p-4cr-4G. K. UphuesM. D. VernonCondillacFrischeisen-Köhler     
 
DIETERICH TIEDEMANN
Handbuch der Psychologie

"Vom herrlichen Ideal der Philosophie müssen mehrere wesentliche Stücke abgezogen werden: Es fällt weg die demonstrierte Objektivität der Erkenntnis; wir glauben, und müssen an die Objektivität derselben glauben, ohne sie jetzt evident darlegen zu können, weil es uns unmöglich ist, aus uns selbst herauszugehen und durch andere Organe, oder gar ohne alle Organe die Dinge zu beschauen."

"Das Denken, welches weiter nichts als ein Denken enthält, ist im Grunde kein Denken, ist eine bloße Grimasse des Denkens."

"Die Töne, die Gerüche, die Farben halten wir für außerhalb von uns wirklich vorhanden; die Freude hingegen, das Vorstellen, das Denken für etwas, das neben und uns gegenüber keinen Bestand hat. Dies nennen wir den Gegenstand der Empfindung und verstehen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch das darunter, was die Veränderung in uns hervorbringt, mit ihr Ähnlichkeit hat und neben und außer uns besteht."


Einleitung

§ 1. Da eine bestrittene Sache nicht als vorhanden angesehen werden kann: so muß auch die Philosophie als etwas noch aufzustellendes betrachtet, und mithin kann die Definition von derselben von ihr selbst nicht hergenommen werden. Der Begriff, den wir von ihr haben, drückt ein Ideal aus, das in einzelnen Bruchstücken zwar wohl, aber nicht im Ganzen erreicht ist. Es gründet sich aber dieses Ideal, wie alle anderen, auf gewisse wesentliche Bestreben des menschlichen Geistes und Herzens, und faßt diese in ihrer höchsten Vollendung in einen Begriff zusammen. Darum eben fallen die bisher in ziemlicher Anzahl vorhandenen Erklärungen der Philosophie so verschieden aus; jeder nämlich entwirft nach seinen Kenntnissen und Wünschen sich ein mehr oder minder prächtiges Ideal.

§ 2. Um den Begriff der Philosophie mit möglichster Schärfe zu entwerfen, wird es daher am geratensten sein, erst das Ideal nach allen Bestrebungen des menschlichen Geistes auf das vollständigste zu entwerfen, und dann zu sehen, wieviel davon zu erreichen möglich ist. So werden auch die Quellen der Streitigkeiten über diesen Begriff am besten verstopft werden können.

§ 3. Unsere Vernunft strebt wesentlich nach dem Begreifen und Erklären, wie sich in der Folge mit mehrerem erhellen wird; und zwar strebt sie rastlos nach dem Erklären alles Möglichen. Unsere Vernunft strebt nach fester Erkenntnis, und zwar nach dem höchsten Grad derselben, nach praktischer Erkenntnis  a priori.  Unsere Vernunft strebt nach einer nicht bloß für alle Menschen und alle denkenden Wesen gültigen, sondern auch nach einer objektiven Erkenntnis. Schließlich trachtet auch die Vernunft nach einer strengen systematischen Erkenntnis, und zwar nach der, die alles aus  einem  Prinzip herleitet.

§ 4. In ihrer höchsten und weitesten Bedeutung wäre demnach die Philosophie eine apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp] Wissenschaft  a priori  aller Gründe dessen, was zu unserer Kenntnis gelangt, und was unser Tun betrifft, nach ihrer allgemeingültigen objektiven Wahrheit, in streng systematischer Ordnung aus  einem  Prinzip. Ich sage: von allem, was zu unserer Kenntnis gelangt, und was unser Tun betrifft; denn auf zwei Hauptgegenstände geht all unser Forschen hinaus: auf das Vollständigste zu begreifen, was in und um uns vorgeht, oder was uns die Erfahrung bekannt macht; und auf das Gründlichste einzusehen, was wir tun müssen, und warum wir es tun müssen.

§ 5. Von diesem herrlichen Ideal aber müssen mehrere wesentliche Stücke abgezogen werden. Es fällt weg die Herleitung von  allem,  was wir erfahren, aus seinen Ursachen; weil bei aller Erklärung irgendetwas als gegeben vorausgesetzt werden muß; und weil man ins Unendliche erklären muß, wenn man schlechterdings alles erklären will. Aus dem nämlichen Grund fällt auch weg, daß alles demonstriert werden muß; wer  alles  demonstrieren will, kann  nichts  demonstrieren.

§ 6. Es fällt weg die apodiktische [unumstößlich bewiesene - wp] Gewißheit; denn daß es Erfahrung gibt, kann nicht apodiktisch erwiesen werden, und  was  erfahren wird, muß ebenfalls ohne apodiktischen Erweis angenommen werden, da von ihm das Gegenteil immer denkbar bleibt.

§ 7. Es fällt weg, daß alles  a priori  erklärt und erwiesen werden soll; denn daß etwas erfahren wird, und was erfahren wird, gelangt nur durch Empfindung zu unserer Kenntnis, und kann von vornherein nicht bestimmt werden.

§ 8. Es fällt weg, daß Alles eine strenge Allgemeingültigkeit für alle Menschen haben soll; die individuellen Verschiedenheiten der Menschen werden uns nie zu einer solchen gelangen lassen, wie die Folge ausführlicher zeigen wird.

§ 9. Es fällt weg die demonstrierte Objektivität der Erkenntnis; wir glauben, und müssen an die Objektivität derselben glauben, ohne sie jetzt evident darlegen zu können, weil es uns unmöglich ist, aus uns selbst herauszugehen und durch andere Organe, oder gar ohne alle Organe die Dinge zu beschauen.

§ 10. Es fällt weg die strenge systematische Anordnung, vermöge welcher nichts nachher zu Erörterndes und zu Befestigendes vorausgesetzt werden darf. So muß schon hier die Logik nebst ihren Gesetzen vorausgesetzt werden, da ohne sie kein Schritt im philosophischen Denken getan werden kann.

§ 11. Es fällt schließlich weg die Gründung aller Beweise auf  ein  Prinzip, und die Herleitung aller besonderen Tatsachen aus  einem  Grund. Auf eine einzige Erfahrung alle übrigen zu stützen, ist uns nicht möglich; und in  einer  alle übrigen zu erblicken In einem einzigen Grund alle uns bekannten Erfolge zu erkennen, findet sich beim Versuch, wie die Folge zeigen wird, nicht tunlich.

§ 12. Diesem gemäßt wird jenes hohe Ideal folgendergestalt herabgestimmt, und die Philosophie im weitesten Umfang erklärt werden müssen als eine feste (nicht apodiktische, sondern den höchsten uns erreichbaren Grad der Glaubwürdigkeit habende) Erkenntnis der Ursachen dessen, was wir in der Erfahrung antreffen und durch unsere eigene Kraft bewirken müssen, zurückgeführt auf die wenigstmöglichen Beweise und Ursachen.

§ 13. In diesem weitesten Bezirk der Philosophie ist aber auch die Mathematik, nebst mehreren anderen theoretischen und praktischen Wissenschaften noch eingeschlossen. Der Sprachgebrauch hat für gut gefunden, diese alle von der Philosophie im engeren Verstand auszuschließen; und es kann daher die Philosophie, wie sie gewöhnlich genommen wird, so erklärt werden, daß sie eine möglichst gewisse Erkenntnis der Gründe dessen ist, was alle Menschen zu begreifen trachten und tun müssen. Mit anderen Worten: möglichst große Erkenntnis der Gründe dessen, wonach die erwachte Denkkraft aller Menschen strebt, und von jeher gestrebt hat; sowohl zu begreifen, was die Erfahrung aufzeigt, als auch was der Wille zu erreichen trachtet.

§ 14. Da die Philosophie Erfahrungen erklären soll, also Erfahrungen voraussetzen muß: so folgt von selbst, daß sie nicht durch Denken allein zustande kommen kann; daß also das Denken allein nicht ihr alleiniger Standpunkt ist, sondern vielmehr, daß sie durch Denken über Empfindungen aufgestellt werden muß; weil nur durch Empfindungen Erfahrungen gemacht werden können.

§ 15. Die theoretische Philosophie soll uns überzeugen von dem was ist, und was geschieht, und soll davon die Ursachen angeben, so weit es möglich ist. Nun aber erkennen wir dies nur durch unsere Gemütskräfte; mithin muß sie mit der Untersuchung über uns selbst notwendig den Anfang machen. Wer wissen will, was und wieviel er durch ein Teleskop zu sehen imstande ist, muß zuvörderst das Werkzeug untersuchen. Sonach ist die Seelenlehre der erste Teil der Philosophie. Eben dies gilt auch von der praktischen Philosophie; wer wissen will, was er tun soll, muß zu allererst seine wirksamen Kräfte, und deren wesentliche Richtungen sich bekannt machen.

§ 16. Wie aber, wird nicht bei dieser Untersuchung die Vernunftlehre schon vorausgesetzt? Muß nicht also diese an der Spitze aller Philosophie stehen? Werden nicht ferner bei dieser Untersuchung die allgemeinen Grundsätze der Ontologie, das Prinzip vom zureichenden Grund, der Satz des Widerspruchs, die Begriffe von Etwas, Ding, Kraft usw. vorausgesetzt? Muß also nicht die Ontologie an die Spitze aller Philosophie gesetzt werden? Hier bestätigt sich das oben Gesagte, ein System in ganz strenger Ordnung sind wir Menschen zu entwerfen nicht imstande; unser Wissen ist Stückwerk. Wollte man von der Logik anheben: so könnte man deren Grundsätze nicht erweisen, weil diese aus der Natur unseres Denkens hergeleitet werden. Wollte man von der Ontologie anheben: so müßte man gleichfalls die Logik voraussetzen: und man könnte überdies die ontologischen Grundsätze und Begriffe nicht verstehen, da diese ihr volles Licht erst durch den Ursprung der Begriffe, und ihren vollen Erweis zuerst aus der Natur unseres Denkens entlehnen.

§ 17. Zum Glück ist dieser Zirkel so arg nicht, wie er anfangs scheint. Was von Logik und Ontologie hier erfordert wird, besteht in einigen Grundsätzen und Fertigkeiten, die auch der gerade Menschenverstand schon kennt und erworben hat; nicht aber eine wissenschaftliche Kenntnis und methodisch erlangte Übung in beiden.

§ 18. Welche Erfahrungen aber soll dann nun die Philosophie zum Grund ihres Erklärens legen? Die durch äußere, oder die durch innere Empfindung erworbenen? Mehrere verunglückte Versuche haben gelehrt, daß der eine dieser beiden Äste nicht in den andern verwandelt werden kann. Aus den Quellen der inneren Empfindung sind Ausdehnung, Impenetrabilität [Undurchdringlichkeit - wp], Bewegung durchaus nicht befriedigend zu erklären; die Gesetze des Denkens demnach, nebst dem, was die innere Empfindung allein bekannt macht, dürfen nicht zugrunde gelegt werden, um das von außen Empfundene zu erklären.

§ 19. Auch darf eine von beiden Arten der Empfindung nicht ganz verworfen oder als täuschen abgewiesen werden, weil man so nicht alle Erfahrungen vollständig erklärt: und überdies gegen die verworfene Empfindungsart ungerecht verfährt, da beide gleiche Ansprüche auf Zuverlässigkeit haben.

§ 20. Durch den Scharfsinn mehrerer neuerer Philosophen ist der Boden, auf welchem die Philosophie ihr Gebäude errichten soll, dergestalt in Dunkel verhüllt worden, daß man Mühe hat ihn zu erkennen, selbst wenn man schon auf ihm steht. Diese Nebel müssen hier noch mehr zerstreut werden, um sich ein für alle mal gegen Verführungen kunstreicher Trugschlüsse zu verwahren. Die Philosophie soll erklären, was wir erfahren, nicht aber daß wir etwas erfahren, oder die Erfahrung überhaupt. Das letztere können wir, nach dem schon Gesagten, nicht erklären, und kein Wesen kann es erklären, weil es sich selbst gemacht haben müßte, um zu wissen, wie es zu allen Erfordernissen des Erfahrens gekommen ist. Ja nicht einmal alles, was  wir  erfahren, kann  unsere  Philosophie erklären; sonst müßte sie auch die Entstehung, oder wie man jetzt auch zu sagen pflegt, die Möglichkeit des der Erfahrung zufolge in uns vorhandenen Bewußtseins erklären können; müßte etwas als Tatsache wirklich Vorhandenes aus dem erklären, was nicht als Tatsache wirklich vorhanden, sondern leere Hypothese ist.

§ 21. Hierdurch verschwindet also, was mehrere unserer Philosophen und zuletzt Herr BOUTERWECK (Apodiktik, Seite 1, Einleitung) mit sehr scheinbarem Tiefsinn aufgestellt haben, daß die Philosophie, um die Erfahrung zu erklären, von aller Erfahrung abstrahieren und über alle Erfahrung hinausgehen muß. Einige Erfahrung muß  unsere  Philosophie als unerklärlich, und keiner Erklärung bedürftig, voraussetzen.

§ 22. Damit jene Folgerung nicht ungereimt erscheint, pflegen ihre Verteidiger die innere Erfahrung auch wohl aus dem Umfang der Erfahrung auszuschließen, und sonach damit nichts anderes zu sagen, als was wir oben bereits als untunlich verworfen haben, daß die äußere Erfahrung aus der inneren erklärt werden soll. So gründet einer derselben alles auf das Selbstbewußtsein; und versichert zugleich, es lasse sich durch keine Erfahrung lernen, daß ich bin, und was ich bin (SCHAD, Darstellung des Fichtischen Systems, Bd. 1, Seite 97). Er dachte wahrscheinlich daran, daß nur Empfindng oder Gefühl mich lehrt, daß ich bin, und was ich bin; daß ferner nicht ein momentanes, sondern ein durch mehrere Zeitpunkte fortgesetztes Gefühl, folglich Erfahrung mich mit beiden bekannt macht. daß ich bin, ist eine Tatsache, und die lehrt nur Erfahrung.

§ 23. Die Philosophie soll erklären, was wir erfahren, also auch nachweisen, warum wir auf manches, als auf eine Tatsache, und als eine beständige und allgemeingültige Tatsache, festes Zutrauen setzen. Aber warum wir dem Empfundenen fest vertrauen, das soll sie nicht erklären noch erweisen, weil sie das nicht kann. Wir erfahren, daß wir das immer tun und fühlen, daß wir es nicht umhin können zu tun; mehr können wir nicht erforschen.

§ 24. Wollen wir erklären, was wir erfahren: so müssen wir von irgendeiner bestimmten Erfahrung ausgehen, und an diese die übrigen nach und nach anknüpfen. Aus einem gänzlich unbestimmten Grund läßt sich alles Beliebige ableiten, mithin aber nichts befriedigend erklären. Die absolute Freiheit der transzendentalen Idealisten kann demnach der erste Grund alles Philosophierens nicht sein; nach der eigenen Beschreibung ihrer Verteidiger hat sie gar keine festen Einschränkungen, und kann in gar keinen Begriff gefaßt werden (SCHAD, a. a. O., Seite 143). Wenn dieser Philosoph die Ungereimtheit dadurch abweisen will, daß er erste Grund allen Denkens nichts Denkbares sein kann: so verfällt er in eine noch tiefere Ungereimtheit. Aus dem, was sich nicht denken läßt, kann durch Denken nichts Bestimmtes gefolgert werden.

§ 25. Die Philosophie gründet sich zuletzt auf Tatsachen in Sätzen, und auf Begriffe von Tatsachen; beide müssen bewiesen werden, und zwar wieder durch Sätze und Begriffe bewiesen werden. Dies geht ins Unendliche, wo bleibt nun das Philosophieren? (BOUTERWECK, a. a. O, Seite 9).

§ 26. Freilich müssen die Tatsachen in Sätze gefaßt werden, wenn man sie zum Räsonnement gebrauchen will; und freilich muß daher die Philosophie ihre Grundlage in Sätzen darstellen. Allein der wahre und letzte Grund des Annehmens der Sätze, die Tatsachen enthalten, liegt nicht in den Sätzen, sondern in dem, was vor dem Denken durch die Empfindung dem Bewußtsein ist vorgehalten worden, und in dem, was die Natur unseres Gemütes zum Empfinden hinzubringt. Obgleich also die Philosophie mit Sätzen anhebt: so hebt doch unser Erkennen und Fürwahrhalten damit nicht an. Der Philosoph überzeugt nicht durch Sätze und Räsonnement ursprünglich, sondern dadurch, daß er mit seinen Sätzen und Schlüssen jeden an das verweist, was ihnen vorausgeht, und verlangt, es soll jeder aus diesen die von ihm aufgestellten Sätze selbst in sich erzeugen. Da nur den Tatsachen unbedingt Beifall gegeben wird: so bedarf nicht jeder Satz einen neuen Beweis ins Unendliche; sondern alle Sätze, die solche ausdrücken, überzeugen jeden durch sich selbst, sobald er sich ihren Inhalt vergegenwärtigt hat.

§ 27. Mit den Begriffen und Erklärungen verhält es sich ebenso. Sooft man sich bewußt ist, sie von Gegenständen in der Erfahrung hergenommen zu haben, und diese sich in einzelnen Fällen vergegenwärtigt, bedürfen sie weiter keines Beweises, daß sie reale Gegenstände bezeichnen.

§ 28. Die Philosophie soll den Grund allen Wissens aufstellen; aber wissen wir denn wirklich etwas? Muß man nicht, um dies zu entscheiden, schon etwas wissen? Gerät man also nicht in einen grundverderblichen Wirbel, indem man beim Anstellen dieser Untersuchung noch nicht weiß, ob man weiß, und doch schon wissen muß, um sie anstellen zu können?

§ 29. So scheint es beim ersten Anblick, aber so scheint es auch nur dem Grübler. Der gerade Menschenverstand hätte sich nie eine solche Bedenklichkeit erhoben. Hier nämlich will man durch Vernunft wissen, ob man weiß, mithin durch Vernunft und Reflexion sich selbst betrachten. Das, was man betrachten will, kann also ohne Zirkel schon mit Wissenschaft versehen sein; gerade wie man Verstand haben muß, um zu untersuchen, ob man welchen hat.

§ 30. Noch sind die Schwierigkeiten nicht alle gehoben; es scheint, die Vernunft hat es absichtlich darauf angelegt, den Zugang zur Philosophie sich selbst möglichst zu erschweren. Alles Wissen geht auf ein Objekt; hier kommt ein neuer Wirbel zum Vorschein. Denn um etwas zu wissen, muß man vom Objekt etwas wissen, und um von dem etwas zu wissen, muß man schon wissen (BOUTERWECK, a. a. O., Seite 160).

§ 31. Auch dieser Strudel ist nur scheinbar vorhanden. Wer entscheiden will, ob er vom Objekt etwas weiß, muß vor der Entscheidung freilich wissen, sonst wäre er kein wissendes Wesen, und könnte sich keine Wissenschaft beilegen. Vor der Entscheidung weiß er noch nicht durch Reflexion, daß er weiß, er weiß es instinktartig, und ohne verdeutlichendes Bewußtsein nach der Entscheidung, und durch die Untersuchung gelangt er zum deutlichen reflektierten Bewußtsein, mithin ist der Wissende vor der Untersuchung ein anderer, als der Wissende nach der Untersuchung.

§ 32. Zum Wissen gehören unerschütterliche, für alle Menschen feststehende Begriffe und Urteile. Diese zeigt uns die Reflexion über uns selbst, und die Erinnerung an unsere vorige Art zu denken, nebst der Vergleichung mit anderen Menschen auf. Zum Wissen gehört aber auch eine Übereinkunft derselben mit einem Gegenstand. Diese erkennen wir durch die Art, wie wir zuerst mit Gegenständen bekannt werden, und durch gewisse Gesetze des Denkens, die uns auf Gegenstände unabweichlich verweisen. Diese Grundsätze aber haben ihre Festigkeit in sich selbst, indem wir einsehen, daß ohne sie kein Erfahren und kein Erkennen möglich wäre.

§ 33. Nun verschwindet auch der Stein des Anstoßes, daß wir durch das Denken allein nie über das Denken hinaus zu Gegenständen gelangen können. Das Denkenmüssen, wie kannes mehr als Denkenmüssen bedeuten? (BOUTERWECK, Seite 168). Der Philosoph denkt Fakta und in ihnen denkt er etwas jenseits des Denkens.

§ 34. Daß er etwas als Tatsache denken, ist ein Muß; daß er eine Bewußtsein hat, kann er z. B. nicht anders als ein Faktum denken. Dieses Muß leidet weiter keine Erklärung, Ableitung oder Begründung. Daß er aber etwas als Tatsache denkt, weißt er aus der Art, wie er zur Vorstellung derselben gelangt ist, was weiter unten klarer erhellt wird. Hierin liegt zugleich, daß dasjenige, wovon er urteilen muß, daß es eine Tatsache ist, eine solche in der Tat ist; denn das Denken belehrt ihn, daß durch Denken allein das Faktum nicht zustande gekommen ist.

§ 35. Soviel erhellt sich schon hier, daß nicht alles Denken seiner Natur nach von aller Beziehung auf etwas außerhalb von ihm entblößt ist. Gleichwohl hat man dies in den neueren Philosophien als ausgemacht angenommen, und hat eben dadurch sich in manche Labyrinthe verwickelt, von welchen die älteren nichts wissen. Man hat aber diesen Satz übereilt angenomen, denn man hat ihn nirgendes erwiesen. Man hat ihn gegen die allgemeine Überzeugung, ja gegen sein eigenes Gewissen angenommen; denn dächte man nichts als Utopien, wer in aller Welt wollte sich die Mühe geben, zu denken? Und glaubte diese Philosophen selbst, daß all ihr Denken nichts als Schimären erzeugt, wie könnten sie sich die Mühe geben, mit jahrelanger Arbeit große Systeme durch Denken zu errichten? Es gibt schließlich manches Denken, welches ohne etwas außer ihm gar nicht stattfinden kann. Denkt den Satz,  ich denke,  und denkt, daß damit nichts außer ihm selbst gesetzt wird: so habt ihr nichts gedacht, als leere Worte, habt also gar nicht gedacht.

§ 36. Aber ist hier nicht das Denken außer dem Aussprechen jenes Satzes, wieder nur durch Denken vorhanden? Keineswegs! Um sagen und denken zu können, ich denke, müßt ihr Vorstellungen in Verhältnisse bringen, und dies durch Reflexion bemerken. Vor dem Satz also muß notwendig etwas außer ihm, etwas von ihm Verschiedenes hergehen, welches ihr nicht durch Denken allein hineinbringt. Ihr bildet den Satz nicht durch die bloße Spontaneität eures Denkens. Ebenso verhält es sich mit den Sätzen,  ich liebe, ich sehe, ich höre.  Das Denken, welches weiter nichts als ein Denken enthält, ist im Grunde kein Denken, ist eine bloße Grimasse des Denkens.



Erstes Hauptstück
Grundlegung der Seelenlehre

§ 1. Von Erfahrung oder Tatsachen soll die Philosophie anheben, um einen festen Boden zu gewinnen: welche unter den zahllosen Erfahrungen hat sie also an ihre Spitze zu stellen? Natürlich keine andere als die, ohne welche alle anderen Erfahrungen nicht stattfinden könnten; und die allen ihre Form erteilt. Diese Tatsache wird in den Satz gefaßt: ich habe Bewußtsein.

§ 2. Dieser Satz ist der gewisseste, weil kein Skeptiker ihr angegriffen hat, noch angreifen kann. Wer nicht weiß, ob er Bewußtsein hat, kann nicht wissen, ob er schließt oder ob er zweifelt, kann also nichts vorbringen.

§ 3. Dieser Satz ist der reellste, das heißt, er sagt aus, daß ich auch ohne mein Denken und außerhalb meines Denkens in der Tat  Bewußtsein  habe und auch dies vermag der gerade Menschensinn nicht zu bezweifeln, wie es denn auch im Ernst von keinem Philosophen in Zweifel gezogen worden ist.

§ 4. Wollte aber jemand mit einem berühmten neueren Philosophen an der Realität dieser Tatsache zweifeln, und fragen: wie weiß ich, ob dieses Faktum selbst Wahrheit ist oder Traum? ob der Vorstellungswechsel, durch den wir etwas zu erkennen glauben, etwas voraussetzt, das mehr als all dieser Vorstellungswechsel ist? (BOUTERWECK, a. a. O., Seite 49): so würde ihm zweierlei zur Antwort werden. Erstens: daß er in seinem Zweifel zugesteht, was wir verlangen; einen Wechsel von Vorstellungen, die dem Bewußtsein zugrunde liegen, also etwas außerhalb des Bewußtseins wirklich Vorhandenes, dessen wir uns in der Tat bewußt sind.

§ 5. Zweitens: daß mit der Tatsache auch ein Grundsatz all unseres Denkens verbunden werden muß, nämlich der des Widersprechens, kraft dessen es nicht denkbar ist, daß etwas scheint oder erscheint, was absolut Nichts ist; kraft dessen also der Verstand jedem Erscheinen oder Scheinen notwendig eine Sage zugrunde legen muß. Auch hier ist also eins von den nicht ungewöhnlichen Beispielen, in welchen die Vernunft gewisse Begriffe über ihre natürliche Grenze ausdehnt, wie wenn man denkt, daß sich jemand an seinen eigenen Haaren aus dem Wasser zieht.

§ 6. Dieser Satz ist er erste in der Philosophie, aber nicht so, daß er der Obersatz ist, aus welchem alle gefolgert und durch Analyse entwickelt werden: sondern so, daß er der festeste ist, ohne den man keinen Schritt weiter tun kann.

§ 7. Wer ist denn nun aber dieser  Ich der sich Bewußtsein zuschreibt? Dies beantwortet der Inhalt des Satzes von selbst. Er steht hier nicht als etwas bloß Gedachtes, als bloße Wirkung des Verstandes, sondern als Tatsache und als gedachte Tatsache. Das Ich bedeutet demnach nichts Gedachtes, einen Begriff; sondern etwas Empfundenes und durch Empfindung Erfahrenes. Dieses Ich ist etwas, das sich hier selbst vorzeigt, das sich seiner Reflexion gegenüber, und auch vor Andere hinstellt, auf sich weist, und Jeden auf sich zu schauen anweist; das aber dadurch andere auffordert, was es von sich bemerkt, auf sich anzuwenden. Indem es auf sich hinweist, denkt es sich zugleich, nach dem im Gedächtnis Niedergelegten, als empfindend, lebend und mit mancherlei Äußerungen seiner Tätigkeiten, vorstellend, denkend, begehrend, wie es sich in vorigen Erfahrungen gefunden hat.

§ 8. Jener Satz ist also kein idealischer, denn er drückt eine Erfahrung aus, die nie identisch spricht. Er bezeichnet daher auch nicht das Selbstbewußtsein, wie die kantischen Philosophen behaupten und schließt mithin nicht alle individuellen Äußerungen des Bewußtseins aus, noch macht er alles Denken erst möglich, und ist das transzendentale Bewußtsein, (MELLIN, Wörterbuch, Artikel "Ich") Sonst hieße er: das Selbstbewußtsein hat Bewußtsein; womit eigentlich nichts zur Erfahrung gehöriges ausgesagt würde. Auch in anderen Sätzen kann das Ich nicht das Selbstbewußtsein bezeichnen;  ich denke  hieße sonst  das Selbstbewußtsein denkt;  oder  ich liebe, das Selbstbewußtsein liebt! 

§ 9. Was ich vermöge des Bewußtseins an mir finde, und was sich ohne Bewußtsein an mir nicht äußern könnte, das lege ich mir mit Zuversicht, als Realität bei. Mit Zuversicht; denn ist es gewiß, daß ich Bewußtsein habe: so ist es auch gewiß, daß ich das besitze, was mir durch dieses Bewußtsein entdeckt wird; so zumindest hat der gerade Menschensinn geschlossen, solange die Welt steht. Als Realität, den was ohne Bewußtsein nicht gefunden werden, noch vorhanden sein kann, das ist als besondere Äußerung des Bewußtseins selbst zu betrachten, und eben so real als das Bewußtsein selbst. Hier erscheint also der oberste Satz der Seelenlehre.

§ 10. Nun finde ich im Bewußtsein an mir als Äußerungen, die ohne Bewußtsein nicht stattfinden können, eine Empfindung, ein Vorstellen, ein Denken, ein Fühlen, und ein Begehren, die sich in mancherlei einzelnen Handlungen offenbaren; diese sehe ich also als Beschaffenheiten von mir an, und fahre nun fort, sie einzeln näher zu untersuchen.

§ 11. Durch diese Beschaffenheiten macht mir das Bewußtsein noch manches andere bekannt, welches ich aber nicht als mit Bewußtsein verknüpft ansehe, einen Körper, den ich den meinigen nenne, Häuser, Bäume usw. Was ich von diesen halten muß, wird erst dann entschieden werden können, wenn diese Äußerungen des Bewußtseins selbst genau untersucht sind.
LITERATUR - Dieterich Tiedemann, Handbuch der Psychologie zum Gebrauch bei Vorlesungen und zur Selbstbelehrung bestimmt, Leipzig 1804