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GEORG MOSKIEWICZ
Zur Psychologie
des Denkens

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"Bedeutungsintentionen haften bereits an den einfachsten Bestandteilen unseres intellektuellen Lebens, also an Vorstellungen, wie Tisch, Stuhl usw., ebenso wie an ganz komplizierten Denkgebilden, wie etwa philosophischen Gedanken. Intentionen sind bereits überall vorhanden."

"Münsterberg und Rickert sehen im Willen zwar etwas durchaus Primäres, ja sogar das Wesentliche des Menschen, sind aber der Überzeugung, daß in einer wissenschaftlichen Analyse des Seelischen der Wille keinen Platz finden darf. Die Psychologie ist, so meinen diese Autoren, eines Gesetzeswissenschaft, deren Aufgabe es ist, analog der Naturwissenschaft kausale Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen."


Einleitung

Die neueste Psychologie unterscheidet in der Lehre vom Denken zweierlei: das Denken an etwas und das Denken über etwas. Beim ersten handelt es sich darum, einen einzelnen gegenständlichen Inhalt in seinem Sinn und seiner Bedeutung unanschaulicherweise zu erfassen. Wenn ich mir z. B. die Bedeutung eines Wortes wie etwa Kultur oder Gerechtigkeit zu Bewußtsein bringe, wenn ich den Sinn eines Gedankens oder eine Situation erfassen will, dann liegt das vor, was man das Denken an etwas genannt hat.

Dabei ist das Problem, wie dieses einheitliche, unanschauliche Erleben aufzufassen ist, ob als ein sehr inniges Ineinander von Vorstellungen, also als eine Art Allgemeinvorstellung, welche, so sehr sie auch die Anschaulichkeit einer Einzelvorstellung verloren hat, doch prinzipiell mit dieser verwandt ist, oder ob hier ein neues psychisches Element vorliegt, das eben in einem einheitlich unanschaulichen Erleben besteht. Solche Elemente sind Gedanken genannt wordne und sollen die Bausteine des Denkprozesses darstellen.

Demgegenüber steht das Denken über etwas. Es ist ein psychischer Prozeß, in welchem die einzelnen Bestandteile - sie werden hier Vorstellungen genannt - so aneinander gereiht werden, daß sie in ihrer Gesamtheit einen Sinn ergeben, ohne daß sie vorher in ihrer Reihenfolge und Anordnung schon vorher erlebt (1) worden waren. Was Sinn ist, läßt sich psychologisch nicht näher definieren; es ist eben jener eigentümliche Zusammenhang von Vorstellungen der Art, daß diese Vorstellungen nicht nur einzeln miteinander verknüpft sind, sondern daß alle Vorstellungen außerdem noch eine Beziehung zu etwas ihnen allen Gemeinsamen haben, das wir eben als Sinn erleben und das uns ermöglicht, diesen Vorstellungszusammenhang als Ganzes zu betrachten und von ihm aus im Denken weiter zu schreiten. Ein solches Denken über etwas zeigt sich am deutlichsten im Nachdenken, d. h. in einem willkürlichen Aneinanderreihen von Vorstellungen auf ein bestimmtes Ziel hin, das dem Nachdenkenden von Anfang an gegeben ist. Indem alle Vorstellungen diese eine Beziehung auf dieses Ziel haben, geben sie in ihrer Gesamtheit einen Sinn.

Aber auch wenn dem Denkenden kein Ziel vor Augen schwebt, besteht oft ein sinnvolles Aneinanderreihen von Vorstellungen. Ein solches unwillkürliches Denken ist in jeder Unterhaltung zweier Menschen gegeben. Die Äußerung des Einen ruft eine Äußerung des Anderen hervor. Aber weder war die zweite Äußerung mit der ersten bereits einmal in dieser Reihenfolge verknüpft, noch steht dem Redenden ein bestimmtes Ziel deutlich vor Augen, auf das er hinaus will. Vielmehr ruft, in vielen Fällen zumindest, die eine Äußerung die andere unmittelbar hervor, die sich sinnvoll an die erste anschließt. Man kann dies einen Einfall nennen und damit ausdrücken, daß dieser Gedanke ganz unwillkürlich gekommen ist und sich doch dem vorangehenden sinnvoll anschließt und das Gespräch vorwärts führt. Solche Einfälle bilden nun einen wesentlichen Bestandteil unseres Denkens. Sie bilden den Hauptbestandteil unserer Unterhaltungen, durch sie beantworten wir viele Fragen, in tausend Situationen des täglichen Lebens tauchen sie auf und veranlassen uns, dieses und jenes zu tun. Ereignisse, von denen wir hören, erwecken in uns eine Reihe von Gedanken, in welchen wir deren Wirkungen, Ursachen usw. weiterdenken. Oft setzen sich lange Gedankengänge fast nur aus solchen Einfällen zusammen. Von irgendeinem Gedanken nehmen wir den Ausgangspunkt, da fällt uns ein zweiter Gedanke ein, der in einer engen Beziehung zum ersten steht. Er stellt vielleicht die Wirkung eines im ersten Gedanken erfaßten Ereignisses dar, ein dritter Gedanke zeigt uns dessen Wirkung und so fort, in logischer Reihe folgt ein Gedanke dem anderen, ohne daß ein Ziel bestände, welches ein eigentliches Nachdenken zur Folge hätte.

Natürlich ist bei solchen Einfällen, so besonders in Unterhaltungen, der Wille nicht völlig ausgeschaltet. Es besteht ja immer ein Zustand der Aufmerksamkeit, die den jedesmaligen Gedanken festhält; nur ein vom Willen antizipiertes Ziel ist bewußt oft nicht vorhanden.

Solche Einfälle schieben sich auch in den eigentlichen Prozeß des Nachdenkens ein. Die entscheidensten Gedanken gewinnen wir oft durch Einfälle. Was wir heute nicht durch Nachdenken herausbekommen, fällt uns morgen ein. Und umgekehrt, mitten in einer Gedankenreihe, die nur aus Einfällen besteht, stockt der Ablauf plötzlich, eine Frage drängt sich auf, die wir nicht gleich beantworten können, damit ist ein Ziel gegeben, und wir beginnen nachzudenken. So wechseln Einfälle und willkürliches Nachdenken miteinander ab und gehen ineinander über.

Wir haben also zwei Arten psychischen Prozesse. Einmal das willkürliche Denken, bei welchem alle aufeinanderfolgenden Vorstellungen durch ein von Anfang an im Bewußtsein wirksames Ziel bestimmt sind, und dann das unwillkürliche Denken, in welchem die einzelnen Vorstellungen durch sogenannte Einfälle hervorgerufen werden. Gemeinsam ist beiden, daß Vorstellungen aneinander gereiht werden, welche vorher in dem Zusammenhang, welchen sie jetzt bilden, noch nicht gestanden haben und doch einen Sinn ergeben.

Solche Prozesse, welche hier der Kürze wegen Denken genannt werden sollen, wobei also immer das "Denken über etwas" gemeint ist, sollen allein folgender Arbeit behandelt werden.

Ihnen gegenüber stehen zwei andere Arten psychischer Prozesse, in denen ebenfalls Vorstellungen aneinander gereiht werden, einmal das gedächtnismäßige Hersagen von Vorstellungsverbindungen und dann das ideenflüchtige Aneinanderreihen von Vorstellungen, wie dies in krankhaften Zuständen, bei starker Ermüdung, im Traum stattfindet. Im ersten Fall ist in der ganzen Reihe zwar ein Sinn vorhanden, aber die den Sinn schaffende Reihenfolge der Vorstellungen wird nicht erst während des Nachdenkens erzeugt, sondern nur reproduziert. Im zweiten Fall ist die Reihe der Vorstellungen vorher noch nicht bestimmt, ergibt aber auch keinen Sinn.

In beiden Fällen herrschen die gewöhnlichen Assoziationsprinzipien, d. h. ausschlaggebend ist die Festigkeit einer einmal gestifteten Assoziation, mag diese Festigkeit nun durch häufiges Lernen oder durch ein Gefühl hervorgerufen werden. Diejenige Vorstellung schließt sich an die vorangehende an, welche am stärksten mit ihr assoziativ verknüpft ist. Daß auch hier die Konstellation wirksam ist, und in welcher Weise wird später gezeigt werden.

Anders liegt es beim Denken. Hier kann ich das Auftreten von Vorstellungen nicht durch eine bloße Festigkeit der Assoziation erklären. Schon wenn ich eine gehörte oder gelesene Geschichte wieder erzähle, ist die Reihenfolge der Vorstellungen eine andere, wie damals, wo ich die Geschichte gelesen oder gehört habe, und damit ist gegeben, daß die Festigkeit der Assoziationen, die doch in diesem Fall am stärksten bei benachbarten Vorstellungen ist, über die Reihenfolge der Vorstellungen nicht entscheidet.

Daß dasselbe von Einfällen gilt, ist ohne weiteres klar. Hier folgt auf eine Vorstellung eine andere, die mit ihr vielleicht überhaupt noch nicht zusammen im Bewußtsein gewesen ist. Dasselbe gilt erst recht vom willkürlichen Denken, das ja gerade darin besteht, neue Vorstellungsverbindungen zu schaffen.

Damit ist das Problem einer Psychologie des Denkens gegeben. Es müssen diejenigen Prinzipien festgestellt werden, nach welchen Vorstellungen sich aneinander reihen, die in ihrer Gesamtheit einen Sinn ergeben (2).

Man hat behauptet, daß die Gesetze des Nachdenkens nicht eher festgestellt werden können, bevor man nicht dessen Elemente kennt, welche eben nach der Ansicht moderner Psychologen, an deren Spitze BÜHLER (3) steht, Gedanken sind, dieses Wort im oben bezeichneten Sinn. Damit ist gegeben, was auch anderweitig ersichtlich ist, daß auch die Gesetze beim Nachdenken, also die Verbindungsgesetze der Gedanken andere sind als die der Vorstellungen, was sich nicht durch die Verdichtung einer Reihe von Vorstellungen und auch nicht durch ein Anklingen vieler Vorstellungen erklären läßt.

Es ist hier nicht der Ort eine Kritik dieser Ansichten zu geben. Sie könnte nur kurz, darum oberflächlich sein. Hier soll nun Folgendes bemerkt werden:

Das Entscheidende für die vorliegende Untersuchung - und das soll hier allein betont werden - ist dies, mag man den Gedanken selbst auffassen als was man will, entweder nur als Verdichtungsprodukt von Vorstellungen oder als etwas ganz Neues, eines wird man nicht leugnen könne; um zum Verständnis irgendeines geistigen Zusammenhangs zu kommen, müssen mit den Begriffen, die diesen Zusammenhang bilden, Erfahrungen gewonnen sein, welche zum Verständnis nötig sind. Diese Erfahrungen müssen wirksam werden, um das Verständnis herbeizuführen.

Mag ich also den Sinn eines Satzes noch so einheitlich erleben, was mir zu diesem Sinn verhilft, sind die Erfahrungen, die ich mit den einzelnen, diesen Satz bildenden Begriffen gemacht habe, und zwar bald die, bald jene Erfahrung, und ein Wort ist, wenn es in einem sinnvollen Zusammenhang steht, nichts anderes als die Summe der Erfahrungen, die ich mit ihm gemacht habe, soweit sie für diesen Sinn in Betracht kommen.

Das ist selbstverständlich und wird gewiß von niemandem geleugnet werden. Es wird hier nur erwähnt, weil diese Überlegungen, für "das Denken über etwas" von Bedeutung sind, insofern als jeder Begriff und jede Vorstellung eine Summe von Einzelvorstellungen bedeutet, die durch die Erfahrung erworben, mit diesen Begriffen eng verbunden sind, und insofern, als für den Denkprozeß und für den Fortschritt im Denken nicht der einheitlich unanschaulich erlebte Gedanke, sondern vielmehr diese Summe von Einzelvorstellungen in Betracht kommt.

Kurz: im Denkzusammenhang - und um diesen handelt es sich in der vorliegenden Arbeit - kommt nicht das sogenannte psychische Element, der Gedanke, in Frage, sondern das, was diesen Gedanken gebildet hat. All die Erfahrungen und Einzelgedanken, die sich in diesem Gedanken zur Einheit zusammengeschlossen haben, sind im Denkprozeß wirksam und führen ihn weiter (4).

Mit dieser Definition des Denkens als einer sinnvollen Aufeinanderfolge von Vorstellungen ist nun auch gegeben, daß es nicht angängig ist, eine Denkpsychologie von der Urteilslehre aus zu begründen. Wir denken wohl im Urteilen, aber diese einzelnen Urteile sind nur die Elemente, die Bausteine des Denkens, nicht dieses selbst. Dieses besteht in der ganz eigenartigen Aufeinanderfolge von Vorstellungen und Urteilen, und diese Aufeinanderfolge wird uns nicht dadurch näher erklärt, daß man das Urteil psychologisch näher begründet. Gewiß bedarf eine vollendete Denkpsychologie auch einer Psychologie des Urteils, aber Urteile fälle ich in gleicher Weise beim Träumen und Phantasieren, beim gedächtnismäßigen Reproduzieren von früher Gedachtem, wie beim Nachdenken über neue Probleme. Urteile sind hier überall in derselben Weise vorhanden, und doch unterscheiden sich diese psychologischen Vorgänge in ihren Vorläufen wesentlich voneinander.

Dazu kommt noch eins: Das, was das Spezifische eines Urteils bildet, ist bei allen Urteilen, wenn auch vielleicht in einem verschiedenen Grad, dasselbe, es ist dies die eigenartige Verbindung zweier Vorstellungen oder Begriffe miteinander und die Überzeugung von der Geltung der Verbindung dieser Begriffe. Aber diese Charakteristika erklären gar nicht den Fortschritt im Denken, dieser wird nur dadurch verständlich gemacht, daß ich auf den Inhalt der einzelnen Urteile eingehe und zu zeigen versuche, wieso sich gerade diese bestimmten Vorstellungen miteinander zu Urteilen verbinden, so daß der Denkprozeß fortschreitet und nicht andere Vorstellungen, die den Denkprozeß nicht vorwärts bringen; das aber kann eine Urteilslehre gar nicht erklären.

Der letzte Grund dafür, daß man bei einer Psychologie des Denkens so gern vom Urteil ausgeht, liegt wohl daran, daß man sich an der Logik orientiert hat, die ja ebenfalls das Denken zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht. Aber man übersieht dabei, daß es die Logik mit der Gültigkeit, dem Wert des Denkens zu tun hat, nicht mit dessen Entstehung. Aber gerade dieses ist die Aufgabe der Psychologie (5).

Wie wenig zweckmäßig es ist, die Denkpsychologie vom Urteil aus zu begründen, soll folgende Überlegung zeigen: Wenn gefragt wird, welche Farbe der vor mir liegende Stoff hat, und ich antworte, dieser Stoff ist rot, und wenn ferner gefragt wird, welchen Charakter dieser Mensch hat und ich darauf antworte, dieser Mensch ist unmoralisch, so sind diese beiden Urteile logisch völlig gleichwertig. Und doch, wie verschieden ist der psychische Prozeß, der zu diesen beiden Urteilen führt! Im ersten Fall spielt sich ungefähr Folgendes im Bewußtsein ab: Voraussetzung der Beantwortung der Frage ist nur, daß der Gefragte den Begriff der Farbe kennt, die einzelnen Fragen voneinander unterscheiden kann und die üblichen Bezeichnungen für die Farben hat. Alsdann besteht der psychische Vorgang darin, daß infolge der Frage aus dem Gesamteindruck des Stoffes (seiner Farbe, seiner Form usw.) die Farbe herausgehoben und in den Mittelpunkt des Bewußtseins gerückt wird, und alsdann stellt sich die Wortbezeichnung assoziativ ein und wird ausgesprochen.

Ganz anders im zweiten Fall. Die Frage nach dem Charakter eines Menschen läßt sich in den meisten Fällen ohne weiteres überhaupt nicht beantworten. Zunächst müssen die verschiedenen Handlungsweise dieses Menschen ins Bewußtsein gerufen und auf ihre moralische Qualität hin geprüft werden. Dann weiß man aus Erfahrung, daß solche Beurteilungen oft falsch sind, wenn man nicht die Motive der einzelnen Handlungen kennt. Ferner, daß Erziehung, Milieu, individuelle Anlagen berücksichtigt werden müssen, kurz: daß eine ganze Reihe von Überlegungen angestellt werden muß, um im Resultat zu einem Urteil zu gelangen. Das logisch nicht komplizierter ist als das zuerst genannte. Daraus geht doch unzweideutig hervor, daß man das Denken nicht mit dem Urteilen identifizieren kann, daß vielmehr immer nur das Ergebnis des oft recht komplizierten Denkprozesses aus Urteilen besteht. In vielen Fällen, z. B. bei den meisten Fragen, wird das Urteil als solches bereits dem Gefragten gegeben. Es kann sich also gar nicht darum handeln, ein Urteil neu zu bilden, sondern nur darum, es zu begründen. In diesem Begründen, d. h. im Herbeiholen aller Erfahrungen, die geeignet sind, das Urteil als richtig zu erweisen, liegt die Tätigkeit des Denkens, und die Aufgabe der Psychologie des Denkens besteht darin, festzustellen, wie sich an das eine bereits gegebene Urteil andere zur Begründung geeignete anschließen. Nun kann sich der Prozeß des Denkens selbst in Urteilen abspielen, aber dann bleibt doch die Frage, nach welchen Gesetzen sich diese Urteile aneinander reihen, wie sie in ihrer Gesamtheit aufgebaut sind. Vor allem aber verlangt doch eine Psychologie des Denkens eine Beantwortung der Frage, woher den das Denken all das Material von Vorstellungen nimmt, welches es für seine Urteile verwendet. Um beim obigen Beispiel zu bleiben, wie kommt es zu all den Überlegungen, die notwendig sind zur Beurteilung des Charakters eines Menschen? In der Frage sind sie doch nicht enthalten. Was weckt solche allgemeine Überlegungen? In der Frage sind sie doch nicht enthalten. Was weckt solche allgemeine Überlegungen? Wie wecken diese wieder die entsprechenden Vorstellungen?

Das Urteil ist eben ein rein logischer Begriff, und wenn auch jedem Urteil sicher immer ein spezifisches psychisches Korrelat entspricht, so kann dieses doch bei den verschiedenen Urteilen ganz verschieden sein, während logisch diese Urteile ganz gleichwertig sind. Bei den einen ist psychisch nicht viel mehr als eine einfache Assoziation zweier Vorstellungen vorhanden. Bei den anderen tritt das Bewußtsein der objektiven Gültigkeit viel stärker hervor. Ähnliche Unterschiede sind bei der Entstehung der Urteile im Bewußtsein vorhanden. Die einen entstehen fast rein assoziativ, bei den anderen ist ein langer Weg bis zu ihrer Entstehung nötig. Dies alles beweist, daß man vom Urteilen selbst und den einzelnen Urteilsarten nicht ausgehen kann, wenn man den Prozeß des Nachdenkens untersuchen will, eben weil gar keine Proportionalität zwischen den einzelnen Urteilsformen und den zu ihnen führenden Denkprozessen besteht (6).

Von solchen Überlegungen aus ist auch ein Versuch zu beurteilen, der in neuester Zeit von ERDMANN (7) gemacht worden ist, das Denken vom Urteil aus zu untersuchen. Er unterscheidet zunächst die formulierten von den intuitiven Urteilen; formulierte Urteile sind solche, bei denen Subjekt und Prädikat im Bewußtsein des Urteilenden möglichst klar und deutlich gegenwärtig sind, und diese Verknüpfung an die sprachliche Formulierung gebunden ist. Intuitive solche, wo die prädikative Verknüpfung nicht mehr vorhanden ist, und die Sachvorstellung nicht mehr die entsprechenden Worte hervorrufen. ERDMANN unterscheidet dann ferner im intuitiven Denken die hypologische Form, wo eine sprachlogische Formulierung wie beim Kind infolge der Armut seiner Vorstellungen noch gar nicht vorhanden ist und die metalogische Form, wo, wie beim Künstler und Gelehrten die Fülle des Vorgestellten so groß ist, daß die sprachliche Formulierung völlig unzureichend erscheint.

ERDMANN gibt selbst zu, daß beide Arten des Denkens dauernd ineinander übergehen, daß der dem Denken wesentliche Prozeß - logisch gefaßt das Vergleichen und Unterscheiden, psychologisch die Aufmerksamkeit - beiden gemeinsam ist. Aber um diesen Prozeß handelt es sich doch gerade, und ob das Resultat dieses Prozesses oder selbst Etappen desselben ihre sprachliche Formulierung erhalten oder nicht, hängt, wie ERDMANN selbst behauptet, von vielen Umständen ab, die den Prozeß selbst gar nicht zu berühren brauchen. Zu einer Erkenntnis dieses Prozesses kann man also nicht kommen, wenn man von den verschiedenen Urteilsarten ausgeht. Man muß vielmehr zunächst diesen Prozeß selbst untersuchen und kann hinterher erst feststellen, warum er zu so verschiedenen Formen des Urteils führt (8).

Will ich also das allem Denken Gemeinsame darstellen und gegen verwandte psychische Prozesse abgrenzen, so muß ich in erster Linie seinen eigentümlichen Vorstellungsablauf schildern und dessen Gesetze aufweisen.

Daß das Denken sich nicht durch die bekannten Assoziationsprinzipien erklären läßt, ist bereits oben auseinandergesetzt worden. Es müssen also andere Prinzipien vorhanden sein, die den sinnvollen Ablauf von Vorstellungen bestimmen. Als solches Prinzip wird von jeher, in der Gegenwart besonders von WUNDT, das Vorhandensein eines Willens hingestellt, der die einzelnen Vorstellungen so auswählt, daß sie sich zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Aus diesem Grund zählt WUNDT das Denken zu den apperzeptiven Prozessen und stellt es den assoziativen gegenüber. WUNDT spricht von der Willkür, durch welche bei der apperzeptiven Synthese von den durch die Assoziationen bereitliegenden Vorstellungen und Gefühlsbestandteilen einzelne bevorzugt, andere zurückgedrängt werden.

Es soll nun zunächst festgestellt werden, in welcher Weise der Wille in der Psychologie behandelt werden kann.

Verschiedene Möglichkeit sind vorhanden.

Man kann einmal auf dem Standpunkt stehen, daß der Wille überhaupt kein seelisches Element ist, daß er nur aus einer Kombination von Empfindungen, Vorstellungen und Gefühlen bestimmter Art besteht. Für die Psychologie erwächst dann die Aufgabe, diese eigenartige Kombination darzustellen und in allen Willenshandlungen aufzuzeigen. Dieser Standpunkt wird von einer strengen Assoziationspsychologie gefordert und ist am konsequentesten von EBBINGHAUS und ZIEHEN vertreten worden.

Verwandt mit dieser Ansicht, zumindest soweit die psychologische Forschung in Betracht kommt, ist ein von MÜNSTERBERG, RICKERT usw. vertretener Standpunkt. Sie sehen im Willen zwar etwas durchaus Primäres, ja sogar das Wesentliche des Menschen, sind aber der Überzeugung, daß in einer wissenschaftlichen Analyse des Seelischen der Wille keinen Platz finden darf. Die Psychologie ist, so meinen diese Autoren, eines Gesetzeswissenschaft, deren Aufgabe es ist, analog der Naturwissenschaft kausale Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen. Das aber vermag nur eine konsequente Assoziationspsychologie, in welche der Wille, dessen aktives Moment die strenge Gesetzmäßigkeit sprengen würde, nicht hineingehört. Die Psychologie kann daher auch nur die eigenartige Kombination von Vorstellungen und Gefühlen darstellen, in welche sich der Wille analysieren läßt. Aber sie muß sich dabei bewußt sein - eben weil sie den lebendigen Willen von ihrer Betrachtung völlig ausscheidet -, daß sie nur Abstraktion treibt, daß das, was sie an Gesetzmäßigkeiten gibt, nicht das eigentliche unmittelbar erlebte Seelische ist, sondern daß das nur abstrakte, zum Zweck der Aufstellung kausaler Beziehungen gewonnene Gebilde sein können.

Diesen Ansichten steht eine völlig andere entgegen, welche den Willen als seelisches Element ansieht und ihn trotzdem oder gerade darum in der psychologischen Beschreibung gelten lassen will.

Hier besteht nun die Möglichkeit, den Willen als Element neben die anderen Elemente, also neben Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle zu setzen und mit diesen in kausale Beziehungen zu bringen. JODL z. B. tut dies.

Oder aber man sieht im Willen die eigentliche Ursache allen seelischen Geschehens und faßt in Konsequenz dieses Gedankens das seelische Geschehen als ein zweckvolles, zielstrebiges auf. Der Wille ist dann nicht mehr Element neben anderen Elementen, er ist diesen übergeordnet und leitet sie. Dies scheint auch, wenn man den Willen überhaupt in die psychologische Betrachtung hineinzieht, das einzig Konsequente. Denn Willen neben andere Elemente stellen und ihn kausal mit diesen verbinden, heißt, ihm seine Eigenart nehmen, denn diese ist reine Funktion, nämlich Aktivität. Darum muß man vielmehr das ganze seelische Geschehen als ein von einem bewußten oder unbewußten Willen geleitetes, auf ein Ziel hinstrebendes auffassen, und in diesem Bezogensein allen seelischen Geschehens auf dieses Ziel hin manifestiert sich eben der Wille. Die Betrachtungsweise des Seelischen ist alsdann eine teleologische. In der psychologischen Analyse selbst braucht der Wille gar nicht mehr vorzukommen, vielmehr bekundet er sich überall in dem eigenartigen Aufbau und der zweckmäßigen Struktur des Seelischen überhaupt.

WUNDT steht dieser Ansicht nahe, DILTHEY hat eine solche Betrachtungsweise gefordert, WILLIAM STERN vertritt sie in seinen Arbeiten.

Einen eigenartigen Standpunkt nimmt CARL STUMPF (9) ein. Er unterscheidet Erscheinungen und psychische Funktionen. Erscheinungen sind die Empfindungen und Vorstellungen, Funktionen, welche sich an diesen Erscheinungen betätigen, sind das Wahrnehmen, Vorstellen, Urteilen, Wollen, Fühlen, usw. Kein Prädikat, das den Erscheinungen zukommt, kommt den Funktionen zu und umgekehrt. Ferner besteht eine unabhängige Variabilität beider. Damit ist gegeben, daß die Erscheinungen in ihrer Gesetzmäßigkeit ohne die Funktionen betrachtet werden können (STUMPF nennt diese Betrachtungsweise Phänomenologie), wenngleich man sich bewußt sein muß, damit das Seelische noch nicht erschöpfend dargestellt zu haben.

In dieser Arbeit ist folgender Standpunkt vertreten. Es erscheint unmöglich, den Willen nur als Kombination von Vorstellungen und Gefühlen aufzufassen. Das Spezifische des Willens geht bei dieser Analyse verloren. Ebenso unmöglich aber ist es, den Willen als Element neben andere Elemente zu setzen und ihn mit diesen kausal zu verbinden. Vielmehr kan sich der Wille nur in seinen Äußerungen und Betätigungen zeigen. Nun ist alles seelische Geschehen durchaus zweckmäßig, und eine erschöpfende psychologische Betrachtung muß diesem durchaus Rechnung tragen. Aber mit dem bloßen Konstatieren des Zweckmäßigen ist es natürlich nicht getan. Es muß nicht nur der Zweck angegeben, sondern vor allem auch der Weg gezeigt werden, auf welchem dieser Zweck erreicht wird. Das aber kann nur mit Hilfe assoziativer Prinzipien geschehen. Es ist daher in der vorliegenden Arbeit zunächst von den assoziativen Beziehungen der Vorstellungen ausgegangen - wobei die Assoziationspsychologie nicht in ihrer ursprünglichen, sondern in sehr viel erweiterterer Form gefaßt ist -, und insofern kann man diese Arbeit eine Phänomenologie des Denkens nennen. Dann aber soll gezeigt werden, in welcher Form sich das Ziel des Denkens darstellt und vor allem, auf welchem Weg der sich im Denken betätigende Wille dieses Ziel erreicht. Es soll die eigenartige Struktur beschrieben werden, welche die Vorstellungen annehmen, wenn sie unter dem Einfluß des Willens stehen. Alsdann müssen auch die Momente des seelischen Geschehens hervorgehoben werden, an welche sich das Aktivitätsbewußtsein in besonderer Weise knüpft.

Indem wir nicht von einem Willen direkt, sondern von den assoziativen Verknüpfungen der Vorstellungen ausgehen wollen, erreichen wir noch Folgendes: Wenn wir das Denken als sinnvolles aufeinanderfolgen von Vorstellungen bezeichnen, so ist, wie wir bereits sahen, damit ein großes Gebiet des seelischen Geschehens mit inbegriffen, das ohne bewußte Willenstätigkeit verläuft. Wenn sich in der Unterhaltung - um bereits Erwähntes noch einmal kurz zu wiederholen - Vorstellungen an Vorstellungen reihen, wenn man dabei ausspricht, was einem gerade einfällt, so steht dieser Einfall durchaus nicht unter dem Einfluß eines bewußten Willens und doch ist er ein sinnvoller; ebenso ist es beim Schreiben von Briefen, beim Erzählen von Erlebnissen, beim Antworten auf Fragen, wo doch überall ein Sinn vorhanden ist, ohne daß ein bewußter Wille immer die Vorstellung zu lenken braucht (10). Alles sinnvolle Denken ist aber zweckmäßig, und es wird sich in einem unwillkürlichen, aber sinnvollen Denken daher eine ganz ähnliche Struktur nachweisen lassen wie in einem willkürlichen. Beiden Arten des Denkens ist eine eigenartige Anordnung von Vorstellungen gemeinsam, und eine Psychologie des Denkens muß von dieser ausgehen.

Willkürliches und unwillkürliches Denken sind also die beiden Formen, in welchen sich Vorstellungen sinnvoll aneinander reihen. So sehr diese beiden Arten auch ineinander übergehen mögen, so sehr sind sie doch in ihren ausgesprochenen Formen voneinander verschieden, so daß eine getrennte Behandlung erlaubt ist. Es soll mit der Untersuchung des willkürlichen Denkens begonnen werden, welches die Struktur und die Prinzipien des sinnvollen Vorstellungsablaufes besonders deutlich zeigt.

LITERATUR - Georg Moskiewicz, Zur Psychologie des Denkens, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 18, Leipzig 1910
    Anmerkungen
    1) Natürlich haben Gedächtnisleistungen auch einen Sinn. Aber die den Sinn garantierende Verknüpfung und Aufeinanderfolge der Vorstellungen wird nicht erst im Augenblick des Denkens geschaffen, sondern ist schon vorher gebildet worden und wird nur reproduziert.
    2) Die Unterscheidung von Denken an etwas und Denken über etwas findet sich z. B. bei DÜRR, (Lehre von der Aufmerksamkeit, Seite 93), der die Statik des Denkens der Dynamik gegenüberstellt. "Gedanke ist entweder ein einzelner, durch besondere Merkmale charakterisierter Bewußtseinsvorgang, oder ein eigenartiger Verlauf psychischer Prozesse." Die Unterscheidung zwischen willkürlichem und unwillkürlichem Denken einerseits und die Gemeinsamkeit beider gegenüber dem rein assoziativen Vorstellungsablauf andererseits ist zum erstenmal in ganzer Deutlichkeit von HUGO LIEPMANN, Über Ideenflucht, Halle 1904) betont worden.
    3) KARL BÜHLER, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge, I. Über Gedanken, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. IX.
    4) Das Verhältnis dieser Arbeit zu den Untersuchungen HUSSERLs sei nochmals betont. Daß zwischen der rein sinnlichen Empfindung und dem Wissen um den Sinn eines Gegenstandes ein Unterschied besteht, soll ohne weiteres zugegeben werden. Weder ist dieser Empfindungskomplex von Farben und Formen identisch mit der Kenntnis, daß dies ein Gegenstand, und zwar ein Tisch ist, noch verschafft mir der bloße Lautkomplex eines gehörten Wortes zugleich den Sinn dieses Wortes. Es muß noch etwas hinzukommen, das wir mit HUSSERL Intention nennen wollen. Aber abgesehen davon, daß auch HUSSERL (Logische Untersuchungen II, Seite 29f und 64) die Berechtigung zugibt, die Bedeutungsintentionen psychologisch genetisch in assoziative Prozesse aufzulösen, so haftet doch diese Bedeutungsintentionen bereits an den einfachsten Bestandteilen unseres intellektuellen Lebens, also an Vorstellungen, wie Tisch, Stuhl usw., ebenso wie an ganz komplizierten Denkgebilden, wie etwa philosophischen Gedanken. Der Unterschied von Vorstellung und Gedanke (dieser letztere Ausdruck im Sinne BÜHLERs, also mit einer Bedeutungsintention versehen) ragt also tief herab bis zu den einfachsten Formen unseres intellektuellen Lebens. Intentionen sind bereits überall vorhanden. Was einen komplizierten Gedanken von einem einfachen unterscheidet, kann also nicht - oder jedenfalls nicht nur - die Intention sein. Vielmehr besteht der Unterschied in der Inhaltlichkeit der einzelnen Gedanken, die sich zu einem komplizierteren zusammensetzen. Daß sich hierbei auch die einzelnen Intentionen miteinander verknüpften und aufeinander aufbauen, mag sein. Aber ein Gedanke ist doch darum komplizierter, umfassender, weiterbringend als ein anderer, weil eine größere Anzahl inhaltlich verschiedener Gedanken in ihm enthalten ist als in einem anderen. Er ist dadurch entstanden, daß im Laufe der Zeit durch Erfahrung eine Fülle von Erlebnissen sich fest miteinander verknüpft haben, und jedes dieser Erlebnisse auf das andere hinweist. Diese Verknüpfung mag phänomenologisch eine eigenartige sein, die sich vielleicht nicht erklären läßt aus der Summe der Einzelintentionen. Für den Gedankenablauf aber - und um diesen allein handelt es sich hier - bedeutet ein Gedanke immer nur die Summe der Teilgedanken, aus denen er sich im Laufe der Zeit zusammengesetzt hat. Je mehr Erfahrungen ich mit einem Gedanken, einem Erlebnis gemacht habe, umso mehr verhelfen mir diese zum Verständnis anderer Gedanken und anderer Erlebnisse. Ein einfaches Beispiel beweist diesen Satz, den ja ansich wohl niemand bestreiten wird, der nur hier besonders betont wird, um diese Richtung der psychologischen Überlegungen von den phänomenologischen scharf abzugrenzen, soweit sich im Wissenschaftsbetrieb feste Grenzen ziehen lassen. Wenn ich den Satz höre: "soll die Frucht vom Baum dir fallen, darf es nicht die Blüte tun", so genügt es zu seinem Verständnis nicht, daß ich weiß, was Früchte und Bäume sind, also Äpfel, Birnen einerseits, die bestimmten weißen Gebilde auf den Bäumen im Frühjahr andererseits, wobei also Bedeutungsintentionen bereits durchaus vorhanden sind, ich muß vielmehr außerdem noch wissen, daß sich die Frucht nur aus der Blüte entwickelt, und zwar so lange sie noch am Baum hängt und von ihm ernährt wird. Diese Gedanken müssen in enger Verknüpfung stehen mit den anderen, daß Blüten etwas sehr schönes, Früchte etwas sehr nützliches sind. Nur dadurch, daß beim Nennen der Worte Blüte und Frucht diese im Laufe der Jahre durch Erfahrung gewonnenen Gedanken anklingen bzw. irgendwie wirksam sind, verstehe ich diesen Satz, den das Kind, welches alle diese Erfahrungen noch nicht hat, nicht versteht. Und zwar sind es hier nicht die Intentionen, die das Verständnis herbeiführen - diese sind zwar hier wie überall, wo es sich um Sinnvolles handelt, vorhanden -, sondern es sind die neuen Inhalte, die neuen Erfahrungen, die das Kind noch nicht hat. Maß stoße sich nicht daran, daß hier unbewußt wirkende Vorgänge zur Erklärung herangezogen werden. Zur phänomenologischen Beschreibung dessen, was man Sinn eines Ganzen nennt, mag diese Erklärung nicht ausreichen. Hier wird man auf Bedeutungsintentionen zurückgreifen müssen, derart, daß man zeigt, wie sich komplexere Intentionen auf einfacheren aufbauen. Für die Genese des Verständnisses muß man auf die Inhalte selbst zurückgreifen, und da deren Wirksamkeit genetisch erwiesen ist, so muß man ein unbewußtes Wirken annehmen, wenn das Bewußtsein keine Kunde davon hat. Die Annahme von unbewußt Wirksamem wird ja auch sonst in der Psychologie gefordert. So sind Gedanken immer nur die Summe der Erfahrungen, die sich auf ein und denselben Gegenstand beziehen. Je nach dem Zusammenhang, in welchem ein Gedanke steht, werden verschiedene dieser Erfahrungen, verschiedene Teilgedanken geweckt. Das ist dann der Sinn dieses Gedankens in diesem Zusammenhang. Durch das Wirksamwerden dieses Teilgedankens vermag er zum Verständnis eines Ganzen zu führen, vermag er weiter zu bringen. Den eigentlichen fest umschriebenen Sinn kann ein Gedanke immer nur im Zusammenhang mit anderen Gedanken erhalten, indem durch eine Konstellation Teilgedanken geweckt werden. Außerhalb des Zusammenhangs ist ein Gedanke oder ein Wort, das einen Gedanken bezeichnet, zwar nicht sinnlos, zum deutlichen Bewußtsein bringe ich mir den Sinn aber immer nur, indem ich den Gedanken - auf die verschiedenste Weise - in einem Zusammenhang einordne. Aber das gehört nicht mehr hierher.
    5) Wenn WUNDT sagt, daß Denken ein Vorstellen ist, das logischen Wert besitzt, so schiebt er das Problem nur zurück, indem jetzt die Frage entsteht, wie denn ein solches Vorstellen beschaffen ist, wie es zu einem solchen kommt und wie es sich von einem Denken unterscheidet, das keinen logischen Wert besitzt.
    6) Einen ganz ähnlichen Gedanken vertritt JONAS COHN in seinem Buch "Voraussetzungen und Ziele des Erkennens", Leipzig 1908, Seite 58f
    7) BENNO ERDMANN, Umrisse zu einer Psychologie des Denkens, zweite Auflage, Tübingen 1908.
    8) Der große Wert der Untersuchungen ERDMANNs liegt darin, daß Unterschiede im psychischen Bau der Urteile natürlich auch auf Unterschiede der Wege hinweisen, auf welchen man zu diesen Urteilen gelangt, also auf individuelle Unterschiede im Nachdenken selbst. Auf diese ist hier nicht geachtet worden. Es sollte hier nur versucht werden, einen Typus des Nachdenkens zu analysieren, der der mir als wesentlicher erschien, der sich überwiegend in formulierten Urteilen vollzieht, und von dem aus sich vielleicht andere Typen des Nachdenkens ableiten lassen. - - - Wie mißlich es ist, vom Urteil auszugehen, zeigen auch MESSERs Untersuchungen über das Urteil ("Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Denken", Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. VIII, Seite 93f). Er kommt zu ganz anderen Einteilungen der Urteile wie ERDMANN, was natürlich auch die Untersuchungen über das Nachdenken in ganz andere Bahnen lenken müßte. Dazu kommt, daß seine Versuchspersonen sich gar nicht immer klar darüber waren, ob sie ein Urteil gefällt hatten oder nicht. Als wesentliches Merkmal des Urteilserlebnisses sieht MESSER die gewollte prädikative Beziehung zwischen Reiz und Reaktionsvorstellungen. Nun ist einleuchtend, daß, wenn die Versuchsperson ein Urteil fällen will, sie nachher auch etwas für das Urteil Charakteristisches erlebt. Aber damit ist doch noch nicht gesagt, daß die Aufgabe das wesentliche Merkmal eines Urteils ist. Wir erleben doch auch Urteile, wenn diese uns fertig gegeben sind, wenn also von der Absicht zu urteilen gar nicht die Rede sein kann.
    9) CARL STUMPF, *Erscheinungen und psychische Funktionen*, Bericht der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1907. Er macht dabei die fundamentale Annahme, daß Funktionen, wenn sie im Bewußtsein erlebt werden, auch wirklich als Funktionen erlebt werden und nicht auch als Inhalte. Man könnte aber auch der Meinung sein, daß eine Funktion zwar dem Inhalt gegenüber etwas realiter Verschiedenes ist, aber wenn sie sich an einem Inhalt betätigt, für das Bewußtsein dadurch selbst zu einem Inhalt wird. Mit anderen Worten: bewußt werden (und damit auch beschrieben werden) können immer nur Inhalte; Funktionen können aus dem Inhalt nur erschlossen werden.
    10) Vgl. die Ausführungen LIEPMANNs, a. a. O., Seite 15f.