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EDGAR RUBIN
Unser Wissen
von anderen Menschen


"Es handelt sich darum, inhaltslose Streitfragen durch eine Analyse der Voraussetzungen und der Zweckmäßigkeit der in Betracht kommenden Begriffsbildungen zu vermeiden."

Im Alltag ist uns gewöhnlich sehr wenig vom Innenleben anderer Menschen gegeben. Auch in dem Sonderfall, daß wir uns durch Überlegungen klar machen, daß ein Anderer vermutlich ein ebenso reiches Innenleben hat wie wir selbst, bleibt doch diese Erkenntnis in hohem Grade gegenständlich unbestimmt und unanschaulich, abstrakt. Es gelingt nicht, uns die Gedankenwelt eines Mitmenschen in ihrer Fülle anschaulich vorzustellen.

Wie es gewöhnlich ist, wird besonders deutlich, wenn man etwa daran denkt, was einem z.B. von dem Innenleben der Mitreisenden in der Straßenbahn gegeben ist. Im allgemeinen sitzen sie da als für uns ganz inhaltlose Wesen. Was durch ihren Kopf geht, womit sie sich beschäftigen, von welchen Gefühlen und Stimmungen sie beherrscht sind, das alles wissen wir nicht. Nicht nur das - wir denken auch gar nicht daran, daß überhaupt etwas vorgeht. Wenn es uns aber doch einmal einfällt, so können wir uns zwar sagen, daß bei den Anderen wahrscheinlich ebenso viel geschieht wie bei uns; aber dieser Gedanke gibt uns überhaupt nichts Konkretes und Anschauliches. Etwas mehr haben wir schon, wenn einer unserer Straßenbahngefährten in Affekt gerät. Aber auch dann haben wir in dem Eindruck, daß - und vielleicht auch noch worüber er ärgerlich ist, sehr wenig im Vergleich zu dem, was wirklich in seinem Kopf vorgeht, und was uns gar nicht oder nur sehr unbestimmt gegeben ist.

Vielleicht kann das Innenleben eines anderen Menschen, bei nahem Kontakt und langjährigem Zusammenleben, für uns recht anschaulich, relativ reich und vielfältig werden. Aber immer bleibt das, was wir von dem Anderen haben, armselig gegenüber dem, was er selbst erlebt. Deshalb kann von zwei Menschen, die sich überaus nahe stehen, die sich sehr füreinander, für das Zu-Mute-Sein des Anderen interessieren, die sich helfen wollen, doch zu guter Letzt der eine mit Recht behaupten, daß der andere ihn nicht versteht.

Ein besonderes allerdings im allgemeinen übersehenes - Problem ist der hier angedeutete Sachverhalt für die experimentelle Psychologie. Man bringt im Laboratorium die Versuchspersonen in möglichst einfache und gleichartige Situationen. Aber selbst die ausführlichsten Protokolle, die wir unter diesen Bedingungen von den Aussagen einer Versuchsperson z.B. über einen ganz einfachen Vergleich zweier Farben aufnehmen können, sind inhaltlich viel ärmer als das, was in Wirklichkeit vorgegangen ist. Vielleicht schließt unsere Versuchsperson in dem Gefühl, daß ihre Ausdrucksmöglichkeit unzugänglich ist, ihren Bericht mit einer so inhaltsleeren Aussage wie: "Es war viel, viel mehr da!' Dieses "viel mehr" bezieht sich nur zum Teil auf sachlich zum Versuch Gehöriges. Es gibt außerdem auch eine Unmenge mehr oder weniger irrelevante Erlebnisse: Nebengedanken über das nächste Mittagessen, Kitzel im Fuß, Ungeduld wegen der Dauer des Versuchs usw. Trotz all dem enthalten gute Versuchsprotokolle bei weitem die besten und genauesten Beschreibungen wirklicher Bewußtseinsabläufe.

Die Vulgärpsychologie des täglichen Lebens kennt das Bewußtsein nur in der inhaltsarmen Weise, in der uns das Innenleben anderer Menschen gewöhnlich gegeben ist. Für den handelnden Menschen z.B. ist es entscheidend, daß er im allgemeinen nicht auf die Erlebnisse der Mitmenschen selbst reagiert oder Rücksicht nimmt, sondern nur auf seinen unbestimmt-abstrakten Eindruck davon. Das ist wahrscheinlich mit ein Grund dafür, daß z.B. Staatsmänner Beschlüsse fassen können, die zum Kriege führen und sehr viele Menschen in sehr großes Unglück bringen müssen. Übrigens ist auch die ganze schöne Literatur sowohl für Autor wie Leser von dieser Sachlage beherrscht. selbst dort, wo von feinster psychologischer Schilderung gesprochen wird. Sonst könnte man nicht den Inhalt eines Menschenlebens, ja nicht einmal eine wache Stunde davon auf, sagen wir 2000 Seiten beschreiben.

Daß wir uns im allgemeinen ein viel zu ärmliches Bild von der Bewußtseinswelt machen, findet seinen Ausdruck auch in der bekannten Tatsache, daß wir im täglichen Leben naive Realisten sind, indem wir fast nichts von den Prozessen erfassen, durch die die Weit des Alltagslebens aufgebaut wird, und die doch vielleicht das Komplizierteste darstellen, was es überhaupt gibt.

Die bisher erwähnten Mängel - und auch vieles von den im folgenden behandelten Verhältnissen - treffen wir nicht nur bei unserer Erkenntnis anderer Menschen sondern im gewissen Maße auch bei der Selbsterkenntnis. Wenn von gewissen Richtungen des Behaviorismus das Bewußtsein gewissermaßen abgeschafft werden kann, beruht das vermutlich auch nur darauf, daß das, was geleugnet oder durch Umdeutungen scheinbar aufgehoben wird, nur dieses armselige Abstraktum ist.

Eine andere, für unser Bild vom Mitmenschen grundlegende Tatsache ist die, daß die scharfe Unterscheidung des DESCARTES von Geist und Materie (die die wissenschaftliche Denkweise - vielleicht mit Unrecht - beherrscht hat) im praktischen Leben nicht durchgeführt ist. Man trifft Gebilde, die ganz einheitlich sind, und nicht etwa als ein Gemisch von Psychischem und Materiellem auftreten, denen aber Begriffe der wissenschaftlichen Reflexion entsprechen, die sich explizit sowohl auf Psychisches wie Materielles beziehen. Diese Gebilde sind ursprünglich einheitlich in demselben Sinne, in dem nach CORNELIUS ein Klang ein einheitliches Phänomen ist, das gewiß nicht aus Obertönen besteht, trotzdem aber bei wechselnder Einstellung (aber unverändertem Reiz) einen Übergang in ein anderes Phänomen nahe legt, bei dem einzelne Obertöne "herausgehört" werden. Derartige Gebilde, die in der nachträglichen Reflexion durch andere ersetzt werden können, in die materielle und psychische Komponenten eingehen, werden wir psychoide Gebilde nennen. Ein langsamer Mensch ist nicht ein Mensch, der sich einerseits langsam bewegt, und der andererseits langsam denkt. Das Wort "langsam" bezieht sich in ungeschiedener Weise auf etwas, das sich unserer späteren Überlegung als teils körperlich, teils seelisch darstellt.

Indem wir menschliche Bewegungen als Handlungen auffassen, sehen wir sie zweckbestimmt, und damit fallen sie unter den Begriff der Psychoide. Gewisse nervöse Zuckungen sind einfach körperliche Bewegungen, keine Handlungen und fallen uns deshalb besonders auf, weil sie "sinnlos" (d.h. ohne geistige Komponente) sind. Diejenigen Behavioristen, die ihre Beschreibungen nicht im dreidimensionalen Koordinatensystem der physikalischen Welt, sondern in Handlungen geben, entgehen den Schwierigkeiten ihrer theoretischen Stellung, indem sie durch Benutzung solcher psychoider Gebilde gewissermaßen Psychisches einschmuggeln. Zu den psychoiden Gebilden gehören auch alle menschlichen Äußerungen. Für eine gewisse Art von Reflexion kann man sie stets "auflösen" in etwas Materielles (sozusagen die Äußerung selbst) und etwas Geistiges (das Geäußerte, die Bedeutung der Äußerung).

Das gleiche gilt von Gedrucktem und Geschriebenem, Gedichten und Abhandlungen, die Gedanken enthalten. Auch die festen Symbole, die die Logistik und die Mathematik verwenden, sind nichts anderes als psychoide Gebilde. Sie alle haben eine von "Sinn" durchleuchtete materielle Form. Gerade das wird vielleicht viel zu oft übersehen. Doch ein weiteres Beispiel: der Aberglaube, daß man "hellseherisch" einen Brief in einem verschlossenen Umschlag lesen könne, setzt voraus, daß sich auf dem Briefpapier nicht nur Tintenstriche befinden, sondern daß die Striche Gedanken enthalten, die der Hellseher auf geheimnisvolle Weise unmittelbar aufnehmen kann.

Weiter wurde in dem Vortrag ausgeführt, wie anschauliche psychoide Eigenschaften eines Menschen in Wirklichkeit aus Deutungen und Bewertungen entstehen, mit denen der Beobachter jenen auffaßt. Ein Kind ist nicht an sich nett (englisch: "sweet"), ein Mädchen hat nicht an sich Charme. Diese Bestimmungen, die als Eigenschaften des Kindes oder Mädchens erkannt werden, sind erst Ergebnis der Betrachtung durch andere. Qualitäten wie "mutig" oder "großtuerisch" können in dem Maße prinzipiell vom Beobachter abhängen, daß der, dem man sie zuschreibt, sie mit Recht bei sich leugnet. Unser Bild von dem Bewußtsein anderer Menschen ist also nicht nur, wie früher gezeigt wurde, viel zu ärmlich. Es ist auch gefälscht dadurch, daß Eigenschaften hineingeschmuggelt sind, die prinzipiell nicht da sein können.

Überall dort insbesondere, wo der Mensch als Glied von Kausalbeziehungen aufgefaßt wird (z.B. in der Soziologie), ist es von entscheidender Wichtigkeit, daß man sich darüber klar wird, ob man von dem Menschen handelt, wie er im Alltagsleben erscheint, also von einer unbestimmten Abstraktion des wirklichen Menschen oder von dem wirklichen Menschen selbst. Daß dieser wirkliche Mensch von jener Abstraktion nicht nur gradweise, sondern wesentlich verschieden ist, glauben wir durch unsere psychologische Analyse gezeigt zu haben.
LITERATUR - Edgar Rubin, Bemerkungen über unser Wissen von anderen Menschen, in Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (hrsg), Erkenntnis 6/1936, Amsterdam 1967