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LUDWIG FEUERBACH
Fragmente (1) zur Charakteristik meines
philosophischen   C u r r i c u l u m   v i t a e


"Die wahre humane Lehrmethode, wenigstens in empfindlichen Materien, besteht darin, nur die Prämissen auszusprechen, die Konklusionen aber dem eigenen Verstand des Lesers oder Zuhörers zu überlassen."

"Je kürzer unser Leben ist, je weniger wir Zeit haben, gerade desto mehr haben wir Zeit; denn der Mangel an Zeit verdoppelt unsere Kräfte, konzentriert uns nur auf das Notwendige und Wesentliche, flößt uns Geistesgegenwart, Unternehmungsgeist, Takt, Entschlossenheit ein. Es gibt darum keine schlechtere Entschuldigung, als die mit dem Mangel an Zeit. Über Nichts kann der Mensch mehr disponieren als über die Zeit. Was man insgeheim Mangel an Zeit nennt, ist Mangel an Lust, an Kraft, an Gewandtheit, seinen gewohnten Schlendrian zu unterbrechen."

"Gerechtigkeit ist ein Akt der Kritik; aber die Kritik folgt nur der Tat, kommt aber nicht selbst zur Tat."

"Vor Gott sind alle Menschen gleich.  Jawohl; in der Religion unterscheiden sich, wie die Geschichte beweist, die zivi lisierten Völker nicht von den wilden, die Weisen nicht von den Toren, die Gebildeten nicht vom Pöbel. Darum hüte Dich, die Geheimnisse der Religion zu exponieren, wenn Du Dich nicht den  Injurien  [Beleidigungen] des gemeinen, wie vornehmen, des gelehrten, wie ungelehrten Pöbels aussetzen willst."

"Denken kann man, ohne jemandem unrecht und weh zu tun, denn es gehört dazu nichts weiter als der Kopf; aber handeln kann man nicht, ohne mit dem ganzen Leib zu agieren, ohne also nach allen Seiten hin, selbst wider Willen verletzend anzustoßen."

1822
Ansbach

Wer die Begier weltlicher Sachen ablegt und an Dasjenige denkt, was nicht sterblich ist, der liegt so fest zu Anker, daß ihn kein Sturm und Ungewitter im Mindesten bewegt. -  Opitz 

1824
Heidelberg

Lieber Vater! ... Ich wünsche zu Ostern die Universität Berlin, als den geeignetsten Ort für meine weitere theologische und allgemeine Geistesbildung, zu beziehen. Du weißt schon aus meinen früheren Briefen, daß DAUB hier der einzige Mann ist, der mich ganz befriedigt. Allein ich habe bereits seine Hauptkollegien gehört: im vorigen Semester, außer der theologischen Moral, sein geistvolles Kollegium über den Ursprung des Bösen, in diesem die Dogmatik, die der Zentralpunkt und Inbegriff seines ganzen geistigen Wesens, gleichsam die Essenz seiner Vernunft ist. Was soll ich aber hier treiben, wenn ich nun DAUB, den einzigen Haltpunkt meines hiesigen Lebens verloren habe? Denn PAULUS ist, wie ich Dir schon schrieb, in seiner Exegese unausstehlich, in seiner Kirchengeschichte aber nicht weniger. Auch in ihr kann er es nicht unterlassen,  seine  Weisheit, seine subjektiven Meinungen aufzutischen und großartige Gedanken aus gemeinen psychologischen Gründen abzuleiten. Wenn ich aber eine Vorlesung über Kirchengeschichte besuche, so will ich eben Kirchengeschichte hören, nicht die Meinungen und Hypothesen dieses oder jenes Herrn, der sie vorträgt. Man stelle doch nur rein objektiv die Fakta, seien es nun Handlungen oder Gedanken, hin, wie sie sich aus sich selbst ergeben, wie sie sich gegenseitig notwendig bedingen und Tod oder Leben bringen; dann erklärt die Geschichte sich durch sich selbst und zeigt, was wahr und unwahr ist; sie bedarf keines Kommentators. Um die Größe und Erhabenheit des Kölner Doms einzusehen, dazu braucht man wahrlich keinen modernen Baurat an seiner Seite zu haben.

Ferner: Der einzige Philosoph hier ist ERHARDT, aber dieser ist ein Philosoph dem Namen, aber nicht der Tat nach. Er hat zwar oft gute und schöne Gedanken, aber sie stehen bei ihm so verlassen da, wie Waisenkinder, und grinsen sich an wie Hunde und Katzen, statt daß sie in eine Liebesflamme zusammenlodern und sich  einem  Grundgedanken aufopfern.

Wie vorteilhaft wäre es daher für micht, nachdem ich das Vorzüglichste beim herrlichen DAUB gehört habe, gehört nicht bloß mit den äußeren Ohren, sondern mit Geist und Seele, meine Laufbahn in Berlin fortzusetzen - dort, wo nicht, wie hier, ein einziger Baum steht, von dem ich die Früchte der Erkenntnis und Wissenschaft pflücken kann, sondern ein ganzer Garten voll blühender und fruchttragender Bäume ist, dort, wo jede Wissenschaft, ja fast jeder einzelne Teil derselben von ausgezeichneten, berühmten Männern vertreten wird; dort, wo ich das lebendige Wort des Geistes nicht allein vom Katheder, sondern auch der Kanzel herab aus dem Mund eines SCHLEIERMACHERs, anerkannt des größten geistlichen Redners unserer Zeit, vernehmen kann! Wo kann ich wohl eine bessere Exegese und Kirchengeschichte hören, als dort, wo jene der große SCHLEIERMACHER, diese der bekannte und geschätzte NEANDER vorträgt? Kollegien, die dem Theologen äußerst notwendig sind, und nach denen mich auch schon längst sehnlichst verlangte. Die Philosophie ist in Berlin wahrhaftig auch in anderen Händen als hier. Abgesehen davon, daß ich es selbst von ganzem Herzen wünsche, in das Studium der Philosophie gründlichst eingeweiht zu werden, so ist es ja sogar auch von der bayerischen Regierung vorgeschrieben, philosophische Kollegien zu besuchen, und wenn es einmal sein muß, so ist es gewiß besser, wahre, nicht bloß sogenannte philosophische Kollegien zu besuchen, damit man doch nicht an einem inhaltslosen Namen seine Zeit verschwendet.

Berlin

Lieber Vater! Vier Wochen dauern zwar erst meine Kollegien, aber sie waren mir bereits von unendlichem Nutzen. Was mir bei DAUB noch dunkel und unverständlich war, oder wenigstens ungebegründet erschien, das habe ich allein schon in Folge der wenigen Vorlesungen, die ich bis jetzt bei HEGEL hörte, klar durchschaut und in seiner Notwendigkeit erkannt; was nur als Zunder in mir glimmte, das sehe ich bereits in helle Flammen auflodern. Glaube nicht, daß ich mich täusche. Es ist ja ganz natürlich, daß Einer, der beseelt vom Erkenntnistrieb und von einem Mann, wie DAUB, vorbereitet und im Denken geübt, zu HEGEL kommt, schon in wenigen Stunden den mächtigen Einfluß seiner Gedankenfülle und Tiefe verspürt. Auch ist HEGEL in seinen Vorlesungen nicht so undeutlich, wie in seinen Schriften, vielmehr klar und leicht verständlich, denn er nimmt sehr viel Rücksicht auf die Fassungskraft seiner Zuhörer. Aber das Herrliche von ihm ist, daß er, wenn er auch den Begriff einer Sache nicht streng philosophisch entwickelt, sondern sich auf die gewöhnlichen Vorstellungen einläßt, doch immer im Mittelpunkt der Sache bleibt.

1825

Lieber Bruder! Ich hätte Dir unendlich viel zu schreiben; aber es fehlt Zeit und Lust zum Schreiben. Nur dies: ich habe die Theologie gegen die Philosophie vertauscht.  Extra philosophiam nulla salus.  [Außerhalb der Philosophie gibt es keine Sicherheit / Erlösung. - wp] - Der Mensch befriedigt nur da Andere, wo er sich selbst befriedigt, leistet nur da Etwas, wo er Etwas zu leisten das Vertrauen hat. Die Lust zur Philosophie bürgt mir aber für meine Fähigkeit zur Philosophie. Ich bin auch bereits hier in Berlin im Denken unendlich gegen früher fortgeschritten. Nirgends kommt man aber auch rascher vorwärts, als im Denken. Einmal seinen Schranken entlassen, ist der Gedanke ein Strom, der uns unaufhaltsam immer weiter mit sich fortreißt.



Lieber Vater! Ja so ist es: ich habe die Theologie aufgegeben, aber ich habe sie nicht mutwillig oder leichtsinnig aufgegeben, nicht, weil sie mir nicht gefällt, sondern weil sie mich nicht befriedigt, weil sie mir nicht gibt, was ich fordere, was ich notwendig bedarf. - Mein Geist findet sich nun einmal nicht in die Schranken des heiligen Landes; mein Sinn steht in die weite Welt; meine hab- und herrschsüchtige Seele will Alles in sich verschlingen, mein Verlangen ist schlechthin unbegrenzt, ich will die Natur, vor deren Tiefe der feige Theologe zurückbebt, ich will den Menschen, aber den ganzen Menschen, der nicht dem Theologen, dem Anatomen oder Juristen, der nur dem Philosophen Gegenstand ist, an mein Herz drücken. - Freue Dich mit mir, daß ein neues Leben, eine Zeit in mir begonnen hat, freue Dich, daß ich der Gesellschaft der Theologen entronnen bin und Geister, wie ARISTOTELES, SPINOZA, KANT und HEGEL zu meinen Freunden habe. - Mich in die Theologie wieder zurückweisen zu wollen, hieße einen unsterblichen Geist in seine abgestorbene Hülle, einen Schmetterling in seinen Puppenzustand wieder zurückbannen zu wollen.

1826

Ich bin nun fertig mit HEGEL; ich habe mit Ausnahme der Ästhetik alle seine Vorlesungen, seine Logik sogar zweimal gehört. Aber HEGELs Logik ist gleichsam das  Corpus juris,  die Pandekten der Philosophie; sie enthält die gesamte, sowohl alte als neuere Philosophie ihren Gedankenprinzipien nach; sie ist überdem die Darstellung seiner Methode. Das Wichtigste ist aber eben, sich nicht nur des Inhalts, sondern auch der Methode einer Philosophie zu bemächtigen.

1827 - 28
Zweifel

Wie verhält sich das Denken zum Sein, wie die Logik zur Natur? Ist der Übergang von jener zu dieser begründet? Wo ist die Notwendigkeit, wo das Prinzip dieses Übergangs? Wir sehen wohl innerhalb der Logik einfache Bestimmungen, wie Sein, Nichts, Etwas, Anderes, Endliches, Unendliches, Wesen, Erscheinung, ineinander übergehen und sich aufheben, aber sie sind ansich abstrakte, einseitige, negative Bestimmungen; allein wie kann denn die Idee, als die alle diese Bestimmungen zusammenfassende Totalität, in die gleiche Kategorie mit eben diesen ihren endlichen Bestimmungen gesetzt werden? Die Notwendigkeit des logischen Fortgangs ist die eigene Negativität der logischen Bestimmungen. Was ist denn nun aber das Negative in der absoluten, vollkommenen Idee? Daß sie  nur  noch im Element des Denkens ist? Woher weißt Du nun aber, daß es noch ein  anderes  Element gibt? Aus der Logik? Nimmermehr; denn eben die Logik weiß aus sich selbst nur von sich, nur vom Denken. Also wir das Andere der Logik nicht aus der Logik, nicht logisch, sondern unlogisch deduziert, d. h. die Logik geht nur deswegen in die Natur über, weil das denkende Subjekt außerhalb der Logik ein unmittelbares Dasein, eine Natur vorfindet und vermöge seines unmittelbaren, d. h. natürlichen Standpunktes dieselbe anzuerkennen gezwungen ist. Gäbe es keine Natur, nimmermehr brächte die unbefleckte Jungfer  Logik  eine aus sich hervor.



Wie verhält sich die Philosophie zur Religion? - HEGEL dringt sehr auf die Übereinstimmung der Philosophie mit der Religion, namentlich mit den  Lehren  der christlichen; gleichwohl faßt er die Religion nur als eine  Stufe  des Geistes. Die bestehenden Religionen enthalten allerdings unzählig Widerliches und mit der Wahrheit Unverträgliches, aber sollte die Religion selbst nicht allgemeiner gefaßt und die Übereinstimmung der Philosophie mit ihr nur in die Anerkennung und Rechtfertigung bestimmter Lehren gesetzt werden? Gibt es keine andere Übereinstimmung?



Wie verhält sich die HEGELsche Philosophie zur Gegenwart und Zukunft? Ist sie nicht die vergangene Welt als Gedankenwelt? Ist sie mehr als eine Erinnerung der Menschheit an das, was sie war, aber nicht mehr ist?

1828
Dissertation
De ratione una, universali, infinita.

Alle Menschen stimmen darin mit sich überein, daß sie denken; das Denken ist nichts Besonderes, das Einigen zukommt und Anderen mangelt; es gehört wesentlich zum Menschen, daß er denkt; es ist daher etwas Gemeinschaftliches, Allgemeines; die Vernunft ist die  Menschheit  der Menschen, ist ihre Gattung, inwiefern sie denkende sind. Aber wie verhält sich nun hier die Gattung zum Individuum, das Wesen zur Existenz, die Vernunft zu den denkenden Subjekten? Etwa so, wie sich überhaupt das Allgemeine zum Individuellen, z. B. die Nase zu den einzelnen, existierenden Nasen verhält? Jede Nase ist eine einzelne und besonders bestimmte. Das Wesen derselben ist aber nicht die Besonderheit, nicht, daß sie kurz oder lang, spitz oder stumpf, nicht daß sie diese einzelne, sondern lediglich, daß sie  Nase  ist. Abgesehen von der besonderen Beschaffenheit und ihrer Einzelheit ist diese Nase vor der des Andern nicht unterschieden, das Wesen ist sich in allen gleich. Aber  die  Nase existiert nicht; sie ist ein Abstraktum; es  sind  nur die vielen verschiedenen Nasen; das mit sich gleiche Wesen ist hier  nur  Idee, nur Gedanke. Hat nun aber wohl jeder Mensch, wie er eine einzelne und besondere Nase hat, auch eine einzelne und besondere Vernunft? (2) Ist die Vernunft auch nur ein Abstraktum? Nein! indem ich denke, denkendes Subjekt bin, ist das Allgemeine als Allgemeines, ist die Vernunft unmittelbar als Vernunft in mir wirklich und gegenwärtig. Es ist notwendig, daß das Wesen und die Existenz hier ungetrennt eins ist, daß ich als Denkender, im Aktus des Denkens mich nicht  so  als Indviduum zur Vernunft als meinem Wesen verhalte, wie ich mich als sinnliches Individuum zur Gattung verhalte. Im Denken bin ich  reines Wesen,  im Denken ist der Unterschied zwischen Allgemeinheit und Einzelheit aufgehoben. Die Vernunft existiert im Individuum  in sich selbst.  Wäre es nicht so, so wäre sie eben nicht mehr Vernunft; sie fiele in die Kategorie der sinnlichen Wesen. Von der Vernunft läßt sich kein allgemeiner Begriff abstrahieren und als Gattung fixieren; sie ist unablöslich von sich, die Gattung ihrer selbst, reine Einheit mit sich selbst; ihr Wesen ist ihr Dasein, ihr Dasein ihr Wesen. Was PLOTIN von der Seele sagt: "bei ihr kann die Seele überhaupt und das Wesen der Seele nicht unterschieden werden; die Seele ist nur reine Form", was die Theologen von Gott sagen, das gilt von der Vernunft. Die Vernunft ist nicht sinnlichen Wesens; sie existiert nicht in der Form der Sinnlichkeit, sondern in sich selbst, in der Form übersinnlicher Wesentlichkeit und Allgemeinheit; sie existiert nur identisch mit sich selbst; ihr Verhältnis zum Dasein ist ihr Verhältnis zu sich selbst. Im Denken als dem Verwirklichungsakt der Vernunft oder als Denkender bin ich darum nicht Dieser oder Jener, sondern Keiner, Niemand, nicht ein Mensch, sondern der Mensch schlechthin, nicht außerhalb der Anderen, nicht unterschieden und getrennt von ihnen - so bin ich nur als sinnliches Wesen - sondern  Eins mit Allen, alle  Menschen, eben weil die Vernunft als die Einheit ihrer selbst oder als absolute Identität die Einheit Aller, weil, wie ihr Wesen, so ihre Existenz Einheit ist. Die sinnliche Erscheinung von der unendlichen Einheit und Allgemeinheit der Vernunft ist die Sprache. Die Sprache  macht  den Gedanken nicht allgemein, sie zeigt, sie verwirklicht nur, was er ansich ist: nicht  mein  Gedanke, sondern Gedanke Aller, zumindest der Möglichkeit nach.

1829 - 31/32
Vorlesungen über Logik und Metaphysik
In Erlangen (sit venia verbo!) (3)

Meine Herren! Ich trage Ihnen die Logik vor, aber nicht in der Weise, wie sie gewöhnlich gelehrt wird, obwohl ich Sie auch mit dieser der Vollständigkeit wegen historisch bekannt machen werde; ich trage die Denklehre als Erkenntnislehre, als Metaphysik vor; ich trage sie also so vor, wie sie HEGEL erfaßt und dargestellt hat; ich trage sie jedoch nicht in und mit seinen Worten, sondern nur in seinem Geiste, nicht als Philologe, sondern als Philosoph vor; ich trage sie aber gleichwohl nicht wie HEGEL, in der Bedeutung der absoluten, der höchsten und letzten Philosophie vor, sondern nur in der Bedeutung des Organs der Philosohie; aber eben das Organ der Philosophie muß selbst Philosophie, das Organ der Erkenntnis muß selbst Erkenntnis sein oder gewähren. Die Logik in der Bedeutung der Metaphysik ist ein notwendiges Resultat der bisherigen Geschichte der Philosophie. Die angemessenste Einleitung in die Logik ist daher eine Darstellung der Geschichte der Philosophie.

1830
Gedanken über Tod und Unsterblichkeit

Jetzt gilt es vor allem, den alten Zwiespalt zwischen Diesseits und Jenseits aufzuheben, damit die Menschheit mit  ganzer  Seele, mit ganzem Herzen auf sich selbst, auf ihre Welt und Gegenwart sich konzentriert, denn nur diese ungeteilte Konzentration auf die wirkliche Welt wird neues Leben, wird wieder große Menschen, große Gesinnungen und Taten zeugen. Statt unsterblicher Individuen hat die "neue Religion" vielmehr tüchtige, geistig und leiblich gesunde Menschen zu postulieren. Die Gesundheit hat für sie mehr Wert, als die Unsterblichkeit.

Nur für den Erbärmlichen ist die Welt erbärmlich, nur für den Leeren leer. Das Herz, wenigstens das gesunde Herz, hat schon hier seine volle Befriedigung. Eine "neue Religion", wenn sie wieder eine Zukunft, ein Jenseits den Menschen als Ziel setzt, ist ebenso falsch, wie das Christentum; sie ist nicht die Religion der Tat und des Gedankens, der nur in der Gegenwart lebt, sondern des Gemüts und der Phantasie, denn nur die Phantasie ist das Organ der Zukunft, sie ist nicht ein Fortschritt, sondern ein Rückschritt, denn schon der Protestantismus versöhnte auf seine Weise die Religion mit der wirklichen Welt.

Der Wagen der Weltgeschichte ist ein enger Wagen. Wie man nicht mehr in ihn hineinkommt, wenn man den rechten Zeitpunkt übersieht, so kann man auch nur einen Platz in ihm bekommen, wenn man von den Kommoditäten [Bequemlichkeiten - wp] des alten historischen Hausrats abstrahiert, - nur das Unveräußerliche, das Notwendigste und Wesentlichste mit sich nimmt. Denen, die mit BIAS aus Priene auswanderten, aber ihr Hausgerät mit fortschleppten, mußte gewiß auch BIAS sehr "abstrakt und negativ" erscheinen. Aber die Philosophie wandert nun einmal nicht anders aus dem Christentum aus, als wie BIAS aus Priene. Wer sich nicht dazu verstehen kann, wer das positive Christentum aufgeben, aber gleichwohl die Vorstellungen des christlichen Jenseits, wenngleich mit Modifikationen, retten will, der bleibe lieber ganz im Christentum.

1834
"Humoristisch-philosophische Aphorismen"

Hand in Hand mit meinen abstrakteren wissenschaftlichen Arbeiten sollen - so der Geist will - immer zugleich Schriften erscheinen, welche die Philosophie der Menschheit, sozusagen, ans Herz legen, welche, aus dem Leben gegriffen, unmittelbar wieder ins Leben eingreifen. Ein eigentümliches  Genre  schwebt mit dabei vor. Eine zum Teil mißlungene Probe liefert diese Schrift.

1834 - 36 (4)
Tagebuch

Die Religion ist die erste Liebe, die Liebe des Jünglings -  die  Liebe, die ihren Gegenstand durch die  Erkenntnis  zu profanieren glaubt. Die Philosophie dagegen ist die eheliche Liebe, die Liebe des Mannes, die sich in den Besitz und Genuß ihres Gegenstandes versetzt, aber freilich auch dadurch all die Reize und Jllusionen zerstört, die mit der Geheimniskrämerei der ersten Liebe verbunden sind.



An  Christum  glauben heißt, sich durch die Fehler eines Menschen nicht an seinem guten Wesen, noch durch die traurigen Erfahrungen, die wir an einzelnen menschlichen Individuen machen, am Menschen überhaupt irre machen zu lassen.  Christus  war der Mensch, als ein Mensch. Der Glaube an  Christus  ist der Glaube an den Menschen.



Der Mensch hat Fehler, nur um an ihnen, als ihrem Gegensatz, seine Tugenden erkennen und bilden zu können.



Die Fehler der Menschen sind nur fehlgeschlagene Projekte der Tugend; sie sind nur die Gewissensbisse der Tugend, die sie sich selbst aus überspannten Forderungen schafft.



Das Geheimnis der Tugend ist die - Gewohnheit.



Du tadelst meine Fehler? Armseliger Krittler! Nimmst Du mir meine Fehler, so nimmst Du mir auch meine Tugenden.



Die Fehler der Menschen sind nur die Inkognitos ihrer Tugenden. Hinter diesem Felher steckt auch nur diese Tugen.



Der bekannte Satz: "Das Bessere ist der Feind des Guten" gilt insbesondere auch von unseren religiösen und moralischen Vervollkommnungstheorien. Immer vollkommener, d. h. im Wahrheit immer unvollkommener sollen wir werden. Zur Vollkommenheit des Menschen gehört eben die Fehlerhaftigkeit. Was in Deinem Sinne Mangel, ist im Sinne der Natur Vollkommenheit. In der Tugend spricht sich der Mensch, im Fehler die Natur aus.



Der Fehler ist die Reaktion der Natur gegen die steife Regel der Moral.



Die Fehler der Menschen sind oft besser als ihre Tugenden.



Ich sage Dir: der größte Fehler in Deinem Leben war der, daß Du nie gefehlt, nie gesündigt hast.



Es gibt Naturen, die nur die  "Sünde"  erlöst und frei macht.



Schuld uns Sünde sind nun einmal so unabtrennbar vom Menschen, so verflochten in den Begriff des Lebens, daß Wesen, die wir von ihnen befreit denken, auch nur Wesen der Einbildung sind. Der Baum des Lebens ist zwar nicht in der Bibel, aber in der Wirklichkeit auch zugleich der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.



Gräme Dich nicht über Deine Fehler! Fehler sind  unglückliche  Tugenden - Tugenden, denen nur die Gelegenheit fehlt, sich als Tugenden auszusprechen.



Redet so viel ihr wollt von der Eitelkeit des Menschen; die menschliche Natur zeigt auch ihr widersprechende, edlere Erscheinungen, wie die, daß wir den Anderen uns besser und vollkommener denken, als uns selbst, wenigstens in den Momenten, wo wir seine guten Eigenschaften in vollem Licht sehen. Wir werden da so ergriffen und erschüttert, daß wir uns als Nichts erscheinen; es kommt uns vor, als habe er alles Gute in sich verschlungen, und uns Nichts übrig gelassen, als das Gefühl der eigenen Mängel.



Über Nichts sind wir unzuverlässigere Richter, als über unsere eigenen Fehler. Von den Gewissensvorwürfen über begangene Fehler machen wir uns daher nur dadurch frei, daß wir sie unseren Freunden eingestehen. Ihnen erscheint als eine Mücke, was auf uns mit dem Gewicht eines Elefanten lastet.



Die Vernunft existiert im Leben als wirklicher Mensch; das Du ist die Vernunft des Ich. Aus dem Andern, nicht aus unserem eigenen in sich befangenen Selbst spricht die Wahrheit zu uns. Die Liebe des Andern sagt Dir, was Du bist; der Liebende allein hat des Geliebten wahres Wesen in Augen und Händen. Um den Menschen zu  erkennen,  muß man ihn  lieben. 



Während die Liebe bei den alten Philosophen ein außereheliches Kind war, gezeugt mit dem Kebsweib der Natur, ist sie dagegen bei den neueren die rechtmäßige Tochter ihrer Philosophie. Das Weib ist aufgenommen in die Gemeinschaft des Geistes; es ist das lebendige Kompendium der Moralphilosophie.



Die Pflicht gebietet Entsagung? Wie töricht! Die Pflicht gebietet den Genuß. Wir  sollen  genießen. Die Entsagung ist nur eine traurige Ausnahme von der Regel, die nur dann stattfinden soll, wenn sie die Not gebietet. In diesem Fall ist es freilich gut und klug, aus der Not eine Tugend zu machen.



Folge unverzagt Deinen Trieben und Neigungen, aber  allen!  - Dann wirst Du keiner einzigen zum Opfer fallen.



Zum Glück ist kein Wesen bestimmt, aber was lebt, ist eben, weil es lebt, zum Leben bestimmt. Das Leben des Lebens ist aber die Liebe.



"Ob ich mit Dir glücklich sein werde?" Ich weiß es nicht, ich weiß nur so viel, daß ich jetzt ohne Dich unglücklich bin. Wir töricht ist es aber, aus Furcht vor einem nur möglichen, ungewissen Übel ein gegenwärtiges, handgreifliches Übel bestehen zu lassen!



Was Du einmal begonnen hast, das mußt Du auch vollenden, gleichgültig, ob Dich das Ende zum Glück oder Unglück, zum Himmel oder zur Hölle führt. Glück ist Luxus, aber Vollendung Notwendigkeit.



Laß den Baum nicht sich äußern in Blättern, Blüten und Früchten - und er verdorrt. Laß die Liebe sich nicht äußern - und sie erstickt in ihrem eigenen Blut.



Glauben kannst Du, ohne ein Bekenntnis Deines Glaubens durch die Tat abzulegen, denn den Glauben hast Du nur für Dich, aber lieben kannst Du nicht, ohne Deine Liebe zu bekennen, zu äußern, zu betätigen, denn die Liebe hast Du nicht für Dich, sondern für den Anderen.



Was Du verleugnest  pro forma,  aus Rücksicht vor Anderen - fahre nur fort, es zu verleugnen; am Ende wirst Du in Wahrheit, wirst Du vor Dir selbst verleugnen, was Du anfangs nur zum Schein, nur vor Anderen verleugnet hast.



Ohne Gegenstand ist der Mensch Nichts. Es ist besser, auch den eitelsten, unwürdigsten Gegenstand mit Liebe zu umfassen, als sich lieblos in sein eigenes Selbst zu verschließen. Aber nur der Gegenstand der wahren Liebe entwickelt und offenbart auch erst das wahre Wesen des Menschen.



Glauben sollst Du, ja glauben, aber glauben, daß es auch unter Menschen eine  wahre  Liebe gibt, auch das menschliche Herz unendlicher, allverzeihender Liebe fähig ist, auch die menschliche Seele Liebe die Eigenschaften der göttlichen Liebe haben kann.



Es gibt nur ein Böses - es ist der Egoismus; und  ein  Gutes - es ist die Liebe.



Liebe, aber wahrhaft! - und es fallen Dir alle anderen Tugenden von selber zu.



Was ist die Liebe? Die Einheit von Denken und Sein. Sein ist das Weib, Denken der Mann.



Das Verlangen des Wiedersehens geliebter Toter, wer wäre so unmenschlich, es nicht zu empfinden? Aber ist es ein Beweis für die Realität des Jenseits? Ist es nicht die Äußerung schon hier gesättigter und befriedigter Liebe, nicht ein indirektes Zeugnis also, daß  hier  und  Alles  ist?



Ich liebe Dich ewig! d. h. meine Liebe zu Dir endet nur mit meinem Bewußtsein.



Ewig ist, dessen Ende mein eigenes Ende ist.



Die Liebe allein löst Dir das Rätsel der Unsterblichkeit.



So wenig die Wohlbehaglichkeit des Gedankens unserer Unsterblichkeit ein Beweis seiner Wahrheit ist, so wenig ist die Schmerzlichkeit des entgegengesetzten Gedankens ein Beweis seiner Unwahrheit. Übrigens ist der Gedanke unserer Endlichkeit nur solange ein schmerzlicher, solange wir ihn noch nicht gewohnt, noch nicht vertraut mit ihm geworden sind.



Ist es nicht eine entsetzliche Schwäche, die sinnliche Hinwegnahme geliebter Wesen schmerzlichst zu empfinden? Nein! Schwäche ist es, die Qualen der Liebe, die Schmerzen des Lebens überhaupt nicht empfinden zu wollen. Darum schäme ich mich nicht, Euch! Qualen der Liebe und Sehnsucht, empfunden zu haben und glaube doch im Wesen ein Philosoph zu sein; denn der Philosoph muß die Dinge nicht bloß erkennen, er muß sie vor allem  erleben. 



Der Unsterblichkeitsgedanke ist wohl im Weib ein weiblicher, aber im Mann ein weibischer Glaube.



Jedes Wesen in seiner Art, d. h. in der Art, die seine  Natur  ist, zu erfassen, und daher die Philosophie ihm nur in der Weise beizubringen, die sich für dieses bestimmte Wesen eignet, das ist die Methode, die ich eben sowohl im Leben, als auch in der Schrift befolge. Der wahre Philosoph ist ein Arzt, aber ein solcher, der es seinen Patienten gar nicht merken läßt, daß er Arzt ist, indem er sie  ihrer Natur  gemäß behandelt, sie also aus und durch sich selbst kuriert.



Wer einen Menschen auch nur über die ihm nächsten Dinge aufklärt, zündet in ihm doch ein allgemeines Licht an, denn eben das Licht hat die Eigenschaft, daß es auch  entfernte  Gegenstände beleuchtet.



Die wahre humane Lehrmethode, wenigstens in empfindlichen Materien, besteht darin, nur die Prämissen auszusprechen, die Konklusionen aber dem eigenen Verstand des Lesers oder Zuhörers zu überlassen.



Wie verhält sich das Denken zum Wissen? Das Denken ist die Prämisse, das Wissen die Konklusion, das Denken der Grund, das Wissen das Resultat.



Es ist besser, sich zu wenig, als zu viel zuzutrauen.



De gustibus non est disputandum.  [Aber Geschmack kann man nicht streiten. - wp] Der Eine hat seine Freude daran, mehr zu scheinen, als er ist, der Andere aber daran, mehr zu sein, als er zu sein scheint.



Die Zukunft muß man nie direkt zum Gegenstand seines Denkens und Sorgens machen. Der  vernünftige  Genuß der Gegenwart ist die einzige vernünftige Sorge für die Zukunft.



Die Eltern begehen die größten Fehler dadurch, daß sie durch ihre Vernunft der Naturentwicklung ihrer Kinder vorgreifen, ihr Leben  a priori konstruieren  wollen.



Fasse nicht eher einen Entschluß, als es Zeit ist, Dich zu entschließen. Die Entschlüsse zur Unzeit sind Produkte Deines willkürlichen hin- und herratenden und eben deswegen fehlschließenden Wesens, aber die Entschlüsse, die Du im Drang der Not faßt, sind Produkte Deines notwendigen und - relative wenigstens - unfehlbaren Wesens.



Weg mit der Klage über die Kürze des Lebens! Sie ist eine Finte der Gottheit, durch die sie sich den Weg zu unserem Geist und Herzen bahnt, um uns die besten Säfte zum Nutzen anderer Wesen abzuzapfen.



Die besten? nein! die Säfte, die schon nahe an der Fäulnis sind und uns zu Gift zu werden drohen, wenn ihnen nicht schleunigst ein Abfluß eröffnet wird. Je kürzer unser Leben ist, je weniger wir Zeit haben, gerade desto mehr haben wir Zeit; denn der Mangel an Zeit verdoppelt unsere Kräfte, konzentriert uns nur auf das Notwendige und Wesentliche, flößt uns Geistesgegenwart, Unternehmungsgeist, Takt, Entschlossenheit ein. Es gibt darum keine schlechtere Entschuldigung, als die mit dem Mangel an Zeit. Über Nichts kann der Mensch mehr disponieren als über die Zeit. Was man insgeheim Mangel an Zeit nennt, ist Mangel an Lust, an Kraft, an Gewandtheit, seinen gewohnten Schlendrian zu unterbrechen.



"Alles überwindet der Mensch"; aber nur, wenn die Überwindung für ihn eine  Notwendigkeit  ist - Alles vermag er, wenn er  muß.  O heilige Notwendigkeit! ich will gerne unfrei sein, wenn  Du  mir nur den Segen Deiner Kraft gibst!



Warum schwindet uns in den reiferen Jahren die Zeit schneller dahin, als in der Jugend? In der Jugend leben wir im Zwiespalt zwischen Neigung und Gesetz. Wir müssen in die Schule, müssen dort wider Willen sitzen und schwitzen. Wir sehnen uns nach den freien Zwischenviertelstunden, nach dem Sonntag, nach dem Ende der Schulzeit. Was wir erwarten, das kann nicht schnell genug kommen; unser Verlangen scheift über die Grenzen der Gegenwart in die Ferne; wir sind nicht da, wo wir sein möchten; die Zeit liegt dazwischen; sie wird uns daher unausstehlich lang. In reiferen Jahren dagegen verschwinden die Sonntage, die Ferien, die  dies academici  [akademische Tage - wp] und dergleichen Epoche machende Momente aus unserem Leben; Gedanke reiht sich an Gedanke, Tat an Tat, und wenn wir auch Pausen machen, wenn wir auch unserer Neigung widersprechende Geschäfte und Arbeiten haben, so kommt uns doch die Feierstunde nicht eher in den Sinn, als sie wirklich schlägt, weil wir keine Zeit haben, an die Zeit zu denken, sie kommt uns daher fast immer zu früh, wenn auch nicht dem Wunsch, doch der Rechnung nach, während sie uns in der Jugend immer zu spät kommt.



Die Zeit ist die Quelle der Poesie. Der Blick in die Vergangenheit ist ein Stich ins Herz, der die poetische Ader öffnet. Die vergangene Zeit ist  per se  die schöne Zeit; sie glänzt im Mondschein der Erinnerung; sie ist schon idealisiert, eben weil sie nur noch ein Gegenstand der Einbildungskraft ist. Die älteste Geschichte ist überall Poesie und die ersten Lieder eines Volkes gelten nur Zeiten und Menschen, die  nicht mehr  sind.



Im Raum ist der Teil kleiner, als das Ganze, in der Zeit dagegen, subjektiv zumindest, größer, weil hier nur der Teil wirklich, das Ganze aber nur ein Objekt der Einbildungskraft ist und die Sekunde in der Wirklichkeit für uns ein größerer Zeitraum ist, länger dauert, als ein  Dezennium  [10 Jahre - wp] in der Einbildung.



Es ist sonderbar, obwohl leicht erklärlich, daß gerade die Menschen, die am Wenigsten an den Fortschritten der Menschheit Teil nehmen, ja ihnen feindlich entgegentreten, die in ihrer religiösen und intellektuellen Bildung noch heute auf dem Standpunkt längst vergangener Jahrhunderte stehen, die also am Allerwenigsten in diesem Leben einen Vervollkommnungstrieb beurkunden - ich meine die geistlichen Herren und Theologen - am Meisten die Befriedigung dieses Triebes als Grund der Notwendigkeit eines anderen Lebens hervorheben.



Woher der Kampf der Gegenwart? woher unsere Empörung gegen die, welche uns auf Vergangenes, in der Religion auf die Bibel, in der Politik auf das historische Recht verweisen? Die Menschheit verlangt jetzt ihren Arbeitslohn; sie will nicht  umsonst  gedacht, gestrebt, gekämpft und gelitten haben; sie will genießen, was sie erworben hat. Die Arbeit hat man nicht wehren können, ja man hat sie begünstigt, und doch will man uns jetzt den Arbeitslohn vorenthalten.



Das Interessanteste von der Schriftstellerei ist nicht, daß man durch sie der Welt bekannt wird, sondern durch sie die Welt, wenn auch nicht von ihrer vorteilhaftesten Seite, kennenlernt.



Man schreibt für Andere, nicht für sich. Ich wenigstens kann Nichts für mich selbst niederschreiben. Was ich schreibe, muß unmittelbar an eine bestimmte Person oder an die Menschheit gerichtet sein. Darum schreibe ich auch so klar und lichtvoll wie möglich. Ich will anderen Menschen keine Plage machen.



Ihr nennt SCHELLING einen "Wiedergeborenen!" Ich habe Nichts dagegen, aber seht Euch vor, daß es ihm nicht in seiner Bildungsgeschichte ebenso gegangen ist, wie es der  Lepas anatifera  [Entenmuschel der Rankenfußkrebse - wp] in ihrer Entwicklungsgeschichte ergeht - daß ihm nicht an der alten Haut zugleich die  Augen  hängen geblieben sind. (Burmeister, Naturgeschichte der Rankenfüßer, 1834)



Der pietistische Gott macht es gerade so, wie jener Chirurg im  Diable boitex  [Le Sage, Der hinkende Teufel - wp], der, um sich  Kunden  zu verschaffen, die Leute selbst erst verwundete und dann kurierte.

1835
Vorlesungen über Geschichte
der neueren Philosophie

Die Menschheit muß, wenn sie eine neue Epoche begründen will, rücksichtslos mit der Vergangenheit brechen; sie muß voraussetzen, das bisher Gewesene sei Nichts. Nur durch diese Voraussetzung gewinnt sie Kraft und Lust zu neuen Schöpfungen. Alle Anknüpfungen an das Vorhandene würden den Flug ihrer Tatkraft lähmen. Sie muß daher von Zeit zu Zeit das Kind mit dem Bade ausschütten; sie muß ungerecht, parteiisch sein. Gerechtigkeit ist ein Akt der Kritik; aber die Kritik folgt nur der Tat, kommt aber nicht selbst zur Tat.

Katholischerseits hat man die neuere Zeit als einen Sündenfall bezeichnet. Allerdings war sie es, wie überhaupt jede Zeit, die ein neues Prinzip hervortrieb; denn das Alte, das Bestehende gilt immer für das Heilige, Unverletzliche, aber nicht nur ein "in seinen Folgen durch Gottes gnädige Verfügung", sondern an und für sich selbst wohltätiger, weil notwendiger Sündenfall. Und die Eva, die den Menschen um das Paradies der katholischen Einfalt brachte, die ihn verführte, die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis zu pflücken, war nichts anderes als die Sinnlichkeit oder Materie. Die neuere Zeit unterscheidet sich nur dadurch von der mittelalterlichen, daß sie die Materie, die Natur, die Welt zu einer göttlichen Realität oder Wahrheit erhob, das göttliche, das absolute Wesen nicht als ein von der Welt unterschiedenes, jenseitiges, himmlisches, sondern als ein wirkliches, mit der Welt identisches Wesen erfaßte und geltend machte.  Mono theismus ist das Wesen des Mittelalters,  Pan theismus das Wesen der neueren Zeit und Philosophie (5). Nur der pantheistischen Anschauung von der Welt verdanken wir alle großen Entdeckungen und Leistungen der neueren Zeit in Künsten und Wissenschaften; denn wie kann der Mensch sich für die Welt begeistern, wenn sie ein von Gott unterschiedenes, ausgeschlossenes, also ungöttliches Wesen ist? Alle Begeisterung ist ja Vergötterung.

1836 - 41
Bruckberg

Einst in Berlin und jetzt auf einem Dorf! Welch ein Unsinn! Nicht doch, mein teurer Freund! Siehe, den Sand, den mir die Berliner Staatsphilosophie in die Zirbeldrüse, wohin er gehört, aber leider! auch in die Augen streute, wasche ich mir hier am Quell der Natur vollends aus. Logik lernte ich auf einer deutschen Universität, aber Optik - die Kunst zu  sehen  lernte ich erst auf einem deutschen Dorf.



Der Philosoph, zumindest wie ich ihn erfasse, muß die Natur zu seiner Freundin haben; er muß sie nicht nur aus Büchern, sondern von Angesicht zu Angesicht kennen. Längst sehnte ich mich nach ihrer persönlichen Bekanntschaft; wie glücklich ich bin, daß ich endlich dieses Verlangen stillen kann! Zwar ist die Natur hier beschränkt, arm, aber ist nicht vollkommen wahr, was LEIBNIZ sagt: "Das kleinste Gute ist mehr als die größten Übel zusammen, denn es kann bis ins Unendliche wachsen, während das Böse seine Grenzen hat in der Schönheit und im Reichtum der Natur."



Die Natur knüpft überall das Schönste und Tiefste an das im Sinne des Menschen Gemeine. Der nur denkt daher im Einklang mit der Natur, der nur ihre Methode befolgt, welcher an die gemeinsten Bedürfnisse und Erscheinungen der Natur die höchsten Gegenstände des Denkens anknüpft, selbst in den Gedärmen der Tiere noch "nutrimentum spiritus" und Stoff zur Spekulation findet.



Alle abstrakten Wissenschaften verstümmeln den Menschen; die Naturwissenschaft allein ist es, die ihn  in integrum  restituiert [Wiederherstellung in den vorherigen Zustand - wp], die den ganzen Menschen, alle seine Kräfte und Sinne in Anspruch nimmt.



Die alten Völker unternahmen Nichts ohne ein sinnliches Zeichen, welches nach ihrer Meinung ihr Unternehmen bestätigte. Ein tiefer Sinn liegt diesem heidnischen Aberglauben zugrunde. Wir müssen in allen wenigstens kritischen Handlungen nicht nur das eigene  Ego,  sondern auch das  Alter Ego,  die Außenwelt überhaupt zu Rate ziehen. Nur dann sind wir des Erfolgs einer Handlung gewiß, wenn sie eine berechtigte ist; aber berechtigt ist sie nur, wenn Inneres und Äußeres, Wille und Schicksal, Neigung und äußere Notwendigkeit zusammenfällt. Ich habe mich daher von hier aus (1836) zum letzten Mal um eine Professur gemeldet, aber, wie vorauszusehen war, - umsonst. Traun [fürwahr - wp] ein  auspicium liquidum!  [klare und deutliches Omen - wp] Jetzt beginnt eine neue Periode in meinem Leben; jetzt bin ich berechtigt, wozu ich mich berufen fühle, jetzt ist mein innerster Wille mir zu äußerlicher Notwendigkeit gemacht, jetzt kann ich meinem Genius huldigen, jetzt unbeschränkt, frei, rücksichtslos "mich der Entfaltung des eigenen Wesens" weihen.



Leib und Seele müssen stets beisammen sein; was man geistig verneint, muß man auch sinnlich verneinen; sonst ist das Leben ein Widerspruch, eine Unwahrheit. Wäre aber eine Existenz an einer Universität nicht eine Deinem Wesen widersprechende Existenz, also eine offenbare Lüge? Verträgt sich Deine Philosophie mit der Theologie? Ist aber die Philosophie auf unseren Universitäten nicht  ex officio  [offiziell - wp] eine Betschwester der Theologie?



Laß mich in Frieden! Ich bin nur so lange  Etwas,  so lange ich  Nichts  bin.

1841 - 45
"Wesen des Christentums"

Freundchen! Ich sage Dir: wenn irgendeiner berufen und berechtigt war, über die Religion ein Urteil zu fällen, so war Ich es; denn ich habe die Religion nicht nur aus Büchern studiert, ich habe sie aus dem Leben und zwar nicht nur aus dem Leben Anderer, welche mir die Ursachen und Wirkungen der Religion sowohl von ihrer guten wie auch schlimmen Seite  ad oculos  [vor Augen - wp] demonstrierten, sondern auch aus meinem eigenen Leben kennen gelernt. Die Religion war für mich ein Objekt der Praxis, ehe sie mir zu einem Objekt der Theorie wurde.



Was man nur im Kopf hat, das wird zur fixen Idee, das wird zur fixen Idee, das bringt man nicht mehr von sich los; was man aber wahrhaft mit sich identifiziert, was man in Fleisch und Blut verwandelt, das vergeht, und wird nur seiner Substanz nach noch erhalten; denn das Blut verändert und erneuert sich immer, duldet nichts Fixes. So existieren noch heute die Teufelsfinger, die Ammonshörner und unzählige Monstra im Kopf der Gelehrten, nachdem sie längst aus dem Leben verschwunden, von anderen edleren Tiergeschlechtern in  in succum et sanguinem  vertiert [sich in Fleisch und Blut übergegangen - wp] sind.



"Vor Gott sind alle Menschen gleich." Jawohl; in der Religion unterscheiden sich, wie die Geschichte beweist, die zivilisierten Völker nicht von den wilden, die Weisen nicht von den Toren, die Gebildeten nicht vom Pöbel. Darum hüte Dich, die Geheimnisse der Religion zu exponieren, wenn Du Dich nicht den  Injurien  [Beleidigungen] des gemeinen, wie vornehmen, des gelehrten, wie ungelehrten Pöbels aussetzen willst.



O die scharfsinnigen Kritiker! Sie wollen das Wesen meiner Schriften beurteilen, und kennen nicht einmal ihre formellen Eigenschaften; sehen nicht, daß ich in der Behandlung meiner Patienten die  homöopathische  Kurmethode befolge, daß ich aber die Grundsätze, die mich leiten, nicht in Worten, sondern in Handlungen, nur in der Anwendung derselben ausspreche, sehen nicht, daß ich sehr häufig das Positive negativ, mich überhaupt uneigentlich, enigmatisch, ironisch ausdrücke und meinen höchsten Triumph gerade darein setze, zum Ärger aller philosophischen Pedanten und gelehrten Philister den Ernst der Notwendigkeit in das Spiel des Zufalls einzukleiden und den Stoff von Folianten in den Duft eines Epigramms zu verflüchtigen.



Wie verhält sich mein früherer Standpunkt, der Standpunkt von "Philosophie und Christentum" zum "Wesen des Christentums"? Dort nahm ich das Christentum nur in dem Sinn, in welchem es sich selbst nimmt, hier nehme ich es wohl auch in diesem seinem eigenen, aber zugleich auch in meinem Sinne, d. h. im Sinne der Anthropologie. Einen anderen Sinn hat aber  der Christus,  welcher nur die Gottheit dieses Menschen ausschließlich und allein bedeutet, einen anderen Sinn  der Christus,  welcher die Gottheit des Menschen überhaupt, jedes Menschen bedeutet. Wer diesen Unterschied nicht bemerkt und berücksichtigt, dem bleibt freilich meine Schrift ein unauflöslicher Widerspruch.



Ist die Schrift: "Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers"  für  oder  gegen  LUTHER? Sie ist ebensoviel für als gegen LUTHER. Aber ist denn das kein Widerspruch? Gewiß; aber ein Widerspruch, der notwendig ist, der in der Natur des Gegenstandes liegt.



Welche Gesinnung, welche Religion ist die Religion der Liebe? Die, wo der Mensch in der Liebe zum Menschen sein Gemüt befriedigt, das Rätsel seines Lebens gelöst, den Endzweck seines Daseins erreicht findet, in der Liebe also findet, was der Christ außer der Liebe im Glauben sucht.



"Du sollst Gott Deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit allen Deinen Kräften. Das ist das vornehmste Gebot. Und das andere ist ihm gleich: "Du sollst Deinen Nächsten lieben, wie Dich selbst." Aber wie kann denn das zweite Gebot dem ersten gleich sein, wenn dieses schon mein ganzes Gemüt und alle meine Kräfte in Anspruch nimmt? was bleibt von meinem Herzen für den Menschen übrig, wenn ich mit ganzem Herzen Gott lieben soll?



"Wer seinen Bruder liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?" So fragt die Bibel. Ich aber frage: wer seinen Bruder liebt, den  er sieht,  wie kann er Gott lieben, den er  nicht sieht?  Wie kann die Liebe zu einem sinnlichen, "endlichen" und die Liebe zu einem unsinnlichen, "unendlichen" Wesen in ein und demselben Herzen Platz haben?



Nur ein wirkliches Wesen, nur was Gegenstand der Sinne ist, ist auch Gegenstand einer wirklichen Liebe. Einem Wesen, das nur im Glauben, in der Einbildungskraft existiert, sein Herz opfern, heißt einer eingebildeten, imaginären Liebe die wirkliche Liebe aufopfern.



Das Christentum ist das Mittelalter der Menschheit. Wir leben daher heute noch in der Barbarei des Mittelalters. Aber die Geburtswehen der neuen Zeit beginnen in unserer Zeit.



"Was kann von Nazareth Gutes kommen?" So denken immer die Hochweisen und Altklugen. Allein das Gute, das Neue kommt gerade immer daher,  woher man es nicht erwartet,  und ist immer  anders,  als man es erwartet.



Alles Neue wird mit Verachtung aufgenommen, denn es beginnt  in obscuro.  Diese Obskurität ist sein Schutzgeist. Unbemerkt wird es eine Macht. Würde es gleich von Anfang an den Augen imponieren, so würde das Alte alle seine noch vorhandenen Kräfte dagegen aufbieten, und das Neue in der Geburt ersticken.



Den Regierungen geht es, aber zum Glück der Menschheit, wie den Ärzten leider! zum Unglück der Menschheit. Solange ein Übel - und jede tiefgehende Neuerung ist in ihrem Sinne ein Übel - im Entstehen ist, so entgeht es ihren Blicken; wenn sie es aber bemerken, so ist es auch schon bereits ein unheilbares.



Was ist das sicherste Zeichen, daß eine Religion keine innere Lebenskraft mehr besitzt? wenn ihr die Fürsten der Welt ihren Arm bieten, um sie wieder auf die Beine zu bringen.



Die wahren Eigenschaften eines Menschen zeigen sich erst dann, wann es Zeit ist, sie zu zeigen, zu betätigen. Wer als Student die Rolle eines deutschen Kaisers spielte, würde sicherlich als Kaiser die Rolle eines Studenten gespielt haben.



"Luther  wollte Anfangs nicht so weit gehen, als er ging." Gerade dieser Gang ist der richtige. Wer schon am Anfang sich als Zweck vorsetzt, was nur absichtslose, unwillkürliche Folge der Entwicklung sein kann, verfehlt sein Ziel.



Die wahren geschichtlichen Taten sind nur die, denen das Bewußtsein nicht vorangeht, sondern nachfolgt, deren Zweck und Sinn erst in die Augen fällt, wenn sie bereits geschehen sind.



"So weit dürft Ihr gehen, aber keinen Schritt weiter!" Welche törichtes Vorsicht! Laß uns nur gehen, und Du kannst sicher sein, daß wir nicht immer gehen, sondern uns auch setzen werden. Deine Sache ist es nur, die Bewegung zu gewähren; aber dieser Bewegung Grenzen zu setzen, das ist die Sache des Lebens, der Geschichte.



Nichts ist törichter, als die Notwendigkeit einer Reformation anzuerkennen, aber das Recht zur Reformation auf das  Corpus juris civilis  oder  canonici  zu gründen. "Seine Lehre möchte ich wohl leiden", sagte CARDINAL von LUTHER, "aber aus dem  Winkel  sich reformieren lassen, das ist nicht zu dulden." Allein mein lieber Herr CARDINAL! aus einem Kardinalskollegium gehen nur Päpste, aber keine Reformatoren hervor. Eine Reformation kommt nie  in optima juris forma,  sondern stets nur auf originelle, extraordinäre, illegitime Weise zustande. Wer den Geist und Mut zu einem Reformator hat, nur der hat auch das Recht dazu. Jeder Reformator ist notwendig ein Usurpator, jede Reformation eine Gewalttat des Geistes.



Der Verstand schreibt, aber die Leidenschaft macht Geschichte. Alles Neue ist daher ungerecht gegen das Alte. Der Geschichtsschreiber hat die Muße und Aufgabe, auch dem Alten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, aber nicht der Geschichtmacher. Der "reine", unparteiische Verstand, das historische Gewissen erwacht erst, wenn längst die Tat vorbei ist. Denken kann man, ohne jemandem unrecht und weh zu tun, denn es gehört dazu nichts weiter als der Kopf; aber handeln kann man nicht, ohne mit dem ganzen Leib zu agieren, ohne also nach allen Seiten hin, selbst wider Willen verletzend anzustoßen.



Die Gegenwart erkennst Du nicht aus der Geschichte; denn die Geschichte zeigt Dir nur die Ähnlichkeit einer Erscheinung mit einer bereits dagewesenen, aber nicht ihren Unterschied, ihre Individualität, ihre Originalität; die Gegenwart kann nur unmittelbar durch sich selbst erfaßt werden. Und Du verstehst sie nur, wenn Du selbst nicht bereits zur Vergangenheit, sondern zur Gegenwart, nicht zu den Toten, sondern zu den Lebendigen gehörst.



"Der Glaube ist der Menschheit notwendig." Jawohl; aber nur nicht gerade Euer Glaube. Auch wir Ungläubige glauben, aber das direkte Gegenteil von  dem,  was Ihr Gläubige! glaubt.



Die Menschheit wird immer nur durch sich selbst bestimmt, schöpft immer nur aus sich selbst ihre theoretischen und praktischen Grundsätze. Wie kannst Du Dir daher einbilden, an der Bibel etwas "Positives, Bleibendes, Unveränderliches" zu besitzen? Der Buchstabe der Bibel ist freilich unveränderlich; aber ihr Sinn ist so veränderlich, wie der Sinn der Menschheit. Jede Zeit liest nur sich selbst in der Bibel; jede Zeit hat ihre eigene, selbstgemachte Bibel.



"Die neue Lehre ist wahr, aber nicht praktisch, nicht für das Volk." Wenn Du so sprichst, so beweist Du nur, daß Du selbst Dich noch im Zwiespalt mit der neuen Lehre befindest, daß sie für Dich selbst nur eine theoretische, unpopuläre Wahrheit ist, daß sie sich nicht Deines ganzen Wesens bemeistert hat. Was Sache Deines Wesens ist, das stößt Dir auch die Gewißheit ein, daß es einst auch, freilich auf seine Weise, Sache des Volkes wird.



"Was Menschentum! Deutschtum ist unser Losungswort. Deutsche sind wir und wollen wir sein." Ich habe Nichts dagegen; aber warum ereifert sich denn Euer Patriotismus nur gegen die Konsequenz des Christentums, das Menschentum, nicht gegen das Christentum selbst? Das Christentum lehrt aber nicht: Gott und der deutsche  Michel  ist Eins, sondern Gott und der Mensch ist Eins.



Die Menschen sind insgeheim in der Praxis so sehr das Gegenteil von dem, was sie in der Theorie sind, daß es vielleicht besser wäre, statt der Menschenliebe den Menschenhaß zum Lehr- und Glaubensartikel zu erheben. Während jetzt die Menschen in der Religion, d. h. in der Theorie sich lieben, aber in der Praxis sich hassen, so würden sie dann vielleicht umgekehrt wohl in der Theorie sich hassen, aber im Leben sich lieben.



Die sinnliche Tat ist das Wesen des Heidentums, der "Geist" d. h. das abstrakte  Wort  das Wesen des Christentums. Das Wort Gottes bedeutet zuletzt nichts anderes, als die Gottheit des Wortes, die heilige Schrift nichts anderes, als die  Heiligkeit  der Schrift. Dieses "Wesen des Christentums" haben aber nur die "tief christlichen" Deutschen erfaßt und realisiert. Darum sind und haben die Deutschen alles im Wort, aber nichts in der Tat, alles in Gedanken, aber nichts in den Sinnen, Alles im Geist, aber nichts im Fleisch, d. h. alles auf dem Papiert, aber nichts in der Wirklichkeit.

1843 - 44
"Grundsätze der Philosophie"

Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke. Das Subjekt der Gottheit ist die Vernunft, aber das Subjekt der Vernunft der Mensch.



"Die Gottesfurcht ist der  Anfang  der Weisheit," aber nicht ihr  Ende. 



"Objektiver Geist!" was ist er? Mein Geist, wie er für andere da ist, der Geist in meinen Werken. Aber ist dieser objektive Geist nicht der subjektive Geist, nicht mein, dieses Menschen Geist? Erkenne ich den Menschen nicht aus seinen Werken? Lese ich nicht GOETHE, wenn ich GOETHEs Schriften lese?



Woher ist denn der Mensch? Frage erst:  was  ist der Mensch? Ist Dir sein Wesen klar, so ist es Dir auch sein Ursprung. Was? fragt der Mann; woher? das Kind.



"Der Mensch kann nicht aus der Natur abgeleitet werden" nein! aber der Mensch, der unmittelbar aus der Natur entsprang, war auch nur noch ein reines Naturwesen, kein Mensch. Der Mensch ist kein Produkt des Menschen, der Kultur, der Geschichte. Viele Pflanzen und Tiere sogar haben sich unter der Pflege der menschlichen Hand so verändert, daß wir ihre Originale gar nicht mehr in der Natur nachweisen können. Willst Du zur Erklärung ihres Ursprungs zu einem  Deus ex machina  [Gott aus der Schachtel - wp] Deine Zuflucht nehmen?



Woher kommen die Lücken und Schranken unseres Wissens von der Natur? daher, daß Wissen weder der Grund, noch der Zweck der Natur ist.



"Die Wissenschaft löst nicht das Rätsel des Lebens." Meinetwegen; aber was folgt daraus? daß Du zum Glauben überläufst? Das hieße vom Regen in die Traufe kommen. Daß Du zum Leben, zur Praxis übergehst.  Die  Zweifel, die die Theorie nicht löst, löst Dir die Praxis.



"Wie kann der Mensch aus der Natur, d. h. der Geist aus der Materie entspringen?" Beantworte mir vor allem erst  die  Frage: wie kann aus dem Geist die Materie entspringen? Findest Du auf diese Frage keine, zumindest keine vernünftige Antwort, so wirst Du einsehen, daß nur die entgegengesetzte Frage Dich zum Ziel führt.



"Der Mensch ist das höchste Wesen der Natur, vom Wesen des Menschen muß ich also ausgehen, dasselbe zugrunde legen, wenn ich mir den Ursprung und Gang der Natur klar machen will." Ganz richtig, aber eben im Menschen "kommt der Verstand nicht vor den Jahren", geht die Materie dem Geiste, die Bewußtlosigkeit dem Bewußtsein, die Zwecklosigkeit dem Zweck, die Sinnlichkeit der Vernunft, die Leidenschaft dem Willen voraus.



"Du setzest ohne Weiteres den Menschen voraus." Wie kannst Du mir diesen Vorwurf machen? Ich bin leider! erst durch die Negation des Menschen auf den Menschen gekommen; ich setze ihn erst, nachdem ich erkannt und gezeigt habe, daß das im Unterschied von der Natur dem Menschen vorausgesetzte Wesen sich in ihn als seine Quelle und Voraussetzung auflöst; meine Position des Menschen ist also Nichts weniger als eine assertorische [behauptende - wp], sondern durch die "Negation der Negation" vermittelte.



Weißt Du, wann Du allein ohne Voraussetzungen philosophierst? dann, wenn Du der Philosophie die Empirie, dem Denken die Anschauung voraussetzst, aber nicht nur imaginär, illusorisch, wie die spekulative Philosophie, sondern in der  Tat  und  Wahrheit



Wer mit Bewußtsein und Absicht Nichts voraussetzt, setzt unbewußt gerade das als wahr voraus, was er uns erst beweisen soll. Der nur ist ein wahrhaft genetischer Denker, dessen Resultat in direktem Widerspruch steht mit seinem  bewußten  Anfang.



Das Erste muß auch das Letzte sein; ganz richtig, aber eben deswegen mußt Du, wenn Du mit der Anschauung wahrhaft, nicht bloß  pro forma  beginnst, zuletzt auch wieder auf die Anschauung zurückkommen.



Worin besteht denn meine "Methode"? darin, alles Übernatürliche mittels des Menschen auf die Natur und alles Übermenschliche mittels der Natur auf den Menschen zu reduzieren, aber stets nur aufgrund anschaulicher, historischer, empirischer Tatsachen und Exempel.



Was mein Prinzip ist?  Ego und alter Ego "Egoismus"  und  Kommunismus",  denn beide sind so unzertrennlich, wie  Kopf  und  Herz.  Ohne Egoismus hast Du  keinen Kopf,  und ohne Kommunismus  kein Herz. 



Deine erste Pflicht ist,  Dich selbst  glücklich zu machen. Bist Du glücklich, so machst Du auch Andere glücklich. Der Glückliche kann nur Glückliche ums sich sehen.



Wenn Du den "Egoismus", d. h. die Selbstliebe schlechtweg verdammst, so mußt Du konsequent auch die Liebe zu Anderen verdammen. Lieben heißt Anderen wohlwollen und wohltun, also die Selbstliebe Anderer als berechtigt anerkennen. Warum willst Du aber an Dir verleugnen, was Du an Anderen anerkennst?



Die Philosophie zur  Sache der Menschheit  zu machen, das war mein erstes Bestreben. Aber wer einmal diesen Weg einschlägt, kommt notwendig zuletzt dahin, den Menschen zur Sache der Philosophie zu machen, und die Philosophie selbst aufzuheben, denn sie wird nur dadurch Sache der Menschheit, daß sie eben aufhört, Philosophie zu sein.
LITERATUR Ludwig Feuerbach, Philosophische Kritiken und Grundsätze, Leipzig 1846
    Anmerkungen
    1) Nur Fragmente! also nichts Ganzes, nichts Vollständiges. Warum? teils aus Mangel an Zeit, Lust und Interesse an meiner Vergangenheit, teils aber auch aus Mangel an Dokumenten, d. h. Denkzetteln, die entweder in fremden Händen oder verloren gegangen sind. So sind z. B. gleich die nächstfolgenden Exzerpte die einzigen Überbleibsel aus meiner freilich gleichgültigsten Lebensperiode, aus der Gymnasialzeit, deren Schlußjahr 1822 ist. Es finden sich daher sehr einflußreiche Momente in dieser Fragmentensammlung nicht repräsentiert, andere sind nur ganz leise angedeutet.
    2) Allerdings hat der Mensch ebensogut eine eigene Vernunft, wie er  eine eigene Nase,  einen  eigenen Kopf  überhaupt hat. Die Identität der Vernunft ist nur die Identität der Organisation - eine Identität, die wir im Denken und Sprechen notwendig - denn das Wort ist allgemein - als Gattung für sich fixieren, verselbständigen, aber bei der wir nicht vergessen dürfen, daß sie nur ein Produkt unseres Denkens ist. Übrigens ist es unnötig, die hier ausgesprochenen Gedanken einer besonderen Kritik zu unterwerfen, da sie, indirekt zumindest, in meinen späteren Schriften enthalten ist.
    3) "Man verzeihe das Wort!"
    4) Einige der folgenden Sätze sind aus späterer Zeit, aber sie gehören dem Standpunkt nach, den sie bezeichnen, hierher. Zur Bezeichnung dieses Standpunktes wählte ich auch den Ausdruck: Tagebuch.
    5) Den Pantheismus bezeichnete ich natürlich nur im Allgemeinen als das Wesen der neueren Philosophie und Zeit. Die näheren Bestimmungen und Einschränkungen dieses unbestimmten, allgemeinen Ausdrucks folgten erst bei der Darstellung des Idealismus.