F. SchumannG. HeymansAugustinusA. DöringH. Bender | ||||
Über die Zeit [1/2]
Vorrede Auf meine eigenen Ansichten hat außer KANT niemand mehr Einfluß ausgeübt als mein verehrter Lehrer Herr Professor HARMS, so daß ich selbst nicht mehr scharf die Grenze zu ziehen imstande bin zwischen dem, was ich ihm und was ich meinem eigenen Nachdenken zu verdanken habe. In der Darstellung zog ich es vor, lieber zu kühn und zu bestimmt zu sein, als den Gegenstand durch Bedenklichkeiten in einem Nebel verschwinden zu lassen, selbst auf die Gefahr hin, nach kurzer Zeit widerlegt zu werden, aber im Interesse der Wissenschaft, welcher ein Kampf der Extreme immer zum Nutzen gereicht. Bei der Behandlung der Zeit konnten verwandte Probleme nicht gänzlich unerörtert bleiben, und so wird man auch einige Bruchstücke über Kausalität und Raum finden, deren genauere Untersuchung ich späteren Arbeiten vorbehalten habe. So hoffe ich denn manches Neue und manches Gute zu liefern, wenn auch mit allen Mängeln, welche einer Erstlingsarbeit unvermeidlich anhaften: ob aber das Neue auch gut, ob das Gute auch neu ist, darüber erwarte ich das Urteil von Männern, denen ein längeres Nachdenken und eine reichere Erfahrung (subjektive Zeit also nach beiden Dimensionen in größerem Maße) als mir zu Gebote stehen. I. Übersicht über die bisherigen Ansichten von der Zeit (1) Dem Beamten, welcher täglich zur gewohnten Stunde sich an den gewohnten Ort seiner Tätigkeit begibt, dem Reisenden, welcher sich beeilt, die festgesetzte Minute der Abfahrt eines Eisenbahnzuges nicht zu versäumen, dem Astronomen, welcher zur vorausberechneten Sekunde den Eintritt einer Sonnenfinsternis erwartet, gilt die Zeit als eine feste Ordung der Dinge, an welcher er nicht zu rütteln und zu rühren vermag. (2) Zwar besitzt ein jeder die Macht, einen kleinen Teil der Erscheinungen willkürlich und in beliebiger Reihenfolge hervorzurufen, aber niemand ist imstande, eine geschehene Tat rückgängig zu machen, eine selig durchlebte Stunde aus der Vergangenheit oder einen sehnlich erwarteten Augenblick aus der Zukunft in die Gegenwart zu zaubern. Wir könnten leicht mit den Geistern früherer Jahrhunderte verkehren, wenn nicht die Zeit als trennende Macht dazwischen läge. Bald schreiben wir dem Zahn der Zeit eine zerstörende Tätigkeit zu, bald übt sie uns eine heilende Kraft aus auf die schmerzlichsten Wunden (3). Alle diese Kundgebungen ihrer Macht konnten der Zeit aber dennoch nur ausnahmsweise bei den Philosophen eine Anerkennung ihrer Realität verschaffen. Die Philosophie neigte zu allen Zeiten dahin, in der Zeit nur eine Einschränkung unseres Standpunktes zu erblicken, von der man abstrahieren muß, um zur Erkenntnis des wahren Wesens der Welt zu gelangen. Und dies geschah nicht, um die Welt, in der wir leben, in lauter Schein zu verwandeln, sondern gerade (4) umgekehrt (zumindest bis einschließlich KANT) um zu verhüten, daß sich alles in einen bloßen Schein auflöst. Man fürchtete nicht ohne Grund, daß alle Realität zweifelhaft wird, sobald man sie der Zeit zuspricht. Denn das Vergangene, welches nicht mehr existiert, konnte man doch nicht real nennen und ebensowenig das Zukünftige, welches noch nicht existiert. Die Gegenwart aber, welche dann noch einzig Realität haben könnte, müßte dann als Grenze zwischen beiden, als ein unendlich kleiner Moment der Zeit nicht klein genug gedacht werden können. Würde errst die Null dieser Kleinheit Genüge leisten, so würde man zum vollständigen Nihilismus gelangen. Da nun aber dennoch eine Welt empirisch gegeben war, so wollte man nicht zugeben, daß die Zeit mit der eigentlich wirklichen Welt etwas zu schaffen hat und betrachtete sie als Einschränkung unseres Standpunktes. PLATOs Ideenwelt ist ewig und unveränderlich. Die materielle Welt aber wird nach ihm von Zeit und Raum beschränkt. Nur zur materiellen Welt, zur Welt des Scheins oder des Nichtseins gehört die Zeit; mit der Ideenwelt, der eigentlichen, wahren, wirklichen Welt hat sie nichts zu tun (5). Die Zeit hat also bei PLATO nur diejenige Realität, welche er der materiellen Welt noch zugestehen muß, die doch ein Abbild der wahren, zeitlosen Ideenwelt darstellen soll. Wenn man von der platonischen Ansicht die Ideenwelt fortläßt, so hatte dies für die Ansicht von der Zeit in der alten Philosophie gerade den entgegengesetzten Erfolg, den das Streichen des kantischen Dings-ansich in der neuen hervorrief. Die Zeit gehörte dann real zur realen Körperwelt, welche ihrer Natur nach in einem beständigen Fluß ist. (6) Während bei PLATO die Zeit zunächst die materielle Welt einschränkte und mit dieser auch die Weltseele und die menschliche Seele, kehrte sich die Ansicht allmählich dahin um, daß die Zeit zunächst eine Beschränkung der menschlichen Betrachtungsweise ist und daß wir infolgedessen gezwungen sind, die Welt, welche ansich zeitlos ist, in der Zeit aufzufassen. Es war schon nicht mehr ganz die platonische Ansicht, welche sich durchs ganze Mittelalter zog, daß unsere Welt zwar von Zeit und Raum eingeschränkt, ein ewiger, allgegenwärtiger Gott aber über beide erhaben ist. Auch noch bei SPINOZA gehört die Zeit der materiellen Welt an und gilt von der Seele nur, solange der Körper dauert (7). SPINOZAs Substanz dagegen ist ewig oder zeitlos, und auch von Dauer darf man bei ihr nicht reden. Aber er nennt die Zeit auch (8) eine Weise der Imagination, also derjenigen Erkenntnis, welche uns mittels des Körpers von außen verworren geliefert wird oder durch ein bildliches Vorstellen aus dieser entsteht. Und diese Ansicht würde einen Übergang zur kantischen Lehre bilden, welche nicht mehr unseren Körper oder die Körperwelt als die Ursache unserer zeitlichen und räumlichen Auffassung ansah, sondern umgekehrt unsere Anschauungsweise als die Ursache, daß wir überhaupt etwas als körperlich oder zeitlich vor uns haben. Mögen uns die Sinne liefern, was sie wollen, Raum und Zeit sind nach KANT die Formen unserer Sinnlichkeit, welche nicht unser Körper, sondern unsere Seele zu allem hinzubringt. Unsere Seele schaut nicht solange alles in Zeit und Raum an, als sie im Körper steckt, sondern sie steckt solange im Körper, als sie zeitlich und räumlich anzuschauen genötigt ist. Raum und Zeit werden nicht durch eine körperliche Welt gegeben, sondern es gibt eine solche nur für unsere Anschauungsweise. Abgesehen von dieser existiert die Welt raum- und zeitlos. Wollen wir die Welt aber anschauen, so geht dies nicht ohne Raum und Zeit; andere vernünftige Wesen könnte es geben, welche dieser Formen des Anschauens nicht bedürfen. Die kantische Reform liegt also nicht darin, daß der Welt ansich die Zeit abgesprochen wurde, denn dies geschah auch früher; sondern darin, daß vor KANT unserem Erkennen zwei Welten gegenüber standen, eine zeit- und raumlose, eigentlich reale Welt und eine Welt mit Zeit und Raum, ein Abbild (PLATO) oder Ausfluß (SPINOZA) der ersteren, die uns aber zunächst gegeben war; daß dagegen KANT Zeit und Raum lediglich in unser Erkennen setzte, jenen beiden Welten also ihren Unterschied nahm, weshalb sie bald in eine einzige zusammenfließen mußten. Das taten sie aber bei KANT noch nicht. Bei ihm unterschied sich noch eine Welt ansich von einer Welt der Erscheinung ganz in der alten Weise, nur die Stellung der letzteren war verschoben. Vor DESCARTES unterschied man noch nicht scharf zwischen Seele und Körper, und daher stand die Seele mit ihrer Auffassungsweise noch auf derselben Stufe mit der übrigen räumlichen und zeitlichen Welt. Erst nach ihm war es möglich, entweder dem Körper oder der Seele die Ursache der Räumlichkeit und Zeitlichkeit zuzuschreiben. Ersteres geschah von SPINOZA, letzteres von KANT. KANT hatte also eine raum- und zeitlose Welt ansich, welche uns nicht gegeben ist, sondern aufgrund der Erscheinungswelt hinzugedacht werden muß, und eine Erscheinungswelt, welche er objektiv und empirisch real nannte, welche unseren Sinnen aber auch nicht direkt gegeben ist, sondern auch erst mittels zusammenfassender Denkoperationen zustande kommt, also die gewöhnliche Welt unserer Erfahrung, welche wir eben in Zeit und Raum aufzufassen genötigt sind und drittens die Tatsachen einer subjektiven Welt, welche er die materialen Bedingungen der Erfahrung nennt, unsere Sinnesempfindungen also, welche uns als die nächste Erfahrung gegeben werden müssen. KANT verwahrt sich ausdrücklich gegen Mißverständnisse, die daraus entspringen könnten, daß man seine Lehre von Raum und Zeit durch die Subjektivität der Sinnesempfindungen erläutert (9). Seine Erscheinungswelt besteht nicht aus Tönen, farbigen Flächen und Tastempfindungen, sondern erst, wenn man statt der Töne Luftschwingungen gesetzt hat, gelangt man zur kantischen Erscheinungswelt, welche nicht anders als in Zeit und Raum aufgefaßt werden kann. Wenn man von der Subjektivität unserer Sinnesempfindungen abstrahiert, so bleibt eine objektive räumliche und zeitliche Welt. In umgekehrter Reihenfolge aber kann man die Abstraktion nicht vollziehen; man kann nicht zuerst Raum und Zeit als subjektive eliminieren, um dann noch eine Erscheinungswelt übrig zu behalten. Die objektive Welt aber, welche man nach Abzug der Subjektivität der Sinnesempfindungen erhält, ist nun noch die räumliche und zeitliche Erscheinung einer raum- und zeitlosen Welt der Dinge-ansich. So kam es, daß auch bei KANT noch dem Erkennen zwei verschiedene Welten gegenüberstanden. In der nachkantischen Philosophie aber flossen diese Unterscheidungen zusammen und das Ding ansich verlor selbst da, wo man es glaubte stehen zu lassen, immer mehr an Bedeutung. Von der Subjektivität unserer Sinnesempfindungen hatte KANT von vornherein als selbstverständlich abstrahiert. Mit dieser Subjektivität setzte man zunächst die Idealität von Raum und Zeit auf die gleiche Stufe, und FICHTE hob vollends das Ding-ansich auf, da er den Zwang, welchen die Dinge auszuüben scheinen, für eine Selbsttäuschung des Ich erklärte. HERBART, der von FICHTE ausging, wollte diesem Idealismus abhelfen und das kantische Ding-ansich in Gestalt seiner Realen wieder in seine Rechte einsetzen. Während aber nach HERBART eine Vielheit von Merkmalen immer auf eine Vielheit von Realen hinweisen soll, widersprach es dem kantischen Ding-ansich keineswegs, sich durch eine Vielheit von Erscheinungen zu betätigen. Zwar nehmen auch HERBARTs Realen nicht wahr, sondern nur ihre Verhältnisse und Kombinationen, diese aber nur dadurch, daß wir einen Zusammenhang in sie hineinbringen, daß wir sie miteinander vergleichen. Jede verschiedene Empfindung zwingt uns, ein Reales außerhalb von uns zu setzen. Über seine Qualität könnten wir nichts bestimmen. Wir nehmen nur unsere Selbsterhaltungen gegen äußere Störungen wahr. Wenn man also von der Subjektivität unserer Sinnesempfindungen abstrahiert, so bleibt eine Vielheit zusammenhangloser herbartischer Realen übrig, während bei KANT dann noch eine zusammenhängende räumliche und zeitliche Welt vorhanden ist, hinter welcher erst das Ding-ansich steckt. Raum und Zeit werden daher bei HERBART ganz subjektiv und verwandeln sich in lauter Schein, der uns bei unseren Selbsterhaltungen gegen viele Realen notwendig entsteht. Es ist dies der von KANT verworfene transzendentale Realismus, der die (kantische) Erscheinung für das Ding selbst hält, und für den sich dann die Erscheinungswelt in einen bloßen Schein auflösen muß, wodurch er nach KANTs Ausdruck zum empirischen Idealismus wird. Ganz ebenso wie HERBART faßt der Empirismus die Zeit auf, für den alle allgemeinen Begriffe ebenso wie bei HERBART nur Hilfsausdrücke unseres Verstandes sind. Für die Zeit hat diese Ansicht namentlich GRUPPE ausgebildet und danach seine Geschichte der Begriffe von Raum und Zeit dargestellt (10). Während KANT Raum und Zeit Anschauungen nannte, sind sie hier allgemeine abstrakte Begriffe, und diese haben keine Realität, weil nur Einzeldinge existieren. Auch für diese Ansicht bedarf es keines kantischen Dings-ansich, sondern KANTs objektive Erscheinungswelt genügt vollkommen. Daß sich ganz ähnlich alles in einen subjektiven Schein auflöst, verhinderten die Ansichten keineswegs, welche die Zeit für ideal und real zugleich erklärten. Wenn HEGEL die Zeit das angeschaute Werden nennt, so scheint er sie der Hauptsache nach ins Anschauen zu verlegen, den Dingen aber einen Teil der Zeit, das Werden, zu lassen. Hätte er mit dieser Unterscheidung Ernst gemacht, so hätte sein System ganz anders ausfallen müssen. So aber entwickelt sich das Sein in denselben Stufen wie das Denken, und eine Differenz zwischen der Zeit des Seins und der Zeit des Denkens war unmöglich. Außerdem konnte in einer Philosophie des Werdens eine zeitloses Ding-ansich keine Stelle finden. Ein Absolutes als Einheit füllt die Stelle des Dings-ansich auch nicht aus. Ein solches stand als Gott bei PLATO ebenfalls über den Ideen und bei KANT über den Dingen ansich. Bei HEGEL mußte sich die Stellung der Zeit nach dem übrigen System richten. Es war aber auch möglich, gerade vom entgegengesetzten Standpunkt in Bezug auf die Zeit zu ähnlichen Resultaten zu gelangen. Dies geschah bei denjenigen Ansichten, welche zunächst eine Verschiedenheit des Denkens und Seins anerkannten, dann aber eine Vereinigung beider zu finden bemüht waren und die Momente aufsuchten, welche beiden gemeinsam sind. Unter diese rechneten sie dann auch Raum und Zeit. In diesem Sinn läßt sich die Ansicht SCHLEIERMACHERs über Raum und Zeit an die HEGELs anschließen, zumal auch bei ihm ein Ding-ansich sehr zweifelhaft wird. Denn wenn SCHLEIERMACHER sagen konnte (11): "Raum und Zeit sind die Art und Weise zu sein der Dinge selbst, nicht nur unserer Vorstellungen" und (12): "Es ist also ebenso wahr, daß das ganze Sein steht, als daß das ganze Sein in einem beständigen Fluß ist", so fehlte auch ihm ein Ding-ansich in der kantischen Gestalt. Was er Dinge, was er Sein nennt, sind dann nur Erscheinungen oder durch Begriffe zusammengefaßte Komplexe derselben. Wenn das Sein der Zeit unterworfen sein soll, so muß es allerdings in einem beständigen Fluß gedacht werden. Wenn aber das ganze Sein fließt, wie kann es dann zugleich das Beharrliche in diesem Fluß ausmachen? Dies zu vereinigen wird nur ein Anhänger HEGELs imstande sein, für den Sein und Nichtsein identisch sind. Es war daher nahegelegt, einen neuen Ausweg zu suchen, welcher es dennoch möglich machte, die Zeit sowohl den Dingen wie auch den Denken zuzusprechen, und zwar ohne ein Ding-ansich in der kantischen Weise anzunehmen; denn man wollte gerade die Zeit mit KANTs Ding-ansich vereinigen, ohne aber dabei zu bedenken, daß man es dadurch einfach streicht und nur eine kantische Erscheinungswelt übrig behalten kann. In der Bewegung glaubte nun TRENDELENBURG die Lösung seiner Aufgabe gefunden zu haben. Dieselbe Bewegung soll im Denken wie auch im Sein stattfinden und überall erzeugt die Bewegung in gleicher Weise die Zeit. Abgesehen davon, daß im Folgenden gezeigt werden soll, daß die sogenannte Bewegung des Denkens etwas ganz anderes ist als die Bewegung der Dinge, und daß daraus nicht die Identität der Zeit des Seins und der Zeit des Denkens, sondern eine Verschiedenheit beider hätte hervorgehen müssen, so ist doch TRENDELENBURG zur Anerkennung eines Substrats der Bewegung (13) genötigt, welches sich seiner Lehre nicht recht fügen wollte. Es wollte sich deshalb nicht fügen, weil TRENDELENBURG sehr wohl einsah, daß man aus einem starren, unveränderlichen Sein Bewegung, Leben und Entwicklung nicht erklären kann, daß dagegen die Ruhe aus Bewegungen, welche einander das Gleichgewicht halten, sehr wohl verständlich zu machen ist. Wenn aber der Bewegung ein Substrat zugrunde liegen muß, so darf dies eben letztlich nicht wieder aus Bewegungen erklärt werden. Die Schwierigkeit entspringt nun hauptsächlich daraus, daß ein solches Substrat der Bewegung zunächst immer noch eine räumliche Ausdehnung besitzt; sie verschwindet, wenn es gelingt, dieses Substrat auf ein unräumliches kantisches Ding-ansich zurückzuführen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Vorausgesetzt wird dabei aber, daß man sich entschließt, ein kantisches raum- und zeitloses Ding-ansich anzuerkennen. TRENDELENBURG dagegen, der überall Leben und Bewegung haben wollte, mochte das Ding-ansich eben nicht für unveränderlich und zeitlos halten. Trägt man aber die Zeit in das Ding-ansich hinein, so drückt man es herauf auf die Stufe der kantischen Welt der Erscheinungen, und das Resultat kann nicht sehr von demjenigen verschieden ausfallen, welches man durch ein einfaches Streichen des Dings-ansichs erzielt hätte. Ohne ein Ding ansich ist aber ein Zusammenhang in der Welt nicht denkbar; denn dann muß alles schließlich in einzelne getrennte Stücke zerfallen und eine Verbindung, wie wir sie in der Zeit denken, kann dann immer nur eine scheinbare sein, mag man sie auch ideal und real zugleich nennen. Alles Reale entspricht dann imer nur der kantischen Erscheinungswelt, während das Ideale die Welt unserer subjektiven Empfindungen darstellt. Daher gebrauchte auch TRENDELENBURG statt der Worte ideal und real lieber die Worte subjektiv und objektiv und übertrug diese Unterscheidung auf die kantischen Ansichten. In der Reihe der bisher betrachteten Philosophen wurde die Zeit immer idealer, und es war nur eine scheinbare Abhilfe, daß man den Machtspruch tat, sie solle sowohl ideal wie auch real sein, wenn man nicht KANTs Ding-ansich dabei in volle Kraft treten läßt, was bisher dabei auch nicht möglich war. Daß die Zeit nun aber dennoch eine gewisse Realität haben muß, das sah eine Reihe von Philosophen ein, welche die Zeit zwar ideal nannten, davon aber eine gewisse Dauer oder Zeitlichkeit unterschieden, welche den Dingen selbst zukommen sollte. Bei ihnen spaltete sich also der Zeitbegriff in mehrere Teile, während bei den bisher betrachteten nichts der Art zu finden war. Schon bei ARISTOTELES findet sich davon eine Andeutung. Die Zeit ist ihm die Zahl der Bewegung. Beide werden gegenseitig aneinander gemessen. Zählen und messen kann aber nur eine Seele, und die Zeit als Zahl wäre demnach der Seele eigen und subjektiv. Aus anderen Stellen aber lese ich heraus, daß die Zeit die Aufeinanderfolge der Ereignisse für ein Bewußtsein bestimmt, daß aber, wo kein solches Bewußtsein vorhanden ist, doch etwas von der Zeit bleiben muß, was ARISTOTELES aber nicht mehr Zeit nennen möchte. Ist dies der richtige Sinn, so unterscheidet ARISTOTELES an der Zeit bereits zwischen dem, was unser Bewußtsein zur Zeit hinzutut, und dem, was objektiv dem Bewußtsein gegenübersteht (14). Daß sich eine solche Ansicht von der Zeit während des Mittelalters weiter ausbildete, das beweist uns der Fortschritt, den diese Auffassung schon bei SUAREZ gemacht hatte. Aus den Stellen, welche BAUMANN (15) mitteilt, geht hervor, daß SUAREZ den Dingen eine reale Zeit zusprach, welche er Dauer nannte. Diese knüpfte er für die vergänglichen Dinge wie ARISTOTELES an die Bewegung; die Dauer der bleibenden Dinge war ihm aber etwas anderes. Von der realen Dauer unterschied er eine bloß gedachte kontinuierliche Aufeinanderfolge und drittens die gemessene Zeit oder Dauer, welche dadurch zustande kommt, daß der Geist die reale Dauer zählt oder mißt, welche also aus subjektiven und objektiven Elementen zusammengesetzt ist. DESCARTES steht, was nicht Wunder nehmen kann, in der Mitte zwischen SUAREZ und SPINOZA. Die Quelle der Zeit ist ihm die Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen. Dauer ist die Form, unter der wir uns das Beharren einer Sache vorstellen. (16) Die Dauer ist aber bei ihm für die bewegten und nicht bewegten Dinge dieselbe. An der größten und gleichmäßigsten Bewegung, der der Gestirne, messen wir alle übrige Dauer. SPINOZA dagegen denkt sich das Beharren der Substanz und der körperlosen Seele in einer zeitlosen und dauerlosen Ewigkeit. Auch bei LOCKE ist die Zeit das Maß der Dauer, und die Dauer geht bei ihm hervor aus der Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen. Ferner ist HOBBES unter denen zu nennen, welche sich zu unterscheiden bemühten, was wir zur Zeitvorstellung hinzutun, und was uns dazu gegeben wird. Bei LEIBNIZ ging aus der Spaltung des Zeitbegriffs das Eigentümliche hervor, daß er selbst die Zeit ideal nennt, daß er aber von KANT gerade als Beispiel derer aufgeführt wird, welche die Zeit real nehmen. Freilich nennt LEIBNIZ die Zeit auch oft real, weil ihm auch alle Erscheinungen als Erscheinungen real waren. Seine eigentliche Ansicht aber entfernte sich nicht weit von der des SUAREZ (17), so daß ihm die Zeit eine Ordnung der Phänomene war, die Dauer aber den Monaden selbst innewohnte. Raum und Zeit sind deshalb bei LEIBNIZ reale Relationen, weil sie die realen Phänomene ordnen. Die Zeit wird auch eine Ordnung der Veränderungen genannt, so daß es fast scheint, als spalte sich hier der Begriff der Zeit in Dauer und Veränderung.
BAUMANN hat nun die Sonderung innerhalb des Zeitbegriffs weiter durchgearbeitet (21). Auch er geht aus von der Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen als Tatsache. In dieser kann er aber noch nicht die eine unendliche Zeit mitgegeben finden. Er unterscheidet daher zunächst die Zeit in der Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen als die psychologische Zeit. Die bloße Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen wäre aber noch keine Zeitvorstellung, wenn nicht noch eine dauernde Ichvorstellung dazuträte (und das gebe ich zu). Auf diese Dauer gründet sich erst die Zeit (und auch das kann ich zugeben), aber die Dauer selbst ist noch keine Zeit, sondern zeitlose Ewigkeit (und das muß ich bestreiten und zwar als Konsequenz von LEIBNIZ' Definition der Dauer. BAUMANN redet daher auch von der Aufeinanderfolge immer so, als ob nie gleiches aufeinanderfolgen könnte). Er unterscheidet ferner von der Dauer des Ich noch eine "Dauer gleich Sein durch einige Zeit hindurch". In dieser geschieht ein Vergleich mit der schon ausgebildeten Zeitvorstellung, während sich aufgrund der ersteren die Zeit erst ausbildet. "Die Beziehung der ... in innerer Erfahrung gegebenen Aufeinanderfolge und des Zugleichseins der Vorstellungen auf das Ich gibt die psychologische Zeit." Das "Ich denke" ist nicht der beständige Begleiter aller Vorstellungen, sondern alle schließen sich an dasselbe an (22). Die einfache Ichvorstellung ist ihm daher zeitlos. Und wenn wir die Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen wegdenken, so bleibt das Ich "vorgestellt als zeitlos, empfunden als dauernd, an welche Dauer die Zeit angeknüpft wird, während sie selber ohne Zeit innerlich verständlich ist." Von dieser psychologischen Zeit unterscheiden sich die beiden übrigen Abteilungen außer durch ihr verschiedenes Verhalten in Bezug auf die Gleichförmigkeit und Unendlichkeit auf folgende Weise. Die zweite Zeitvorstellung ist die gewöhnliche des praktischen Lebens. Sie ist "uns gegeben an unserem Leib und seiner natürlichen Beschaffenheit und Wechselwirkung mit den äußeren Dingen." Diese gewöhnliche Zeit ist "die durch bestimmte außen gegebene Naturereignsse in uns hervorgerufene Aufeinanderfolge von Vorstellungen". Die psychologisch-astronomische Zeit wäre die Verkettung aufeinanderfolgender Vorstellungen bei ununterbrochener Beobachtung der Bewegungen eines Himmelsgestirns. Die dritte Art der Zeit ist die astronomische. Diese sucht die vorige zu vollkommener Exaktheit zu bringen durch eine wissenschaftliche Verwertung der Himmelsbewegungen. Aus dieser astronomischen Zeit entsteht dann jenes Idealbild der Zeit, welches gemeinhin als die Zeit schlechthin angesetzt wird. BAUMANN wollte eben die Momente darlegen, aus denen jenes Idealbild hervorgeht. Wie er dabei über die Realität der Zeit dachte, erhellt sich aus Folgendem: Die Gegenstände äußerer Erfahrung der Dauer unseres Ich gemäß zu denken, ist ihm nur eine Übertragung, denn ohne Bewußtsein und Empfindung dauert unser Ich nicht. Ein dauerndes Bewußtsein findet BAUMANN also eigentlich für jede Zeit notwendig, und wo dies nicht ist, da gibt es für ihn keine Zeit (23). Draußen gibt es wohl Bewegung und übertragenerweise Dauer, aber beide enthalten für ihn noch keine Zeit. Band 1, Seite 277 sagt er jedoch: "Allerdings würde doch ein astronomisches Jahr ein solches sein, auch wenn wir es nicht in den Gedanken des Geistes fassen würden" und es scheint auch gegen Ende des zweiten Bandes, als ob die astronomische Zeit das bezeichnen sollte, was uns die Dinge liefern, und die psychologische Zeit das, was wir hinzutun, und daß unsere gewöhnliche Zeit aus beiden zusammengesetzt ist. Diese scheinbare Inkonsequenz rührt nur daher, daß sich BAUMANN nicht direkt ausgesprochen hat, wie weit er den Namen "Zeit" gelten lassen will. Die empirische Realität der Zeit findet er gemäß seinen Ansichten über Raum und Mathematik in der Anwendbarkeit unserer psychologischen Zeit auf äußere Begebenheiten. Diese ganze Reihe von Ansichten hat das Gemeinsame, daß in ihr wegen der Spaltung des Zeitbegriffs der Gegensatz zwischen Ding-ansich und Erscheinung nicht so scharf auftreten konnte wie in der ersten Reihe. LEIBNIZ kam der kantischen Unterscheidung schon sehr nahe, BAUMANN dagegen verwirft sie als unrichtig (24). Das Verhältnis zwischen Zeit und Dauer und Zeitlichkeit bleibt bei ihnen immer von einem gewissen Schleier umhüllt, den nur eine genaue Begriffsbestimmung der Zeit zu lüften imstande sein wird. Außerdem wird es notwendig sein, um zu einer klaren Einsicht über die Stellung zu gelangen, welche die Zeit in der Welt einnimmt, das Verhältnis des Dings-ansich zur Erscheinung von Neuem einer Prüfung zu unterwerfen. Als ich mich daran machte, dies zu untersuchen, ergab sich mir die eigentümliche Tatsache, daß man bisher die Zeit entweder in der Welt der Erscheinungen (so in der Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen) als gegeben vorfand, oder sie sich als Eigentümlichkeit der Dinge selbst dachte, oder schließlich in beiden zugleich in gleicher Weise oder in den Dingen als Dauer, in den Erscheinungen als Veränderung; daß ich dagegen weder imstande war, sie in der Welt der Erscheinungen noch in der Welt der Dinge-ansich zu finden. Auf keiner der beiden Seiten gibt es eine Zeit, wenn man beide scharf voneinander absondert oder eine von beiden gänzlich leugnet. Erst wenn man beide miteinander verknüpft, kann eine Zeit zustande kommen. Wo man sie auf einer Seite allein glaubte gefunden zu haben, da hätte man heimlich auch die andere Seite mit hinzugedacht. Daher sehe ich die Zeit an als eine Form der Verbindung der Dinge mit den Erscheinungen; und eine solche Ansicht wird sich nicht gut unter einen der bisher gebräuchlichen -ismus unterordnen lassen. Man wird die Zeit dann mit dem gleichen Recht weder ideal noch real nennen dürfen, wie man sie ideal und real zugleich nennen könnte. Wie im Mittelalter der Streit des Nominalismus und Realismus nur durch ein neu hinzukommendes Glied zur Ruhe gebracht werden konnte, so wird auch in unserer Zeit der Streit des Idealismus und Realismus nur auf ähnliche Weise verschwinden können. 1. Die Entstehung des Zeitbegriffs Aus der Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen, meinten viele Philosophen, bildet sich uns der Begriff der Zeit. Durch Abstraktion wäre dies allerdings möglich, aber sie bedachten nicht, daß doch niemandem eine Aufeinanderfolge von Vorstellungen in der Erfahrung direkt gegeben ist. Die Zeit überhaupt kann nicht aus gegebenen Tatsachen einfach hergenommen, sondern erst durch Kombinationen von Erfahrungen gebildet werden. Weder Vergangenheit noch Zukunft kann jemand erleben, sondern alle Wahrnehmungen finden lediglich in der Gegenwart statt. Nur gegenwärtige Erscheinungen bilden die Welt, welche unserer Erkenntnis direkt vorliegt; Vergangenheit und Zukunft und mit ihnen ein Zeitverlauf und eine Aufeinanderfolge von Vorstellungen können erst aus einem Vergleich der vielen gegenwärtigen Erscheinungen durch den Verstand gebildet oder erschlossen werden. Es scheint zwar, als ob uns die Vergangenheit durch unsere Erinnerungen direkt gegeben ist, allein jede Erinnerung ist immer nur eine gegenwärtige Tätigkeit unserer Seele. Jede Erinnerung aber, wird man einwenden, setzt schon einen wirklichen Zeitverlauf voraus, und, wo Erinnerungen gegeben sind, da ist auch eine Aufeinanderfolge von Vorstellungen, Vergangenheit und Zukunft mitgegeben. Eine solche Behauptung wäre aber unvorsichtig und würde Resultate vorweg in die Untersuchung einmischen. Wenn die Erinnerung eine Zeit voraussetzt, so liefert sie sie nicht direkt, sondern läßt sie erst erschließen. Wenn wir aber aus dem Vorhandensein von Erinnerungen auf einen Zeitverlauf zu schließen veranlaßt werden, so kann dies nur in einem ganz bestimmten Unterscheid begründet sein, welchen die Erinnerungen von allen übrigen gegenwärtigen Tätigkeiten unserer Seele darbieten. Diesen Unterschied finden wir aber erst durch den Vergleich aller uns gegebenen Erscheinungen. Diejenigen Erscheinungen, welche wir als die Tätigkeiten unseres Leibes auffassen können, werden uns durch äußere Sinnesanschauungen gegeben; die Fähigkeit, alle übrigen wahrzunehmen, welche wir als Tätigkeiten der Seele davon unterscheiden können, nennen wir den "inneren Sinn". Der Verstand hat aber außerdem die Fähigkeit, sich beiderlei Sinnesanschauungen vorzustellen, auch ohne daß die Sinne dabei tätig sind. Dieses Vermögen nennt man die Einbildungskraft. Die Einbildungen unterscheiden sich von den wirklichen Sinnesanschauungen dadurch, daß bei den letzteren der Leib oder die Seele wirklich tätig sind, und daß diese Tätigkeiten mittels der Sinne zur Wahrnehmung gelangen, während bei der Einbildung keine andere Tätigkeit vorhanden zu sein braucht als eben die einbildende Tätigkeit der Seele. Die Einbildungen als Tätigkeiten der Seele können zugleich auch Erscheinungen des inneren Sinnes sein. Das Material der Einbildungskraft aber liefern nur die Sinnesanschauungen. Etwas anderes als was wir mit den äußeren Sinnen oder dem inneren wahrnehmen können, vermögen wir uns nicht einzubilden. Wirkliche Sinnesanschauungen sind ohne die Tätigkeit der Seele oder des Leibes nicht möglich, Einbildungen finden aber nur dann statt, wenn die betreffende Tätigkeit der Seele oder des Leibes nicht stattfindet. Nun sind uns aber sowohl Sinnesanschauungen als Einbildungen gegeben, oder wir können alles Gegebene in wirkliche Sinnesanschauungen und Einbildungen unterscheiden. Wer diese Unterscheidung nicht machen kann, bei dem kann sich keine Zeitvorstellung entwickeln. Die Anschauung aber und Einbildung derselben Tätigkeit können nicht zusammen stattfinden, sondern immer nur die eine von beiden. Wollen wir uns beide als wirklich vorstellen, so müssen wir sie in eine Reihe ordnen, welche den einzelnen Gliedern bestimmte gesonderte Stellen anweist, und welche wir in diesem Fall die Zeitreihe oder Zeitfolge nennen. In dieser muß jeder Einbildung die entsprechende Sinnesanschauung vorhergegangen sein. Wird ein Komplex von Anschauungen genau in derselben Ordnung eingebildet, in welcher er angeschaut wurde, so nennt man die Einbildung Erinnerung; wird die Ordnung willkürlich verändert, so nennt man sie Phantasie. Die kühnste Phantasie kann uns nichts liefern, dessen Elemente nicht einmal eine Anschauung der äußeren Sinne oder des inneren waren. Für die Bildung der Zeitreihe ist aber die Erinnerung von größerem Wert, so daß wir die Phantasie dabei unberücksichtigt lassen können. Denn den Inhalt einer Phantasie in der Form, welche diese ihm gibt, stellen wir uns nicht als wirklich vor; er bedarf daher keiner Zeitreihe, um neben den wirklichen Sinnesanschauungen bestehen zu können. Damit also in uns eine Zeitreihe, die Vorstellung eines Nacheinander entsteht, ist mindestens eine Sinnesanschauung und eine Erinnerung erforderlich. Weder zwei Sinnesanschauungen noch zwei Erinnerungen sind für sich imstande, uns dazu zu veranlassen. Zwei Sinnesanschauungen können kein Nacheinander liefern, denn sie müssen gleichzeitig sein, wenn ich sie miteinander vergleichen soll; sind sie aber nicht gleichzeitig, so kann die eine keine Anschauung mehr sein, sondern ist Erinnerung in dem Augenblick, wo ich sie mit der anderen vergleiche. Oder vielmehr, weil zwei Sinnesanschauungen mich nicht zur Vorstellung eines Nacheinander bringen können, so unterscheide ich ein Nacheinander erst da, wo ich eine Anschauung mit einer Erinnerung vergleiche. Zwei Erinnerungen ohne gleichzeitige Anschauungen können aber ebenso wenig eine Zeitfolge zustande bringen. Zwar scheint es, daß mir die eine Erinnerung eine frühere, die andere eine spätere Tatsache überliefern kann, und der Vergleich zweier Erinnerungen also schon eine Zeitfolge ergibt, allein wer sagt mir denn, welche von beiden die frühere ist? Dies kann ich nur erfahren, wenn das Zeitverhältnis zwischen beiden selbst wieder eine Erinnerung ist, wenn ich mich also des Vergleichs erinnere, den ich einmal zwischen Anschauung und Erinnerung angestellt habe. Die ganze Zeitreihe, in welche ich meine Erinnerungen ordne, enthält nur eine Reihe solcher Vergleiche. Erst durch den Vergleich von Erinnerung und Anschauung gelangen wir also zur Vorstellung einer Zeitfolge. Im Leben des Menschen kann sich daher die Zeitvorstellung erst dann bilden, wenn jedes dieser drei Momente bereits entwickelt ist. Offenbar setzt nun die Fähigkeit der Vergleichung die Entwicklung der beiden Tätigkeiten voraus, welche miteinander verglichen werden sollen; und eine Erinnerung ist nicht möglich ohne Sinnesanschauung, welche ihren Inhalt liefern soll. Bei neugeborenen Kind müssen daher zuerst Sinnesanschauungen auftreten (25) . Der erste Sinneseindruck aber findet gänzlich zeitlos statt, weil für das betreffende Subjekt noch keine Zeit vorhanden ist. Erst mit dem zweiten Sinneseindruck wäre Erinnerung und Zeit möglich. Wenn aber die Fähigkeit der Erinnerung erst nach Monaten beim Kind auftreten sollte, so müßte dem zeitlichen Bewußtsein ein zeitloses Leben vorangehen. Daß dies wirklich der Fall ist, dafür spricht die Tatsache, dadß wir aus den frühesten Lebensjahren keine Erinnerungen durch unser ferneres Leben mit fortführen. Eine freie Verstandestätigkeit aber, die die Vergleichung, entwickelt sich noch später als die Erinnerung; und erst, wenn auch diese vorhanden ist, kann es zu einer Zeitvorstellung kommen. Angeboren kann uns daher die Zeit nicht sein, weil der erste Abschnitt unseres Lebens, mag er auch noch so kurz gewesen sein, zeitlos für uns sein müßte. Die Möglichkeit aber, einmal zu einer zeitlichen Auffassungsweise zu gelangen, die muß uns angeboren sein. Ist der Mensch nun bis zur Unterscheidung von Gegenwart und Anschauung und Erinnerung gelangt, und hat sich ihm daraus eine Zeitverhältnis ergeben, so gelangt er zur Bildung einer Zeitreihe durch die Vermehrung der Erinnerungen. Erst wenn sich die Erinnerungen vermehren, und jede mit einem zeitlichen Verhältnis verknüpft wird, kann die Summe derselben eine individuelle Zeitreihe darstellen und zur Vorstellung einer Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen führen. Sowie nun der Mensch neben sich andere Menschen als ihm ähnliche Wesen anerkennt, schreibt er auch diesen eine analoge individuelle Zeitreihe zu, wie er sie bei sich findet. Die einzelnen Glieder dieser Reihe werden bei jedem Menschen verschieden ausfallen, aber die Form und die Betrachtungsweise derselben setzt wir bei allen gleich voraus. Dadurch erweitert sich der Begriff der individuellen Zeit zu dem der subjektiven. Wir schreiben jedem Wesen eine der unseren ähnliche Zeitreihe zu, welches imstande ist, Erinnerung mit Gegenwart zu vergleichen. Daher müssen wir auch den Tieren eine subjektive Zeit zusprechen, denn auch ihnen wird ein Unterscheid zwischen Erinnerung und Gegenwart, wenn auch dunkel, doch bemerkbar werden. Noch weiter geht die Ausbildung des Zeitbegriffs. Der Mensch ist genötigt, eine fremde Welt anzuerkennen, deren Ursache er nicht ist. Die Tätigkeiten dieser Welt bilden die Bedingungen seiner äußeren Wahrnehmungen. Aus der Vergleichung seiner Erinnerungen mit der fremden Gegenwart könnte er eine Zeit bilden, welche halb subjektiv, halb objektiv wäre. Aber aufgrund der fremden Tätigkeiten, die er seiner Erinnerung überliefert, bildet er eine Zeitreihe, welche der Welt draußen entsprechen und ein Verhältnis der fremden Tätigkeiten zueinander darstellen soll. Die fremde Welt aber, der wir kein einheitliches Bewußtsein zuschreiben, besitzt keine Erinnerung und keine Vergleichung. Wir werden ihr also nur dann in Analogie mit der subjektiven Zeit eine objektive Zeit zusprechen dürfen, wenn sich für die Erinnerung und Vergleichung in ihr Analoga aufweisen lassen. Der Vergleich von Erinnerung und Gegenwart, welche die Wahrnehmungen eines Subjekts miteinander verknüpft, muß ein realer Zusammenhang in der Außenwelt entsprechen, wenn es eine objektive Zeit geben soll. Ohne Zusammenhang würden die einzelnen Momente auseinanderfallen und keine Zeit bilden. Wer den realen Zusammenhang der Welt außerhalb von uns leugnet, für den kann es nur eine subjektive Zeit geben. Dem Verhältnis von Erinnerung und Gegenwart in der Seele würde in der bewußtlosen Natur das Verhältnis der Bedingung zum Bedingten entsprechen können. In der Erinnerung eines Menschen liegt für ihn all das aufgespeichert, was er empfunden, gedacht, gefühlt, gewollt, getan hat. Was er seit seiner Geburt geworden ist, davon gibt dem Menschen nur seine Erinnerung Kunde. Die Erinnerung ist das Magazin seiner bisherigen Tätigkeiten. Eine analoge Aufspeicherung von Tätigkeiten könnte nun in einer bewußtlosen Welt sehr wohl stattfindent. Unser Planet zeugt uns in den Fossilien gleichsam versteinerte objektive Erinnerungen, an denen wir uns sein frühere Leben zu vergegenwärtigen suchen. Wollten wir uns hiermit begnügen, so würde doch noch das Mißverhältnis stattfinden, daß in der subjektiven Zeit die Erinnerungern viel zahlreicher wären als die übrige Gegenwart, in der objektiven dagegen die Gegenwart weit mehr darbietet, als von den vergangenen Tätigkeiten aufbewahrt wird. Allein die objektive Gegenwart wäre in der Gestalt, in welcher sie existiert, nicht zustande gekommen, wenn einer der vorhergehenden Augenblicke anders gewesen wäre, als er gewesen ist. Alle vorhergehenden Momente bilden eine Reihe von Bedingungen, durch welche der gegenwärtige Augenblick bedingt ist. Je später der Zeit nach ein Ereignis eintritt, umso mehr Bedingungen muß es voraussetzen, desto mehr Wirkungen in sich vereinigen. Seine eigene Vergangenheit kennt der Mensch direkt nur aus seinen Erinnerungen, und diese haben sich beständig vermehrt, und die Summe der gegenwärtigen Erinnerungen bildet eine Bedingung für sein ferneres Leben. Ganz analog denkt man sich das Leben einer Außenwelt, nur so, daß man ihr das einheitliche Bewußtsein abspricht. Dann sind ihre Erinnerungen nicht mehr Erinnerungen, sondern nur vorhergehende Bedingungen, welche zur Gegenwart in demselben Verhältnis stehen wie die Erinnerung zur Anschauung. Wie sich die Erinnerungen eines Menschen vermehren, vermehren sich dann auch die Bedingungen in einer objektiven Welt. Eine objektive Zeit findet dann für den Menschen auch da statt, wo er noch keine subjektive besaß, und es mußte aller Erinnerung erst eine Sinnesanschauung vorhergehen, welche eine Bedingung aller Erinnerung darstellt. Was aber Erinnerung und Anschauung in eine Zeitreihe auseinandertreten läßt, das war, daß sie nicht zusammen bestehen konnten, wenn sie denselben Inhalt hatten. Analoges muß auch im Objektiven stattfinden. Bedingung und Bedingtes können nur dann gleichzeitig nebeneinander bestehen, wenn sie sich gegenseitig bedingen. Wo das Verhältnis einseitig stattfindet, da werden beide analog mit Erinnerung und Anschauung in eine Zeitreihe eingeordnet. Erst diese Analogie macht es möglich, von einer Zeit auch da zu reden, wo wir kein Bewußtsein vorauszusetzen berechtigt sind (26). Die letzte Ausbildung des Zeitbegriffs geschieht nun dadurch, daß der Mensch sich selbst ebenfalls in eine objektive Welt einordnen lernt und seine Zeit mit der Zeit draußen zusammenschmilzt. Verstorbene und zukünftige Menschen mit ihren subjektiven Zeiten können ebenfalls in dieselbe Reihe eingeordnet werden und ebenso alle möglichen Ereignisse, welche in der Welt, in der wir leben, eingetreten sind und noch eintreten können. So entsteht der Begriff einer einzigen, gemeinsamen, ewig fortfließenden Zeit, in welcher alle Ereignisse ihre Stelle finden können und müssen. des Zeitbegriffs Wenn KANT die Zeit den Begriffen gegenüber eine Anschauung nannte, so meinte er damit, daß kein Versuch einer Definition der Zeit vollständig ausfallen kann, daß immer ein Rest bleiben muß, welchen keine Worte zu beschreiben imstande sind und daß zur Ergänzung immer noch eine eigene Anschauung erforderlich wird. Hätte KANT also vollkommen Recht, so würde sich weder der Inhalt des Zeitbegriffs genau angeben lassen, noch dürften wir überhaupt von einem Umfang desselben reden, weil eine einzelne Vorstellung, als welche KANT die Anschauung dem Begriff gegenüber definiert, einen Umfang unmöglich machen würde. Nun zeigte uns aber die Entstehung des Zeitbegriffs bereits verschiedene Gestalten desselben, aus welchen wir einen Umfang zusammenzusetzen imstande wären. Und dies macht uns Hoffnung, daß der Versuch, den Inhalt des Zeitbegriffs genau zu bestimmen, vielleicht doch nicht vergeblich sein wird. Aus dem Vergleich der Erinnerung mit der Anschauung entsprang zunächst die Zeitvorstellung. Der Inhalt der Erinnerungen wurde mit den Anschauungen in eine Zeitfolge geordnet. Erinnerung und Anschauung aber, wenn sie eine Zeit liefern sollen, müssen demselben denkenden Subjekt angehören und nicht verschiedenen. Die Zeitfolge würde dann eine Ordnung unterschiedlicher Vorstellungen desselben Subjekts oder eine Ordnung unterschiedlicher Tätigkeiten desselben mit Bewußtsein begabten Subjekts darstellen. Verschieden bräuchten Erinnerung und Anschauung nicht ihrem Inhalt nach zu sein, sondern nur dadurch, daß den Erinnerungen die Wirklichkeit der betreffenden Tätigkeit mangelt, welche bei den Anschauungen immer vorhanden sein muß. Diese Wirklichkeit aber kann einem Bewußtsein nicht anders bemerkbar werden als durch Anschauung. Die Anschauungen werden begleitet von einem Bewußtsein der Wirklichkeit, welches den Erinnerungen fehlt. Der eigentliche Unterschied zwischen Erinnerung und Anschauung kann deshalb nicht vollständig beschrieben, sondern muß angeschaut werden; und hierauf gründet sich die Berechtigung KANTs, die Zeit als Anschauung aufzufassen. Allein es läßt sich der Begriff der Zeit so erweitern, daß das Moment der Anschauung, welches er zunächst enthält, eliminiert wird. Schon durch die Übertragung auf eine Außenwelt wird der Zeitbegriff erweitert. Die subjektive Zeit war eine Ordnung unterschiedener Tätigkeiten desselben mit Bewußtsein begabten Subjekts. Es fragt sich, ob in der objektiven Zeit mit der Einheit des Bewußtseins auch die Einheit des Subjekts verloren geht. Ginge auch diese verloren, so würde in der Tat auch jede Analogie mit der subjektiven Zeit verschwinden, und wir dürften von keiner Zeit mehr reden, wo kein einheitliches Bewußtsein vorhanden ist. Denn dächten wir außerhalb von uns eine zeitliche Ordnung von Tätigkeiten verschiedener Subjekte, so würde diesen für sich das gemeinsame Band fehlen, keine würde mit der andern in Wirklichkeit etwas zu schaffen haben, unsere Auffassung würde sie erst miteinander verknüpfen, und dann wären wir selbst das eine Subjekt, welches die vielen Tätigkeiten in seinem Bewußtsein ordnet und wir hätten nichts anderes als eine subjektive Zeit. Eine Vielheit von Tätigkeiten verschiedener Subjekte außerhalb von uns kann wohl einen Wechsel, aber keine Zeitfolge darstellen (27). Die objektive Zeit muß einen Zusammenhang enthalten, wenn sie der subjektiven entsprechen soll. Dieser Zusammenhang soll nun zwar so stattfinden, daß sich die verschiedenen Tätigkeiten zueinander verhalten wie die Bedingung zum Bedingten. Wollte man aber diese Tätigkeiten verschiedenen Subjekten zuschreiben oder sich dieselben ohne alle Subjekte denken, so würden alle nur gleichzeitig und diese auch nur für den Zuschauer, aufeinander wirken können, so daß eine Zeitfolge erst durch eine Vielheit von Tätigkeiten desselben Subjekt zustande kommen kann, wenn sie nicht bloß durch die Zusammenfassung eines denkenden Subjekts hineingetragen sein soll. Wo der Mensch sich also veranlaßt sieht, eine objektive Zeit anzunehmen, da wird er auch ein einheitliches Subjekt außerhalb von sich voraussetzen. Der Begriff einer objektiven Zeitfolge bezeichnet dann eine Ordnung unterschiedener Tätigkeiten desselben Subjekts wie die subjektive Zeitfolge. Unterschieden brauchen die Tätigkeiten nur dadurch zu sein, daß die eine einseitig von der andern bedingt ist und nicht zugleich umgekehrt. Für jedes Subjekt, das wir außerhalb von uns anerkennen, müssen wir dann auch eine besondere Zeit annehmen. Der Begriff einer allen Subjekten gemeinsamen Zeit endlich kann dann nur dadurch gebildet werden, daß wir uns entweder ein Subjekt vorstellen, welches alle Tätigkeiten aller Subjekte in seinem Bewußtsein zu einer Zeitreihe vereinigt, oder dadurch, daß man die ganze Erscheinungswelt als die Tätigkeiten eines einzigen Subjekts auffaßt. Bis hierher haben wir uns darauf beschränkt, von der Zeit immer nur die Zeitfolge in Betracht zu ziehen und die Gleichzeitigkeit ganz unberücksichtigt gelassen. Es ist aber die Gleichzeitigkeit ganz ebenso ein Zeitverhältnis wie die Zeitfolge, nur würde man ihren Begriff nicht gebildet haben, wenn man keine Zeitfolge hätte, ebensowenig wie man zum Begriff der Gleichheit ohne den der Verschiedenheit gelangen kann. In der Gleichzeitigkeit fällt der Unterschied zwischen Erinnerung und Anschauung, zwischen Bedingung und Bedingtem fort. Wo im Begriff der Zeitfolge Verschiedenheit enthalten ist, muß in ihrem Begriff Gleichheit an die Stelle treten. Aber nicht der Inhalt der Glieder wird in der Gleichzeitigkeit gleich, sondern nur ihre Ansprüche in der Rangordnung; und nur die Ordnung durch die Verschiedenheit bedingt wurde. Wollten wir daher die Gleichzeitigkeit als die Ordnung gleichberechtigter Tätigkeiten desselben Subjekts definieren, so würden wir zuviel sagen, weil die Ordnung wegen der Gleichwertigkeit der Glieder keine bestimmte mehr sein kann. Wir können nur noch die Gleichzeitigkeit eine Verknüpfung gleichwertiger Tätigkeiten desselben Subjekts nennen. Hier könnte nun jemand einwenden, daß gleichzeitig doch auch Tätigkeiten verschiedener Subjekte stattfinden könnten; allein, wo keine Zeitfolge möglich ist, da kann auch von keiner Gleichzeitigkeit die Rede sein, in welcher nur die Unterschiede der Zeitfolge geleugnet werden sollen, keineswegs aber neue hinzugebracht werden dürfen. Wollen wir nun eine Zeitfolge sowohl als Gleichzeitigkeit als auch als zwei verschiedene Arten eines höheren Begriffs betrachten und diesen Begriff "Zeit" nennen, so müssen wir die Zeit definieren als die Verknüpfung mehrerer Tätigkeiten desselben Subjekts. In dieser Fassung ist das Moment der Anschauung aus dem Begriff der Zeit entfernt und tritt erst da hinzu, wo wir ihn in seine beiden Arten einteilen wollen. Wenn die Zeit das Band ist, welches mehrere Tätigkeiten mit einem Subjekt verknüpft, so könnte jemand meinen, daß in dieser Verknüpfung schon eine Bewegung enthalten ist. Alle Bewegung erfordert aber etwas, das sich bewegt. Die Tätigkeiten können dieses Etwas nicht sein, denn jede von ihnen muß ohne die Verknüpfung ebenso beschaffen sein wie mit derselben. Dächte man sich aber das Subjekt etwa als von einer Tätigkeit zur anderen sich bewegend, so würde doch diese Bewegung eine neue Summe von Tätigkeiten desselben Subjekts hinzubringen, welche mit den übrigen Tätigkeiten nur durch die Zeit vereinigt werden könnte. (28) Für die Arten des Zeitbegriffs ergeben sich nun aus den bisherigen Erörterungen zwei Einteilungen. Nach der einen würden wir die Zeit einzuteilen haben in Zeitfolge und Gleichzeitigkeit und nach der andern in subjektive und objektive Zeit. Von vornherein ist dabei klar, daß beide Einteilungen sich wechselseitig aufeinander anwenden lassen, daß also die subjektive Zeit ebenso wie die objektive eine Zeitfolge wie eine Gleichzeitigkeit haben wird. Die erste Einteilung betrachtet die Zeit als die Verknüpfung mehrerer Tätigkeiten desselben Subjekts und die zweite sieht die Zeit an als die Verknüpfung mehrerer Tätigkeiten mit demselben Subjekt. Beide Auffassungen haben denselben Inhalt, aber die Betrachtungsweise ist eine andere. Um die Zeit in Zeitfolge und Gleichzeitigkeit einzuteilen, müssen wir die Verhältnisse und Unterschiede der verknüpften Tätigkeiten in Betracht ziehen. Die Tätigkeiten, welche durch eine Zeitfolge mit dem Subjekt verknüpft sind, zeigen einen ganz bestimmten Unterschied, den letztlich die Anschauung zu lehren hat, wie oben gezeigt wurde. Bei der Gleichzeitigkeit fällt dieser Unterschied fort, sie wird also negativ aus der Zeitfolge bestimmt. Daher ist die Zweiteilung hier eine vollständige, und wenn zwei Tätigkeiten überhaupt durch ein Zeitverhältnis verknüpft sind, so müssen sie entweder nacheinander oder zugleich sein. Die weitere Untereinteilung muß dann ebenfalls auf die Verhältnisse der Tätigkeiten zueinander Rücksicht nehmen, und danach können die Tätigkeiten ihrem Inhalt nach entweder gleich oder verschieden sein. Eine Zeitfolge gleicher Tätigkeiten nennt man Dauer. Dauern können nur die Tätigkeiten desselben Subjekts. Wird dieselbe Tätigkeit oder Erscheinung von verschiedenen Subjekten so hervorgebracht, daß ein anderes Subjekt sie nacheinander auffaßt, so findet dadurch doch objektiv keine Dauer, sondern nur ein Wechsel statt; nur für die Auffassung des zuschauenden Subjekts kann es dabei eine Dauer geben, weil das Subjekt dieselbe auffassende Tätigkeit zu wiederholen hat. Ein Subjekt selbst aber ohne alle Tätigkeit kann auch nicht dauern, es kann nur sein; denn Dauer verlangt eine Wiederholung derselben Tätigkeit. Daß man sich veranlaßt sieht, einem Subjekt vieler Tätigkeiten während derselben Dauer zuzuschreiben, kommt daher, daß man mit dem betreffenden Subjekt, wenn man auch glaubt von allen Tätigkeiten abstrahiert zu haben, doch noch immer ein Bewußtsein oder einen Komplex anderer Tätigkeiten verknüpft, welcher sehr wohl mit dem Subjekt vereint eine Dauer ausmachen kann. Dauer als Zeitfolge gleicher Tätigkeiten desselben Subjekts muß auch kontinuierlich sein; denn unterbrochen könnte sie nur werden durch eine Tätigkeit, die von den andern verschieden ist. Sobald aber eine solche eintritt, hört die Dauer auf, und wir haben einen Wechsel. Eine Wiederholung ist immer kontinuierlich, solang sie von keinem Wechsel unterbrochen wird; ebenso wie man einen Wechsel kontinuierlich nennen kann, solange er von keiner Wiederholung unterbrochen wird. Enthält ferner eine Gleichzeitigkeit nur gleiche Tätigkeiten, übt also ein Subjekt gleichzeitig dieselbe Tätigkeit mehrfach aus, so nennt man dieses Verhältnis Intensität. Die Intensität ist also ein Zeitverhältnis und vertritt in der Gleichzeitigkeit dieselbe Stelle, welche die Dauer in der Zeitfolge einnimmt. Sind nun die Tätigkeiten, welche die Zeit verknüpft, verschieden, wo würden wir statt der Wiederholung einen Wechsel der Zeitfolge und einen Wechsel der Gleichzeitigkeit erhalten. Es wird sich aber im nächsten Abschnitt zeigen, daß ein solcher Wechsel, der der Dauer und der Intensität genau entspräche, in der Wirklichkeit nicht rein vorkommen kann, sondern daß er immer von Dauer und Intensität begleitet sein muß. Einen solchen zeitlichen Wechsel, den die zeitliche Wiederholung begleitet, können wir in der Zeitfolge Veränderung, in der Gleichzeitigkeit aber Mannigfaltigkeit des Zeitreichtums nennen. (Reicher wird die Gleichzeitigkeit auch durch eine Steigerung der Intensität.) Der Sache nach gleichbedeutend ist mit der Veränderung auch das Werden. Beide verknüpfen mit einem Subjekt einen Wechsel von Tätigkeiten und eine Dauer. Ein Teil der Tätigkeiten eines Subjekts dauert, ein anderer wechselt. Dabei verändert sich der frühere Zustand des Subjekts in den folgenden, und der zweite wird aus dem ersten. Die Veränderung redet vom Anfang, das Werden vom Ende des Vorgangs. Veränderung und Werden unterscheiden sich also nur in der menschlichen Betrachtungsweise. Entstehen und Vergehen sind besondere Fälle des Werdens und der Veränderung. Das Werden ist ein Entstehen, wenn der erste Zustand des Subjekts eine vollkommene Tatlosigkeit war; die Veränderung ist ein Vergehen, wenn das Resultat Tatlosigkeit ist. Der Wechsel dieser Vorgänge kann sehr wohl von einer Dauer begleitet sein, denn beim Entstehen kann die erste Tat sofort dauern und dann daneben immer Neues auftreten; beim Vergehen hören Wechsel und Dauer gleichzeitig auf. - Die zweite Einteilung des Zeitbegriffs faßt die Zeit auf als die Verknüpfung mehrerer Tätigkeiten mit demselben Subjekt, und die nächste Unterscheidung liefert hier nur eine Verschiedenheit der Verknüpfung in der Betrachtungsweise. Entweder betrachtet ein Subjekt seine eigene Zeit oder die Zeit eines anderen Subjekts. Die erstere wird es von innen, die letztere von außen betrachten. Danach wird die Zeit ein verschiedenes Aussehen erhalten können und sich einteilen lassen in die subjektive und objektive. Sie wird ferner andere Gestalten dabei annehmen je nach der Verschiedenheit der Subjekte. Nach der Verschiedenheit der Subjekte, wie sie uns die Erfahrung liefert, wird man hier also weiter einzuteilen haben, bis man schließlich für jedes besondere Subjekt eine besondere Zeit aufgestellt hat. Alle diese einzelnen Zeiten lassen sich dann miteinander vergleichen und zusammenschmelzen zu einer einzigen gemeinsamen Zeit, für die man dann aber ein Subjekt hinzudenken muß, welches alle die darin enthaltenen Tätigkeiten als Erscheinungen betrachtet. Für jedes einzelne mit Zeit begabte Subjekt kann man nun die vorangestellte Einteilung nach der Verschiedenheit der Tätigkeiten anwenden und dies solange, bis man auch alle verschiedenen Tätigkeiten, welche miteinander zu Zeitverhältnissen verknüpft werden können, erschöpft hat. Erst dann wird man den Umfang des Zeitbegriffs zur Vollständigkeit gebracht haben. Die Einteilung nach der Verschiedenheit der Subjekte sollte eigentlich der nach der Verschiedenheit der Tätigkeiten vorangehen. Nur aus didaktischen Gründen zog ich es vor, die obige Reihenfolge sowohl hier als hauptsächlich im folgenden Abschnitt zu wählen. Wenn die Zeit also die Verknüpfung eines Subjekts und mehrerer Tätigkeiten darstellt, so fragt sich noch, ob sie andere Begriffe gleichen Ranges neben sich anzuerkennen hat, und welche. Solche koordinierten Begriffe würde sein: die Verknüpfung eines Subjekts und einer Tätigkeit, die Verknüpfung vieler Subjekte und vieler Tätigkeiten und die Verknüpfung vieler Subjekte und einer Tätigkeit. Die Verknüpfung eines Subjekts mit einer Tätigkeit, welche natürlich seine eigene sein muß, wel es mit fremden Tätigkeiten nur mittels seiner eigenen in Verkehr treten kann, ist ein Kausalverhältis, und wir können es schaffende Kausalität nennen im Gegensatz zur bedingenden, wobei letztere zwischen zwei Tätigkeiten stattfinden kann, abgesehen davon, ob diese demselben Subjekt oder verschiedenen angehören. Eine Verknüpfung vieler Subjekte mit einer Tätigkeit ist in dieser Reinheit unmöglich; denn wenn zwei Subjekte miteinander in Verkehr treten wollen, so müssen immer beide tätig sein, zumindest das eine wirken und das andere die Wirkung aufnehmen. Die Verknüpfung vieler Subjekte mit vielen Tätigkeiten kann aber entweder als Wechselwirkung oder als Raum auftreten. Beide unterscheiden sich zunächst dadurch, daß zur Wechselwirkung nur zwei Subjekte erforderlich sind, während der Raum mindestens dreier Subjekte bedarf, aber in anderer Weise als von HERBART gefordert wird. Diese Verhältnisse sollen hier nur vorläufig angedeutet werden; ich werde sie im letzten Kapitel durch Figuren erläutern.
1) Wo im Folgenden TRENDELENBURGs "Logische Untersuchungen" zitiert sind, ist deren zweite Auflage aus dem Jahr 1863 gemeint. Wo KANTs Schriften in der Ausgabe von HARTENSTEIN angeführt werden, liegt die Ausgabe der Jahre 1867 und 1868 zugrunde. Für die "Kritik der reinen Vernunft" sind auch die betreffenden Stellen in der ROSENKRANZ-Ausgabe von 1838 angegeben. 2) So einfach real sah auch NEWTON die Zeit an (vgl. BAUMANN, Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren Philosophie, 2 Bde., Berlin 1868 und 1869, Seite 484f und 512. 3) Als eine reale Macht, aber einseitig als zerstörende und vernichtende Seite der Naturkraft sah FRIEDRICH FISCHER (Metaphysik, Basel 1847) die Zeit an. 4) Die Kürzung "gerade" stimmt nicht nur mit der Aussprache, sondern auch mit dem althochdeutschen "hrad" überein. 5) PLATON, Timaeus, Seite 37. 6) In diesem Sinn hat man wohl auch die Stelle bei SEXTUS EMPIRICUS zu verstehen (adv. Phys. lib. II). Vgl. GRUPPE, Wendepunkt der Philosophie im 19. Jahrhundert, Berlin 1834, Seite 183. 7) SPINOZA, Ethik, V, 23 8) BAUMANN, a. a. O., Bd. 1, Seite 183. 9) KANT, Kritik der reinen Vernunft, § 3 und 6 (HARTENSTEIN III, Seite 63f und 68; ROSENKRANZ, Seite 39 und 44). 10) O. F. GRUPPE, a. a. O., Seite 157f. 11) SCHLEIERMACHER, Dialektik, Seite 335. 12) SCHLEIERMACHER, a. a. O., Seite 129, § 196 13) TRENDENLENBURG, Logische Untersuchungen, Bd. 1, Seite 262. 14) Damit stimmt auch ARISTOTELES, Phys. VIII. 1. 15) TRENDELENBURG, LU I, Seite 33f und 41f. 16) DESCARTES, Princ. I, Seite 55. 17) vgl. BAUMANN II, Seite 92 18) LEIBNIZ, Ausgabe ERDMANN, Seite 692 19) vgl. BAUMANN II, Seite 324 20) LEIBNIZ, Pertz III. 6. Seite 99f; BAUMANN II, Seite 156. 21) BAUMANN II, Seite 658f (Ich berichte möglichst in BAUMANNs eigenen Worten.) 22) BAUMANN II, Seite 662. 23) BAUMANN II, Seite 560 oben. 24) BAUMANN II, Seite 674 25) Ich halte es hier nicht für erlaubt, die allmähliche Entwicklung des Zeitbegriffs im Menschen zeitlich geschehen zu lassen. 26) Auch bei LEIBNIZ (Pertz III., 7. Seite 18, Bei Baumann II, Seite 93) findet sich der Versuch einer Ableitung der Zeit aus Kausalverhältnissen, die von BAUMANN II, Seite 95 verworfen wird. BAUMANN konnte daher auch mit einer objektiven Zeit, welche er die astronomische nennt, nicht recht Ernst machen, weil sie ihm der subjektiven, welche er die psychologische nennt, nicht recht zu entsprechen schien. 27) Wechsel bezeichnet eine zusammenhanglose Vielheit von Ereignissen, die sowohl im Raum wie in der Zeit ihre Stelle finden und durch die mannigfaltigsten Bedingungen näher bestimmt werden kann. Sowohl nebeneinander (wenn an der Seite einer Landstraße ein Kirschbaum immer mit einem Kastanienbaum wechselt) als nacheinander können Erscheinungen wechseln. 28) Man vergleiche dazu, was im folgenden Abschnitt über die Bewegung gesagt ist. |