ra-2Gott und der StaatAnfänge des AnarchismusAnarchie    
 
RUDOLF STAMMLER
(1856-1938)
[mit NS-Vergangenheit]
Die Theorie des Anarchismus

"Proudhon ist immer  aktuell.  Er hat stets die innigste Fühlung mit der lebendigen Gegenwart; er reibt sich beständig an ihr; wo sich ein Problem aufwirft, sofort ist er zur Stelle; er erfaßt es zunächst in  der  Beleuchtung, welche die Gegenwart demselben zuweist; gräbt dann von hier aus in die Tiefe, wirft einige Goldklumpen von Gedanken heraus und nagelt schließlich das Resultat in irgendeiner Formel fest, die den Leser, welcher seine Art, vorwärts zu schreiten, nicht kennt, mehr verblüfft als überzeugt, mehr blendet als erhellt."

"Eine liberale Rechtsordngung, sagt Stirner, erkennt als entscheidende rechtliche*Macht  die Mehrheit  an. Dadurch aber wird nur der Herr gewechselt, die Sache der Zwangsorganisation und der dadurch unvermeidlichen Gewalt dem Einzelnen gegenüber bleibt bestehen."

"Der Drang nach einer  bestimmten  Freiheit schließt stets die Absicht auf eine neue  Herrschaft  ein, so daß dann zwar die Revolution ihren Verteidigern das erhebende Gefühl geben konnte, für die Freiheit zu kämpfen, in Wahrheit aber nur, weil man auf eine bestimmte Freiheit, darum auf eine neue Herrschaft, die  Herrschaft des Gesetzes,  ausging."

"Man vermag niemals einen Begriff vom Staat zu geben vermag, ohne denjenigen des Rechts schon vorausgesetzt zu haben. Dieser ist das logische Prius. Man kann die Rechtsordnung definieren, ohne auf die staatliche Organisation im Geringsten Bezug zu nehmen; nicht aber ist es möglich, von einer Staatsgewalt zu reden, es sei denn, daß man rechtliche Bindungen von Menschen dabei in Gedanken hätte. Wer angibt, daß die rechtliche Norm eine staatlich geschaffene Regel ist, hat unbewußt das zu Definierende in die Begriffsbestimmung selbst wieder aufgenommen."

"Manche sozialistische Schriftsteller sind der Gefahr erlegen sind, gegenüber der Lehre des Anarchismus kurzerhand auf den Sozialismus als die allein richtige Gesellschaftsordnung hinzuweisen und mit dem leicht hingeworfenen Gegensatz von Egoismus und Brüderlichkeit die hier interessierende Frage abzutun. Diese Autoren werden der Theorie des Anarchismus und deren wissenschaftlicher Bedeutung überhaupt nicht gerecht. Sie verfehlen die systematische Stellung, welche dieser Theorie innerhalb der Sozialwissenschaft zukommen muß. Es sollte nicht übersehen werden, daß die anarchistische Doktrin wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden kann, sofern man eben nur einmal vorurteilslos dem Gang ihrer Gedanken folgt."

Vorwort

Die nachstehende Abhandlung entspricht in ihrem Kern inhaltlich einem Vortrag, den ich am 7. Dezember 1893 im Kaufmännischen Verein zu Magdeburg gehalten habe.

Eine Klärung der theoretischen Grundlagen unserer heutigen anarchistischen Bewegung dürfte nachgerade dringend angebracht erscheinen und den Interessen weiterer Kreise entgegenkommen. Dem Juristen und Nationalökonomen vom Fach werden die Erörterungen über Rechtssatzung und Konventionalregel, sowie meine Begründung des rechtlichen Zwanges Neues zu bieten imstande sein.



I.

Die sich mehrenden Mordanschläge und verbrecherischen Attentate, die in neuester Zeit von anarchistischer Seite ausgegangen sind, haben in weiten Kreisen die Vorstellung erwecken müssen, als ob man es beim Anarchismus nur mit einer Bande halbverrückter und vertierter Fanatiker zu tun habe. Es ist ganz in Vergessenheit geraten - oder vielleicht niemals besonders weit bekannt worden -, daß es eine  Theorie des Anarchismus  gibt, welche eine hochbedeutsame Rolle in der Sozialphilosophie allezeit spielen muß; die zwar von diesen jetzigen Anarchisten nicht sowohl in eine fluchwürdige Praxis umgesetzt, als vielmehr in sich ganz und gar verzertt und widersinnig gelehrt wird, die jedoch in ihrer reinen Gestalt als eine eigene Philosophie des gesellschaftlichen Lebens von der Sozialwissenschaft niemals ignoriert werden darf und von dieser bis jetzt noch nicht wissenschaftlich überwunden worden ist.

Wenn wir dem gegenüber im folgenden eine Darstellung und Widerlegung der Theorie des Anarchismus geben wollen, so wird es wünschenswert sein, zuvor einige verbreitete Mißverständnisse zu heben, die einer vorurteilslosen Würdigung der einschlägigen Fragen hindernd im Weg stehen.

Hierher gehört vor allem eine Verwechslung oder Zusammenwerfung der  anarchistischen  Doktrin mit dem  Sozialismus. 

Es ist einer der landläufigsten Irrtümer unserer Tage, daß der Anarchismus nur eine besondere, weit fortgeschrittene Spielart des Sozialismus sei. In dem Grad fanatischer Erregtheit, meint man, oder im gewünschten Tempo des Vorgehens, vielleicht auch in den zur Anwendung zu bringenden Mitteln, da sei vielleicht einiger Unterschied zu entdecken; in der Sache aber laufe beides auf das Gleiche hinaus.

Und doch ist diese Ansicht grundfalsch und sachlich ganz und gar indiskutabel. Auch derjenige, der in den beiden genannten Richtungen, die sich heute in den Kulturländern westeuropäischer Gesittung überall gleichermaßen feindselig gegen die überlieferte Gesellschaftsordnung wenden, nur verderbliche Krankheiten sehen will, würde mit der vorhin besprochenen Konfusion das gleiche naive Urteil abgeben, als wenn er sagte: Cholera und Gehirnentzündung sind beides todbringende Übel, also auf dieselben Gründe zurückzuführen.

Der Sozialismus umspannt bekanntlich alle politischen Richtungen, deren Absicht eine planmäßige Rechtsorganisation der wirtschaftlichen Produktion auf dem Weg der Kollektivierung (Überführung in das Eigentum der Gesellschaft) der Produktionsmittel ist.

Während einst die Erzeugung der für das Leben nötigen, nützlichen und angenehmen Güter innerhalb der menschlichen Gesellschaft einzelnen Unternehmern überlassen ist, die in Ungebundenheit, jeder für sich mit Lohnarbeitern, hervorbringen und auf den Markt werfen, was ihnen gut dünkt; und während heute - nach dem Stichwort der Sozialisten - eine "anarchische" Produktionsweise herrscht: so würde nach dem Grundgedanken der sozialistischen Rechtsordnung das wirtschaftliche Leben in planmäßig berechneter Art durch die hierfür organisierte Gedamtheit beherrscht und die ökonomische Produktion von großen Zentralpunkten aus geleitet werden. Dabei könnten die Produktionsmittel, der Grund und Boden, Fabriken und Maschinen, Handwerks- und Ackergerät etc. natürlich nicht dem Produzenten zum endgültigen Recht verbleiben, sondern wären in das Eigentum der Rechtsgemeinschaft überzuführen, wie es heutzutage mit den  res publicae,  als Straßen, Wegen, Plätzen, Brücken usw., der Fall ist. Privateigentum würde es nur an Konsumartikeln geben, während es an den Produktionsmitteln rechtlich verboten sein würde.

Auf die Begründung dieses sozialistischen Postulates, insbesondere auf die von allen Seiten viel zu wenig gewürdigte materialistische Geschichtsauffassung, ist an dieser Stelle nicht einzugehen; ich habe das Gesagte nur hervorgehoben, um es im Gegensatz zum Anarchismus vorzustellen und zur Klarheit über diesen Kontrast zu gelangen. Und da ist nun zu bemerken, daß nach den eben gemachten Andeutungen der Sozialismus sich  gegen den Inhalt  des bestehenden Rechts, vor allem gegen das überlieferte Privateigentum an den Produktionsmitteln, wendet; daß er eine Entwicklung anstrebt und begünstigt, die der rechtlichen Ordnung zwar eine andere Richtung ihrer Bestimmungen zuweist, den rechtlichen Zwang als solchen aber nicht nur aufrechterhalten muß, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach, namentlich in etwaigen Übergangsstadien, ganz erheblich verschärfen und in mannigfachster Hinsicht anspannen müßte.

Ganz anders der Anarchismus. Er wendet sich  gegen die rechtliche Zusammenfassung überhaupt.  Nicht deshalb ist ihm der jetzige soziale Zustand zuwider, weil die rechtlichen Satzungen in demjenigen,  was  sie bestimmen, sich vergreifen, weil sie unpassend, veraltet und hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben seien, die sie hemmten, anstatt sie zu fördern; sondern er feindet das Bestehende aus dem Grunde an, weil überhaupt eine  Zwangsorganisation  da ist.

Jedweder Zwang, den ein Mensch auf den anderen oder auch ihrer viele gegenseitig aufeinander ausüben, auch der sogenannte rechtliche Zwang, ist nach der hier behandelten Lehre in sich ein Unrecht und kann als solches niemals begründet werden. Recht und Gerechtigkeit sind nur Hirngespinste; es sind Jllusionen, denn alle angebliche rechtliche Anordnung kann gar nichts anderes sein als die rohe Macht der jeweiligen Gewalthaber.

Welches Bild, so fragt der Anarchist, bietet denn Eure Rechtsordnung einer allgemeinen Betrachtung dar? Es ist doch einfach dieses, da der eine Mensch zum andern (auf die Zahl kommt es hierbei nicht an) befehlend sagt: Betrage Dich so und nicht anders, oder ich zwinge Dich zu jenem und Du wirst schlecht behandelt. Von der kleinsten Polizeiverordnung bis zum weittragendsten Gesetz, dessen juristische Bedeutung erst an des Reiches Grenzen ihr Ende findet oder sie sogar im sogenannten Völkerrecht überschreitet, ist immer die gleiche Erscheinung von Zwangsbefehlen gegeben, die Menschen gegen Menschen erlassen. Wie ist das begreiflich? Worin ist es berechtigt? lautet die Frage des Anarchisten. Gar nicht, antwortet er selbst. Es ist anmaßende Gewalt, wenn mich jemand gegen meinen Willen zu bestimmen sucht, und es verstößt in unversöhnlicher Weise gegen meine natürliche Freiheit - umso mehr, als man ja in diese überlieferte Zwangsorganisation hineingeboren wird, ungefragt und ungewünscht eintreten muß und darin zu verbleiben hat, bis man später mit unbegreiflicher Erlaubnis dritter Menschen vielleicht ausscheiden darf.

Aber soll denn alles drunter und drüber gehen, wird man einwenden? Wird nicht damit eine allgemeine Anordnung angestrebt, in der die Menschen, wilden Tieren gleich, feindselig kämpfend durcheinander laufen würden?

Eine in derartigen Fragen aufgestellte Vermutung würde die Meinung der Theorie des Anarchismus mitnichten treffen. Denn dieser ist ganz und gar nicht zu verwechseln mit dem Zustand der  Anarchie.  Beim letzteren wird gerade vorausgesetzt, daß ein wirklicher Staatsverband und eine bestimmte Rechtsordnung bestehen, dieselben aber ohnmächtig sind, sich in die Tat umzusetzen und ihren Bestimmungen eine Realisierung zu verschaffen. Ein solcher trübseliger sozialer Zustand, wie ihn jeder Bürgerkrieg leicht zeitigt, beispielsweise aber auch die Faustrechtsanarchie fast während des ganzen Mittelalters darstellte, bedeutet nun freilich nichts als Gewalt und feindselige Roheit, die eben unter dem Recht und trotz des bestehenden rechtlichen Zwangs geschieht: mit der Frage und dem Wunsch nach sozialer Organisation ohne Anwendung von Rechtsordnung und Staatsbefehl hat der Zustand der Anarchie in diesem Sinne nichts zu tun.

Die Theorie des Anarchismus fordert Ordnung im menschlichen Zusammenleben und erstrebt eine Harmonie des gesellschaftlichen Daseins; aber es soll eine andere Ordnung sein als die staatliche und rechtlicher Zwang hat ganz und gar aus dem Spiel zu bleiben. 

Wie hat man sich dies nun positiv vorzustellen? Welche  anderen  Möglichkeiten  ordnender  Organisation der menschlichen Gesellschaft verbleiben denn, außer der  juristischen? 

Die Antwort auf diese Fragen wird von der Theorie des Anarchismus nicht einhellig gegeben. Man findet in ihr vielmehr zwei verschiedene Richtungen, die für die Organisation des sozialen Lebens zwar gleichmäßig den Rechtszwang verwerfen, dafür aber zwei voneinander abweichende Ordnungen postulieren. Sie knüpfen jeweils an die Namen der beiden Männer an, auf welche eine  positiv  aufbauende Theorie des Anarchismus, in seiner Gegensätzlichkeit zur juristischen Zwangsordnung zuerst zurückführt, wobei  der Zweifel:  ob und wie die verbindende Geltung des Rechts überall zu begründen sei? - selbstverständlich so alt ist wie die Geschichte der Rechtsphilosophie selbst.

Jene Autoren sind: PIERRE-JOSEPH PROUDHON (1809 - 1865) und der unter dem Pseudonym MAX STIRNER bekannt gewordene KASPAR SCHMIDT (1806 - 1856).

II.

Es gibt kaum einen sozialwissenschaftlichen Denker, über dessen Wert und Bedeutung die Ansichten in der einschlägigen Literatur so geteilt und auseinandergehend sind wie über PROUDHON. Und diese Meinungsverschiedenheit bezieht sich nicht nur auf seine Begabung und geistige Größe, die von eifrigen Verehrern ebensosehr erhebend betont wird, wie sie von anderen, wie besonders von KARL MARX, geleugnet worden ist; sondern es besteht namentlich keine Einstimmigkeit über das Verhältnis und die Zusammensetzung seiner Lehren.

Man weiß, daß PROUDHON während seiner Schriftstellerlaufbahn eine ungemein lebhafte Entwicklung durchgemacht hat; und die Literaturhistoriker teilen seine Gesamttätigeit gewöhnlich in drei Perioden, deren erste mit der Februarrevolution abschließt, während die zweite die unmittelbar nächsten Jahre nach dieser umfaßt. Aber während DIEHL, der eingehendste Biograph unseres Autors (1), zu dem Ergebnis gelangt, daß sich im Ideengang des geistvollen Denkers innerhalb seiner Entwicklung so viele Schwankungen und oft ganz unvermittelte Meinungsänderungen finden, daß die eine Eigentümlichkeit PROUDHONs, seine widerspruchsvolle Natur in augenfälliger Weise hervortritt: so versichert MÜLBERGER (2), ein genauer Kenner und großer Bewunderer PROUDHONs, daß dessen Lehre trotz aller geistigen Evolution des Urhebers inhaltlich einen einheitlichen, ebenso grandiosen wie logischen Gedankenbau von strenger Folgerichtigkeit darstellt. daß sich eigentümliche Differenzen und widersprechend erscheinende Lehren in den Schriften PROUDHONs finden, kann MÜLBERGER nicht in Abrede stellen; aber ähnlich wie JUSTINIAN für sein Gesetzbuch fordert er, daß man nur in die Gründe der anscheinenden Antinomien mit einem tieferen Studium eindringen muß, um den angeblichen Widerspruch durch so eine schärfere Erwägung in eine versöhnende Einheit aufzulösen.

Diese Sachlage erweist sich nun besonders kritisch hinsichtlich unseres Themas: der von PROUDHON zuerst in positiver Schärfe aufgestellten Doktrin des Anarchismus. Auch hier findet sich, daß er in späteren Lebensjahren frühere Lehren widerruft oder auch so neue und widersprechende Sätze aufstellt. Die Theorie des Anarchismus gehört bei ihm den Schriften seiner ersten Periode an. Schon in seiner allbekannten Schrift "Qu'est-ce que la propriété? (1840) - mit der viel umstrittenen Formel "la propriété c'est le vol" [Eigentum ist Diebstahl. - wp] bekennt sich der Verfasser als Anarchist; sodann aber entwickelt er in einer ausführlichen Darstellung eine eigene Theorie des Anarchismus in den beiden Werken "Les confessions d'un révolutionaire" (1849) und "Idée générale de la révolution au XIXiéme siécle" (1851). In seinem zweiten literarischen Abschnitt aber veröffentlich er sein Werk "Du principe fédératif" (1852), worin er erklärt, daß das Ideal des Anarchismus niemals verwirklicht werden kann, daß vielmehr die richtige soziale Organisation der Föderalismus sei. Hierunter versteht er eine weitgehende Dezentralisation und eine Organisation in kleinen politischen Gruppen, die durch einen rechtlichen Föderalvertrag unter einer lediglich überwachenden und nur bei Zustimmung aller föderierten Regierungen dekretierenden Zentralgewalt zu vereinigen seien.

Das Ideal ist also immer noch der Anarchismus. Aber in welchem logischen Verhältnis nun der Föderalismus zu jenem stehen soll, wird wiederum nicht klar. MÜLBERGER mag auch hier Recht haben, wenn er im allgemeinen bemerkt, daß gewisse Voraussetzungen, mit denen wir in Deutschland an die Werke der Denker heranzutreten pflegen, bei dem besprochenenn Schriftsteller nicht zutreffen. "PROUDHON ist immer  aktuell.  Er hat stets die innigste Fühlung mit der lebendigen Gegenwart; er reibt sich beständig an ihr; wo sich ein Problem aufwirft, sofort ist er zur Stelle; er erfaßt es zunächst in  der  Beleuchtung, welche die Gegenwart demselben zuweist; gräbt dann von hier aus in die Tiefe, wirft einige Goldklumpen von Gedanken heraus und nagelt schließlich das Resultat in irgendeiner Formel fest, die den Leser, welcher seine Art, vorwärts zu schreiten, nicht kennt, mehr verblüfft als überzeugt, mehr blendet als erhellt."

Unter so bewandten Umständen und in weiterer Erwägung, daß die anarchistische Gedankenreihe PROUDHONs für die Entwicklung des Anarchismus überhaupt von grundlegender Bedeutung geworden und geblieben ist, und man in der einen Richtung der Theorie des Anarchismus, mit mehr oder weniger Recht stets auf PROUDHONsche Ausführungen zurückgeht, ohne sich darum zu kümmern, daß ihr Urheber selbst später wesentliche Modifikationen aufgestellt hat, - so schlage ich vor, diese sachlich interessante Erwägung für sich systematisch ausführen zu dürfen.

Es ist also keine Zeichnung von PROUDHONs Lehre überhaupt, noch eine aus dem Zusammenhang seiner Philosophie fließende Einzeldoktrin, die ich gebe, ja ich möchte uns auch gar nicht in die Fülle von Kontroversen über Auslegung und mögliche Vereinigung von verschiedenen Stellen seiner Werke verstricken. Wir wollen vielmehr die von ihm ausgesprochenen Gedanken benutzen, um systematisch die eine Möglichkeit der Erwägung anarchistischen sozialen Lebens vorzustellen, selbst auf die Gefahr hin, die historische Exaktheit dadurch nicht unwesentlich zu verletzen, daß wir eine unklare und vielleicht nicht ausgedachte Deduktion von uns aus klären und vervollständigen. Für den systematischen Wert eines Gedankes ist die Frage von seiner geschichtlichen Entstehung ganz gleichgültig, und seine Fruchtbarmachung für unseren wissenschaftlichen Aufbau kann durch die entscheidende Loslösung aus historischen Zufälligkeiten nur gefördert werden.

Jene Gedankenreihe, deren Erwägung von bleibendem Wert für den Sozialphilosophen sein muß, ist nun die nachstehende.

Für das Zusammenleben der Menschen besteht eine  natürliche  Ordnung. Der menschliche Verkehr, die wirtschaftliche Produktion und aller Handel und Wandel, würden sich schon an und für sich nach einer gewissen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeit abwickeln un in dem fall, daß man sie absolut frei und ungestört gewähren ließe, sich in einer naturgemäßen Harmonie vollziehen. Diese naturgesetzliche Ordnung des gesellschaftlichen Daseins der Menschen würde also der Art nach ebenso vorgestellt werden müssen wie diejenige des Bienenschwarms, eines Ameisenvolkes oder des oft bewunderten Biberstaates. Und wie bei diesen Tieren Ordnung und Harmonie herrscht, indem sie nur den permanenten Naturgesetzen ihrer Vereinigung folgen, so besteht auch für das menschliche soziale Leben eine natürliche Gesetzmäßigkeit; - nur der Unterschied ist zwischen beiden Klassen der genannten Gemeinschaften vorhanden, daß der Mensch die Gesetzes seines Gesellschaftslebens wissenschaftlich zu erkennen imstande ist, während dies den Tieren abgeht.

Diese Gesetzmäßigkeit tritt in der natürlichen Harmonie der sozialen Funktionen zutage; ihr ist die menschliche Gesellschaft in gleicher Weise unterworfen wie der einzelne Organismus. So wie das Herz pulsiert, die Lunge atmet, so gibt es auch soziale Funktionen, die sich in den einzelnen Akten des geschäftlichen Verkehrs, der Erzeugung und des Umsatzes wirtschaftlicher Güter, darstellen. Es ist dieser menschliche Verkehr, alle Produktion irgendwelcher Art, der stete Austausch von Sachgütern und Arbeit, das ganze Getriebe des Handels und Wandels, das bei all seinem tausendfältigenn Durcheinandergehen und gegenseitigem eingreifenden Sichberühren, bei seiner anscheinend wirren Ausgestaltung und Regellosigkeit in der Tat doch einer festen einheitlichen Gesetzlichkeit untersteht. Man braucht sie, meint PROUDHON, nur zu suchen und in ihren Einzelgesetzen wissenschaftlich klar zu legen.

Wenn also bereits eine natürliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens besteht, sofern man nur die gemeinsam lebenden Menschen in freier Tätigkeit wirtschaftliche Güter erzeugen, vertreiben und austauschen läßt, so ist eine besonders eingreifende rechtliche Organisation ganz und gar überflüssig, ja sogar schädlich. Denn da diese doch etwas anderes sein will als die Naturregeln des sozialen Lebens, so muß sie notwendig in dessen naturgemäße Ordnung zerstörend eingreifen und jene Harmonie vernichten, unter der sich alle Menschen in Gleichheit und Freiheit gegenüberstehen. Die rechtliche Regelung des Zusammenlebens bedingt deshalb unvermeidlicherweise die Privilegierung Einzelner, Druck und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, sagt PROUDHON, Diebstahl ist, so ist die Regierung des Menschen durch den Menschen Sklaverei.

"Indem die Tätigkeitssphäre jedes Bürgers durch die  natürliche  Teilung der Arbeit und durch die Wahl des Nahrungszweiges, die jeder trifft, bestimmt ist, indem die sozialen Funktionen in einer solchen Verbindung zueinander stehen, daß sie eine harmonische Wirkung hervorbringen, entsteht die Ordnung aus der freien Tätigkeit aller; es gibt keine Regierung. Wer Hand an mich legt, um mich zu regieren, ist ein Usurpator und Tyrann; ich erkläre ihn für meinen Feind." (Bekenntnisse eines Revolutionärs)

Diese Auffassung findet PROUDHON durch die Geschichte belegt. Die staatlichen Regierungen seien zwar aus der natürlichen Grundlage der Familienverbindung erwachsen; aber sie hätten sich immer auf die Seite der Reichen gegen die Armen gestellt und je länger desto stärker die privilegierenden Unterschiede und die Ungleichheit, und damit Unfreiheit, unter den Menschen betont.

Die Idee der Regierung, sagt er in seiner "Idée générale", stammt von der Familie; sie entstand aus den Sitten der Familie und den häuslichen Gewohnheiten; kein Widerspruch wurde damals laut, die Regierung schien der Gesellschaft ebenso natürlich, wie das Verhältnis zwischen dem Vater und seinen Kindern. - Die Erfahrung zeigt in der Tat, daß immer und überall die Regierung, wie volkstümlich sie auch in ihrem Ursprung gewesen sein mag,, sich auf die Seite der gebildetsten und reichsten Klasse und gegen die ärmste und zahlreichste Klasse gestellt hat; daß sie, nachdem sie sich anfangs sehr liberal gezeigt hatte, immer exklusiver gestaltet hat, endlich, daß sie, anstatt die Freiheit und die Gleichheit unter allen aufrecht zu erhalten, hartnäckig daran gearbeitet hat, sie zu vernichten durch ihre natürliche Hinneigung zum Privilegium.

Demnach kommt alles darauf an, jetzt, nachdem die beschriebene Erkenntnis gewonnen worden ist, die Rechtsordnung dadurch zu beseitigen, daß man sie überflüssig macht, indem man die natürliche harmonische Ordnung des freien Verkehrs bewirkt. Man muß das Prinzip dabei festhalten, daß man die Arbeit nicht organisieren dürfe, daß sie dies nur selbst vollbringen könne. Darum ist nötig, daß jeder sein Selbstherrscher wird, daß anstelle der seitherigen politischen Gewalten  die ökonomischen Kräfte  treten. Anstatt der Gesetze seien freie Verträge anzunehmen, die von den Mitgliedern der einzelnen - nicht-rechtlichen - frei gebildeten Vereinigungen untereinander auf der Grundlage geschlossen werden, daß niemand gegen seinen Willen unter der Autorität irgendeiner Gemeinschaft steht und ökonomisch unbedingt eine freie Schaffung und ungehinderter Austausch der Produkte herrscht.

Ist dies nun überhaupt möglich? Und in welcher Art und Weise würde zwecks Erreichung des Ziels vorzugehen sein?

PROUDHON hat in der Zeit seiner vollen Anhängerschaft an den Anarchismus nicht nur die erste Frage bejaht, sondern auch die zweite bestimmt zu lösen gesucht. Das Mittel sollte seine viel besprochene Tausch- oder Volksbank werden. Ich hebe nur die hier interessierenden Grundzüge des Projekts hervor.

Nach diesem sollte durch ein "mutualistisches" System der Tausch- und Kreditverkehr dahin auf eine ganz neue Basis gestellt werden, daß das Geld abgeschafft und jeder Zins beseitigt wurde. Die an der Volksbank teilnehmenden Produzenten sollten ihre Erzeugnisse, als Kleidung, Nahrungsmittel, Möbel, Luxusartikel etcl, bei der Bank abliefern, die durch Taxatoren die Preise dieser Waren kontrollieren und feststellen ließ. Dabei sollten aber nur die auf die Herstellung verwandte Arbeitszeit und die Auslagen berechnet werden; auf  Gewinn  in jeder Form war zu verzichten. Der Lieferant erhielt für seine Ware Tauschbons, für die er dann andere Gegenstände der Bank entnehmen konnte. Indem die Bank außerdem ihren Kunden unentgeltlich Darlehen gewährte, sollte Geld und Zins fallen, der Verkehr sich allmählich nur noch mit jenen Tauschzetteln vollziehen, und so die von PROUDHON untergelegte naturgemäße Harmonie des sozialen Verkehrs eintreten. "Mein Bankprojekt, sagt er an einer von DIEHL mit Recht mehrfach hervorgehobenen Stelle, war nichts anderes als eine Erklärung, daß die Staatsgewalt das Recht zur Existenz verloren hat. Ich schlug eine Einrichtung vor, deren Gelingen zur Folge gehabt hätte, daß die ganze Regierungsmaschine allmählich beseitigt worden wäre. Der Staat war nichts mehr mit seiner Armee von 500 000 Menschen, mit seiner Million von Beamten, mit seinem Budget von zwei Millionen."

Die hiernach im Februar 1849 zu Paris eröffnete Volksbank, an der schon bei der Begründung über 12 000 Produzenten teilnahmen, wurde durch eine wegen politischen Vergehens von PROUDHON zu verbüßende Freiheitsstrafe in ihrer Durchführung gehemmt und alsbald zur Auflösung gebracht. Uns interessiert nun hier nur der theoretische Kern der Bestrebungen jenes Sozialpolitikers.

Die Meinung von einer natürlich bestehenden Harmonie als der gesetzmäßigen Grundlage des sozialen Lebens ist unzutreffend. 

Wenn es bislang noch nicht hat gelingen wollen, über die erörterte Richtung des Anarchismus allgemein zur Klarheit zu gelangen oder sie in einer überzeugenden Darlegung zu treffen, so mag dies seinen Hauptgrund darin haben, daß man überall den Begriff des  sozialen Lebens,  als des hier zu erforschenden Gegenstandes wissenschaftlicher Betrachtung, keineswegs klar eingesehen und gefaßt hat. Anstatt denselben lediglich darauf zu stellen, daß es ein Inbegriff  geregelter  Wechselbeziehungen unter Menschen sei, schwebt den hier gemeinten Schriftstellern dabei mehr oder weniger bewußt irgendein Etwas  natürlichen  Charakters vor, mit der grundfalschen Unterstellung, als ob das soziale Leben zwar durch Regulierung der Menschen vielleicht in einigem  beeinflußt  werden könnte, -  während es in der Tat überhaupt erst unter der Voraussetzung menschlich gesetzter Regeln Sinn hat und besteht. 

Ich verbleibe heute bei dem Gedankengang, zu dem speziell PROUDHON anregt.

Es ist bis jetzt ganz und gar nicht gelungen, die Naturantriebe für das Verhalten eines Menschen anderen gegenüber in einem allgemeingültigen Gesetz erkennend zusammenzufassen und für die unendliche Masse natürlicher Triebfedern mit einem einheitlichen Gesichtspunkt eine gesetzmäßige Einsicht zu erhalten; und man darf billig bezweifeln, ob man dem jemals in einer nennenswerten Weise anders wird Genüge tun können.
Aber selbst wenn man für das Triebleben zusammenhausender Menschen feste Naturgesetze ihres Benehmens gegeneinander gefunden oder diese gar in einer einheitlichen Harmonie aufgestellt hätte, also daß das Ganze einer menschlichen Gesellschaft einem Ameisenhaufen gleich und ähnlich sich ausnehmen würde, - so könnte es doch das Problem nach dem Begriff des  sozialen  Lebens der Menschen nicht erschöpft haben. Denn so viel ist sicher und feststehend, daß man niemals in der von uns überblickten Geschichte bei einem derartigen Beisammensein stehen geblieben ist, sondern den rohen Stoff eines natürlichen Nebeneinanderbestehens durch menschliche Regulierung, sozusagen  technisch  bearbeitet hat. Davon kommt auch PROUDHON mit seinem  freien Austauschverkehr  nicht los. Denn in jedem Vertragsschluß irgendwelcher Art liegt schon von selbst eine Modifizierung und eine Bestimmung des Naturlebens des einzelnen Menschen. Wenn letzteres genügte, wie bei Bienen und Bibern, so brauchte man keine Versprechungen und Bindungen, wie solche notwendig in jedem Vertragsschluß liegen müssen. Hierdurch aber wird in der Tat im menschlichen Verkehr erst die Zukunft gesichert; indem Rechte und Pflichten begründet werden, die doch nur unter der Voraussetzung einer gesetzten Regel des erwarteten Verhaltens der betreffenden Menschen Sinn und Begriff finden. In geregelten Wechselbeziehungen der Menschen ersteht nun eine neue Welt, eine besondere Art von Objekten einer eigenen wissenschaftlichen Untersuchung und Erforschung, sowohl nach der Seite hin, was sie sind und bedeuten, als auch in der Richtlinie, ob sie, die in ihrer Eigenart lediglich menschlicher Tat entstammen, so, wie sie sind, auch sein sollten. Aus einfachen Verhältnissen und primitiven Vertragsbindungen zweier einander seither vielleicht ganz fremder Menschen wächst die Regelung des Zusammenlebens verwickelt empor: ein weites unsichtbares Netz breitet sich regulierend über der Menschen Getriebe aus und führt die mannigfachen Fäden, die vom einen zum andern bindend laufen, zu einer einheitlichen Ordnung hin; so erhält man allererst den Begriff des  sozialen  Lebens, gerade als eines bewußten Gegensatzes zu bloßem natürlichen Triebleben.

Es mag wiederholt vorkommen, daß diese Naturantriebe bis jetzt durchaus nicht in Gesetzmäßigkeit erkannt und dargelegt sind, am wenigsten von PROUDHON selbst, der die natürliche Harmonie und Ordnung in ganz dogmatischer Weise unbewiesen aufgestellt hat. Von einer Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, abgesehen von derjenigen, die durch eine normierende Regelung konstituiert wird, wissen wir also gar nichts. Aber es muß auch betont werden, daß, wie immer man sich ein solches "naturgemäßes" Beisammensein vorstellen mag,  ein kultureller Fortschritt  in einem Zurückgehen auf jenes gerade nicht gefunden werden kann; so wenig wie in einem Verzicht auf die wissenschaftlich-technische Beherrschung der Natur überhaupt. Es kann sich von diesem Standpunkt aus nur darum handeln, eine rechte und gute  Regulierung  natürlicher Triebe zu erhalten; nicht aber darum: alle Regulierung kurzer Hand zu beseitigen. (3)

Soweit sich die Theorie des Anarchismus auf PROUDHON zurückführen läßt, erscheint sie in ihrer Aufstellung einer von Natur bestehenden harmonischen Ordnung des ungeregelten Zusammenlebens der Menschen ganz und gar unbewiesen; in der Meinung, daß man bei völlig freien Vertragsschließungen nicht ganz von selbst schon eine Regulierung des menschlichen Verhaltens einführe, unklar und inkonsequent; und darum in der Forderung der Abstreifung und Vernichtung  aller  von Menschen gesetzten Regeln für das soziale Leben durchaus unbegründet.

III.

In ganz anderer Weise als PROUDHON, und von einem anderen Ausgangspunkt aus, gelangt MAX STIRNER zu einer theoretischen Begründung des Anarchismus.

Sein Buch "Der Einzige und sein Eigentum" (4) enthält den kecksten Versuch, der jemals unternommen worden ist, alle mögliche Autorität von sich abzuschütteln. Hervorgegangen aus einer konsequenten Weiterbildung von Gedanken LUDWIG FEUERBACHs, beginnt und schließt es mit den Worten "Ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt". Während FEUERBACH selbst seine Entwicklung in dem Satz schildert: "Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke", um sein religiöses Grundmoment darin niederzulegen, daß "der Mensch dem Menschen das höchste Wesen ist", so will STIRNER auch dies noch als dogmatischen Aberglauben beseitigen. Er stellt in Abrede, daß beim Festhalten auch jener Art von Religion der einzelne von allen Banden ererbter und anerzogener Vorurteile vollständig frei werden kann, daß er allein  sein Eigener  zu sein vermag. So verwirft er nicht nur den Glauben an einen persönlichen Gott und die Beobachtung von dessen Geboten, sondern jede religiös bindende Vorstellung überhaupt als unberechtigt; er bekämpft die Aufstellung ei8nes Sittengesetzes und die Notwendigkeit irgendeiner Verpflichtung unter einem solchen; und er leugnet, daß der rechtliche und staatliche Zwang jemals als begründet dargetan werden kann.

Es sind scharf ausgemeißelte Gedankenzüge, die in lebhaftester Darstellung den einen negativen Grundsatz in so konzentriertem Eindringen verfolgen, daß man sie geradezu für eine ironische Karikatur FEUERBACHs ausgegeben hat; - gewiß ganz mit Unrecht. Ein reiches Material aus Geschichte und Politik ist so stark und sicher auf das eine Ziel des Grundgedankens gerichtet und gerade im einzelnen mit derartig tüchtiger Treffsicherheit vorgestellt, daß jenes leichte literaturgeschichtliche Urteil völlig unberechtigt erscheinen muß.

Das hier einschlagende Problem geht darauf: Wie kann der Mensch frei werden und doch zugleich in geregelter Gemeinschaft mit anderen leben?

ROUSSEAU hatte diese Frage mit ganz besonderer Bestimmtheit aufgeworfen und unter Zugrundelegung der rechtlichen Ordnung zu lösen gesucht. "Der Mensch wird frei geboren und überall ist er in Fesseln. Wie ging diese Umwandlung vor sich? Ich weiß es nicht.  Wodurch kann sie rechtmäßig werden?  Diese Frage glaube ich lösen zu können."

Die Antwort lautet bekanntlich: Die staatlichen Gesetze müssen in jedem Fall so beschaffen sein, daß sie im Einklag mit dem  contrat social  stehen, jenem Urvertrag, der als Sinn und Inhalt aller Rechtsordnung anzunehmen ist. Ich kann hier nicht auf das elementare Mißverständnis eingehen, als ob der  contrat social  als  eine geschichtliche Tatsache  aufgestellt worden wäre und deshalb durch eine historische Untersuchung seine Bestätigung oder Widerlegung zu finden habe. Das ist durchaus nicht der Fall. Er bedeutet einen philosophischen Ausdruck der Idee des Rechts und will  einen allgemeingültigen Maßstab  liefern, an dem jedes staatlich erlassene Gesetz gerichtet werden kann und soll. Ein Rechtssatz ist dann inhaltlich berechtigt, wenn er dem Gesellschaftsvertrag entspricht: "Jeder von uns gibt seine Person und seine Kräfte als Gemeingut unter die obere Leitung des allgemeinen Willens, und wir, als Gesamtkörper, nehmen jedes Mitglied als einen unabtrennbaren Teil des Ganzen auf". Wir dieser  contrat social  - nicht als historischer Entstehungsgrund des Staates, sondern als ideales Ziel der Rechtsordnung - fest im Auge behalten und im einzelnen - nach hier nicht näher zu verfolgenden Grundsätzen - verwirklichkt, so wird daraus ein Recht erwachsen, unter dem die juristisch verbundenen Menschen doch  in Freiheit  leben. So ist der  contrat social  des ROUSSEAU das Schiboleth [Losungswort - wp] des  Liberalismus  geworden.

Die anarchistische Doktrin STIRNERs wendet sich gegen jene rechtsphilosophische Grundlage und gegen die daraus hergeleiteten praktischen Bestrebungen. Er teilt für die hier interessierende Frage den Liberalismus in den politischen und den sozialen, wobei letzterer dem Ausdruck des Sozialismus entspricht.

Der politische Liberalismus ist außerstande, die Menschen frei zu machen.

Eine liberale Rechtsordngung, sagt STIRNER, erkennt als entscheidende rechtliche Macht  die Mehrheit  an. Dadurch aber wird nur der Herr gewechselt, die Sache der Zwangsorganisation und der dadurch unvermeidlichen Gewalt dem Einzelnen gegenüber bleibt bestehen.
    "Schon am 8. Juli 1789 zerstörte die Erklärung des Bischofs von Autun und Barréres den Schein, als sei jeder, der Einzelne, von Bedeutung in der Gesetzgebung: sie zeigte die völlige Machtlosigkeit der Kommittenten: die Majorität der Repräsentanten ist Herrin geworden. Als am 9. Juli der Plan über die Einteilung der Verfassungsarbeiten vorgetragen wird, bemerkt MIRABEAU: "Die Regierung hat nur Gewalt, kein Recht; nur im Volks ist die Quelle des Rechts zu finden". Am 16. Juli ruft ebenderselbe MIRABEAU aus: "Ist nicht das Volk die Quelle aller  Gewalt?"  Also die Quelle allen Rechts und die Quelle aller - Gewalt! Beiläufig gesagt, kommt hier der Inhalt des  Rechts  zum Vorschein: es ist die -  Gewalt.  Wer die Gewalt hat, der hat das Recht."

    "Der Monarch in der Person des  königlichen Herrn  war ein armseliger Monarch gewesen gegen diesen neuen Monarchen, die souveräne  Nation.  Diese Monarchie war tausendfach schärfer, strenger und konsequenter. Gegen den neuen Monarchen gab es gar kein Recht, kein Privilegium mehr; wie beschränkt nimmt sich dagegen der  absolute König  des ancien régime aus!"
Es bleibt also der Staat und die Heiligkeit des Rechts bestehen; und ich erlange niemals  vollkommene Freiheit,  die meine Gewalt ist und dadurch zur  Eigenheit  wird. Der Liberalismus kann immer nur  eine bestimmte  Freiheit gewähren. Glaubensfreiheit heißt nach ihm nicht Freiheit vom Glauben, sondern von den Glaubensinquisitoren; bürgerliche Freiheit nicht eine solche vom Bürgertum, sondern von der Beamtenherrschaft oder Fürstenwillkür. Und so war es mit dem Freiheitsdrang in allen Zeiten und Lagen. Fürst METTERNICH sagte einmal, er habe einen Weg gefunden, der für alle Zukunft auf den Pfad der  echten  Freiheit zu leiten geeignet ist. Der Graf von Provence lief gerade zu der Zeit aus Frankreich fort, als es sich dazu anließ, das "Reich der Freiheit" zu stiften, und sagte: Meine Gefangenschaft war mir unerträglich geworden, ich hatte nur eine Leidenschaft: das Verlangen nach -  Freiheit. 

Bei einer so relativen und subjektiv nur bestimmten Freiheit ist aber das Verbleiben von Zwang und Knechtschaft unvermeidlich.
    "Der Drang nach einer  bestimmten  Freiheit schließt stets die Absicht auf eine neue  Herrschaft  ein, so daß dann zwar die Revolution ihren Verteidigern das erhebende Gefühl geben konnte, für die Freiheit zu kämpfen, in Wahrheit aber nur, weil man auf eine  bestimmte  Freiheit, darum auf eine neue Herrschaft, die  Herrschaft des Gesetzes,  ausging.

    "Alle Welt verlangt nach Freiheit, alle sehnen ihr Reich herbei. O bezaubernd schöner Traum von einem blühenden  Reich der Freiheit,  einem  freien Menschengeschlecht!  - wer hätte ihn nicht geträumt? So sollen die Menschen frei werden, ganz frei, von allem Zwang frei! Von allem Zwang, wirklich von allem? Sollen sie sich selbst niemals mehr Zwang antun? Ach ja, das ist ja wohl gar kein Zwang! Nun so sollen sie doch frei werden vom religiösen Glauben, von den strengen Pflichten der Sittlichkeit, von der Unerbittlichkeit des Gesetzes, von -  welch fürchterliches Mißverständnis!  Nun,  wovon  sollen sie denn frei werden, und wovon nicht?

    Der liebliche Traum ist zerronnen, erwacht reibt man die halbgeöffneten Augen und starrt den prosaischen Frager an.  Wovon die Menschen frei werden sollen?  - Von der Blindgläubigkeit, ruft der eine. Ei was, schreit ein anderer, aller Glaube ist Blindgläubigkeit; sie müssen von allem Glauben frei werden. Nein, nein, um Gotteswillen, - fährt der erste wieder los, werft nicht allen Glauben von euch, sonder bricht die Macht der Brutalität herein. Wir müssen, läßt sich ein dritter vernehmen, die Republik haben und von allen gebietenden Herren - frei werden. Damit ist nicht geholfen, sagt ein vierter; wir kriegen dann nur einen neuen Herrn, eine  herrschende Majorität;  vielmehr laßt uns von der schrecklichen Ungleichheit uns befreien. - O unselige Gleichheit, höre ich dein pöbelhaftes Gebrüll schon wieder! Wie hatte ich so schön noch eben von einem Paradies der  Freiheit  geträumt, und welche - Frechheit und Zügellosigkeit erhebt jetzt ihr wildes Geschrei! So klagt der erste und rafft sich auf, um das Schwert zu ergreifen gegen die maßlose Freiheit. Bald hören wir nichts mehr als das Schwertgeklirr der uneinigen Freiheitsträumer." -
Aber vielleicht finden wir die vollkommene Freiheit mittels des sozialen Liberalismus?

Indem der politische Liberalismus den Unterschied der Privatvermögen bestehen ließ, ja verschärfte und die Herrschaft des Geldes gegenüber der von Geburt oder der Arbeit begründete, hat er die Arbeit ganz unfrei gemacht. Was bietet dem gegenüber der Sozialismus?
    "Wir sind freigeborene Menschen, und wohin wir blicken, sehen wir uns zu Dienern von Egoisten geamach! Sollen wir darum auch Egoisten werden? Bewahre der Himmel, wir wollen lieber die Egoisten unmöglich machen! Wir wollen sie alle zu  Lumpen  machen, wollen alle nichts haben, damit  alle  haben." -
Vor dem höchsten  Gebieter,  dem alleinigen Befehlshaber, der Mehrheit, waren alle gleich und zu  Nullen  geworden, vor dem höchsten  Eigentümer,  der Gesellschaft, sollen sie nun alle zu  Lumpen  werden.

Druck und Zwang und Ausbeutung - namentlich des Geschickten, Fleißigen, Gewissenhaften durch den Unfähigen, Trägen, Liederlichen - werden im Sozialismus mitnichten verschwinden.
    "Daß der Kommunist in dir den Menschen, den Bruder erblick, das ist nur die sonntägliche Seite des Kommunismus. Nach der werkeltägigen nimmt er dich keineswegs als Menschen schlechthin, sondern als menschlichen Arbeiter oder arbeitenden Menschen. Das liberale Prinzip steckt in der ersten Anschauung, in die zweite verbirgt sich die Unfreiheit. Wärest du ein Faulenzer, so würde er zwar den Menschen in dir nicht verkennen, aber als einen  faulen Menschen  ihn von der Faulheit zu reinigen und dich zu dem Glauben zu bekehren streben, daß Arbeiten des Menschen  Bestimmung und Beruf  ist."
Während also das Bürgertum den Erwerb frei machte,  zwingt  der Kommunismus zum Erwerb. Man ist der Oberhoheit einer Arbeitergesellschaft unterworfen, die als eine neue Herrin, ein neuer Spuk, ein neues "höchstes Wesen" uns "in Dienst und Pflicht nimmt"; die uns gebe, was wir brauchen, der wir deshalb verpflichtet sind. "Daß die Gesellschaft gar kein Ich ist, das geben, verleihen oder gewähren könnte, sondern ein Instrument oder Mittel, aus dem wir Nutzen ziehen mögen, daß  wir  der Gesellschaft kein Opfer schuldig sind, sondern, opfern wir uns, es  uns  opfern: daran denken die Sozialisten nicht." -

Bei allen Freiheitsbestrebungen finden wir verschiedene Schattierungen von Gemäßigteren und Radikalen; aber bei ihnen allen dreht es sich immer um die Frae:  Wie frei  muß der  Mensch  sein? Wie stellt man es an, daß man bei der Freilassung des Menschen doch zugleich den Unmenschen eindämmt, der in jedem einzelnen steckt?
    "Der gesamte Liberalismus hat einen Todfeind, einen unüberwindlichen Gegensatz, wie Gott den Teufel: dem Menschen steht der Unmensch, der Einzelne, der Egoist, stets zur Seite. Staat, Gesellschaft, Menschheit bewältigen diesen Teufel nicht."
Indem man im Menschen das "Unmenschliche" unterscheiden will, befindet man sich nach STIRNER in einer gänzlichen Unklarheit, die einer näheren Erörterung bedarf.
    "Mit dürren Worten zu sagen, was ein Unmensch ist, fällt nicht wirklich schwer: es ist ein Mensch, welcher dem  Begriff  "Mensch" nicht entspricht, wie das Unmenschliche ein Menschliches ist, welches dem  Begriff  des Menschlichen nicht angemessen ist. Die Logik nennt das ein  widersinniges Urteil.  Dürfte man wohl dieses Urteil, daß einer Mensch sein kann, ohne Mensch zu sein, aussprechen, wenn man nicht die Hypothese gelten ließe, daß der Begriff des Menschen von der Existenz, das Wesen von der Erscheinung getrennt sein kann? Man sagt: der  erscheint  zwar als Mensch  ist  aber kein Mensch."
Es besteht also ein Ideal vom Menschen, wie er sein sollte, das sich lebhaft davon unterscheidet, wie jeder einzelne wirklich ist; und es hat in diesem Sinne in der Geschichte eigentlich nur "Unmenschen" gegeben, - auch nach dem Christentum nur ein einziges Mal einen Menschen, und diesen, CHRISTUS, im umgekehrten Sinne wieder nicht, da er als übermenschlicher Mensch, als "Gott" vorgestellt wird.

Und nun vernichte ich - fährt STIRNER fort und vollführt dabei eine unerlaubte dogmatische Phantasie - jenen Idealbegriff; ich streiche ihn und verstehe nun unter "Mensch" meine besondere Persönlichkeit, wie sie empirisch vorliegt. Denn Menschen, die wirklich sind, aber keine Menschen wären, weil sie der Aufgabe des Gattungsmenschen nicht entsprechen, wären  Gespenster;  - Das ist die einzige Deduktion, die von STIRNER als Unterlage hier genommen wird.
    "Bleibe Ich auch dann noch ein Unmensch, wenn Ich den Menschen, der nur als mein Ideal, meine Aufgabe, mein Wesen oder Begriff über mich hinausragte und mir jenseitig blieb, zu meiner mir eigenen und inhärenten  Eigenschaft  herabsetzte, so daß der Mensch nichts anderes ist als meine Menschlichkeit, mein Menschsein, und alles, was Ich tue, gerade darum menschlich ist, weil Ich es tue, nicht aber darum, weil es dem  Begriff  "Mensch entspricht? Ich bin wirklich der Mensch und Unmensch in  einem;  denn Ich bin Mensch und ich bin zugleich mehr als Mensch, d. h. Ich bin das Ich dieser meiner bloßen Eigenschaft."
Hiermit hat STIRNER die Grundlage für den Aufbau des sozialen Anarchismus gefunden.
    "Der  Mensch  ist der letzte böse  Geist  oder Spuk, der täuschendste oder vertrauteste, der schlaueste Lügner mit ehrlicher Miene, der Vater der Lügen. Indem der Egoist sich gegen die Anmutungen und Begriffe der Gegenwart wendet, vollzieht er unbarmherzig die maßloseste  Entheiligung.  Nichts ist ihm heilig! - Es wäre töricht zu behaupten, es gebe keine Macht über der meinigen. Nur die Stellung, welche Ich mir zu derselben gebe, wird eine durchaus andere sein, als sie im religiösen Zeitalter war: Ich werde der  Feind  jeder höheren Macht sein, während die Religion lehrt, sie uns zur Freundin zu machen und demütig gegen sie zu sein."

    "Darum sind wir beide, der Staat und Ich, Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser  menschlichen Gesellschaft  nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, verwandle Ich sie vielmehr in mein Eigentum und mein Geschöpf, d. h. Ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den  Verein von Egoisten." 

    "Ich will an dir nichts anerkennen oder respektieren, weder den Eigentümer noch den Lump, noch auch nur den Menschen, sondern  dich verbrauchen.  Am Salz finde Ich, daß es mir die Speisen schmackhaft macht, darum lasse Ich es zergehen; im Fisch erkenne Ich ein Nahrungsmittel, darum verspeise ich ihn; an dir entdecke Ich die Gabe, mir das Leben zu erleichtern, daher wähle Ich dich zum Gefährten. Oder am Salz studiere Ich die Kristallisation, am Fisch die Animalität, an dir die Menschen usw. Mir bist du nur dasjenige, was du für mich bist, nämlich mein Gegenstnd, und weil  mein  Gegenstand, darum mein Eigentum."

    "Was soll jedoch werden? Soll das gesellschaftliche Leben ein Ende haben und alle Umgänglichkeit, alle Verbrüderung, alles, was durch das Liebes- oder Sozietätsprinzipg geschaffen wird, verschwinden? - Als ob nicht immer einer den andern suchen wird, weil er ihn  braucht,  als ob sich nicht einer in den andern fügen muß, wenn er ihn  braucht.  Der Unterschied ist aber der, daß dann wirklich der Einzelne sich mit dem Einzelnen  vereinigt,  wo er früher durch ein Band mit ihnen  verbunden  war: Sohn und Vater umfängt vor der Mündigkeit ein Band, nach derselben können sie selbständig zusammentreten, vor ihr  gehören  sie als Familienmitglieder zusammen (waren die  Hörigen  der Familie), nach ihr vereinigen sie sich als Egoisten, Sohnschaft und Vaterschaft bleiben, aber Sohn und Vater binden sich nicht mehr daran."

IV.

Zum vollen Verständnis der Lehre STIRNERs werden einige erläuternde Anmerkungen erwünscht sein.

Seine Philosophie stellt sich als ein folgerichtiger  Empirismus  dar. Er will nur Tatsachen und nichts als diese gelten lassen. Die Idee, als ein Begriff, dem kein Gegenstand in der Erfahrung adäquat (auf sie völlig passend oder kongruierend) gegeben werden kann, und die doch dieser ihre Richtung gibt, ist ihm nichts. Darum kennt er nicht die Idee der Menschheit, sondern nur den jeweiligen konkreten Menschen, über dessen empirische Erscheinung hinaus hier nichts für ihn besteht. So gelangt er notwendig zum Postulat eines pflichtenlosen Daseins und zu der alleinigen Möglichkeit seines  "Vereins von Egoisten".  In der Tat spricht er dabei in allen seinen Auslassungen über die Unvermeidlichkeit des Egoismus nur dasjenige aus, worauf der rohe Empirismus konsequent kommen muß, vielleicht auch gekommen ist, ohne immer den Mut zu besitzen, es sich und anderen so klar zu machen, wie STIRNER es getan hat.

An dieser Stelle haben wir es im besonderen mit der Nutzanwendung jener Doktrin auf das soziale Leben zu tun. Um sie zu erörtern, habe ich auf einige Vorkenntnisse aus dem Gebiet der Jurisprudenz und der Sozialwissenschaft im allgemeinen einzugehen.

Jeder weiß aus eigener Erfahrung, daß die Regulierung des menschlichen Zusammenlebens mittels einer zweifachen Art von gesetzten Normen geschieht. Dabei wird von den dem Gebot der Sittlichkeit jedem einzelnen unmittelbar erwachsenden Pflichten ganz abgesehen und nur von denjenigen Regeln gehandelt, welche von Menschen gesetzt sind, mit der Aufforderung, daß wir uns ihnen unterwerfen. Die beiden Klassen solcher Regeln sind die  rechtlichen Satzungen  und die Maße jener Normen, die in den Weisungen von Anstand und Sitte, in den Forderungen der Etikette und den Formen des geselligen Verkehrs im engeren Sinne, in der Mode und den vielfachen äußeren Gebräuchen wie im Kodex der ritterlichen Ehre uns entgegentreten. Ich nenne alle diese letzteren die  Konventionaregeln  und frage nun zuerst nach dem unterscheidenden Kriterium unserer zwei Klassen.

Der Laie wird vielleicht versucht sein, den Unterschied dahingehend zu setzen, daß die Rechtssätze  vom Staat  ausgehen, während die Konventionalregeln in der Gewohnheit des  "gesellschaftlichen"  Verkehrs ihre Entstehung finden. Aber er würde damit nicht das Zutreffende gesagt haben.

Es ist durchaus nicht notwendig, daß juristische Normen von einer organisierten Gewalt erlassen werden, die wir als die staatliche begreifen. Häufig ist vielmehr im Laufe der Geschichte Recht innerhalb menschlicher Gemeinschaften begründet worden, die keine Staaten in unserem Sinne waren. Fahrende Horden und Stämme und nomadisierende Völkerschaften leben unter rechtlicher Drohung, aber nicht in einem Staat; und die Kinder Israels stellen während ihrer überlieferten vierzigjährigen Wanderschaft durch die Wüste zwar eine straff zusammengehaltene und streng beherrschte Rechtsgemeinschaft, aber keinen Staat dar; - denn in allen diesen Fällen fehlt die feste Beziehung zu einem bestimmten Territorium, die wir als wesentliches Merkmal dem Begriff des Staates unterlegen. Dazu kommt, daß in langen Zeiträumen der sozialen Geschichte die Reform und Neubildung des Rechts der Kirche, autonomen Kommunen und anderen Körperschaften, selbst Familienverbänden, überlassen war, auf welche wiederum der Begriff des Staates keine Anwendung findet; und daß endlich im neuzeitlichen Völkerrecht durch Rechtsquellen, die  über  den einzelnen Staaten stehen, Rechtsnormen in das Leben zu treten vermögen.

Aber all das möchte mehr zufällig erscheinen können, da es ja jedem frei steht, Wort und Begriff "Staat" auf irgendeine Rechtsgemeinschaft anzuwenden und niemand gerade an die moderne Vorstellung von einem Staatswesen dabei unauflöslich gebunden ist. Wohl aber dürfte das Gesagte hinreichendes Material bieten, um nun leicht zu der Erkenntnis zu führen, daß man niemals einen Begriff vom Staat zu geben vermag, ohne denjenigen des Rechts schon vorausgesetzt zu haben. Dieser ist das logische Prius. Man kann die Rechtsordnung definieren, ohne auf die staatliche Organisation im Geringsten Bezug zu nehmen; (5) nicht aber ist es möglich, von einer Staatsgewalt zu reden, es sei denn, daß man rechtliche Bindungen von Menschen dabei in Gedanken hätte. So wie der Begriff einer Organisation menschlichen Zusammenlebens überhaupt nur durch eine Bezugnahme auf menschlich gesetzte regulierende Normen gegeben werden kann, so muß dies beim Staat gerade durch den Hinweis auf rechtliche Sätze geschehen, durch welche der Begrif einer staatlichen Gemeinschaft allererst konstituiert wird.

Deshalb ist es unrichtig, die Rechtssatzung von der Konventionalregel dadurch unterscheiden zu wollen, daß jene vom Staat ausgeht. Das ist so wenig ein allgemeingültiges Kriterium des Rechtsbegriffs, daß gerade dieser vielmehr die unerläßliche Bedingung ist, um überhaupt sagen zu können, was unter  Staat  zu verstehen sei: Wer angibt, daß die rechtliche Norm eine staatlich geschaffene Regel ist, hat unbewußt das zu Definierende in die Begriffsbestimmung selbst wieder aufgenommen.

Wie nun aber die aufgeworfene Frage richtig zu beantworten sei, darüber findet sich in der sozialwissenschaftlichen Literatur regelmäßig nicht genügend Schärfe und Klarheit. Selbst ein so scharfsinniger Jurist wie ADOLF MERKEL sagt hierüber nur dieses, (6) daß gegenüber den Normen des Rechts bei denjenigen der Sitte oder des Herkommens  "im allgemeinen  das beschränkende Element  überwiegt,  und für sie  die scharfe  Ausprägung jener Doppelseitigkeit, die beständige Gegenüberstellung von Sollen und Dürfen, Pflichten und Befugnissen, nicht  in der Weise  wie für die Rechtsvorschriften  charakteristisch  ist;" - ein Ausspruch, der auch bei sparsamer Verwendung aller möglichen reservierenden Klauseln doch nichts anderes als eine recht äußerliche Deskription liefern könnte.

Diese beschreibende Schilderung aber würde dem Begriff der Konventionaregeln gar nicht gerecht werden. Wer die vorhin von mir angeführten Beispiele erwägt, wird schnell finden, daß Recht und Pflicht bei solchen Normen  im Sinne der Regel selbst  sich um nichts weniger scharf entsprechen, als es bei der Rechtssatzung der Fall ist. Es dürfte beispielsweise gerade bei den Regeln des geselligen Verkehrs unserer verschiedenen Stände und Gesellschaftsklassen nicht äußerlich versteckt, sondern sofort leicht und deutlich zu erkennen sein, daß in ganz gleicher Weise wie beim Rechtsgesetz sich die subjektiven Rechte und Verpflichtungen in Gegenseitigkeit gegenüberstehen und allerdings nicht bloß auf der einen Seite eine Verpflichtung da ist, sondern dieser bei der anderen Partei sehr wohl auch ein Anspruch und eine Befugnis korrespondiert. Oder man denke an das alte Konventionalgesetzbuch des "Komments" und an die schrillen Satzungen über Satisfaktion und Duell, und jeder wird alsbald gewahren, daß zwischen zwei Personen, die diesen Konventionalregeln unterstehen, Pflicht und Befugnis betreffs ihres Verhaltens zueinander "in schärfster Ausprägung" entsprechend gegenüberstehen.

Allein der sachliche Vorwurf, den ich gegen MERKELs Darstellung dieser Frage erheben muß, geht noch tiefer. MERKEL beschreibt nämlich einigen bestimmten geschichtlichen Rechtssatzungen gegenüber nur einzelne wenige Konventionalregeln und stellt im Grunde  dem regelmäßigen Inhalt unseres heutigen Rechts den Inhalt von besonder wichtigen Konventionalregeln unserer damaligen Zeit  gegenüber. Und das ist es, was ich ein äußerlich deskriptives Verfahren, eine beschreibende Schilderung von  einzelnen  historisch gegebenen Regeln nenne. Wir aber wollten wissen: wie sich der Begriff der Rechtssatzung von demjenigen der Konventionalregel abgrenzt, ohne alle Rücksicht auf diesen oder jenen Inhalt, den die eine oder die andere in sich aufgenommen hat und enthält. Denn dieser Inhalt ist durchaus schwankend und beliebig wechselnd. Es gibt Regeln, die wir heute als ledigliche Konventionalnormen behandeln, während andere Zeiten genau dieselben Regeln als Rechtssatzungen aufstellten, wie z. B. die Kleiderordnungen, die Gesetze über die Art von Festlichkeiten bei Hochzeiten, Kindstaufen etc.; und wir besitzen umgekehrt im modernen Verkehr, beispielsweise im heutigen Völkerrecht, manche Rechtssätze, die eine alte Zeit ausschließlich als Konventionalregeln gelten ließ.

Die inhaltliche Verwendung der Begriffe Rechtssatzung und Konventionalregel ist also in den einzelnen Zeiten und bei den verschiedenen Völkern auseinandergehend; die Bestimmung dieser Begriffe in ihrer Gegensätzlichkeit muß mithin durch ein vor ihrem zufälligen geschichtlichen  Inhalt  unabhängiges Kriterium, nach der Art ihrer  formalen  Geltung, geschehen. Für die präzise Frage nach diesem Merkmal, das Rechtssatzung und Konventionalregel trennt, da sie doch in gleicher Weise Normen sind, die von außen her an den einzelnen bestimmend herantreten, ist aus dem zitierten "im allgemeinen überwiegen" und "mehr oder weniger charakteristisch" nichts zu entnehmen.

Ich setze das unterscheidende Merkmal von Recht und Konventionalregel  in den jeweilig besonderen Anspruch: zu gelten. 

Das Recht will  objektiv  über dem einzelnen in Geltung stehen. Es erhebt den Anspruch, zu gebieten, ganz unabhängig von der Zustimmung des Rechtsunterworfenen, in welcher der Grund der verbindenden Kraft der Rechtsordnung also niemals gesucht werden darf. Die rechtliche Satzung bestimmt, wer ihr unterworfen ist, unter welcher Voraussetzung jemand in ihren Verband eintritt, wann er ausscheiden darf. Wer sich dem Rechtsgesetz entziehen will und sich ihm vielleicht äußerlich tatsächlich entzieht, der bricht das Recht, aber ist mitnichten davon frei: er steht nach wie vor unter ihm, dessen Geltungsanspruch erst in Gemäßheit seiner eigenen Bestimmung erlischt.

Die  Konventionalregel  gilt nach ihrem eigenen Sinn lediglich  zufolge der Einwilligung des Unterstellten;  vielleicht einer stillschweigend abgegebenen, wie es in unserem sozialen Verkehr ja zumeist der Fall sein wird, aber immer zufolge der besonderen Zustimmung. Sobald diese nicht mehr vorliegt und der seither Beherrschte ausscheiden will, kann er es beliebig tun: der Grund der verbindenden Geltung der Konventionalregel ist die äußerlich zusammenstimmende Selbstunterwerfung der einzelnen.

Von einfachen Beispielen des täglichen Lebens an bis zu schwerwiegenden Fragen läßt sich dies konkret leicht erläutern: Wer nicht grüßt, empfängt keinen Gegengruß; wer keine Satisfaktion gib, steht außerhalb des ritterlichen Ehrenkodex; und es ist in diesem Sinne unserer Konventionalregeln, wenn neuerdings SOHM für die kirchliche Organisation den rechtlichen Zwang als unberechtigt verwirft und lediglich eine solche, wie wir sagen würden, unter Konventionalregeln als mit dem Wesen der Kirche übereinstimmend anerkennen will (7).

Dabei bleibt es selbstverständlich für alle diese Fragen gleichgültig, ob es  tatsächlich  jemandem leicht fallen wird, aus einer konventionalen Gemeinschaft auszuscheiden, oder ob ihm solches  in Wirklichkeit  vielleicht die größten Schwierigkeiten verursacht. In dieser Hinsicht faktischer Stärke mögen unsere Konventionalregeln gar manchesmal den entschiedenen Vorrang vor dem juristischen Gebot beanspruchen dürfen. Wer hätte nicht schon unter dem Druck eines konventionalen Zwangs gelitten; und wie häufig geschieht es geradezu in Konflikten solchen Zwanges mit einem entgegenstehenden Gebot der Rechtsordnung, z. B. bei der Frage nach Annahme und Austragung eines Zweikampfes, daß die Forderung des rechtlichen Gesetzes nicht beachtet wird und die ihr widerstreitende Konventionalnorm den stärkeren Antrieb zu ihrer Befolgung ausübt.

Aber, was wir hier aufstellen, das ist  nicht  eine  geschichtliche  Beobachtung und  nicht  eine Beschreibung und Vergleichung der beiden Klassen von Regeln nach ihrer  tatsächlichen  Stärke, sondern eine Klarlegung ihrer beiden Begriffe in  logischer  Hinsicht. Es ist  der Sinn  des Geltungsanspruches, der bei ihnen beiderseits in der ausgeführten Art im Kontrast liegt. Und damit ist ein allgemeingültiges Merkmal für die Trennung der zwei möglichen Gruppen von Regeln gegeben, das von der Frage, welchen Gebrauch man seither von beiden Begriffen im Lauf der Geschichte gemacht habe oder welchen man noch inszenieren könne, ebenso unabhängig ist wie von derjenigen, welcher faktische Einfluß auf den einzelnen Genossen unter diesen oder jenen empirischen Umständen von einer unserer Regelarten wohl erfahrungsgemäß erwartet werden darf.

Endlich ist es auch für unsere Erörterung ohne Belang, ob eine Rechtsordnung ihren Unterworfenen das Ausscheiden aus dem rechtlichen Verband sehr erleichtert, oder sogar ganz beliebig freistellen würde. Wir kennen in der neueren Zeit, früheren engen Gesetzen dieser Art gegenüber, sehr geringfügige Beschränkungen, da nach dem heutigen Reichsrecht jedem deutschen Staatsangehörigen die Entlassung nur aus gesetzlich bestimmten Gründen des Kriegsdienstes verweigert wird, ein Entlassener aber freilich auch regelmäßig binnen sechs Monaten auswandern muß (8). Aber wie immer die einzelne Gesetzgebung sich in dieser Frage liberal erweisen möge, stets ist es grundsätzlich die Gestattung der betreffenden Rechtsordnung, welche das befugte Ausscheiden eines Unterworfenen begründet, und jeden Augenblick kann eine Änderung dieser rechtlichen Bestimmungen erfolgen, wodurch der besondere, mehrfach angegebene Geltungsanspruch des Rechts sich dann wieder dokumentieren würde.

Es ist deshalb auch ganz mißverständlich, wenn ein Rezensent des SOHMschen Buches diesem entgegenhält (9), daß das Postulat SOHMs nur strengen und unduldsamen kirchenrechtlichen Satzungen gegenüber eine Berechtigung hat, aber liberalen Kirchengesetzen gegenüber versagt. Denn auch die am Weitesten gehende Erlaubnis zum Austritt aus der rechtlich organisierten Gemeinde bleibt doch dabei stehen, daß andere Menschen darüber befinden, ob und wann man zur Kirchengemeinschaft gehört; und SOHM kann darum mit Fug entgegnen, daß dem Begriff der Kirche als einer Gemeinschaft der in einem gemeinsamen Glauben Verbundenen durch jenen Anspruch äußerer rechtlicher Bestimmung der Mitgliedschaft ganz und gar nicht entsprochen werde, daß dieses vielmehr - soweit äußere Veranstaltungen und Vereinigungen erforderlich sind - nur auf dem Weg der Konventionalregeln geschehen kann, zwischen welchen Konventionalgemeinschaften und noch so liberalen kirchenrechtlichen Verbänden eine unüberbrückbare Kluft unvermeidlicherweise, immer bestehen muß.

Hiernach werden wir den Anarchismus im Sinne der Lehre STIRNERs schärfer präzisieren können.

Diese Richtung würde also eine soziale Organisation  bloß auf der Grundlage von Konventionalregeln  fordern. Es ist, wiederhole ich, auch nach dieser Theorie des Anarchismus durchaus nicht auf Unordnung und Anarchie gewöhnlichen Stils abgesehen; sondern sie geht davon aus, daß ein sich Suchen und Finden der Menschen stets schon stattfinden werde und man sich darüber, ob beim Fehlen des rechtlichen Zwangs überhaupt eine Organisation sein wird, keine Sorge zu machen braucht. Geregelte Vereinigungen werden allezeit bestehen und immer werden die Menschen in geordneten Gruppen leben. Aber diese Organisationen dürfen dann auch weiter keinen Geltungsanspruch über dem einzelnen erheben, als es heute bei unseren Konventionalregeln der Fall ist: der Grund der verbindenden Kraft soll die grundsätzlich freie Zustimmung des Unterworfenen sein; keine soziale Regel kann über das hypothetische:  "Wenn  du Vorteile von uns willst, so vereinige dich mit uns unter bestimmten Reglen" - befugtermaßen hinausgehen. Das rechtliche und staatliche Gebot ist seinem Begriff nach ein bloßer Zwang, enthält an und für sich nichts als brutale Nötigung und kann als etwas anderes als rohe Macht und Vergewaltigung gar nicht eingesehen oder gar als berechtigt deduziert werden.

V.

Weder PROUDHON noch STIRNER haben im Anarchismus eine unmittelbare Nachfolge und gleichgesinnte Schule gehabt. Auch als in den sechziger Jahren die moderne anarchistische Bewegung in Fluß kam, hat man innerhalb derselben nur wenig an jene beiden Theoretiker angeknüpft; und erst in der letzten Zeit ist man wieder mehr auf sie als grundlegend zurückgegangen. Aber eine vertiefede Weiterführung der Theorie des Anarchismus ist in seiner neueren Periode der Entwicklung nicht zum Vorschein gekommen. Der Wunsch nach alsbaldiger Verwertung für ein praktisches politisches Vorgehen und das Bemühen um brauchbare Schlagwörter und in der Agitation einleuchtende Argumente haben auch hier die Reinheit der wissenschaftlichen Unterlage getrübt. Wo man aber eine haltbare theoretische Basis erstrebte, sind in einer verwirrten und verwirrenden Art die grundsätzlich auseinandergehenden Deduktionen der seither behandeltenn Schriftsteller verschmolzen worden.

Im Folgenden will ich mich auf die Darlegung dessen, was sich als theoretischer Kern des modernen Anarchismus herausschälen läßt, beschränken ohne auf die Geschichte der mannigfachen offenen und geheimen Bünde der Anarchisten, auf die Schicksale der Führer und ihrer Gehilfen, sowie auf die literarischen Agitationen oder auf die Reibereien und Kämpfe mit anderen Parteien oder den Regierungen besonderen Bezug zu nehmen. (10)

Dabei treten nun innerhalb der modernen Lehre des Anarchismus zwei einander entgegengesetzte Richtungen auf.

Erstens:  Der kommunistische Anarchismus 

Er gründet sich weniger auf die scharf erwogene Theorie des sozialen Lebens als vielmehr auf unklares gefühlsmäßiges Streben, hergeleitet aus zusammengerafften Beobachtungen und Empfindungen. Sein Fundament ist das Postulat der  Brüderlichkeit;  sein Ziel die schrankenlose Freiheit eines jeden und dabei die volle Gleichheit aller im Genuß.

Diese Anarchisten wollen eine Gesellschaftsform, in welcher jedes Mitglied sein eigenes "Ich",  das heißt  seine individuellen Talente und Fähigkeiten, Wünsche und Bedürfnisse zur vollen Geltung zu bringen vermag. Sie verwerfen also alle Regierung, und lassen nur zu, daß sich freie Genossenschaften zwecks gemeinsamer Produktion organisieren. Andererseits verschließen sie sich der Betrachtung gar nicht, daß der einzelne nicht ein von der Gemeinschaft losgelöstes Wesen, sondern deren Produkt ist, von der er alles hat, was er ist und kann; so daß er also nur zurückgeben kann, wenn auch in anderer Form, was er vorher von ihr empfangen hat. Ein Privateigentum soll es deshalb nicht geben. Alles, was produziert ist und produziert wird, ist gesellschaftliches Eigentum, an das der eine ebensoviel Anrecht hat wie der andere, da der Anteil, den der einzelne an der Erzeugung der Güter hat, auf keine Art und Weise gerecht bestimmt werden kann. Aus diesem Grund proklamieren sie die Genußfreiheit, d. h. das Recht eines jeden, seine Bedürfnisse frei und ungehindert zu befriedigen.

Es ist also hier eine eigentümliche Verschmelzung des Kommunismus mit dem Anarchismus gegeben, die in vielem an die Bestrebungen des BABEUF (1795) erinnert und sich selbst in die Formel zusammenfaßt: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!(11)

Wenn aber jemand fragen wollte, wie ein solcher idealer Zustand überhaupt möglich ist, so würde ihm geantwortet werden, daß er die Arbeiter nicht kennt. Diese sind - so lautet die gebräuchliche Auskunft - keine so schmutzigen Egoisten wie die Bourgeois; - wenn sie einmal mit diesen in gewaltsamer Expriopriation abgerechnet haben werden, wenn die letzte Revolution geschlagen ist, werden sie sich schon einzurichten verstehen.

Die geschilderte Richtung darf heute als die unter den Anarchisten zumeist herrschende angesehen werden. Besonderen Anteil an ihrer Lehre und Verbreitung haben russische Schriftsteller, vor allem der 1873 verstorbene BAKUNIN und dann KROPOTKIN; ihr hängt die Masse der französischen und überhaupt romanischen Anarchisten an; auch viele deutsche abtrünnige Sozialisten. Sie ist es, an die in der neueren Zeit "die Propaganda der Tat" (12) sich anheftet: da sie im rechtlichen Befehl und dem Staatsgesetz nur Gewaltakte sieht, so hält sie sich für befugt, der Gewalt wieder eine solche entgegenzusetzen; und - noch roher -: sie will die Aufmerksamkeit der erschreckten Welt durch Greueltaten erregen, um auf die Unhaltbarkeit der bestehenden Zwangsorganisation, gegenüber den erstrebten freien Genossenschaften des brüderlichen Kommunismus, aufmerksam zu machen.

Zweitens:  Der individualistische Anarchismus. 

Seine Lehre kann ein größeres theoretisches Interesse beanspruchen als jene eben besprochenen sozialen Bestrebungen, mit denen er in der Tendenz zwar sympathisiert, die er aber sowohl hinsichtlich ihrer Doktrin als auch betreffs des praktischen Vorgehens als im Irrtum befindlich bekämpft. Er bedeutet innerhalb der anarchistischen Gruppen die kleinere Minderheit. Seine Hauptvertreter in der modernen Literatur sind TUCKER (13) und MACKAY.

Inn einem höchst interessanten Buch (14) führt der zuletzt genannte Schriftsteller den Leser in das volle Getümmel des sozialen Lebens von London, und zwar im Spätherbst 1887, zu einer Zeit, da die Anarchistenprozesse in Chicago schweben und die Augen der bürgerlichen Welt wie der Revolutionäre in gleicher Spannung auf sich ziehen. Eine ungewöhnliche Gabe plastischer Schilderung und eindringlichen Ausmalens wohnt dem Verfasser bei; und man kann nach seinem Werk London geradezu aus der Ferne kennen lernen. Wir folgen ihm in das entsetzliche Elend des Eastend, durch aufregend ergreifendes Szenen des niedersten Lebens von Menschen, in das Wogen der packend geschilderten Volksversammlung auf dem Trafalgar Square, durch das Getümmel und Getriebe der Weltstadt, vorüber an ihr, von der nach seiner Meinung die erste Ursache allen sozialen Unglücks ausgeht, - der "Bank von England", und in die stillen Quartiere der Besitzenden und die feinen Restaurants am vernehmen "Strand".

In diesem London treffen sich nun ganz besonders die politischen Flüchtlinge aller Nationen und die Vertreter aller extremen sozialen Parteiungen, namentlich der anarchistischen; in ihrer Vorführung, die sich auf die wirkliche Beobachtung geschichtlicher Persönlichkeiten stützt, in der Teilnahme an ihren Versammlungen und Diskussionen, im Versuch der revolutionären Klubs und dem Belauschen der sozialen Zwiegespräche liegt der Hauptreiz des Buches.

Auch über unsere Frage, die nach dem kommunistischen und dem individualistischen Anarchismus, haben an einem Sonntagnachmittag im kleinen Kreis bei AUBAN, dem Helden des Verfassers, Erörterungen stattgefunden, in denen der Kommunist OTTO TRUPP mit seinen Darlegungen im Sinne der vorhin von mir geschilderten Tendenzen einen offenbaren Eindruck gemacht hatte.

Ich kann mir nicht versagen, die hier interessierende und äußerst bezeichnende Stelle vollständig wiederzugeben:
    "Noch eine einzige und letzte Frage an dich, OTTO," erklang AUBANs laute und harte Stimme, "nur diese einzige noch:

    Würdet ihr in dem Gesellschaftszustand, den ihr "freien Kommunismus" nennt, die einzelnen daran hindern, ihre Arbeit unter Zuhilfenahme eines von ihnen geschaffenen Austauschmittels untereinander auszutauschen? Und ferner: Würdet ihr sie daran hindern, Grund und Boden in persönlichen Besitz zum Zweck persönlicher Benutzung zu nehmen? -"

    TRUPP stutzte.

    Die Anwesenden erwarteten wie AUBAN gespannt seine Antwort.

    AUBANs Frage war unentrinnbar. Antwortete er mit "Ja!", so gab er zu, daß der Gesellschaft das Recht der Gewalt über den Einzelnen zustand, und warf damit die von ihm stets glühend verteidigte Autonomie des Individuums über den Haufen; antwortete er dagegen mit "Nein!", so gestand er das von ihm noch eben so emphatisch negierte Recht des Privateigentums zu.

    Er sagte daher:

    "Du siehst alles mit den Augen des heutigen Menschen an. In der zukünftigen Gesellschaft, wo alles zur freien Verfügung aller gestellt ist, wo es einen Handel im heutigen Sinne also nicht mehr geben kann, wird jedes Mitglied meiner innersten Überzeugung nach freiwillig auf die alleinige und ausschließliche Okkupation von Grund und Boden verzichten -"

    AUBAN war wieder aufgestanden. Er war um etwas blasser geworden, als er jetzt sagte:

    "Wir sind noch nie unehrlich gegeneinander gewesen, OTTO. Laß es uns heute nicht werden. Du weißt so gut wie ich, daß diese Antwort eine Ausflucht ist. Du kommst mir jetzt nicht mehr aus: Beantworte mir die gestellte Frage und beantworte sie mir mit Ja oder Nein, wenn du willst, daß ich jemals wieder eine Frage mit dir bespreche -"

    TRUPP kämpfte offenbar mit sich. Dann antwortete er - und es war ein Blick auf seinen Genossen, welcher ihn noch soeben angegriffen, und demgegenüber er nie und nimmer das Prinzip der persönlichen Freiheit in Abrede gestellt hätte, der ihn sagen ließ:

    "In der Anarchie muß jede Anzahl Mitglieder imstande sein, sich nach Belieben zu organisieren, um so ihre Ideen ins Praktische zu übersetzen. Auch sehe ich nicht ein, wer einen andern gerechterweise von dem Land, das er bebaut und bewohnt, vertreiben könnte ..."

    "So habe und halte ich dich!" rief AUBAN. "Mit dem, was du eben sagtest, stellst du dich in einen schroffen Gegensatz zu den bis jetzt von dir verteidigten Grundsätzen des Kommunismus.

    Du hast das Privateigentum zugestanden: an Rohprodukten und an Land. Du hast das Recht auf den Arbeitsertrag ungeschmälert befürwortet. Das ist Anarchie.

    Die Redensart: Alles gehört allen - ist gefallen, gestürzt von deiner eigenen Hand.

    Ein einziges Beispiel nur, um alle Mißverständnise unmöglich zu machen: Ich besitze ein Stück Land. Ich verwerte seinen Ertrag. Der Kommunist sagt: Das ist ein Raub am allgemeinen Gut.

    Aber der Anarchist TRUPP - jetzt zum erstenmal nenne ich ihn so! - sagt: Nein. Keine Macht der Erde hat ein anderes Recht als das der Gewalt, mich von meinem Besitztum zu vertreiben, mir den Ertrag meiner Arbeit auch nur um einen Pfennig zu schmälern.

    Ich endige. Mein Zweck ist erfüllt.

    Ich habe bewiesen, was ich beweisen wollte: daß es zwischen den beiden großen Gegensätzen, in denen sich die Welt der Menschen bewegt, zwischen Individualismus und Altruismus, zwischen Anarchismus und Sozialismus, zwischen Freiheit und Autorität keine Versöhnung gibt."
Aber auch bezüglich des praktischen Vorgehens obwaltet zwischen den beiden Gruppen der Anarchisten ein Gegensatz, indem die individualistische Richtung die Propaganda der Tat verwirft. Sie erwartet alles von der Aufklärung und dem langsamen Fortschritt der Vernunft, wodurch sich ein jeder selbst finden und sich überzeugen wird, daß alle staatliche und rechtliche Gewalt irgendwelchen Inhalts in sich ungerecht und schlecht ist, und daß umgekehrt die Möglichkeit eines völlig freien harmonischen gesellschaftlichen Daseins besteht. Die jetzige kapitalistische Gesellschaftsordnung, so meinen sie, sei freilich ganz und gar unberechtigt und unhaltbar; an ihre Stelle werde der Sozialismus treten. Dieser aber sei "die letzte Universaldummheit der Menschheit"; eine Leidensstation, die auf dem Weg zur Freiheit zurückgelegt werden muß. Denn er wird einen derartigen Zwang und Druck und eine Ausbeutung der Minderheit durch die Mehrheit mit sich führen, daß das Streben und Drängen nach Freiheit die sozialistische Rechtsordnung wieder auflösen muß. Dann aber kann man natürlich nicht zu veralteten und untergegangenen Staatsorganisationen greifen; sondern es werde die Menschheit zu freier Assoziation im Sinne des Anarchismus, also bloß durch Konventionalregeln, schreiten.

Wenn nun der individualistische Anarchismus die Unklarheiten und Widersprüche des kommunistischen vermeidet, so bedeutet es trotzdem keinen theoretischen Fortschritt über STIRNERs Doktrin hinaus. MACKAY will einen solchen augenfällig dadurch erreichen, daß er mit PROUDHONschen Gedanken das Moment  ökonomischer  Erwägung hineinnimmt; er meint, daß bei freien Gesellschaften im Sinne STIRNERs eben die harmonische naturgemäße Wirtschaft PROUDHONs ereicht werden würde. (15)

Aber diese behauptete  natürliche  Harmonie  durch freie Konventionalregeln  trägt in sich schon den Keim des Widerspruchs und der Unhaltbarkeit.  Wenn  wirklich eine  naturgemäße  Ordnung schon an und für sich unter den Menschen herrschen würde, so wäre "die freie Assoziation  für bestimmte Zwecke"  als Ganzes gar nicht mehr nötig. In der Tat aber hat auch MACKAY nicht bewiesen, daß Gesetze des  wirtschaftlichen  Lebens ohne Rücksicht auf eine zugrunde liegende Regulierung des menschlichen Nebeneinanderbestehens möglich seien; und daß sich "die Interessen der Menschheit nicht feindlich gegenüberstehen, sondern daß sie sich harmonisch vereinen, wenn ihnen nur der freie Spielraum zu ihrer Entfaltung nicht genommen oder geschmälert wird". Vielmehr stellt er in bezeichnender Weise diese aus PROUDHON herübergenommenen Sätze am Schluß seines Buches  programmatisch  als Aufgabe hin, die der genannte AUBAN sich dort für die Zukunft vornimmt.

Andererseits braucht der STIRNERsche "Verein der Egoisten" die von MACKAY angebotene Verstärkung seiner Deduktion gar nicht. Sobald man STIRNER seine Prämissen zugiebt - daß es nämlich außer und neben der Beachtung des einzelnen empirischen Menschen gar keine Erwägung eines pflichtgemäßen Soll gibt -, bleibt zunächst gar nichts anderes übrig als die bloße  formale  Möglichkeit, sich konventional mit anderen Egoisten zu vereinen. Welchen  Inhalt  diese Vereinigten aber ihren Konventionalregeln geben werden, ist eine ganz offene Frae; und völlig konsequent sagt STIRNER darüber nur: "Was ein Sklave tun wird, sobald er die Fesseln zerbrochen hat, das muß man - abwarten".

VI.

Aus diesen Ausführungen dürfte zur Genüge hervorgehen, daß der individualistische Anarchismus neuester Observanz in der Betonung der wirtschaftlichen Freiheit den Gedankengang des allbekannten reinen Manchestertums fortsetzt und in seiner Hervorhebung der Zwangsabstreifung und des ungestörten Spiels aller Kräfte Konsequenzen zieht, welche jenes von einem bestimmten Punkt an ablehnt; während andererseits die unklaren kommunistischen Anarchisten ihr inhaltliches Ziel selbstverständlich dem kommunistischen Sozialismus entlehnt haben.

Aber darum tun doch beide Richtungen - das Anstreben der sozialistischen Produktionsweise im demokratischen Staat, wie das Festhalten am geschichtlichen Privateigentum - gegenseitig sich Unrecht, wenn jede der anderen den Anarchismus als nur zu ihr gehörig zuschieben will.

Vielmehr liegt es systematisch so, daß der Anarchist dem Sozialisten wie dem Bürger gleichmäßig feindlich gegenübersteht und das ihnen beiden gemeinsame Mittel der menschlichen Organisation, den rechtlichen Zwang  als solchen  angreift. Zunächst muß daher der Anarchismus überwunden sein, und dann erst kann logischerweise eine Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Individualismus stattfinden. Die zutreffende Systematisierung ist also:
    1) Anarchismus - Organisation der menschlichen Gesellschaft nur unter Konventionalregeln;

    2) Rechtsorganisation
      a) aufgrund des überlieferten Privateigentums,
      b) mit sozialistischer Produktionsweise.
Dasjenige, was die verschiedenen Richtungen des sozialen Lebens wissenschaftlich grundlegend scheidet, ist die  formale  Regelung in ihrer jeweiligen Sonderart; - diese Form der menschlichen Gesellschaft kann nach den früheren Erörterungen entweder eine rechtliche oder eine solche nur unter Konventionalregeln sein. Soziales Leben als eigenes besonderes Ding ist erst dann vorhanden, wenn und soweit durch menschlich gesetzte Normen eine Regulierung eines gemeinschaftlichen Daseins und Verkehrs vorliegt. Die Regeln des Verhaltens zusammenlebender Menschen konstituieren erst den Begriff einer menschlichen Gesellschaft. Darum muß die besondere Art und Weise dieser Regeln für die Eigenart einer konkreten Menschengemeinschaft grundsätzlich bestimmend sein; und der Inhalt der Regeln, die Materie dessen, was normiert und gesetzt wird, ist im letzten Sinne und in der wirklichen Bedeutung und Tragweite vom Charakter der fraglichen Form, von der Sondereigenschaft der Regulierungsart bedingt und abhängig.

In der Tat wird der Sinn selbst der am schärfsten gedachten Lehre vom "laisser faire, laisser aller" [gewähren lassen - wp] als der Aufgabe des Rechtsstaates, auch der schroffste Ausdruck eines, wie man gesagt hat, Raubtierkampfes um das Dasein gänzlich verkehrt und gewandelt, sobald man die volle Freiheit des Wirtschaftslebens in die Meinung des individualistischen Anarchismus übersetzt und den Rechtsgang gänzlich aufhebt. Denn jene zuerst genannte Doktrin hält doch immer den Grundsazt der juristischen Gebundenheit und des Verhaftetseins eines jeden in der Rechtsgemeinschaft, in die er zugehörig hineingeboren wird, fest; und dur die Betonung wirtschaftlicher Freiheit  im Rahmen der Rechtsordnung  kommt sie zu dem Ergebnis der wirtschaftlichen Ungleichheit, die sie ja auch, besonders wegen des darin gelegenen Ansporns für den einzelnen, für nützlich und ansich zweckmäßig verteidigt. Der individualistische Anarchismus aber, da er die rechtliche Norm ganz und gar über Bord wirft, erstrebt dadurch gerade das entgegengesetzte Resultat, die wirtschaftliche Gleichheit. Auch er wirft der Manchesterlehre vor, daß sie den Fehler begeht, von einer ganz zufälligen Verteilung des Eigentums und einem willkürlich angenommenen Zeitpunkt der wirtschaftlichen Lage auszugehen, um nun plötzlich volle ökonomische Freiheit unter dem "Nachtwächterstaat" zu fordern; und er hat es dem gegenüber darauf abgesehen, alle privilegierende Ungleichheit zu beseitigen. Er vermeint, es mit den oben näher besprochenen Mitteln im Sinne PROUDHONs oder STIRNERs erreichen zu können; aber er kommt dabei zweifellos sachlich zu dem Schluß, den FICHTE bei seinem sozialistischen Ideal des "geschlossenen Handelsstaates" als Aufgabe des Rechts bezeichnete: erst jedem das Seinige  zu geben  und ihn dann damit zu schützen.

Ich betone das Verhältnis dieser sozialen Richtungen zueinander umso stärker, als manche sozialistische Schriftsteller der Gefahr erlegen sind, gegenüber der Lehre des Anarchismus kurzerhand auf den Sozialismus als die allein richtige Gesellschaftsordnung hinzuweisen und mit dem leicht hingeworfenen Gegensatz von Egoismus und Brüderlichkeit die hier interessierende Frage abzutun. Dies ist falsch, weil das Prinzip der Brüderlichkeit ganz in demselben Sinn auch von der herrschenden Gruppe der Anarchisten vorangestellt wird; und es ist unlogisch, da es  die eine  Möglichkeit, der  Rechts ordnung einen bestimmten  Inhalt  zu geben, als Gegenstück zur Leugnung der Berechtigung  jeglichen  Rechtszwangs aufstellen will.

Darum werden auch die von uns getroffenen Autoren der Theorie des Anarchismus und deren wissenschaftlicher Bedeutung überhaupt nicht gerecht. Sie verfehlen die systematische Stellung, welche dieser Theorie innerhalb der Sozialwissenschaft zukommen muß. Und doch sollte nicht übersehen werden, daß die anarchistische Doktrin wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden kann, sofern man eben nur einmal vorurteilslos dem Gang ihrer Gedanken folgt.

Dazu ist vor allem erforderlich, daß man die Frage:  ob unter den jetzigen Verhältnissen  ein anarchistischer Zustand wünschenswert ist? - einmal gänzlich beiseite läßt. Die für alle Politik und Sozialwissenschaft prinzipielle Unterscheidung von Ziel und Mitteln läuft dabei Gefahr, verwischt zu werden. Zuerst aber muß die Theorie über das anzustrebende Ziel Klarheit und Wahrheit festgestellt haben, und dann erst kann die Frage nach den konkreten Mitteln, durch die er dem wissenschaftlich bestimmten Ziel nachzustreben gewillt ist, von seiten des praktischen Politikers, nutzbringend erwogen werden. Andernfalls ist ein blindes Herumstochern von Fall zu Fall einem dunklen und unklaren Drang entsprechend unvermeidlich, eine deswegen sehr begreifliche allgemeine Unbefriedigtheit aber die notgedrungene Folge.

Und was würde dem Anarchismus gegenüber der so elende Satz daß er vielleicht "in der Theorie richtig ist, nicht aber für die Praxis taugt", erledigend ausrichten können? Auch derjenige, dem dieser fadenscheinige Sinnspruch noch nicht zur einfachen Unwahrheit geworden ist, (16) könnte ihn gegen die hier behandelte Theorie gar nicht verwerten. Denn in erster Linie dreht es sich beim Anarchismus um eine negierende Bekämpfung des überlieferten Rechtszwangs: daß dieser in sich etwas Berechtigtes und Notwendiges sei, das wird von Anarchisten geleugnet. Jener Gemeinplatz müßte also zum Zweck der Verteidigung des Rechtszwangs die fatale Umkehrung erfahren: "Das Recht ist zwar in der Theorie unbegründet, taugt aber gut für die Praxis", - welchen Unsinn wohl noch niemand im Ernst behauptet hat.

Es ist also der prüfenden Frage niemals auszuweichen, ob die rechtliche Zwangsordnung etwas Berechtigtes und Unvermeidliches wirklich sei: und die heutige Zeit auf diese Grundfrage sozialwissenschaftlicher Erkenntnis mit ganz besonderer Schärfe wieder gestoßen zu haben, - das darf die anarchistische Doktrin für sich in Anspruch nehmen.

Die wissenschaftliche Bedeutung der Theorie des Anarchismus liegt darin, daß in ihr der radikalste Skeptizismus in Sachen der Rechtsordnung beschlossen ist. 

Es wird ihr also der Wert zukommen können, welchen jeder systematische Zweifel für die Wissenschaft zu haben vermag: aufmerksam zu machen auf überlieferte Dogmen, deren Wahrheit vor eindringlicher Skepsis durch einen wissenschaftlichen Beweis nicht genügend sicher gestellt ist, - anzuregen aber zugleich zu kritischem Aufbau, der, unter der steten Berücksichtigung einer möglichen fundamentalen Anzweiflung, schaffend vorgeht. So ist der schroffste Zweifel  als Frage  bedingungslos zuzulassen und der Kampf mit ihm aufzunehmen; versuchend, ob man das Schwert besiegt ihm ausliefern muß, oder aber ob es möglich ist, ihn mit Gründen kritisch deduzierender Wissenschaft zu schlagen.

Nun ist aber die skeptische Frage: ob der eigentümlich geartete Befehl der rechtlichen Zwangsgebote ansich und allgemein gerechtfertigt werden kann? - durchaus nicht von der Schwelle abzuweisen.

Der rechtliche Zwang ist nicht schon von Natur bestehend, sondern bedeutet einen Anspruch, den Menschen anderen Menschen gegenüber befehlend zu erheben; und die geschichtliche Erfahrung liefert doch nur die Tatsache, daß befohlen und gehorcht wurde und wird. Aber ist jener Anspruch und dieses Gebieten allgemein berechtigt und unentbehrlich?  Die Rechtsordnung ist ein Mittel im Dienst menschlicher Zwecke.  Kann die Anwendung dieses Mittels als notwendig und allgemeingültig dargetan werden oder nicht?

Dabei gilt es hier fundamental den Zweifel an der Berechtigung des Rechts  als solchem Das Problem geht auf den Rechtszwang  an und für sich,  ganz formal genommen und losgelöst von irgendwelchem Inhalt bestimmter rechtlicher Satzungen. Wenn es freilich nicht gelingen sollte, die Berechtigung des rechtlichen Zwangs überhaupt allgemeingültig darzulegen, so würde die Frage nach diesem oder jenem Inhalt regulierender Normen mit Rechtszwang objektiv gar keinen Wert mehr haben.

Ich schließe die Darlegung meiner Fragestellung mit deren konziser [gestraffter - wp] Fassung:

Läßt sich als allgemeingültig beweisen, daß für die Organisation menschlichen Zusammenlebens der rechtliche Zwang notwendig ist? 

VII.

Bei unserer Frage wurde die Berechtigung einer Organisation des menschlichen Zusammenlebens überhaupt vorausgesetzt. Aber diese Vorwegnahme kann keine besonderen Schwierigkeiten bereiten. Denn daß durch die soziale Vereinigung, das ist einer solchen unter bestimmten Regeln, die Kräfte des Menschen derart gehoben und entwickelt werden, daß nunmehr erst alle Kultur irgendwelcher Art und möglich erscheint, ist eine einfache Tatsache der Erfahrung.

STIRNER läßt seinen Gegner den Einwand machen: "Der Staat ist das notwendigste Mittel für die vollständige Entwicklung der Menschheit"; - und entgegnet von seinem Standpunkt aus folgerichtig: "Er ist es allerdings gewesen, solange wir die Menschheit entwickeln wollten; wenn wir uns aber entwickeln wolen, kann er uns nur ein Hemmschuh sein." Aber auch er will damit nur die Notwendigkeit der staatlichen Zwangsgewalt ablehnen, nicht jede organisierte Vereinigung verwerfen, deren Unerläßlichkeit er vielmehr, wie wir sahen, als ganz sicher hinstellt, "weil einer den andern braucht".

Der vereinzelte Mensch als ein in voller Regellosigkeit lebendes Wesen,  nur  durch Naturtriebe mit anderen in Beziehung stehend, ist überhaupt schwer vorzustellen; denn dazu würde gehören, daß er niemals in geregelter Gemeinschaft gestanden hätte, und es könnte nicht genügen, daß er einer solchen als nunmehriger Einsiedler sich möglichst entziehen will oder zeitweilig dieses, wie ROBINSON, gänzlich ausführen muß. Von einem grundsätzlich vereinzelten Menschen jener ersten Art wissen wir aus geschichtlicher Erfahrung nichts. Wir kennen in Wirklichkeit nur Menschen, die in geregelten Vereinigungen leben, aus solchen hervorgegangen sind, ihr Bestes, was sie ihr eigen nennen, aus ihrer Gemeinschaft empfangen haben, um es ihr wieder in bestimmter Art zurückzuerstatten: für das uns wissenschaftlich allein bekannte soziale Leben des Menschen ist es in der Tat mehr als ein geistvolles Paradoxon, wenn ein zeitgenössischer Philosoph in nicht veröffentlicher Ausführung das Wort sprach: - "das Individuum ist eine Fiktion, so gut wie das Atom."

Aber es widerstreitet andererseits  einer möglichen Erfahrung  ganz und gar  nicht,  eine volle Auflösung alles sozialen Lebens sich vorzustellen. Der Mensch, als ledigliches Naturwesen, könnte anderen Tieren gleich, in voller Regellosigkeit auch leben. Eine Naturnotwendigkeit für das Setzen regulierender Normen und die Schaffung eines sozialen Lebens liegt nicht vor; und alle bestimmenden Regeln für menschliches Verhalten gegeneinander sind Menschenwerk und nur als Mittel und Instrument aufzufassen.

Und umgekehrt liegt  im Gebot des Sittlichen  an und für sich  keine  notwendige Forderung nach einer äußeren Organisation. Als unbedingter Endzweck kann weder die rechtliche und staatliche, noch die bloß konventionale Regulierung auftreten; jener ist immer nur ein guter Wille und die Bestimmung des menschlichen Handelns durch ihn. Dazu aber sind keine Paragraphen noch Satzungen  anderer  Menschen erforderlich. Ja, es müssen solche normierende Befehle, soweit sie als zwingende Gebote dem einzelnen gegenüber wirken, dessen sittliche gute Tat verhindern: da er sich nun nicht mehr aus guter Gesinnung, sondern "durch Zuckerbrot und Peitsche" kausal bestimmt, äußert. Auch nach dieser Seite hin gibt es eine absolute Unerläßlichkeit einer von außen her bestimmenden Regulierung des menschlichen Zusammenlebens gar nicht.

Wohl aber bietet eine Organisation durch Regeln so zweifellos relative Vorzüge, daß es demnach eine Torheit wäre, auf dieses technische Mittel zur Vervollkommnung des menschlichen Daseins zu verzichten.

Der vereinzelte Mensch, außerhalb menschlich geregelter Beziehungen zu anderen gedacht, würde schwerlich ein anderes Dasein als ein  nur  kausal bestimmtes zu führen vermögen. Daß er sich Zwecke setzt, durch deren Verfolgung er in seinem Menschtum über die Tierwelt hinaus kommt, kann zwar auch bei der Unterstellung des gänzlichen Fehlens von gesetzten menschlichen Regeln nicht als unmöglich behauptet werden: die genannten heteronomen (von außen her an den Einzelnen herantretenden und äußerlich legales Verhalten fordernden) Regeln sind weder eine unerläßliche Bedingung für die natürliche Existenz des Menschen, noch auf für die Setzung von Zwecken und für das Wollen aus guter Gesinnung. Allein mehr als ein höchst kümmerliches Dasein kann für die beiden Richtungen des menschlichen Lebens in regelloser Isoliertheit vom Menschen, nach allen übersehbaren Daten der Erfahrung, nicht erreicht werden.

Bei der Frage  nach der geregelten Organisation des menschlichen Zusammenlebens überhaupt  läßt sich also über deren  relative  Berechtigung nicht hinauskommen; sie ist ein  verhältnismäßig  tüchtiges Mittel, dessen Vorhandensein und Durchführung große Vorteile einem gänzlich regellosen Zustand gegenüber bieten muß. Nur durch eine geregelt vereinigte Tätigkeit in einer arbeitsgegliederten Gesellschaft läßt sich bei den beschränkten Kräften und Fähigkeiten des einzelnen Menschen die wissenschaftlich-technische Beherrschung der Natur auf eine höhere Stufe fortschreitend bringen; und erst bei einer heteronomen Regulierung des menschlichen Nebeneinanderlebens kann aus dem gleichen Grund eine bessere Gewähr geschaffen werden, daß dem Menschen nicht vernunftgemäßes Wollen und sein Handeln nach Zwecken durch einen dritten Eingriff willkürlich gestört und erschwert wird. Ein Fortschritt im gestaltenden Schaffen der Kunst kann wohl nur in der festen Tradition, die aus geregelten Organisationen hervorgeht, förderlich gewonnen werden. Und vor allem ist die Aufgabe der Erziehung und Bildung allein durch ein planmäßiges Unternehmen und Vollführen organisierter Gemeinschaften in nennenswerter Weise erfüllbar. "Weil wir - wie das Volks sich ausdrückt - nicht Engel sind", darum brauchen wir das technische Mittel einer regulierenden Organisation unter den Menschen: mehr und Tieferes läßt sich im Kern hierüber nicht sagen. -

Aber muß es denn ausgerechnet eine  rechtliche  Zwangsorganisation sein?

Es scheint fast, als ob unsere Jurisprudenz diese Alternative als selbstverständlich angenommen hätte: entweder ein regelloser Zustand oder Rechtszwang. Wenigstens kann man, seitdem HOBBES (1588 - 1679) für den rechtlosen "Naturzustand" die Formel des "Krieges aller gegen alle" aufgebracht hat, die Berufung darauf durchgängig in dem Sinne wahrnehmen, als ob dadurch eine Deduktion  des Rechts  und der  staatlichen  Zwangsgewalt geliefert werden könnte; während aus jenem in Wirklichkeit nur das Wünschenswerte  einer regelnden Organisation überhaupt  folgen würde.

Unter den zwei verschiedenen Möglichkeiten dieser letzteren aber scheint an und für sich der Rechtszwang den Vorzug gar nicht zu verdienen, sondern die an früherer Stelle von mir davon abgegrenzten Konventionalregeln. Der rechtliche Zwang entfernt sich  am meisten  von der vollen Freiheit des einzelnen in seiner Zwecksetzung für sich; sein Anspruch auf objektive Geltung muß sich  durch Gewalt  durchsetzen; und es hat in der Tat etwas Befremdendes, wenn jemand nicht nur unter Regeln gezwungen stehen soll, die er möglicherweise verwirft und überzeugt bekämpfen muß, sondern wenn er sogar infolgedessen gern ausscheiden und auf alle wirklichen oder angeblichen Wohltaten  gerade diese  sozialen Gemeinschaft verzichten möchte, er es aber nun -  nicht darf.  Denn die Rechtsordnung erhebt, wie ich früher ausführte, den Anspruch: daß  sie  allein bestimmt, wer zu ihr gehört und ihr untertan ist; und sie selbst nur gibt autoritativ an, ob und unter welchen Erlaubnisbedingungen jemand von ihrem gebietenden Anspruch frei und ledig ist. Und diese Prätension [Anforderung - wp] des Rechts wird umso leichter der Anzweiflung verfallen, wenn man sich erinnert, wie die bestehenden Rechtsgemeinschaften in oft sehr unverständigen geschichtlichen Zufälligkeiten entstanden sind und bestehen, und welche große Rolle bei ihrer Bildung vielfach Willkür, Schlechtigkeit und rohe Gewalt gespielt haben.

Die Bildung freier Genossenschaften, bloß unter Konventionalregeln vermeidet diese Schwierigkeit. Hier untersteht der einzelne ebenfalls einer äußerlich ihm gegenüberstehenden Regel, und zwar einer solchen, die einen ganz außerordentlichen tatsächlichen Zwang auszuüben pflegt; aber ihr Geltungsanspruch reicht nur so weit wie seine Zustimmung zu seiner Unterwerfung. Solange er der Vereinigung angehört, unterliegt er jenen Normen; allein  ob  er dazu gehört, das beantwortet sich nach seiner Entschließung. Es sei gestattet, zur Jllustrierung hier nochmals an das Einzelbeispiel von freien Kirchengemeinden zu erinnern, wie SOHM sie fordert, gegenüber dem Zwangsanspruch des Kirchenrechts, wonach  dieses,  und nicht der Gläubige selbst, über Zugehörigkeit und möglichen Austritt aus der kirchlichen Gemeinschaft maßgeblich bestimmen will, - sei es auch, daß es ihm den Austritt  zur Zeit  beliebig gestattet.

Gegenüber dieser doppelten Möglichkeit einer geregelten Organisation versagt der Versuch, den Rechtszwang als solchen aus dem ansonsten drohenden Krieg aller gegen alle zu deduzieren, vollständig. Indem der Anarchismus wesentlich auf die Leugnung der Berechtigung der rechtlichen Ordnung hinausgeht und diese besondere Art von Organisation bekämpft und als willkürliche Gewalt ausgibt, welcher gegenüber die konventional zusammentretenden Gruppen allein berechtigt sind, - wird er durch die soeben angeführte rechtsphilosophische Meinung in nichts widerlegt.

Die Eigenschaft einer Regel als eines rechtlichen Zwangsgebotes bewirkt eine äußere Sicherheit des ihr Unterworfenen  an und für sich  noch gar nicht: da kommt es noch sehr  auf den Inhalt  jener Regel an. Vielleicht steht es damit so - und die Geschichte weist derartige Fälle genügend auf -, daß gerade durch die straffe Organisation unter juristischen Normen eine recht starke Unsicherheit der Untertanen unter den Machthabern obwaltet. Auch das Sklavenwesen hat "von Rechts wegen" bestanden, ohne dem wie als Objekt behandelten Menschen Schutz von Leben, Familie und Eigentum gewährleistet zu haben; und jeder wird sich historischer Beispiele in Fülle entsinnen, da auch unter den Freien in  rechtlich  organisierten Gemeinwesen Willkür und Gewalt geherrscht hat und von Sicherheit des einzelnen betreffs er genannten Güter oft nicht annähernd die Rede war. Aber wie schlimm würden wir alle auch in unseren modernen Verhältnissen dran sein, wenn wir auf die Wirkung des Rechtszwangs allein angewiesen wären. Der Satz des EURIPIDES "Die gute Sitte ist sicherer als das Gesetz" ist auch heute keine verklungene Erfahrung. Namentlich die Furcht vor staatlich zu büßender Strafe gibt kaum den stärksten Impuls zur Verfolgng der herrschenden Regeln ab. Es ist gar nicht einzusehen, weshalb der mächtige Antrieb zu geregelter Ordnung hin, wie ihn unsere dermaligen Konventionalregeln auf den Einzelnen erfahrungsgemäß bewirken, nicht überhaupt zur Aufrechterhaltung einer geordneten Organisation ausreichen sollte, und der eingreifende Druck, den geschichtlich beobachtete Konventionalgemeinschaften nach außen hin ausgebübt haben, nicht allgemein ein friedliches und gesichertes Zusammenleben der Menschen gewährleisten könnte.

Man wird auch nicht sagen dürfen, daß dann die einzelnen sich frei organisierenden Gruppen und Genossenschaften leicht untereinander in Streit kommen könnten und der Krieg aller nun nicht unter den einzelnen Menschen, aber doch hinsichtlich ihrer Gemeinschaften stattfinden würde. Denn der Krieg hat auch der Rechtszwang zu keiner Zeit verhütet, auch ihn heute nicht beseitigt; nach wie vor besteht die verhängnisvolle "ultima ratio regum"; und eine "oberste Instanz", welche man bei der Organisierung der Menschheit in frei gebildeten Gesellschaften vermissen möchte, die hat gerade das Recht weder zu schaffen vermocht, noch verspricht es eine solche in naher Aussicht. Gerade im Gegenteil lehrt die Erfahrung der Geschichte, daß, je straffer und schneidiger ein Staat unter einer Zentralgewalt zusammengefaßt ist, umso leichter und besser er sich zur Kriegführung eignet, während alle freieren und mehr lose zusammenhängenden Gemeinwesen zur Erlangung kriegerischen Lorbeers weit untüchtiger zu sein pflegen.

Nun hat es aber überhaupt sein Bedenkliches, phantasierend auszumalen, wie sich das menschliche Leben unter dieser oder jener besonderen Organisation ausnehmen möchte. Prophezeien ist eine schwere Kunst; und auf mehr als auf recht beschränkte und konkret vorgestellte Tatumstände kann es sich mit Fug überhaupt nicht erstrecken. Dadurch aber würde das Ziel unserer Untersuchung ganz aus den Augen verloren werden. Denn durch jene Erwägung könnte höchstens  für ganz bestimte historische Verhältnisse  ein Mehr oder Weniger von  momentanen  Vorzügen als rechtliche oder konventionale Ordnung plausibel gemacht werden; die Frage aber: ob von den beiden möglichen Arten der Organisation die eine einen  allgemeingültigen  Vorrang hätte, bliebe ungelöst beiseite liegen. Man würde dabei verharren, daß die Rechtsordnung wirklich nur eine ererbte Willkürherrschaft und zufällige Gewalt darstellt, die vielleicht zur Zeit eine traurige und üble Notwendigkeit wäre, indessen "eigentlich" das Ideals des Anarchismus - die Regelung  nur  durch konventionale Normen - das Richtige enthält; es würde nicht dargetan sein, daß unter der Voraussetzung regulierender Satzungen überhaupt die rechtliche Organisation eine allgemeingültige Berechtigung besitzt, die von konkreter und vorübergehender geschichtlicher Sachlage gänzlich unabhängig sein muß.

Eine derartige Resignation ist durch nichts geboten; sie ist sachlich ganz und gar unzutreffend. Und es ist die Theorie des Anarchismus, welche uns besonders dringlich auf einen Gedankengang führen muß, der seither in der rechtsphilosophischen Literatur nirgends hervorgetreten ist, obgleich er in allgemeingültiger Art die Unentbehrlichkeit des rechtlichen Zwangs ansich und die Berechtigung der juristischen Organisation als solcher begreiflich macht.

Denn das Gegenstück zu unserer Rechtsordnung, die Art des sozialen Lebens, wie sie dem Anarchismus als Ideal und Zielpunkt vorschwebt, ist die Vereinigung und Ordnung der Menschen in frei gebildeten Genossenschaften und lediglich unter Konventionalregeln. Mag dem einzelnen Anarchisten der Verein von Egoisten als Postulat vorschweben oder brüderlicher Kommunismus sein Wunsch sein -: immer bestimmt ein jeder selbst über seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft. Er geht frei die Konvention ein und löst sie in eigener Entschließung wieder, - die vertragsmäßige Übereinkunft ist es, die ihn bindet, solange sie besteht, die er allererst eingehen muß un die er in unbedingter Schrankenlosigkeit jederzeit durch eine neue Willenserklärung außer Kraft setzen kann.

Danach ist deutlich, daß diejenige Art ordnender Organisation, die den Kern der Theorie des Anarchismus abgibt, doch  nur für solche Menschen möglich ist, die zur vertragsmäßigen Vereinigung mit anderen eine tatsächliche Fähigkeit besitzen. 

Der Handlungsunfähige, wie wir Juristen sagen, das kleine Kind, der Geistesgestörte, der schwer Kranke und gänzlich Altersschwache, sie alle wären von geregelter Organisation und allem sozialen Leben vollständig ausgeschlossen. Denn sobald man beispielsweise den Säugling in die Gemeinschaft  ohne  weiteres aufnähme und deren Regeln unterwürfe, hätte man ja sofert den Rechtszwang wieder eingeführt und eine Herrschaft über einen Menschen ausgeübt, ohne daß diese regelnden Normen auf dessen Zustimmung in ihrem Geltungsanspruch gegründet wären.

Die anarchistische Organisation des gesellschaftlichen Daseins der Menschen ist also darin verfehlt, daß sie nur für bestimmte, empirisch besonders qualifizierte Menschen zugänglich ist und anderen Menschen, denen die genannten Eigenschaften fehlen, verschlossen bleibt.

Ich deduziere mithin die Notwendigkeit des rechtlichen Zwangs nicht daraus, daß es den Kleinen und Schwachen sonst "schlecht ergehen" würde; denn dies kann ich im Voraus und allgemein feststehend gar nicht wissen. Ich leite auch nicht die berechtigte Existenz einer Rechtsordnung davon ab, daß nur unter einer solchen die "wahre" Freiheit jedes einzelnen gedeihen kann, dessen Sphäre vor unerwünschtem Eindringen Dritter nun vollauf sicher gestellt wäre; das wäre nach geschichtlichen Daten ganz unberechtigt und würde aus dem formalen Rechtszwang an und für sich noch ganz und gar nicht folgen. Ich gründe vielmehr das Recht des Rechtes in seinem formalen Bestand auf die Erwägung, daß die  rechtliche  Organisation die  einzige  ist, welche  allen Menschen ohne Unterschied besonderer zufälliger Eigenschaften offen steht. 

Organisieren heißt: unter Regeln vereinigen. Eine solche Regulierung menschlichen Verhaltens ist Mittel zum Zweck, ein Instrument im Dienste der Verfolgung des Endzwecks möglichster Vervollkommnung der Menschen. Eine  allgemeine  Berechtigung kann mithin nur diejenige Regelung des menschlichen Zusammenlebens beanspruchen, welche in allgemeiner Weise alle Menschen ohne Rücksicht ihrer subjektiven und verschiedenen Eigentümlichkeiten umspannen kann. Und das ist allein das Recht.

So bleibt auch in einem schlechten Recht der Rechtszwang ansich genommen als wohl begründet zurück. Seine Existenzberechtigung wird durch eine etwaige Verwerflichkeit des betreffenden konkreten Rechtsinhaltes nicht getilgt oder auch nur berührt: er ist begründet, weil er allein die Möglichkeit der aer allgemeingültigen, weil allgemein menschlichen, Organisation bietet. Darum kann nicht in der Abschaffung des rechtlichen Zwangs als solchem, sondern nur in der Vervollkommnung des geschichtlich überlieferten Rechts seinem Inhalt nach der soziale Fortschritt gefunden werden.

Dies enthält eine nach jeder Seite hin ausreichende Deduktion des Rechtszwangs. Unter der Voraussetzung einer regelnden Organisation des menschlichen Lebens kann nur diejenige Ordnung  allgemeinen  Geltungsanspruch behaupten, die von allen Sonderqualitäten einzelner bestimmter Menschen absieht und  jeden  Menschen als solchen zu umschließen die Fähigkeit hat. Die anarchistischen Genossenschaften könnnen dies nicht leisten, da sie für ihre Mitglieder konkrete Eigenschaften fordern. Das Recht allein vermag Gemeinwesen zu schaffen, die in der Frage der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder von allen empirischen Zufälligkeiten in deren Person gänzlich unabhängig sind. So ist unter den zwei verschiedenen Arten sozialer Organisation  die Rechtsordnung  diejenige, welche allein eine allgemeingültige Berechtigung aufweisen kann: und dies ganz  formal  genommen, den rechtlichen Zwang also an und für sich betrachtet, losgelöst von allem  besonderen Inhalt  bestimmter geschichtlicher Rechtssatzungen.

Diese letztgenannte Frage nach dem rechten Inhalt einer Rechtsordnung ist nun erst auf der Grundlage der eben gegebenen Lösung vorzunehmen. Es ist ein häufiger methodischer Fehler, daß die zwei Probleme nicht bewußt und scharf genug getrennt und auseinandergehalten werden: die Untersuchung, ob der rechtliche Zwang  als solcher  sich als berechtigt dartun läßt, und die Erwägung darüber, ob  unter der Voraussetzung  der Bejahung jener Frage  bestimmte  Rechtsnormen  inhaltlich  zu rechtfertigen sind.

Die oben erwähnte Frage nach der Berechtigung des Kirchen rechts  gehört somit zum zweiten Problem. SOHM setzt den Rechtszwang  im allgemeinen  unbezweifelt voraus und stellt nur  dessen Erstreckung  auf die Regulierung des kirchlichen Gemeindelebens in zweifelnde Abrede. Es ist also  ein bestimmter Inhalt  des geschichtlich überkommenen Rechts in seiner Berechtigung fraglich geworden, nicht aber die Rechtsordnung als solche und der objektive Geltungsanspruch des Rechtsgebotes ansich in Erörterung gezogen.

Und so steht es mit jedem anderen Rechtsteil, wie etwa dem Strafrecht, oder mit besonderen einzelnen Rechtsinstituten, als Privateigentum, Vertragsbindung, Erbrecht usw. Es ist unmöglich, von ihnen eine prinzipielle Begründung zu geben, die von der Vorfrage nach dem Recht der Rechtsordnung überhaupt unabhängig wäre. Vor allem hat dies, wie früher besprochen wurde, vom sozialistischen Problem zu gelten. Es könnte viel Wirrnis und Unklarheit in dessen Erörterung gespart werden, wollte man sich allgemein stets vorhalten, daß der ökonomische Sozialismus im Sinne der Kollektivierung der Produktionsmittel eine besondere Art  rechtlicher  Organisation bedeutet, und daß darum seine wissenschaftliche Untersuchung unter die Fragen gehört, welche sich unter dem genannten zweiten Problem - nach dem  berechtigten Inhalt  eines bestimmten Rechts - zusammenfassen.

Diese Fragen verlangen ihre besondere Untersuchung nach den treibenden Kräften der Rechtsentwicklung und der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens, vor allem unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Wirtschaft und Recht. Sie sind es, deren einheitliches Ziel für soziale Erkenntnis und politisches Handeln wir im Wort KANTs wiederfinden, das nach unseren Ausführungen, der Theorie des Anarchismus gegenüber als ungeschmälert zutreffend aufrechterhalten werden muß:
    "Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein  das Recht  verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft."
LITERATUR Rudolf Stammler, Die Theorie des Anarchismus, Berlin 1894
    Anmerkungen
    1) KARL DIEHL, Pierre-Joseph Proudhon - seine Lehre und sein Leben, (1888-89). Ferner im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Art. "Proudhon" (1893).
    2) ARTHUR MÜLBERGER, Studien über Proudhon, 1891.
    3) "Man denke sich eine Herde wilder Pferde - und man wird auf vollendete Freiheit, gleichen Anteil aller an allen Rechten, mit einem Wort auf vollsten Kommunismus stoßen; dafür ist aber eine Entwicklung hier nicht möglich, denn zur Entwicklung ist es erforderlich, daß es dem einen Teil bedeutend besser, dem anderen schlechter ergehe; die ersten schreiten dann auf Kosten der zweiten fort, denn die Natur kennt keine Schonung, wenn es gilt eine Entwicklung zu fördern." - So der russische Sozialist ALEXANDER HERZEN (1812 - 1871). Aber auch hier ist im Gedanken der sozialen Entwicklung die Ordnung  durch Regeln  vorausgesetzt, nach denen sich das "besser oder schlechter ergehen" doch erst bestimmt.. Diese Regulierung ist es, welche die Bedingung und den Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts überhaupt abgibt. Die Berufung auf "die Natur" als Ausdruck des Kausalitätsgesetzes genügt dabei nicht. Denn bei einer  ausschließlichen  Verwendung von Ursache und Wirkung betreffs der einzelnen Erscheinungen erhielte man den Begriff der Entwicklung zu  etwas Vollkommenerem  gar nicht, da dieses nur unter der Erwägung  nach Zwecken  gefaßt werden kann; die Entwicklung im Sinne des Fortschritts ist ohne ideales Ziel, auf welches hin "die Entwicklung fortschreitet", begrifflich gar nicht denkbar. - Über das sonstige Verhältnis HERZENs zu dem ihm vielfach nahestehenden PROUDHON vgl. SPERBER (HANS von ROSEN) "Die sozialpolitischen Ideen Alexander Herzens", 1894, bes. Seite 80f.
    4) MAX STIRNER, Der Einzige und sein Eigentum, erschienen 1845. Hinter dem Pseudonym versteckt sich, wie schon bemerkt, KASPAR SCHMIDT. Über das Leben des Verfassers ist nichts weiter allgemein bekannt geworden, als daß er am 25. Oktorber 1806 zu Bayreuth geboren worden ist, nach beendeten theologischen und philosophischen Studien in Berlin als Gymnasial- und Töchterschullehrer gewirkt hat und in seinen späteren Lebensjahren ausschließlich literarisch tätig gewesen ist. Er schrieb eine "Geschichte der Reaktion" und gab verschiedene englische und französische nationalökonomische Werke übersetzt heraus. Er soll in großer Dürftigkeit gelebt haben; und ist am 26. Juni 1856 gestorben. - Über (unbewußte?) Anklänge an ihn bei NIETZSCHE vgl. SCHELLWIEN, Stirner und Nietzsche und LAUTERBACH in der Vorrede zur Ausgabe des "Einzigen" in Reclams Universalbibliothek (1893).
    5) Die Einzelausführung dieser Frage, insbesondere das schwierige Problem nach der Abgrenzung der rechtlichen Zwangsgewalt von roher Willkürmacht muß ich an dieser Stelle beiseite lassen. Zur Durchführung des obigen Gedankengangs ist die abschließende Lösung jener Aufgaben nicht unmittelbar erforderlich. Es genügt hier vollständig der feststehende Umstand, daß keine irgendwelche Begriffsbestimmung von staatlicher Organisation gegeben werden kann, ohne dabei die Möglichkeit einer rechtlichen Bindung überhaupt zu verwenden. Ein beliebiger Versuch wird dies jedem sofort bestätigen.
    6) ADOLF MERKEL, Juristische Enzyklopädie, § 78 (1885)
    7) RUDOLPH SOHM, Handbuch des Kirchenrechts, Bd. 1: Die geschichtlichen Grundlagen (1892). - Die Leitsätze SOHMs sind: "Das Wesen der Kirche steht zum Wesen des Rechts im Gegensatz. Das geistliche Wesen der Kirche schließt jegliche Rechtsordnung aus. Im Widerspruch mit dem Wesen der Kirche ist es zur Ausbildung von Kirchen recht  gekommen."
    8) Reichsgesetz über den Erwerb und den Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit, vom 1. Juni 1870, §§ 15 - 19. Vgl. auch Zusatzkonvention zum Frankfurter Frieden, die Option von Elsaß-Lothringen betreffend, vom 11. Dezember 1871, Artikel 1.
    9) Siehe Beilage zur "Allgemeinen Zeitung" vom 19. Dezember 1892.
    10) Über die äußere Geschichte der anarchistischen Bewegung vgl. RUDOLF MEYER, Der Emanzipationskampf des vierten Stanes (1875), besonders in Bd. II, der die außerdeutschen Länder schildert; THUN, Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland (1883); GARIN, Die Anarchisten (1887); ADLER im "Handwörterbuch der Staatswissenschaften", Bd. I (1890), Artikel "Anarchismus" - Beiträge zu einer Würdigung der Theoretiker des Anarchismus geben: REICHEL, "Der Anarchismus", in Schweiz. Sozialdem. II, Nr. 45f (1889); BERNSTEIN, Die soziale Doktrin des Anarchismus, in Neue Zeit, Bd. X, Nr. 12, Seite 12 und 45 - 47 (1892).
    11) Abweichend also von dem bekannten Satz des Saint-Simonismus "A chacun selon sa capacité, à chaque capacité selon ses oeuvres" [Jeder nach seinen Fähigkeit, jedem nach seinen Fähigkeiten. - wp].
    12) BENJAMIN R. TUCKER, Herausgeber der in New York erscheinenden Zeitschrift "Liberty" [not the daughter, but the mother of order].
    13) Unter anderen auch IBSEN. Siehe dessen Briefe an BRANDES: "Der Staat ist der Fluch des Individuums. Womit ist Preußens Staatsstärke erkauft? Mit dem Aufgehen des einzelnen im politischen und geographischen Begriff. Der Kellner ist der beste Soldat. - Der Staat muß fort! Bei dieser Revolution werde ich sein. Man untergrabe den Staatsbegriff, man stelle die Freiwilligkeit und das geistig Verwandte als das einzig Entscheidende für eine Vereinigung auf, das ist der Beginn zu einer Freiheit, die etwas wert ist."
    14) JOHN HENRY MACKAY, Die Anarchisten, Kulturgemälde aus dem Ende des 19. Jahrhunderts (1891; Volksausgabe 1894).
    15) "Er (AUBAN) sah jetzt, was es war, das PROUDHON unter Eigentum (in dem Satz: Eigentum ist Diebstahl.) verstanden hatte: nicht der Ertrag der Arbeit, welchen er stets gegen den Kommunismus verteidigt, sondern die gesetzlich geschützten Privilegien dieses Ertrags, wie sie in den Formen des Wuchers, vornehmlich denen des Zinses und der Rente, auf der Arbei lasten und die freie Zirkulation derselben hemmen; daß  Gleichheit  bei PROUDHON nichts anderes heißt, als Gleichheit der Rechte, und Brüderlichkeit, nicht Entsagung, sondern kluge Erkenntnis der eigenen Interessen im Licht des Mutualismus; daß er die freie Assoziation zu einem bestimmten Zweck im Gegensatz zur Zwangsvereinigung des Staates, die Freiheit, welche sich darauf beschränkt, die Gleichheit in dem Mitteln der Produktion und beim Tausch der Produkte aufrecht zu erhalten, verteidigt, als die einzig mögliche, gerechte und wahre Staatsform."
    16) Siehe hierüber KANT, "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793) [nicht lesenswert - wp] in der HARTENSTEIN-Ausgabe, Bd. V, Seite 363f.