verstand diese erst aus den Daten zusammensetzt, welche ihm Sinnesorgane und Nerven überliefern, und da alle Sinnesempfindung über die Kontinuität durchaus nichts aussagt.

Denn weder Kontinuität noch Diskontinuität liefern die Sinne. Wenn in der Tat Raum und Zeit diskontinuierlich wären, so würden wir doch keine Unterbrechungen in ihnen direkt bemerken können. Eine Lücke im Raum des Gesichtsfeldes wie den blinden Fleck empfinden wir nicht als schwarz, sondern gar nicht. Ebensowenig sehen wir den Raum hinter unserem Rücken als schwarz, sondern gar nicht. Eine Lücke in unserer Zeit würde im traumlosen Schlafzustand, im Scheintod etwa stattfinden können, in welchem wir eben gar keine Wahrnehmung in unserem Bewußtsein hätten. Eine solche Lücke der Zeit würde sich uns ganz ähnlich ausfüllen wie beim Raum. Wäre die Zeit der ganzen Welt von Lücken unterbrochen, so müßten diese Lücken zeitlose Zustände sein. In einer solchen Lücke dürfte dann auch keine Veränderung stattfinden, obwohl eine einfache schaffende Kausalität möglich wäre. Dauer aber dürfte die Lücke auch nicht haben, denn Dauer ist eine Wiederholung derselben Erscheinung und eine Art Zeit. Für uns könnte die Lücke entweder nur einen momentanen Akt der Kausalität enthalten oder gar keine Erscheinung. Im ersteren Fall würden wir diesen Akt ohne weiteres in unsere übrige Zeit als Moment einreihen ohne Lücke, im letzteren würde sich uns die letzte Erscheinung vor der Lücke und die erste Erscheinung nach derselben unmittelbar aneinander schließen, weil innerhal der Lücke in der ganzen Welt, auch in unserem Bewußtsein durchaus nichts geschehen wäre.

Eine solche Lücke oder leere Zeit würde der Abstand zweier Erscheinungen sein, welcher erlaubt, noch andere Erscheinungen einzuschieben, analog mit einem leeren Raum. Aber der Raum wird auf viele Subjekte bezogen, die Zeit nur auf eines. Eine leere Zeit würde bedeuten, daß ein Subjekt zwischen seine Tätigkeiten noch mehrere andere einschieben kann. Im Verhältnis zu den Zeiten anderer Subjekte würde das so viel heißen wie: ein Subjekt existiert eine Zeit hindurch ohne irgendwie tätig zu sein.

Ganz ebenso würde aber eine leere Zeit auch für die Gleichzeitigkeit aussehen wie für die Zeitfolge. Gewöhnlich meint mman, die Zeitfolge erfordert wohl Kontinuität, Gleichzeitigkeit aber kann auch ohne einen ununterbrochen Zusammenhang bestehen. Kontinuierlich folgt ein Moment der Zeit auf den anderen, gleichzeitig ist nur ein einziger Moment. Aber nicht die Momente der Zeit folgen aufeinander oder sind gleichzeitig, sondern die Erscheinungen, welche die Zeit erfüllen. Die Zeit ist ein beständiges Band nach zwei Richtungen: nacheinander und gleichzeitig. Wenn die Gleichzeitigkeit eine Lücke hätte, so würde dies bedeuten, daß das Subjekt zwischen seine gleichzeitigen Tätigkeiten noch mehrere einschieben kann; es würde nicht heißen, es kann noch mehr gleichzeitig tun, als es tut, denn dies würde auf die Größe der Gleichzeitigkeit gehen.

Dem Begriff der Zeit widersprechen aber die Lücken, wie schon oben gesagt, denn sie knüpft die Tätigkeiten ein und desselben Subjekts so eng aneinanderr, als es nur immer geht, sie läßt sie nicht auseinanderfallen, sonst würden sie verschiedenen Subjekten angehören. Der Gedanke, daß ein Subjekt zwischen seine wirklichen Tätigkeiten noch mehr andere einschieben könnte, kann nur aus dem Vergleich mit den Zeiten anderer Subjekte entspringen. Für das Subjekt selbst schließen sich seine Tätigkeiten ohne Unterbrechung aneinander. Aber es könnte neben der Zeit irgendwie Zeitlosigkeit existieren. Auch diese würde der Kontinuität der Zeit keinen Abbruch tun; gegen Lücken ist die Zeit gewappnet.

Eine andere Frage ist es, ob denn die Zeit, wenn sie kontinuierlich ist, immer auch gleichmäßig fortfließt. Diese Frage kann erst entschieden werden, wenn wir eingesehen hhhaben, auf welche Weise es möglich ist, die Zeit überhaupt zu messen.

An dieser Stelle haben wir nur zu beachten, was für eine Realität der Kontinuität zuzusprechen ist, da sie doch unzertrennlich im Zeitbegriff enthalten ist, und dieser Realität besitzt. Wenn aus einzelnen geistlosen Lauten ein geistvoller Vortrag, aus toten Buchstaben ein lebendiges Buch zusammengesetzt sein kann, ja hervorzugehen scheint, so könnte man auch meinen, daß die Kontinuität und Einheit des Menschengeistes überhaupt sich aus den einzelnen Vorstellungen zusammensetzen läßt. Aber Buchstaben erhalten erst Sinn, wenn ein Geist sie ordnet. Jeder Zusammenhang setzt ein ursächliches Prinzip voraus, welches ihn erzeugt hat. Wir haben nur in jedem Fall zu untersuchen, wo diese Ursache steckt; denn es könnte ebensowohl sein, daß wir in eine zusammenhangslose Rede einen Zusammenhang hineindenken und dann wären wir das verursachende Subjekt, ebenso wie es möglich ist, daß der Zusammenhang von außen gegeben wird. In unsere Erscheinungswelt, welche uns keine Kontinuität liefert, bringen wir sie hinein durch unsere Auffassung. Liegen aber der Erscheinungswelt Dinge ansich zugrunde, so bewirken diese ebenfalls eine Kontinuität, welche wir nicht wahrnehmen, sondern nur erschließen können. Bei der Kontinuität der Zeit handelt es sich nur um den ununterbrochenen Zusammenhang zwischen den Tätigkeiten ein und desselben Subjekts. Dieser darf, wenn jede Zeit kontinuierlich ist, niemals unterbrochen werden. Wo es daher feststeht, daß einem bestimmten Subjekt eine bestimmte Vielheit bestimmter Tätigkeiten zuzusprechen ist, da muß auch der Zusammenhang zwischen diesen Tätigkeiten, so weit er die Zeit angeht, ununterbrochen stattfinden. Hierauf beruth die kontinuierliche Entwicklung der Organismen, einer Pflanze aus dem Samen, deren einzelne Erscheinungen wir als die Tätigkeiten ein und desselben formenden Prinzips aufzufassen genötigt sind. Tätigkeiten fremder Subjekte pflegen wir meist nicht in ununterbrochener Reihenfolge zu beobachten. Wo wir aber eine Vielheit von Tätigkeiten demselben Subjekt zuschreiben, da füllen wir in Gedanken ergänzend alle Lücken als Lücken unserer Beobachtung vollständig aus, so daß wir auf jede fremde Zeit als kontinuierlich ansehen.

Hierbei zeigt sich nun eine Eigentümlichkeit der Zeit in einem neuen Licht. Weil die Zeit keine Unterbrechungen leidet, so schließt sie alle Tätigkeiten eines Subjekts so eng aneinander, daß keine Grenzen mehr zwischen den einzelnen Akten bemerkbar sind. Es wird daher, wenn eine Reihe gleichzeitiger Tätigkeiten verbunden wird, unmöglich, die einzelnen zu zählen, und es entsteht daraus eine einzige kontinuierlich fortlaufende Tätigkeit, für welche aber in jedem Zeitmoment das Subjekt seine Kausalität kontinuierlich erneuern muß, wenn die Tätigkeit dauern soll. Ganz ebenso eng findet der Anschluß zwischen verschiedenen Tätigkeiten statt, so daß eine Veränderung als allmählich kontinuierliche Überführung von einem zum andern erscheinen kann. Plötzliche Veränderungen aber haben den Schein von Zusammenhangslosigkeit nur deshalb, weil wir die vorhergehenden Tätigkeiten nicht sämtlich überblicken; für die Zeit aber stellen sie keine Diskontinuität dar, sondern nur eine Ungleichförmigkeit des Zeitverlaufs, denn die Zeit schließt verschiedene Tätigkeiten ebenso eng aneinander wie gleiche.

Weil nun die Zeit ohn Kontinuität nicht bestehen kann, denn zerfallen in einzelne zusammenhangslose Momente würde sie eben keine Zeit darstellen, so mußte in den philosophischen Systemen die Zeit konsequenterweise auch das Schicksal der Kontinuität teilen. Wo die Kontinuität ideal ist, wie bei LEIBNIZ und HERBART, da durfte die Zeit keine Realität haben. Wäre dies nicht gewesen, so hätte LEIBNIZ vielleicht die Zeit für viel realer angesehen.

Die Zeit erteilte einem Subjekt die Möglichkeit, mehr als eine Tätigkeit auszuüben, die Kontinuität der Zeit befiehlt ihm nun, alle seine Tätigkeiten ohne Unterbrechung aufeinander folgen zu lassen. Es scheint hiermit die Möglichkeit eines völlig traum- und bewußtlosen Schlafes im Widerspruch zu stehen. Allein ob ein solcher absolut bewußtloser Zustand möglich ist, ist noch die Frage. Vom schlafenden Subjekt selbst würde eine solche Lücke nicht beobachtet werden können, von außen ebenfalls nicht, weil man doch Tätigkeiten des Körpers immer noch wahrnehmen würde. Die Identität des Subjekts würde durch eine solche Unterbrechung nicht in Zweifel gezogen werden. Dies könnte sie höchstens, wenn ein Mensch nach einem Schlaganfall jeder Erinnerung an sein früheres Leben beraubt wäre. Wo das innere Band mehrerer Tätigkeiten fehlt, da haben wir mehrere Subjekte anzunehmen. Es fehlt dieses Band aber immer, wenn man sich die Tätigkeiten eines Subjekts so unterbrochen denken will, daß die Tätigkeiten vor der Lücke gar keine Bedingungen mehr abgeben für die Tätigkeiten nach derselben. Ein Minimum an Bewußtsein werden wir demnach in jedem Schlaf dennoch anzunehmen haben. Die Identität eines Subjekts würde für uns verloren gehen, wenn dasselbe eine Zeit hindurch ohne möglichen Zusammenhang mit der Erscheinungswelt stände. Sollen wir auf Identität schließen, so müssen sich die Tätigkeiten eines Subjekts ununterbrochen aneinander reihen. Jede bemerkbare Lücke in der Erfahrungswelt würde die Identität des Subjekts aufheben. Wo wir daher nicht ununterbrochen ein Subjekt tätig wahrnehmen, dennoch aber auf seine Identität schließen, da nehmen wir an, daß das Subjekt auch tätig gewesen ist ohne unsere Wahrnehmung. Wo wir dies nicht voraussetzen, da müssen wir verschiedene Subjekte annehmen.


Durch diese Ansicht von der Kontinuität der Zeit entgehen wir auch dem Fortgang ins Unbestimmte (progressus in indefinitum) sehr wohl. Wollte man alles Kontinuierliche aus diskreten Größen zusammensetzen, so würden diese diskreten Größen als Größen wieder entweder kontinuierlich erfüllt sein müssen, oder wieder aus diskreten Größen zusammengesetzt, und die Frage wäre nicht gelöst.

Die letzten Teile müßte immaterielle größenlose Punkte sein wie LEIBNIZ' Monaden. Dann wäre jede kontinuierliche Reihe im Grunde diskontinuierlich, aber die Intervalle wären so klein, daß sie nicht in unser Bewußtsein gelangen. Aber die Unterbrechungen wären in der Außenwelt nicht vorhanden, und wenn sie auch unendlich klein wären, so würde doch nicht die Außenwelt Kontinuität in uns hervorrufen können, sondern wir selbst müßten diese erst hinzutun. Es würden dann auch nicht zwei äußere Erscheinungen von einem Subjekt ausgehen können, sondern für jede äußere Erscheinung wäre ein besonderes Subjekt notwendig, weil die einzelnen Erscheinungen durch kein Band außer in unserem Denken verknüpft werden, wohin die Ansicht HERBARTs führt. Die inneren Erscheinungen aber, zu denen auch unser Denken gehört, die müßten Kontinuität haben.

Wenn nun aber die Zeit Wirklichkeit außerhalb unseres Denkens besitzt, so haben auch die äußeren Erscheinungen Zusammenhang und Kontinuität, so weit sie der Zeit unterworfen sind. Die Leugnung der Kontinuität sollte aber auch nur auf die Kontinuität der Dinge selbst gehen, nicht auf die ihrer Tätigkeiten. Man unterschied aber nicht streng genug zwischen beiden. Die Dinge selbst können zueinander nur mittels ihrer Tätigkeiten in Beziehung treten. Zwischen Ding und Tätigkeit darf keine Unterbrechung stattfinden, sonst ginge die Tätigkeit nicht vom Ding aus. Zwischen den beiden Tätigkeiten zweier Dinge, welche aufeinander wirken, darf aber auch keine Unterbrechung stattfinden, sonst würden sie nicht in Beziehung zueinander treten. Zwischen den verschiedenen Tätigkeiten desselben Dings schließlich darf auch keine Unterbrechung eintreten, sonst gehörten sie nicht zu ein und demselben Ding.

Die Schwierigkeit entsprang hauptsächlich daraus, daß man die Dinge-ansich im Verhältnist zueinander betrachten wollte ohne ihre Tätigkeiten oder die Tätigkeiten für die Dinge selbst hielt. Dabei fand man natürlich keine Verknüpfungspunkte, und es mußte scheinbar eine Diskontinuität stattfinden, welche beim Ding, das man abgesondert hat von allen Beziehungen, eben durch diese Absonderung hervorgerufen wurde, welche aber unmöglich wird, sobald man das Ding wieder mit seinen Tätigkeiten vereinigt oder die Tätigkeiten wieder mit ihrem Subjekt. Nicht in der Welt der Dinge-ansich, abgesondert von den Erscheinungen, hat also die Kontinuität ihren Sitz und ihre Bedeutung, auch nicht in den Erscheinungen, denen man die Beziehung zu den Dingen ansich genommen hat. Beide Welten müssen in diskrete Teile ohne Zusammenhang zerfallen, wenn man sie auseinanderreißt. Erst in der Vereinigung beider wird Kontinuität möglich und notwendig, wo die Zeit, welche eine der Verknüpfungen bei der Welten darstellt, sie hineinbringt.

Die Zeit ist aber nicht die einzige Verknüpfung der Welt ansich mit der Erscheinungswelt, sondern neben ihr stehen andere Begriffe, welche die gleichen Rechte haben; und auch diese führen die Kontinuität in beide Welten ein. In jeder der beiden Welten, getrennt von der anderen, ist weder Zeit noch Kontinuität zu finden, sondern erst die Verknüpfung beider Welten bringt diese mit sich.


2. Die Unendlichkeit der Zeit (2)

Wenn die Zeit eine Vielheit von Tätigkeiten mit einem Subjekt oder eine Vielheit des Geschehens mit einem Sein verknüpft, so bleibt dabei die Größe dieser Vielheit unbestimmt, und es scheint, als könne diese ins Grenzenlose wachsen. Es würde dann die gemeinsame Zeit eine Verknüpfung einer zahllosen Vielheit des Geschehens mit einem allem gemeinsamen Sein bedeuten. Andererseits scheint aus der Kontinuität der Zeit ihre Teilbarkeit ins Unendliche zu folgen. In der Tat sind wir genötigt, jeden einzelnen Moment der Gegenwart als unendlich kleinen Zeitteil aufzufassen. Die Zeit steht keinen Augenblick still, und die letzten Teile der Zeit dürften keine Größe mehr haben. Dennoch würde sich aus solchen unendlich kleinen Teilchen eine Zeitgröße zusammensetzen müssen. Wenn wir aber jedes solcher Teilchen getrennt betrachten, so müßte es einen Akt des Geschehens darstellen, und zwischen zweier solcher Akte müßte sich, wodurch die Zeit wieder weiter geteilt würde, noch ein dritter einschieben lassen, weil er ebenfalls keine Zeitgröße zu haben braucht, und dieses Einschieben müßte fortgehen ins Unbestimmte.

Diese Schwierigkeiten entspringen insgesamt aus einer falschen Anwendung des Begriffs der Zahl (3). Wo gezählt werden soll, muß ein gewisser Grad an Gleichheit und von Verschiedenheit der zu zählenden Gegenstände vorhanden sein. Wo nur Gleichheit ist oder nur Verschiedenheit, da können wir nicht zählen. Wo wir aber nicht zählen können, da wenden wir die Worte: unzählbar, zahllos oder unendlich an. Wo wir diese Ausdrücke aber gebrauchen, da muß sich nachweisen lassen, warum wir nicht zählen, warum wir keine bestimmten Zahlen angeben können, sondern uns damit begnügen, zu sagen: größer als jede angebbare Zahl. Kleiner als jede Zahl kann nichts sein, denn die Zahlenreihe geht nur ins unendlich Große, nicht ins unendlich Kleine. Will man die Verkleinerung steigern bis ins unendlich Kleine, so zählt man die Teilungen, die man bis dahin zu vollziehen hat, und die Zahlen wachsen auch hierbei ins unendlich Große. Mag man aber einen Gegenstand in noch so viele unendlich kleine Teile teilen, nie wird man dahin gelangen, daß jeder dieser Teile so klein wird, daß er völlig verschwindet; denn wo überhaupt nichts vorhanden ist, da kann man nicht zählen. Auf der anderen Seite aber kann man die Zahlenreihe ins unendlich Große immer verlängern und verlänger, aber bis zu einer eigentlich im strengsten Sinne zahllosen Größe, bei der der Begriff der Zahl aufhört anwendbar zu sein, wird man dadurch niemals gelangen können. Die Zahl befiehlt uns also, wo wir sie einmal angewandt haben, immer ins Unbestimmte fortzuzählen, und eine Grenze kann uns daher nur anderswoher gegeben werden kann. Diese setzt uns entweder die Erfahrung direkt, indem sie uns bei einer bestimmten Zahl aufzuhören gebietet, wenn die Gegenstände erschöpft sind, oder wir stoßen auf Verhältnisse, welche die Bedingungen der Möglichkeit des Zählens überhaupt ausschließen.


Zahlen sind diskrete Größen, und die Zeit ist ein Kontinuum. Eben dies scheint der Teilbarkeit ins Unbestimmbare günstig zu sein. Wäre die Zeit aus diskreten Momenten zusammengesetzt, so würde die Teilung ihre Ende erreichen können. Dennoch kann man in einem Kontinuum nur solange zählen, als sich in ihm noch Ungleichförmigkeiten zeigen; ein völlig gleichförmiges Kontinuum kann man wohl messen, das heißt mit anderen Größen vergleichen, aber seine Teile nicht zählen. Hätten wir in unserem Gesichtsfeld eine einzige einfache rote Ausdehung und weiter nichts, so hätten wir am Roten selbst nichts zu zählen, zählen könnten wir dann nur unsere verschiedenen Tätigkeiten, mit denen wir dieses Rote sehen würden. Jede Zahl würde dann rein subjektiv und willkürlich sein. Solange wir verschiedene Erscheinungen in der Zeit haben, können wir die Teile der Zeit zählen. Wenn wir aber so weit geteilt haben, daß jeder Teil für sich einen gleichförmigen Akt darstellt, der keine qualitative Verschiedenheit mehr enthält, so hört die Teilbarkeit auf in der Sache begründet zu sein und läuft nur als Spiel unserer Phantasie fort ins Unbestimmte, weil die Einschränkung nicht vom Begriff der Zahl ausging, sondern ihm von der Wirklichkeit auferlegt wurde.

Es fragt sich dabei aber noch, ob wir überhaupt zu qualitativ ununterscheidbaren Zeitteilen gelangen können. Daß dies möglich ist, bezeugt der Begriff der Dauer. Diese bezeichnet zwar eine Vielheit gleicher Tätigkeiten, aber keine zählbare Vielheit. Wenn eine Tätigkeit dauert, so können wir diese Dauer wohl durch einen Vergleich messen, aber kein Verstand, sei er auch noch so vollkommen, wird angeben können, aus wieviel einzelnen Akten sich diese dauernde Tätigkeit zusammensetzt, weil der Begriff der Zahl sich auf eine gleichförmige Kontinuität direkt nicht anwenden läßt.

Es entsteht nun die Frage, ob alle Verschiedenartigkeit der Zeit sich schließlich durch eine Teilung auf Dauerzustände zurückführen läßt. Denken wir uns in einer Zeit den kontinuierlichen Wechsel verschiedener Tätigkeiten, so muß jede folgende verschieden von der vorhergehenden sein. Wenn man sich jeden Akt dabei klein genug denkt, so scheint es, würde hier eine bestimmte kurze Zeit von unendlich vielen Akten erfüllt sein, sich also ins Unendliche teilen lassen. Allein teilen kann man nur, solange die einzelnen Akte verschieden sind. Ein Verstand, der vollkommen genug ausgerüstet wäre, müßte hier immer genau die Zahl der Akte bestimmen können, bis zu welcher geteilt werden kann. Träfe er aber auf einen kontinuierlichen Übergang zwischen verschiedenen Tätigkeiten, so würde ihn diese Kontinuität wieder am Zählen hindern, weil nur scharf geschiedene Einheiten gezählt werden können. Es würde die Zeit also immer bis zu einer gewissen Grenze teilbar sein, an welcher Kontinuitäten so gleichförmig auftreten, daß sie den Begriff der Zahl nicht mehr direkt anwenden lassen.

Hinter dieser Grenze aber, da messen wir noch die Zeit, und wir fragen nun, wie weit diese Meßbarkeit geht, und ob sie überhaupt eine Grenze erreicht. Die Denkbarkeit findet keine Grenzen, die Wirklichkeit aber kann ohne sie nicht bestehen. Der Verstand muß jedoch leere Stellen haben, in die er alles Mögliche einzureihen vermag. Über die Grenzen der Meßbarkeit der Zeit kann nur die Vergleichung sämtlicher realer Zeiten Aufschluß geben.

Die subjektive Menschenzeit scheint in der Tat aus einzelnen Dauerzuständen zusammengesetzt zu sein, denn was in allzu kurzer Zeit geschieht, das kann nicht mehr wahrgenommen werden. Jede Tätigkeit, welche in unserer Erscheinungswelt einen Platz finden soll, muß eine Zeitgröße haben, muß dauern. Wenn nun aber die Zeit verschiedene Tätigkeiten ohne Zwischenzeit für das betreffende Subjekt unmittelbar aneinander schließt, so könnte doch in der gemeinsamen Zeit zwischen zwei solchen Tätigkeiten eine Unzahl fremder Tätigkeiten stattfinden. Vergrößern können wir die Zeit nicht wie den Raum durch optische Instrumente. Sehen wir unter dem Mikroskope Tierchen in Bewegung, so vergrößert sich auch die Geschwindigkeit, weil nun ein größerer Raum in derselben Zeit durchlaufen wird. Die Zeit läßt sich also auf diesem Weg nicht vergrößern.

Aber durch andere Mittel hat man die Zeit vergrößert und Vorgänge zutage gefördert, welche sich in viel kleineren Zeiträumen vollziehen als unsere Tätigkeiten. Man hat also die Zeit verlangsamt, um uns eine weit schneller fließende Zeit als die unsere bemerkbar zu machen. Man hat den tönenden Körpern befohlen, uns ihre eigenen Schwingungen so aufzuzeichnen, daß wir sie mit unseren Sekunden vergleichen können, man hat die Geschwindigkeit des Lichts und der Elektrizität gemssen, man hat Ätherschwingungen in Billionstel Sekunden berechnet; die Geschwindigkeit unseres Nervenprinzips hat sich dagegen als eine sehr geringe erwiesen. Wieviel kann also in einer bestimmten Zeit geschehen? Wir können es nicht zählen, aber wenn ein Verstand mit allen Mitteln ausgerüstet wäre, auch die kürzesten Akte wahrzunehmen, so würde für ihn alles zählbar sein, bis er zu einer gleichförmigen Kontinuität gelangt. Der Vergleich der so erhaltenen einzelnen Akte würde ihm dann aber für jeden ein bestimmtes Größenverhältnis zu den übrigen zeigen. Eine vollkommene Erfahrung müßte Zahl und Maß für jede bestimmte Zeit angeben können. Die Wirklichkeit darf nicht grenzenlos sein.

Die kontinuierlichen Größen trachtet die Phantasie ins Unbestimmte fortzuteilen. Aber die Teile dieser Größen entziehen sich dem Begriff der Zahl ebenso wie auf der entgegengesetzten Seite das reine Nichts. Wenn man ins Unbestimmte fort teilen wollte, so würde man sich befriedigt fühlen, wenn man schließlich so weit gelangt wäre, daß jeder der einzelnen Teile gleich Null wäre. Man weiß aber, daß diese Grenze hier nicht erreicht werden kann, weil aus nichts eben nichts zusammengesetzt sein kann. Soll eine Grenze erreicht werden, so muß sie hier auf der anderen Seite liegen. Man kann nur bis zu gleichförmiger Kontinuität vordringen, welche Unendlichkeit genannt werden könnte, weil sie den Begriff der Zahl von sich abweist.

Mitten in eine dauernde Tätigkeit ist es dann auch nicht möglich eine andere einzuschieben. Diese könnte damit nur gleichzeitig bestehen. Auch zwischen zwei verschiedene Tätigkeiten eines Subjekts läßt sich keine neue einschieben, weil die Zeit sie eng aneinander schließt. Ob aber zwischen zwei Tätigkeiten eines Subjekts in der Zeit eines zweiten Subjekts noch eine Vielheit von Tätigkeiten bestehen kann, das hängt von der Schnelligkeit der Zeit der betreffenden Subjekte ab, denn die Zeit eines jeden Subjekts muß ihr bestimmtes Maß im Verhältnis zu den Zeiten anderer Subjekte haben.


Ganz analog verhält sich die Zeit zum unendlich Großen. Zwar hat die Zeit eines jeden einzelnen Subjekts in der Erscheinungswelt eine ganz bestimmte Größe und kann nicht unendlich genannt werden, aber für die allen gemeinsame Zeit scheint die Vielheit des Geschehens keine Grenzen der Vermehrung finden zu können. Hätten wir es nur mit einer Vielheit des Geschehens zu tun, die nicht an ein gemeinsames Sein geknüpft wäre, wodurch allererst Zeit möglich wird, sondern welche von einer Vielheit von Subjekten abhinge, so würde die Summe der Tätigkeiten zunächst ins Unbestimmte fortgehen können. Die nächst aneinander grenzenden Akte würden dabei vielleicht noch einen Zusammenhang haben, aber weiterhin würde ein Punkt kommen, wo aller Zusammenhang sein Ende erreicht hätte. Es würde sich diese Masse dann in bestimmte Gruppen sondern lassen, welche miteinander schlechterdings in keiner Beziehung mehr stehen. Dadurch würden einzelne Gruppen hervorgehen, von denen jede für sich durch ein inneres Band zusammengehalten wäre. Eine solche Gruppe würde dann aber unsere Erscheinungswelt sein, deren Zeit wir hier zu betrachten haben. Denn zu ein und derselben Welt können wir nur all das rechnen, was in einer Beziehung zueinander steht; was schlechterdings keine Beziehung zueinander hat, das gehört verschiedenen Welten an. Selbst die Monaden eines LEIBNIZ, obwohl jede eine kleine Welt für sich darstellt, haben durch die prästabilierte Harmonie oder vielmehr durch den Urheber derselben ein Verbindungselement, welches sie in eine Welt zusammenführt.

Dennoch bleibt für eine solche zusammenhängende, in sich abgeschlossene Welt die Frage, ob sie ein Maximum des Geschehens erreichen kann, ob sie einmal aufhören kann, tätig zu sein, ob sie einen Anfang ihrer Tätigkeiten gehabt hat, und wie groß die Zahl der Tätigkeiten während ihres ganzen Bestehens ist. Mit dieser Frage fällt die Frage nach der Unendlichkeit der Zeit im Großen zusammen. Wir fragen nicht, wann die allererste Tätigkeit stattfand, sondern ob es überhaupt eine solche gegeben hat, nicht, wann die letzte geschehen wird, sondern ob die Tätigkeiten überhaupt ein Ende erreichen. Denn über den Zeitpunkt des Anfangs und des Endes steht so viel fest: Gäbe es eine allererste Tätigkeit, so wäre diese früher als alle Zeit geschehen, denn erst bei der zweiten Tätigkeit hätte es dann eine Zeit geben können. Wären aber mehrere Tätigkeiten zugleich am Anfang aufgetreten, so wäre allerdings eine Gleichzeitigkeit zugleich mit der Welt entstanden. Aber die Zeit in der Gestalt, wie wir sie jetzt haben, welche Zeitfolge und Gleichzeitigkeit vereint enthalten muß, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, scheint hiernach erst späteren Ursprungs zu sein als die Welt und ihre Tätigkeiten. Es wäre aber ein offenbarer Widerspruch von einem Früher oder Später zu reden, wo noch keine Zeit ist; man darf es auch erst dann, wenn bereits die Zeit vorhanden ist. Die Welt muß also zeitlos begonnen haben wie auch jeder einzelne Mensch. Mit der Welt endet auch die Zeit und zwar zugleich mit der letzten Tätigkeit.

Sind nun ein solcher Anfang und ein solches Ende, welche beide keine Zeit außerhalb der Welt erfordern, anzunehmen, dann müßte die Summe aller Erscheinungen von einem genügend ausgerüsteten Verstand genau anzugeben sein. Wie weit man nun auch diesesn Anfang oder dieses Ende hinausrücken mag, immer wird ein Verstand denkbar sein, welcher ihnen folgen könnte und die Summe der Erscheinungen zu zählen imstande wäre. Eine Grenze des Zählens kann hier nur empirisch durch die Wirklichkeit gegeben werden. Wir müssen da aufhören zu zählen, wo sich nichts mehr zählen läßt. Nach der Seite des unendlich Großen kann die Grenze nur da sein, wo die zu zählenden Einheiten erschöpft sind, nach der Seite des unendlich Kleinen aber zählen wir so lange, bsi nur noch Unzählbares, das heißt gleichförmig Kontinuierliches übrig ist.

Noch deutlicher werden diese Grenzen, wenn wir die Unendlichkeit der Zeitfolge mit der der Gleichzeitigkeit vergleichen. Auch gleichzeitig könnte man unendlich viele Ereignisse für möglich halten; allein eine unbestimmte Anzahl von Tätigkeiten ist nicht als wirklich denkbar, sondern es müßte die Summe aller gleichzeitigen Begebenheiten in jedem Moment von einem vollkommenen Verstand ganz genau bestimmt werden können. Um diese zu bestimmen, ist eine vollständige Erfahrung notwendig, die wir nicht besitzen. Für uns ist die Gleichzeitigkeit unbestimmt groß, nicht so von jedem denkbaren Standpunkt aus. Die Zeitfolge unterscheidet sich nun nur dadurch von der Gleichzeitigkeit, daß in ihr Anfang und Ende nicht gleichwertig sind, sondern eine verschiedene Bedeutung haben. Hier könnte man meinen, daß die Ereignisse sich nacheinander ins Unbestimmte vermehren könnten. Wir haben aber kein Urteil darüber, ob nicht von einem anderen Standpunkt aus auch der Anfang und das Ende unserer Zeitfolge gleichwertig erscheinen könnten, und die Zeit dann auch nacheinder eine ganz bestimmte Zahl von Tätigkeiten einschließt. Da es sich hierbei um die Summe wirklicher Begebenheiten handelt, so kann begrifflich durchaus nicht ihre Größe bestimmt werden, sondern nur die Erfahrung, die uns in diesem Fall mangelt, könnte darüber belehren.


Wie man den Begriff der Unendlichkeit auf die Welt ansich anwenden könnte, davon kann hier nicht die Rede sein, denn die Unendlichkeit der Zeit ist lediglich von der Summe der Tätigkeiten abhängig, obwohl sie selbst die Welt der Tätigkeiten mit der Welt der Subjekte verbindet. Die Größe der Welt ansich kommt aber nicht in Betracht, weil sich die Zeit immer nur auf ein einziges Subjekt bezieht, welches in sich eine abgeschlossene Einheit darstellen muß. Wenn man daher die Summe aler Tätigkeiten unserer Welt in eine Zeit vereinigen will, so muß man sie sämtlich auf ein einziges Subjekt beziehen, welches in sich abgeschlossen ist. Die Summe aller wirklichen Ereignisse muß dann eine ganze bestimmte sein.

Das eigentlich Unendliche, welches nicht nur unbestimmt groß, sondern unzählbar ist, weil es den Begriff der Zahl überhaupt nicht mehr auf sich anwenden läßt, ist das gleichförmig Kontinuierliche. Dieses stellt sich als Grenze ein, wo man bis ins unendlich Kleine teilen will. Nach der Seite des unendlich Kleinen kann die Erfahrung die Grenze nicht dadurch setzen, daß die Glieder der Reihe plötzlich zuende gehen, und man gar nichts mehr übrig behält, sondern die Grenze tritt da ein, wo die Reste gleichförmig kontinuierliche Größen sind. Die Frage geht dann nur noch auf die Anzahl der so erhaltenen Reste. Bei der Gleichzeitigkeit fällt diese Frage zusammen mit der nach der Unendlichkeit im Großen. Wenn ein problematischer Verstand die Summe sämtlicher gleichzeitiger Erscheinungen eines Momentes angäbe, so würde damit sowohl die Anzahl im Großen als auch der kleinsten Teilchen gegeben sein. Bei der Zeitfolge würde ein alles überblickender Verstand ganz dasselbe vollführen.


Die Frage nach der Unendlichkeit der Zeit ist eine andere als nach der Unendlichkeit des Raums, weil beim Raum auch eine Vielheit von Subjekten in Betracht kommt. Beim Raum kann eine gleichförmig kontinuierliche Ausdehnung noch mechanisch weiter geteilt werden, und die Grenze tritt erst da ein, wo jedes Subjekt mit seinen Tätigkeiten gesondert ist, wo also aller Raum zugleich aufhört. Nach der Seite des unendlich Großen ist der Unterschied weniger bedeutend.

Dem Begriff nach könnte die Zeit also ins Unbestimmte wachsen und ins Unbestimmte geteilt werden, die Wirklichkeit aber gebietet Halt an bestimmten Grenzen.
LITERATUR Max Eyfferth, Über die Zeit, Berlin 1871
    Anmerkungen
    1) Es ist also gefährlich, das kantische Ding-ansich gänzlich zu streichen.
    2) Unter den konstituierenden Merkmalen des Zeitbegriffs steht die Unendlichkeit am auffallendsten bei CH. H. WEISSE, in FICHTEs Zeitschrift, Bd. 46, Seite 204. Er betrachtet die Zeit als ein Produkt aus der negativen und positiven Unendlichkeit.
    3) Näheres über diesen im Kapitel von der Meßbarkeit der Zeit.