ra-1PyrrhonMontaigneJ. M. DegerandoC. Stumpf     
 
EUGEN DREHER
Das Wesen und die
Bedeutung des Skeptizismus


"Parmenides erachtete alle Erklärungen als einen bloßen Notbehelf, dessen wir uns bedienen, um uns mit den Problemen, die uns überall entgegentreten, so viel es eben geht, abzufinden. Erkenne den trügerischen Schmuck meiner Rede! ruft er demjenigen zu, der versucht sein sollte, betäubt vom narkotischen Hauch der Theorien, in irgendwelchen Erklärungen den Ausdruck der Wahrheit zu wähnen."

"Im Mittelalter schlief der Skeptizismus wie überhaupt jede wahre Philosophie, weil das von der christlichen Religion übernommene Dogma von vornherein als unantastbare Wahrheit galt, welche zu beweisen der Philosophie, der Dienerin der Religion, die Aufgabe zufiel, womit selbstverständlich der Philosophie ihre treibende Kraft, nach Wahrheit zu forschen, entzogen wurde."

"Es war das Problem der Kausalität, welches Hume zum Gegenstand ergiebiger Untersuchungen dadurch machte, daß er nachwies, daß wir die Begriffe von Ursache und Wirkung, unter denen wir allein imstandes sind, alles Geschehen zu fassen, nicht den Erscheinungen entlehnen, sondern vielmehr in dieselben hineinlegen, da die Erscheinungswelt uns nur von der zeitlichen Aufeinanderfolge der Dinge berichtet, ohne uns über das Wie dieser Aufeinanderfolge zu belehren."

"Hume zum ersten Mal schreibt dem Geist die Fähigkeit zu, die Erscheinungen unter ihm eigenartigen, der Außenwelt aber fremden Formen zu betrachten und wird so zum Begründer des modernen Skeptizismus, der ja in der Überzeugung wurzelt, daß die Anschauungsformen, mittels derer wir die Dinge gemäß der Beschaffenheit unseres Geistes betrachten müssen, nicht der Ausdruck des den Dingen Zugrundeliegenden sind."


Zu allen Zeiten, wo der Mensch die Natur seines Denkens zum Gegenstand seiner Betrachtung machte, warf sich ihm die Frage auf, ob die Organisation seines Denkens derartig beschaffen ist, die Dinge so zu begreifen, wie sie wirklich sind. Unkundig derjenigen Spekulationen, die Zweifel an der Richtigkeit unserer Denkformen und Denkgesetze erregen, sollte man meinen, daß es von vornherein zugestanden werden muß, daß wir bei richtigem Denken, d. h. also bei einem Denken, welches den in unserem Geist liegenden Anforderungen entspricht, die Dinge ihrer Natur gemäß erkennen könnten. Für dieses Zugeständnis spricht zunächst der Umstand, daß, wenn wir über einen Gegenstand denken, wir uns in sein Wesen hinzuversetzen suchen, spricht ferner der Umstand, daß wir sowohl wie das Objekt Teile eines Ganzen sind, an deren einheitlichem Zusammenwirken wir nicht zu zweifeln wagen. - Um aber die Alleinheit des Seienden zur unbedingten Gewißheit zu erheben, suchte ZENO, der Schüler des PARMENIDES, die Lehre seines Meisters dadurch indirekt zu beweisen, daß er an Beispielen zeigte, zu welchen Widersprüchen und zu welchen widersinnigen Folgerungen die Annahme von der  Vielheit  der Dinge führt.

Zieht man andererseits jedoch in Betracht, daß wir infolge des Denkens auf Widersprüche stoßen, die, als denkgemäß begründet, sich unserer Einsicht vom Wesen der Dinge als unüberwindliche Hindernisse entgegenstellen, so muß einer skeptischen Weltanschauung eine viel größere Berechtigung eingeräumt werden, als die von vielen Philosophen geschieht. -

Es soll hier meine Aufgabe sein, den Nachweis zu liefern, daß der Skeptizismus, diejenige Weltanschauung also, die da lehrt, daß das Denken über die Dinge nicht der Ausdruck ihres Seins ist, die notwendige Konsequenz eines kritischen Denkens ist und daß diese Weltanschauung keineswegs so zerstörend und zersetzen auf unsere Vorstellungsbilder einwirkt, wie dies ziemlich allgemein angenommen wird, sondern daß der Skeptizismus vielmehr die ergiebigste Quelle der fruchtbarsten Spekulationen auf dem Feld menschlichen Wissens ist. -

Um jedoch das Wesen des Skeptizismus klarzulegen, erscheint mir ein Rückblick in die Geschichte des Skeptizismus am Platz zu sein, damit der Leser anhand der Historie die Umstände umso besser zu würdigen lernt, die zu den verschiedensten Zeiten den Menschen an der Richtigkeit seines Denkens zweifeln lehrten. -

Schon bei den Eleaten stoßen wir auf den Widerspruch von  Einheit  und  Vielheit,  den sie daraus herleiteten, daß sie  Alleinheit  des Seienden  anerkannten  und dennoch zugestehen mußten, daß sie aus der Annahme der Alleinheit des Seienden die Dinge nicht erklären können, sondern bei der Erklärung der Dinge ihre Zuflucht wieder zur Vielheit nehmen müssen, unter welcher Form uns alle Dinge erscheinen. PARMENIDES erachtete daher alle Erklärungen als einen bloßen Notbehelf, dessen wir uns bedienen, um uns mit den Problemen, die uns überall entgegentreten, so viel es eben geht, abzufinden. Erkenne den "trügerischen Schmuck" meiner Rede! ruft er demjenigen zu, der versucht sein sollte, betäubt vom narkotischen Hauch der Theorien, in irgendwelchen Erklärungen den Ausdruck der Wahrheit zu wähnen.

Die einschlägigsten Beispiele sollen hier ausführlich diskutiert werden, da wir an ihnen die beste Gelegenheit finden, in die Finessen des Skeptizismus einzudringen und sie nie ihre Zugkraft verlieren werden, dem Kritiker den Glauben an das  dogmatische  Denken zu erschüttern. Hierbei sei noch bemerkt, daß wir unter  Dogmatiker  denjenigen Denker verstehen, welcher, von einleuchtenden Grundsätzen ausgehend, den darauf gebauten logischen Schlußfolgerungen unbedingten Glauben beimißt.

Das Beispiel ZENOs vom fliegenden Pfeil ist ebenso bekannt, wie es lehrreich und stets anregend ist.

ZENO schließt folgendermaßen: Wenn es eine Vielheit der Dinge gibt, so müßten wir folgern, daß eine Bewegung aus lauter Ruhezuständen besteht, denn ein fliegender Pfeil z. B. kann dann in einer bestimmten Zeiteinheit - in der Gegenwart - nur eine bestimmte Stelle im Raum einnehmen, und in dieser Zeiteinheit muß er selbstverständlich ruhen. Da dies aber von jeder Zeiteinheit gilt, also auch von der ganzen Zeit, die der fliegende Pfeil braucht, um sein Ziel zu erreichen, so muß sich die Bewegung des Pfeiles aus lauter Ruhestadien zusammensetzen, eine Annahme, die nach ZENOs Meinung dem Denken widerspricht. -

Wir, die wir im Gegensatz zu ZENO an die  Vielheit  der Dinge glauben, müssen zugestehen, daß der fliegende Pfeil in jedem Zeitabschnitt, den wir Gegenwart nennen, in der Tat ruht, und gelangen so zu dem Schluß, daß, da die Zeit aus einer Summe von Gegenwarten besteht, die Bewegung des Pfeiles sich in lauter Ruhestadien auflösen muß, erkennen also diejenige Folgerung an, die ZENO benutzt, um die Vielheit zu widerlegen. Bei der Hypothese aber, daß ein sich bewegender Körper in der Gegenwart ruht, bleibt es unverständlich, wie der in Bewegung gedachte Pfeil, ohne Zeit zu gebrauchen, aus dem einen Ruhestadium in das andere gelangen soll. Es widerstrebt sogar unserem Denken anzunehmen, daß die Ruhestadien einer Bewegung durch eine Art neuer Bewegung vermittelt sein sollen. - Nehmen wir jedoch an, der abgeschossene Pfeil bewegt sich wirklich kontinuierlich, so begreifen wir nicht, daß der Pfeil in der Gegenwart ruht, eine Hypothese, zu der notgedrungen das Denken hinführt, wenn wir nicht das ganze Sein der Dinge, was zunächst nur in der Gegenwart seine Berechtigung hat, in Frage stellen wollen. -

Mit den genannten beiden Annahmen der diskreten und der kontinuierlichen Natur der Bewegung sind aber diejenigen Vorstellungen erschöpft, die wir uns vom Wesen der Bewegung machen können. -

Wir erkennen hieraus, daß das Denken beim Versuch der Ergründung der Bewegung auf Widersprüche stößt, die durch unser Denken, welches sie eben aufgedeckt hat, selbstverständlich nicht zu beseitigen sind, eine Erkenntnis, mit der wir uns vorläufig hier begnügen müssen. -

Ein anderes Beispiel, dessen sich ZENO bedient, um aus den Widersprüchen, zu denen ein Denken führt, welches die Vielheit der Dinge voraussetzt, die Alleinheit des Seienden  indirekt  zu folgern, ist eine an einem Faden herabrollende Kugel. Bei Zugrundelegung einer diskreten Beschaffenheit des Seienden müßten wir schließen, daß besagte Kugel, um das Ende des Fadens zu erreichen, erste die Hälfte des Weges zurückzulegen hat, und dann wieder die Hälfte der noch übrigen Hälfte, usw. Da aber die fortgesetzte Teilung des zu durchlaufenden Weges bis ins Unendliche führen würde, so braucht die Kugel eine unendlich große Summe von Zeiteinheiten, um ihren Weg zurückzulegen, d. h. also die Kugel erreicht nach unendlich viel Zeit erst, oder, was dasselbe besagt,  niemals  das Ende des Fadens, eine Hypothese also, die sich als widersinnig erweist.

Es muß zugestanden werden, daß vom Standpunkt der reinen Logik aus - die ja eine diskrete Beschaffenheit des Seienden annimmt - das Schlußverfahren ZENOs auf  direktem  Weg nicht zu widerlegen ist. - Anders verhält es sich, wenn man die Erfahrung zu Rate zieht, und von dieser ausgehend das Problem der unendlichen Reihe zu lösen versucht, wie dies der Mathematiker tut. In diesem Fall nehmen wir an, daß, dem angeführten Beispiel folgend,  1/2, 1/4, 1/8, 1/16 ...  usw. bis in die Unendlichkeit hinein einen ganz bestimmten Wert, der durch  x  seinen Ausdruck finden mag, liefert. Dies angenommen ist
     2x = 1 + 1/2, 1/4, 1/8, 1/16 ... 
     x = 1/2, 1/4, 1/8, 1/16 ... 

    folglich:  x = 1,  da sich bei dieser Subtraktion alle übrigen Größen aufheben.
Da aber  x = 1/2, 1/4, 1/8, 1/16 ...  ist, so folgt daraus, daß die aufgestellte unendliche Reihe den abgeschlossenen Wert  = 1  ergibt. Die von ZENO aufgestellte unendliche Reihe erweist sich somit als streng mathematisch lösbar, womit dann der von ihm erhobene Einwurf hinfällig wird. - Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, daß wir von der Annahme ausgegangen sind, zu welcher uns die Erfahrung berechtigte, daß die ihm zugestandene Zahlenreihe, obwohl ins Unendliche reichend, dennoch ihren Abschluß finden muß.

Wir erkennen aus diesen Betrachtungen, daß der Begriff des Unendlichen zu (wünschenswerten) Widersprüchen führt.

Bei dem noch in Beziehung zur eleatischen Schule stehenden HERAKLIT treffen wir eine völlige Verzichtleistung auf Erkenntnis, eine Verzichtleistung, welche genannter Denker dadurch zu begründen sucht, daß alle Erscheinungen auf ein fortwährendes Entstehen und Vergehen der Dinge hinweisen, wodurch uns die Objekte der Erkenntnis als beständig dem Wandel unterworfene, entzogen werden. - Wir müssen zugestehen, daß wenn, wie HERAKLIT annimmt, alle Dinge einem kontinuierlichen Wandel unterliegen, die Dinge sich als solche der Einsicht, als überhaupt nicht bestehend, verschließen, womit dann auch der Wandel, dem so kein Wandelbares zugrunde liegt, unverständlich wird. - Andererseits müssen wir aber auch einräumen, daß wenn - wie wir dies tun - in jedem Wandel abgeschlossene Stadien annehmen, wir nicht begreifen können, wie ein Stadium in das andere übergeht. - Das Denken weist auch hier den Widerspruch zwischen den Annahmen der kontinuierlichen und diskreten Natur des Seienden nach, zu welchen  einseitig  berechtigten Hypothese uns das Denken selber führt. -

Im ferneren Verlauf der Geschichte der griechischen Philosophie waren es die im speziellen Sinne "Skeptiker" genannten Denker, die in ganz besonderes Gewicht auf die Beschaffenheit unserer Sinneswahrnehmungen legten, um aus ihnen, als aus einer der Grundlagen aller Erkenntnis, die Unmöglichkeit des Erkennens darzulegen. So erklärt AENESIDEMUS, einer der Hauptvertreter der "skeptischen Schule", daß die Sinneswahrnehmungen uns allein schon deswegen die Einsicht in das Wesen der Dinge entziehen, weil sie stets  unbestimmt  sind und weil sie nie  unmittelbar,  sondern immer durch ein  Medium  erfolgen, dessen verändernden Einfluß wir nicht zu beurteilen vermögen. -

Wir müssen diesem Einwand eine große Berechtigung einräumen, welche zu motivieren hier genügen wird, an die Sinnestäuschungen zu erinnern, sowie an die eigenartige Funktion der Sinnesapparate, deren spezifische Funktion uns berechtigt zu schließen, daß die Sinneswahrnehmungen nur  Symbole  oder Zeichen, nicht einmal Bilder der äußeren Vorgänge sind. Der Verlauf der Studie wird Gelegenheit bieten, auf das Wesen der Sinneswahrnehmungen näher einzugehen; und in der Tat werden wir sehen, wie gerade die Analyse unserer Sinneswahrnehmungen zu einem der mächtigsten Pfeiler des Skeptizismus wird. -

Indem wir so in Kürze die Hauptmomente geltend gemacht haben, die die griechische Philosophie zur Begründung einer skeptischen Weltanschauung beigetragen hat, hielten wir uns selbstverständlich von jenen dort auch vorkommenden  Schein beweisen fern, die in redlicher oder unredlicher Absicht gemacht wurden; um den Zwiespalt im Denken aufzuweisen. Unter  Schein beweisen verstehen wir aber diejenigen Arten von Deduktionen, die unserem Denken nur so lange einleuchtend erscheinen, bzw. einleuchtend erscheinen können, solange wir uns über die innere Notwendigkeit unseres Denkens im Unklaren sind, die so bei scharfer und konsequent fortgesetzter Kritik als im Gedanken unvollziehbar hinfällig werden. -

Im Mittelalter schlief der Skeptizismus wie überhaupt jede wahre Philosophie, weil das von der christlichen Religion übernommene Dogma von vornherein als unantastbare Wahrheit galt, welche zu beweisen der Philosophie, der "Dienerin der Religion", die Aufgabe zufiel, womit selbstverständlich der Philosophie ihre treibende Kraft, nach Wahrheit zu  forschen,  entzogen wurde. Erst in der neueren Zeit, nachdem sich die Philosophie ihr Recht, selbständig nach Wahrheit zu forschen, wieder erobert hatte, tritt in DESCARTES derjenige Denker auf, der den Zweifel an Allem als den Ausgangspunkt aller Philosophie kennzeichnet. Der Zweifel ist jedoch in der Philosophie dieses großen Denkers von keiner langen Dauer, da er nur zu schnellt einem völligen Dogmatismus das Feld räumt. DESCARTES wurde bei höchst scharfsinniger aber einseitiger Veranlagung so zu einem Hauptbegründer unserer modernen Naturwissenschaft wie unserer modernen Psychologie, wobei er der letzteren durch die Unterscheidung von Denken und Ausdehnung, die er erfolgreich auf Geistiges und Materielles in Anwendung brachte, diejenigen Grundpfeiler verlieh, die es dem Dualismus gestatten, den Kampf mit der monistischen Weltanschauung stets mit Erfolg aufzunehmen. -

Erst bei HUME stoßen wir auf denjenigen Philosophen, der den Skeptizismus als Weltanschauung zu Ehren bringt. Es war das Problem der Kausalität, welches HUME zum Gegenstand ergiebiger Untersuchungen dadurch machte, daß er nachwies, daß wir die Begriffe von Ursache und Wirkung, unter denen wir allein imstandes sind, alles Geschehen zu fassen, nicht den Erscheinungen  entlehnen,  sondern vielmehr in dieselben  hineinlegen,  da die Erscheinungswelt uns nur von der zeitlichen Aufeinanderfolge der Dinge berichtet, ohne uns über das  Wie  dieser Aufeinanderfolge zu belehren. Während DESCARTES der Seele angeborene Wahrheiten zuspricht, schreibt so HUME zum ersten Mal dem Geist die Fähigkeit zu, die Erscheinungen unter  ihm eigenartigen,  der  Außenwelt  aber  fremden  Formen zu betrachten, und wird so zum Begründer des modernen Skeptizismus, der ja in der Überzeugung wurzelt, daß die Anschauungsformen, mittels derer wir die Dinge gemäß der Beschaffenheit unseres Geistes betrachten müssen, nicht der Ausdruck des den Dingen Zugrundeliegenden sind.

HUMEs Skeptizismus fiel bei KANT auf fruchtbaren Boden. Mit höchst kritischem Geist begabt, suchte KANT in seiner "Kritik der reinen Vernunft" festzustellen, was beim Zustandekommen unserer Erkenntnis von aßen, was von innen stammt, bei welcher Zergliederung unseres Erkenntnisvermögens sich ergab, daß Raum und Zeit angeborene Anschauungsformen der Seele sind, dessen sie sich bedient, um die Dinge in das Reich ihrer Betrachtung zu ziehen. So sehr wir auch von Allem abstrahieren mögen, was uns die Sinne zuführen, so bleiben doch immer die Anschauungsformen von Raum und Zeit als unauslöschlicher Rahmen übrig, in den wir den Inhalt des durch die Sinne Gebotenen fassen. - In meinen in dieser Zeitschrift erschienenen Abhandlungen "Zum Verständnis der Sinneswahrnehmungen" (I-VII, 1877-1881) habe ich nachgewiesen,  wie  die Seele unbewußt aufgrund gewisser Nervenreize auf eine Außenwelt schließt und wie sie diese Außenwelt auch unbewußt in das Gewand von Raum und Zeit kleidet, wobei sich die durch die Sinne wahrgenommene Bewegung gleichfalls als das Resultat eines unbewußten Schlusses herausstellte, welcher die primitive Sinneswahrnehmung in eine sekundäre umwandelt. Viele experimentelle und theoretische Belege hierfür habe ich noch in einem kleinen Werk "Beiträge zu einer exakten Psycho-Physiologie" später veröffentlich. -

So ist dann weder Raum, noch Zeit, noch Kausalität, noch Bewegung als ein Etwas, wie wir es uns denken müssen, in der Außenwelt vorhanden. Raum, Zeit, Bewegung, Kausalität sind vielmehr  höchstens  Symbole von einer Außenwelt, wie Licht, Farbe und Ton, auch nur gemäßt der Gesetze der spezifischen Sinnesenergien Symbole oder Zeichen der Außenwelt sind, eine Annahme, zu der sich sämtliche Vertreter der Physiologie der Sinne bekennen. KANT hat daher vollkommen Recht, wenn er das  "Ding-ansich als der Erforschung unzugänglich erklärt und unsere Erkenntnis allein auf den Kreis unserer  Vorstellungen  beschränkt. Hier wirft sich dann die Frage auf, ob innerhalb des durch unsere Vorstellungen bedingten Horizontes eine widerspruchsfreie Erkenntnis möglich ist, wobei wir selbstverständlich, um es nochmal hervorzuheben, ganz darauf verzichten, jene Außenwelt zu ergründen, auf deren Dasein wir schließen müssen, von deren Existenz wir überzeugt sind, die uns aber nie als solche, sondern stets durch Medien entstellt, deren verändernden Einfluß wir aber nicht zu beurteilen vermögen, zum Bewußtsein kommt, bei welcher Erkenntnis wir lebhaft an die "Skeptiker" des griechischen Altertums erinnert werden. -

In Bezug aber auf die Frage, ob ein widerspruchsfreies Erkennen innerhalb des Kreises unserer Vorstellungen möglich ist, müssen wir antworten, aß auch hier das Denken Widersprüche im Denken aufweist. KANT war der erste, der in seiner Kr. d. r. V. durch die von ihm aufgestellten "Antinomien", an denen er zeigt, daß wir aufgrund des Denkens, von einleuchtenden Axiomen ausgehend, zu sich widersprechenden Resultaten gelangen können, den im Denken liegenden Zwiespalt in voller Erkenntnis der Tragweite seines kritischen Schlußverfahrens, unwiderleglich aufdeckte, womit KANT zum Begründer eines Skeptizismus wird, der in der Natur unseres Denkens das nicht zu beseitigende Hindernis erkennt, welches uns ein einheitliches Verständnis unserer Vorstellungen entzieht. - Die von KANT aufgestellten Antinomien erstrecken sich auf das Problem der Unendlichkeit in Bezug auf Raum, Zeit, Teilbarkeit der Materie und auf Kausalität. Da aber in unserem Geist die Forderung liegt, für jedes Geschehen eine Anfangsursache, eine  causa sui,  vorauszusetzen, wie andererseits das Denken auch gewaltsam dazu nötigt, die Kausalität bis ins Unendliche hin auszudehnen, so schwankt der Boden unseres Denkens unter unseren Füßen. Logik streitet hier gegen Logik. Sich widersprechende Resultate müssen vom Denken anerkannt werden. Selbst für  unseren  Vorstellungskreis wissen wir z. B. nicht, ob wir Atome annehmen oder die Materie als kontinuierlich erachten sollen, ob wir einen Urheber des Weltgebäudes anerkennen, oder eine seit Ewigkeit wirkende Notwendigkeit voraussetzen müssen, ob Gesetz oder Zufall das unverstandene Weltgetriebe regiert; denn solange die gemachten Annahmen für das kritische Denken zu Widersprüchen führen, ist für unseren Geist, der nur im  widerspruchsfreien  Denken den Ausdruck der Wahrheit erkennen kann, die zu erstrebende Wahrheit noch nicht gefunden. - Was würde es auch dem Denker frommen, eine  unverstandene  Wahrheit gefunden zu haben! -

Die schwerwiegenden Folgerungen, zu denen die genannte kantische Kritik führte, erkannte HEGEL, der unfähig, sie zu widerlegen, sie zum Grundstein seines Systems benutzte und so eine Art von Philosophie aufstellt, die den Skeptizismus durch den Skeptizismus zu überwinden trachtet. Dieser Versuch, den Skeptizismus durch Skeptizismus zu ersticken, ist ein so eigenartiger und ein so die Gestaltung der Philosopihe zeitweilig beeinflussender gewesen, daß er hier erwähnt werden muß.

HEGEL benutzte, wie gesagt, den durchgreifenden Widerspruch, zu dem das Denken führt, um den Zweifel an der Richtigkeit unseres Denkens durch den Zweifel selbst zu beseitigen. Zu diesem Zweck verlegt HEGEL den Widerspruch, er im Denken liegt, nach  außen  und  erhebt den Widerspruch zum Weltprinzip.  Der  Widerspruch  ist nach ihm das  Weltgesetz,  welches die treibende Kraft der gesamten Weltrevolution wird. Der Widerspruch duldet keinen Stillstand, da nur das Widerspruchslose im Sein verharren kann. So überbrückt dann anch ihm das  Werden  das  Nichts  mit dem  Sein,  da beide Zustände der Dinge im Werden enthalten sein sollen. Der Zwiespalt, den unser Denken scheut, ist demnach das Spiegelbild der in der Natur beständig wirkenden Gegensätze oder richtiger gesagt, der in der Natur stets wirksamen Widersprüche. -

Die für die Richtigkeit dieser kühnen Idee scheinbar sprechende phänomenale Welt wirkt für den Augenblick so bestechend auf den Denker, daß es gewiß die Mühe lohnt, ein System eingehender zu beleuchten, welches fast ein halbes Jahrhundert lang die Mehrzahl der spekulativen Köpfe derartig fesselt, daß sie, wie von Zauberbanden umstrickt, nicht die Fesseln ahnten, die sie sich selbst, ohne dessen gewahr zu werden, angelegt hatten. - Um dies zu zeigen, mögen nachfolgende Betrachtungen über HEGELs System dienen:

Zugegeben, daß ein Widerspruch in der Natur liegt, der uns, die wir ja ein Teil der Natur selbst sind, durch das Denken zum Bewußtsein kommt, so folgt hieraus, daß wir, die wir in unserem Denken, der Natur unseres Geistes Rechnung tragend, eine widerspruchsfreie Lösung des Weltproblems erstreben, diesen Widerspruch nicht zwecks unserer Erkenntnis zu verwerten wissen. Es leuchtet uns bei weitem mehr ein, daß der durch das Denken aufgedeckte Widerspruch nicht  außen,  sondern  in uns  liegt, weil eine unter der Form des Widerspruchs wirklich bestehende Welt gar nicht zu denken ist. Viel näher liegend, viel verständlicher muß die Annahme erscheinen, daß ein Schöpfer die Organisation unseres Denkens so eingerichtet hat, daß wir die in der Natur liegende Harmonie nicht vernehmen, sondern nur gebrochene Strahlen eines großen, unfaßbaren Lichts schauen. -

HEGEL begnügt sich aber nicht, den Widerspruch zum Weltprinzip zu erheben, sondern versucht auch, aus diesem Widerspruch die Welt zu erklären. Zu diesem Zweck verlangt er, daß wir die Welt nicht allein mit dem Auge des  "Verstandes",  der den Widerspruch  aufdeckt,  sondern auch mit dem Auge der  "Vernunft",  die den Widerspruch  aufheben  soll, betrachten. Zwei Widersprüche, Thesis und Antithesis, sollen sich für die  "Vernunft"  zu einer Einheit verbinden (Synthesis), in der beide Widersprüche ihre Lösung finden usw. -

Ich muß gestehen, daß diese Art und Weise zu denken, die HEGEL in die Philosophie eingeführt hat, daß mir diese seine "Dialektik", auf ihren  Inhalt  bezogen, ganz unverständlich ist, und überlasse es so dem Leser, welchen philosophischen Wert er ihr beilegen will, indem ich von der Voraussetzung ausgehe, daß eine Überzeugung nur soweit möglich ist, wie  mein  Denken dem Denken eines anderen, mit dem ich in eine Ideenaustausch trete, konform ist. - Immerhin muß zugestanden werden, daß dem Hegelianismus unter anderem das große Verdienst  mit  gebührt, den Sinn für  spekulatives  Denken genährt zu haben. -

Soviel steht aber fest, was hier das Wichtige ist, daß HEGEL den Skeptizismus nicht überwunden hat, wofür unter anderem auch die Umstände sprechen, daß die HEGELsche Schule stark im Abnehmen begriffen ist, und daß sich gerade in unserer Zeit ein Zurückgreifen auf die Kritik KANTs (der reinen Vernunft) Geltung verschafft, womit dann auch einer skeptischen Weltanschauung heute ein viel größeres Recht eingeräumt wird, als dies noch vor wenigen Jahren geschah. -

Wenn aber einige Philosophen, die  unbedingt  der monistischen oder dualistischen Weltanschauung huldigen, meinen, der Skeptizismus bricht dadurch, daß er die widerspruchsfreie Einsicht in das Wesen der Dinge in Abrede stellt, in sich selbst zusammen, so übersehen sie hierbei, daß der Skeptizismus nur deswegen die Möglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit als solcher für unser Denken bestreitet, weil er von der Voraussetzung ausgeht, daß, solange wir die Dinge unter der Form des Widerspruches noch denken können, keine absolute Wahrheit für uns verbürgt ist, es sei denn diejenige,  daß ein Denken - wenn vielleicht auch nicht vorhanden -  gedacht werden kann, welches die Dinge widerspruchsfrei erfaßt,  wobei diese Voraussetzung unser gesamtes Denken so ausnahmslos durchzieht, daß der Skeptiker selbst nur auf diesen Grundsatz hin die Widersprüche in unserem Denken nachzuweisen vermag. Denn wie käme der Skeptiker dazu, von  Widersprüchen  zu reden, wenn er nicht von der Widerspruchslosigkeit des Seienden überzeugt wäre! - Leider ist das uns angeborene Denken nicht das Denken, welches das Widerspruchslose in den Dingen zu erfassen vermag. - In diesem Punkt ist also auch der Skeptiker Dogmatiker; denn einen  Ausgangspunkt  muß es geben, wenn überhaupt ein Philosophieren möglich sein soll. -

In Anbetracht der Bedeutung des Skeptizismus ist jedoch zu erwähnen, daß der Skeptizismus der Aufgabe der Philosophie, nach Wahrheit zu forschen, im vollsten Maß, wie gezeigt worden ist, genügt, indem er, unfähig den durch das Denken aufgedeckten Widerspruch zu beseitigen, den Widerspruch nicht in die Dinge als solche verlegt, sondern auf Kosten unserer Zufriedenheit dem Denken selbst zuschreibt. Daß hierdurch unser Gesichtskreis nicht verengt, sondern nur erweitert werden kann, ist klar. Vieles muß dem Skeptiker zu Bewußtsein kommen, was eine dogmatische Weltanschauung ihrer Natur gemäß dadurch verschleiert, daß sie es, der es ja darauf ankommt, die unanfechtbaren Ausgangspunkte möglichst schnell aufzufinden, um ein System oder Lehrgebäude darauf zu errichten, der Forschung entrückt.

Wäre die Überzeugung von der Unfähigkeit unseres Denkens, die Wahrheit zu ergründen, mächtig genug, den Flug des nach Wahrheit forschenden Geistes zu lähmen, so würde der Skeptizismus auf die Dauer den Fortschritt der Philosophie wohl dadurch hemmen können, daß er Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit anstelle eines rastlosen Strebens dem nicht zu lösenden Weltproblem gegenüber im Gefolge hat. Da aber der menschlichen Seele der nie zu erstickende Drang nach Erforschung der Wahrheit innewohnt, so wird der Skeptizismus stets ein gewaltiger Hebel  erneuter  Forschung sein. Viel eher als vom Skeptizismus ist von den (abgeschlossenen) philosophischen Systemen zu fürchten, daß sie dem Fortschritt der Philosophie Fesseln anlegen. Die Arbeit des Architekten ist hier ja getan; es bedarf hier nur noch der geschickten Handwerker, um dasjenige auch aus- und durchzuführen, was der Genius bereits entworfen hat. -

Indem aber der Zweifler, der solchen kühnen Lehrgebäuden nur einen beschränkten Wert beimessen kann, im Boden der Erkenntnistheorie nach noch unentdeckten Schätzen gräbt, ist es keineswegs unwahrscheinlich, daß er neue Axiome ans Licht fördert, die nicht nur der Bereicherung seiner Erkenntnis dienen, sondern die auch für die  Fach wissenschaften von großem Nutzen sein können. Die Geschichte der Wissenschaften liefert hierfür zahlreiche Belege. (Ich erinnere nur an die Aufstellung der höheren Mathematik.)

Jeder Skeptiker wird mit mir wohl darin übereinstimmen, daß zur Aufstellung einer Fachwissenschaft ein  Dogmatismus  geboten ist, der ja, wie zu Anfang dieser Studie gesagt, von einleuchtenden Axiomen ausgeht und hierauf seine Folgerungen gründet. Diese Axiome können erst dann ihre Berechtigung für die Fachwissenschaft verlieren, wenn sich das zu bewältigende Material ihrem Rahmen nicht mehr anbequemt und wenn neue gefunden worden sind, die eine größere Tragweite besitzen. Wie wichtig aber die in den Fachwissenschaften gewonnenen Resultate für die gesamte Philosophie sind, bedarf keiner Erwähnung für denjenigen, der weiß, wie sehr wir der induktiven Methode in der Philosophie bedürfen. Die Philosophie als die "Wissenschaft der Wissenschaften" muß im kleinsten wie im größten Kreis forschen. Überall findet sie ihre Nahrung. -

Wenn aber der Skeptiker einer monistischen oder dualistischen Weltanschauung - von denen er zugeben muß, daß sie die alleinigen Gefäße sind, in denen wir den Inhalt des Welträtsels fassen könnten - nicht  unbedingt  huldigt, so geschieht dies nur aus dem Grund, weil er sich der Schwächen beider Weltanschauungen vollkommen bewußt ist. Nur eine mehr oder weniger größere Wahrscheinlichkeit kann ihn hier bestimmen, der einen oder der anderen Weltanschauung den Vorzug einzuräumen.
LITERATUR - Eugen Dreher, Das Wesen und die Bedeutung des Skeptizismus, Zeitschrift für Philosophie und philosopische Kritik, Neue Folge, Bd. 84, Halle/Saale 1884