tb-4 BakuninK. DiehlH. Saitzeff    
 
PAUL ELTZBACHER
Der Anarchismus

"Die ungleichmäßige Güterverteilung läuft dem Wohl der Gesamtheit durchaus zuwider. Sie hemmt den geistigen Fortschritt. Die Anhäufung von Eigentum tritt die Macht des Gedankens in den Staub, löscht den Funken des Genius aus und ertränkt die große Masse der Menschen in schmutzigen Sorgen. Dem Reichen aber nimmt sie die heilsamsten und kräftigsten Triebfedern zur Tätigkeit; und mit seinem Überfluß kann er nichts kaufen als Glanz und Neid, nichts als das traurige Vergnügen, dem Armen als Almosen das zurückzuerstatten, auf was ihm Vernunft ein unbestreitbares Recht gibt."

"Das Mittel, um die Menschen möglichst allgemein von der Notwendigkeit einer Wandlung zu überzeugen, besteht in Beweis und Überredung. Die beste Gewähr eines glücklichen Ausgangs liegt in der freien, unbeschränkten Erörterung. Auf diesem Kampfplatz muß immer die Wahrheit Sieger bleiben. Wollen wir also die gesellschaftlichen Einrichtungen der Menschheit verbessern, so müssen wir durch Wort und Schrift zu überzeugen suchen."


Drittes Kapitel
Die Lehre Godwins

1. Allgemeines

1. WILLIAM GODWIN wurde 1756 zu Wisbeach, Cambridgeshire, geboren. Von 1773 an studierte er in Hoxton Theologie. 1778 wurde er Prediger zu Ware, Hertfordshire, 1780 Prediger zu Stowmarket, Suffolk. 1782 gab er diese Stellung auf. Von nun an lebte er als Schriftsteller in London. Dort starb er 1836.

GODWIN hat zahlreiche Schriften auf den Gebieten der Philosophie, Wirtschaftslehre und Geschichte, auch Erzählungen, Trauerspiele und Jugendschriften veröffentlicht.

2. GODWINs Lehre über Recht, Staat und Eigentum ist vorzüglich enthalten in dem zweibändigen Werk "An enquiry concerning political justice and its influence on general virtue and happinesse (1793).

"Der Druck des Werkes", sagt GODWIN selbst, "wurde lange vor seiner Vollendung begonnen. Während seines Fortschreitens klärten und vertieften sich die Ansichten des Verfassers. Die Folge hiervon sind einige Widersprüche. Bereits bei Beginn seiner Arbeit hatte er sich klar gemacht, daß alle Regierung notwendig unserer Vervollkommnung entgegenwirkt; aber je weiter er kam, desto mehr erkannte er die Tragweite dieses Satzes, und desto klarer wurde ihm, was geschehen muß". - Hier ist die Lehre GODWINs ausschließlich in der entwickelten Gestalt dargestellt, die sie im zweiten Teil des Werkes zeigt.

3. Seine Lehre über Recht, Staat und Eigentum nennt GODWIN nicht Anarchismus. Aber dieses Wort flößt ihm immerhin keinen Schrecken ein. "Die Anarchie ist ein furchtbares Übel, aber der Despotismus ist fürchterlicher. Wo die Anarchie Hunderte geschlagen hat, da hat er Millionen und Abermillionen hingeopfert und dadurch nur der Unwissenheit, den Lastern und dem Elend Dauer verliehen. Die Anarchie ist ein kurzlebiges Übel, aber der Despotismus ist fast unsterblich. Es ist ohne Frage ein schreckliches Heilmittel für ein Volk, allen wütenden Leidenschaften nachzugeben, bis der Anblick ihrer Wirkungen der Vernunft neue Kraft verleiht; aber so schrecklich das Heilmittel ist, so sicher hilft es."


2. Grundlage

Nach  GODWIN  ist unser höchstes Gesetz das Wohl der Gesamtheit. 

Was ist das Wohl der Gesamtheit? "Sein Wesen ist abhängig vom Wesen unserer Seele." Es ist unveränderlich; solange die Menschen Menschen sind, bleibt es sich gleich. "Befördert wird es am meisten durch all das, was unsere Bildung erweitert, unsere Tugend anspornt, uns mit einem edlen Gefühl von Unabhängigkeit erfüllt und sorgfältig jedes Hindernis unserer Betätigung aus dem Weg räumt."

Das Wohl der Gesamtheit ist unser höchstes Gesetz. "Pflicht ist nichts anderes als die Art und Weise, in der ein Wesen am besten für das allgemeine Wohl verwandt werden kann." "Gerechtigkeit umfaßt alle sittlichen Pflichten;" "wenn sie irgendeinen Sinn haben soll, so ist es gerecht, daß ich sovviel wie möglich zum Wohl der Gesamtheit beitrage." "Tugend ist der Wunsch, das Wohl aller vernünftigen Wesen zu befördern, und die Höhe der Tugend entspricht der Stärke dieses Wunsches;" "die höchste Vollendung dieses Gefühles ist ein Gemütszustand, in welchem uns das Gute, das durch andere geschieht, ebenso glücklich macht wie das, welches wir selber tun."

"Der wahrhaft weise Mann", strebt nur nach dem Wohl des Ganzen. Ihn "treibt weder Eigennutz noch Ehrgeiz, weder die Sucht nach Ehre noch die nach Ruhm. Er kennt keine Eifersucht. Nicht die Vergleichung dessen, was er erreicht hat, mit dem, was andere erreicht haben, raubt ihm die Ruhe, sondern die Vergleichung mit dem, was überhaupt erreicht werden soll. Er fühlt sich verpflichtet, das Wohl des Ganzen zu erstreben; aber dieses Wohl ist sein einziger Zweck, wird es durch eine andere Hand verwirklicht, so fühlt er sich nicht enttäuscht. Alle betrachtet er als Mitarbeiter, keinen als Nebenbuhler."


3. Recht

I.  Im Hinblick auf das Wohl der Gesamtheit verwirft  GODWIN  ganz allgemein, nicht etwa nur für besondere räumlich und zeitlich bestimmte Verhältnisse, das Recht. 

"Das Recht ist eine Einrichtung von den verderblichsten Wirkungen". "Hat man einmal angefangen, Gesetze zu geben, so findet man so leicht kein Ende. Die menschlichen Handlungen sind verschieden, und verschieden ist auch ihre Nützlichkeit und Schädlichkeit. Wenn neue Fälle auftreten, erweist sich das Gesetz immer wieder als ungenügend. So muß man beständig neue Gesetze machen. Das Buch, in welches das Recht seine Vorschriften einträgt, wächst beständig, und die Welt ist zu klein für alle künftigen Gesetzbücher." "Aus der ungeheuren Zahl der Rechtsvorschriften folgt ihre Ungewißheit. Man hat sie gegeben, damit jeder einfache Mann weiß, woran er ist, und doch sind die besten Rechtsverständigen verschiedener Meinung über den Ausgang meines Prozesses." "Hierzu kommt die prophetische Natur des Rechts. Es hat die Aufgabe zu beschreiben, wie Menschen in Zukunft handeln werden, und bereits im voraus darüber zu entscheiden."

"Wir nennen das Recht oft die Weisheit unserer Väter. Aber das ist eine seltsame Täuschung. Es war ebenso oft die Frucht ihrer Leidenschaft, Furchtsamkeit, Eifersucht, Engherzigkeit und Herrschgier. Sind wir nicht in einem fort genötigt, die sogenannte Weisheit unserer Väter abzuändern und umzugestalten? sie unter Aufdeckung ihrer Unwissenheit Verurteilung ihrer Unduldsamkeit zu verbessern?" "Die Menschen sind nicht zuständig für eine Gesetzgebung in der Art wie sie gewöhnlich verstanden wird. Vernunft ist unsere einzige Gesetzgeberin, und ihre Vorschriften sind unabänderlich und überall die gleichen." "Die Menschen können das Recht lediglich auslegen und erläutern; keine Macht der Erde ist so gewaltig, daß sie befugt wäre, das zum Gesetz zu machen, was nicht die ewige Gerechtigkeit schon vorher zum Gesetz gemacht hat."

"Nun ist es freilich wahr, daß wir unvollkommen, unwissend, Sklaven des Scheins sind." Aber "was auch immer für Übelstände aus den Leidenschaften der Menschen entstehen mögen, die Einführung fester Gesetze kann nicht das richtige Heilmittel sein." "Solange jemand in den Netzen des Gehorsams gefangen und seinen Schritt nach dem eines anderen zu richten gewohnt ist, werden sein Verstand und seine Geisteskraft schlummern. Was kann ich tun, um ihn in seiner ganzen Kraft emporzurichten? Ich muß ihn lehren, sich selber zu fühlen, niemanden als maßgebend zu betrachten, Klarheit über seine Grundsätze zu gewinnen und sich über sein Verhalten Rechenschaft zu geben."

II.  Das Wohl der Gesamtheit gebietet, daß künftig anstelle des Rechts es selbst für den Menschen Gesetz sei. 

"Wenn jeder Schilling unseres Vermögens, jede Stunde unserer Zeit und jede Fähigkeit unserer Seele schon durch die unabänderlichen Vorschriften der Gerechtigkeit", d. h. des allgemeinen Besten, "ihre Bestimmung erhalten haben", so kann keine andere Vorschrift mehr über sie verfügen. "Der wahre Grundsatz, der an die Stelle des Rechts treten muß, liegt in der uneingeschränkten Herrschaft der Vernunft."

"Demgegenüber kann man sich nicht darauf berufen, daß unsere Weisheit beschränkt ist. Es dürfte heute nicht an Männern fehlen, die geistig ebenso hoch stehen wie das Recht. Wenn aber in der Tat Männer unter uns sind, deren Weisheit der des Rechts gleichkommt, so wird man kaum den Beweis führen können, daß die Wahrheiten, die sie uns mitzuteilen haben, deshalb weniger wert sind, weil sie sich nur auf das Gewicht ihrer Gründe stützen."

"Die gerichtlichen Entscheidungen, die unmittelbar nach Abschaffung des Rechts ergingen, würden freilich von den früheren nicht sehr verschieden sein. Sie würden auf Vorurteil und Gewohnheit beruhen. Aber diese Gewohnheit würde mit ihrem Mittelpunkt allmählich auch die Kraft verlieren. Diejenigen, welche mit der Entscheidung einer Frage betraut wären, würden sich immer häufiger daran erinnern, daß die ganze Sache ihrem freien Ermessen anheim gegeben ist, und auf diese Weise notwendig dazu gelangen, die Berechtigung bisher unangefochtener Grundsätze ihrer Prüfung zu unterwerfen. Je mehr sie die Wichtigkeit ihrer Aufgabe und die vollkommene Freiheit ihrer Untersuchung empfänden, desto größer müßte ihr Verständnis werden. Eine glückliche Ordnung der Dinge mit unabsehbaren Wirkungen träte ein; der blinde Glaube stürzte, und es käme das lichte Reich der Gerechtigkeit."


4. Staat

I.  Da  GODWIN  das Recht unbedingt verwirft, muß er notwendig ebenso unbedingt auch den Staat verwerfen. Ja, er betrachtet ihn als eine Rechtseinrichtung, die dem Wohl der Gesamtheit ganz besonders zuwiderläuft. 

Man gründet den Staat teils auf Gewalt, teils auf göttliches Recht, teils auf Vertrag. Aber "die erste Annahme bedeutet offenbar den gänzlichen Verzicht auf jede ewige und unbedingte Gerechtigkeit; den sie erklärt jede Regierung für berechtigt, die Macht genug hat, ihre Vorschriften durchzusetzen. Sie macht aller Staatswissenschaft ein gewaltsames Ende und scheint den Menschen zu empfehlen, sich ruhig jedem Übel zu beugen und sich nicht den Kopf über Verbesserungen zu zerbrechen. Die zweite Annahme ist doppelsinnig. Sie bedeutet entweder dasselbe wie die erste und leitet alle vorhandene Macht ohne Unterschied von Gott her; oder sie ist solange gänzlich wertlos, bis ein Kennzeichen gefunden ist, an welchem man die von Gott gebilligten Regierungen von anderen unterscheiden kann." Die dritte Annahme schließlich würde den Sinn haben, daß jemand einem anderen "die Verwaltung seines Gewissens und die Beurteilung seiner Pflichten überträgt." "Wir können aber auf unsere sittliche Selbständigkeit nicht verzichten; sie ist ein Eigentum, das wir weder verhandeln noch verschenken können; und folglich kann keine Regierung ihre Gewalt von einem ursprünglichen Vertrag herleiten."

"Jede Regierung entspricht in gewissem Grad dem, was die Griechen eine  Tyrannei  nannten. Der einzige Unterschied besteht darin, daß in despotisch regierten Ländern Gewalt einen gleichförmigen Druck auf unseren Geist ausübt, während in Republiken dieser beweglicher bleibt und die Gewalt eher den Strömungen der öffentlichen Meinung folgt." "Staatseinrichtungen haben immer in gewissem Maße die Wirkung, die Beweglichkeit unseres Geistes zu verringern und seinem Fortschritt ein Ziel zu setzen." "Wir sollten niemals vergessen, daß alle Regierung ein Übel und die Entthronung unseres eigenen Urteils und Gewissens ist."

II.  Das Wohl der Gesamtheit fordert, daß ein geselliges Zusammenleben der Menschen lediglich aufgrund seiner Vorschriften an die Stelle des Staates tritt. 

1. Die Menschen sollen auch nach der Abschaffung des Staates gesellig zusammenleben. "Zwischen Gesellschaft und Staat ist sorgfältig zu unterscheiden. Die Menschen vereinigten sich zunächst, um einander zu unterstützen", erst später trat in diesen Vereinigungen infolge der Verirrungen und der Schlechtigkeit einiger weniger der Zwang auf. "Gesellschaft und Staat sind ansich verschieden und verschiedenen Ursprungs. Die Gesellschaft ist erzeugt durch unsere Bedürfnisse, der Staat durch unsere Schlechtigkeit. Die Gesellschaft ist jedenfalls ein Segen, der Staat günstigstenfalls ein notwendiges Übel."

Aber was soll in einer "Gesellschaft ohne Regierung" die Menschen zusammenhalten? Jedenfalls kein Versprechen. Kein Versprechen vermag mich zu binden; denn entweder ist das, was ich versprochen habe, gut, dann muß ich es auch ohne Versprechen tun; oder es ist böse, dann kann mich auch das Versprechen nicht dazu verpflichten. "Daß ich einen Fehler begangen habe, verbindet mich nicht, mich auch noch eines zweiten schuldig zu machen." "Angenommen, ich hätte für einen guten und achtbaren Zweck eine Summe Geldes versprochen. In dem Zeitraum zwischen Versprechen und Erfüllung stellt sich mir ein größerer und edlerer Zweck dar und fordert gebieterisch meine Mitwirkung. Welchem soll ich den Vorzug geben? Dem, der ihn verdient. Mein Versprechen kann keinen Unterschied machen. Der Wert der Dinge muß mich leiten, nicht ein äußerlicher und fremder Gesichtspunkt. Der Wert der Dinge aber wird nicht dadurch beeinflußt, daß ich eine Verbindlichkeit übernommen habe."

Die Menschen soll künftig "die gemeinsame Erwägung des allgemeinen Besten" in Gesellschaften zusammenhalten. Dies entspricht in hohem Grad dem Wohl der Gesamtheit. "Daß ein Volk es wagt, seine Aufgabe gemeinsamer Erwägung zu erfüllen, ist ein Schritt vorwärts, und dieser Schritt muß notwendig den Charakter der Einzelnen verbessern. Daß Menschen sich vereinigen, um die Wahrheit zu bezeugen, ist ein schöner Beweis für ihre Tugend. Und daß der Einzelne, mag er sich selber noch so groß vorkommen, sich der Stimme der Gemeinschaft unterwerfen muß, bestätigt zumindest äußerlich der großen Grundsatz, daß jeder seinen Vorteil dem Wohl der Gesamtheit zu opfern hat."

2. Die Gesellschaften sollen klein sein und so wenig wie möglich miteinander verkehren.

Überall sollen kleine Gebiete ihre Angelegenheiten selbständig verwalten. "Eine Vereinigung von Menschen kann, solange sie den Geboten der Vernunft gehorcht, nicht das geringste Bedürfnis fühlen, ihr Gebiet zu erweitern." "Alle die Übel, die mit dem Staat als solchem verbunden sind, werden durch die räumliche Ausbreitung seiner Gewalt außerordentlich verschlimmert, dagegen gemildert, sobald diese auf ein kleines Gebiet beschränkt ist. Ehrgeiz, der im ersteren Fall so schrecklich wie die Pest ist, hat im letzteren keinen Spielraum. Unruhen im Volk können wie die Meereswogen auf einer weiten Fläche die furchtbarsten Wirkungen hervorbringen, aber eng begrenzt sind sie so unschädlich wie die Wellen des kleinsten Sees. Mäßigung und Billigkeit wohnen nur in kleinen Kreisen." - "Der Wunsch, unser Gebiet zu vergrößern, Nachbarstaaten zu besiegen oder in Schranken zu halten, uns durch List oder Gewalt über sie zu erheben, beruth auf Vorurteil und Täuschung. Macht ist nicht Glück. Sicherheit und Frieden sind wünschenswerter als ein Name, vor welchem die Völker erzittern. Die Menschen sind Brüder. Wir vereinigen uns unter irgendeinem Himmelsstrich, weil unsere innere Ruhe oder unsere Verteidigung gegen die Frechheit eines gemeinsamen Gegners dies verlangt. Aber die Nebenbuhlerschaft der Völker ist ein Erzeugnis unserer Einbildung."

Die kleinen, selbständig verwalteten Gebiete sollen so wenig Beziehungen wie möglich unterhalten. "Der Verkehr von einzelnen Menschen untereinander kann nicht lebhaft und schrankenlos genug sein; aber für Gesellschaften hat es keinen Wert, daß sie viel miteinander zu tun haben, soweit dies nicht durch Verirrung oder Gewalt notwendig wird. Mit dieser Betrachtung sind auf einmal die Hauptgegenstände jener geheimnisvollen und verwickelten Staatskunst verschwunden, welche bisher die Regierungen Anspruch genommen hat. Offiziere der Land- und Seemacht, Gesadte und Geschäftsträger und all die Kunstgriffe, die man erfunden hat, um andere Völker in Schach zu halten, in ihre Geheimnisse einzudringen, ihre Pläne zu durchkreuzen, Bündnisse und Gegenbündnisse zu schließen, sind überflüssig geworden."

3. Wie aber sollen in den künftigen Gesellschaften die Aufgaben erfüllt werden, die gegenwärtig der Staat erfüllt? "Von diesen Aufgaben haben nur zwei eine Berechtigung: einmal die Unterdrückung von Unrecht, das innerhalb des Gemeinwesens gegen einzelne Mitglieder verübt wird", und dann die Beilegung von Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gebieten "und die gemeinsame Verteidigung gegen äußere Angriffe."

"Von diesen Aufgaben kann nur die erste einen dauernden Anspruch an uns stellen. Ihr würde vollkommen genügt durch ein Geschworenengericht, das über Verletzungen von Mitgliedern und Eigentumsstreitigkeiten zwischen ihnen zu entscheiden hätte." Dieses Gericht entschiede nicht nach irgendeiner Rechtsordnung, sondern nach der Vernunft. - "Es dürfte freilich für einen Missetäter leicht sein, sich dem Bereich einer so eng begrenzten Gerichtsbarkeit zu entziehen, und es könnte deshalb auf den ersten Blick notwendig scheinen, daß die benachbarten Sprengel oder Gerichtsbezirke in ähnlicher Weise regiert würden oder doch wenigstens ohne Rücksicht auf ihre Regierungsform bereit wären, sich mit uns zur Ausscheidung oder Besserung eines Missetäters zu vereinigen, dessen gegenwärtiges Verhalten sie und uns in gleichem Maße schädigt. Aber hierzu bedarf es keiner Vereinbarung und noch weniger einer gemeinsamen höchsten Gewalt. Allgemeine Gerechtigkeit und gemeinschaftlicher Vorteil verbinden die Menschen fester als Brief und Siegel."

Die zweite Aufgabe würde nur von Zeit zu Zeit an uns herantreten. "Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gebieten wären der Gipfel aller Unvernunft, könnten aber doch vorkommen; zu ihrer Erledigung bedürfte es des Einverständnisses der verschiedenen Gebiete, durch welches die Gebote der Gerechtigkeit deutlich gemacht und nötigenfalls erzwungen würden." Auch feindliche Angriffe würden ein solches Einverständnis notwendig machen und insofern jenen Streitigkeiten gleichen. Deshalb "müßten dann und wann Nationalversammlungen stattfinden, das heißt Versammlungen, deren Aufgabe es wäre, einerseits die Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gebieten beizulegen, andererseits die besten Maßregeln zur Abwehr feindlicher Angriffe festzustellen." - "Aber man sollte von ihnen einen so sparsamen Gebrauch wie irgend möglich machen." Denn erstens entscheidet in einer solchen Versammlung die Zahl der Stimmen, "und, wenn es gut geht, geben in ihr die schwächsten Köpfe, nicht selten aber auch die unehrenhaftesten Absichten den Ausschlag." Zweitens werden in der Regel die Mitglieder bei ihren Beschlüssen durch allerlei äußere Gründe und nicht lediglich durch die Ergebnisse ihres freien Nachdenkens geleitet. Drittens sind sie genötigt, ihre Kraft mit Nichtigkeiten zu vergeuden, während es ihnen unmöglich ist, Beweisgründe ruhig auf sich wirken zu lassen. Deshalb sollten Nationalversammlungen "entweder nur bei außerordentlichen Anlässen gewählt werden, wie der Diktator im alten Rom, oder aber periodisch tagen, vielleicht einen Tag im Jahr, mit der Berechtigung, ihre Sitzungen innerhalb gewisser Grenzen fortzusetzen. Das Erstere würden Vorzug verdienen."

Welches aber würde die Gewalt dieser Nationalversammlung und jener Geschworenengerichte sein? Die Menschheit ist durch die gegenwärtigen Einrichtungen so verdorben, daß zunächst der Erlaß von Befehlen und ein gewisses Maß an Zwang notwendig sein würden; später aber würde es gnügen, daß die Gerichte einen gewissen Ausgleich für Streitigkeiten vorschlügen, und daß die Nationalversammlungen sich darauf beschränkten, zur Mitarbeit im Dienst der Gesamtheit aufzufordern. "Wenn aber die Gerichte schließlich aufhörten, zu entscheiden, und sich begnügten, Rat zu erteilen, wenn Gewalt sich allmählich zur Ruhe setzte und nur noch Vernunft regierte, sollten wir da nicht eines Tages finden, daß die Gerichte und jede andere öffentliche Einrichtung überflüssig geworden wäre? Sollte nicht ein weiser Mann soviel Überzeugungskraft haben als ihrer zwölf? Sollte nicht jemandes Fähigkeit, seine Nachbarn zu belehren, auch ohne die Förmlichkeit einer Wahl genügend bekannt sein? Sollte alsdann noch viel Laster gebessert und noch viel böser Wille besiegt werden müssen? Dies ist eine der denkwürdigsten Stufen menschlichen Fortschritts. Mit welchem Entzücken muß der wohlunterrichtete Menschenfreund jener glücklichen Zeit entgegensehen, wo der Staat verschwunden sein wir, diese rohe Maschine, welche die einzige fortwährende Ursache der menschlichen Laster gewesen ist und so mannigfache Fehler mit sich führt, die nur durch ihre völlige Vernichtung beseitigt werden können."


5. Eigentum

I.  Aufgrund seiner unbedingten Verwerfung des Rechts muß  GODWIN  notwendig auch das Eigentum ohne jede Einschränkung verwerfen. Das Eigentum oder, wie er sich ausdrückt, "das gegenwärtige Eigentumssystem", das heißt die gegenwärtig durch das Recht gegebene Güterverteilung, erscheint ihm sogar als eine solche Rechtseinrichtung, die das Wohl der Gesamtheit ganz besonders verletzt.  "Die Weisheit von Gesetzgebern und Volksvertretungen ist dazu angewandt worden, die erbärmlichste und sinnloseste Eigentumsverteilung zu schaffen, welche der menschlichen Natur und den Grundsätzen der Gerechtigkeit in gleicher Weise Hohn spricht."

Das gegenwärtige Eigentumssystem verteilt die Güter in der ungleichmäßigsten und noch dazu in der willkürlichsten Weise. "Um des Zufalls der Abstammung willen häuft es auf einen einzigen Menschen ungeheuren Reichtum. Wenn jemand vom Bettler zu einem wohlhabenden Mann wird, so weiß man für gewöhnlich, daß er diese Veränderung nicht gerade seiner Ehrenhaftigkeit oder Nützlichkeit verdankt. Dem fleißigsten, tätigsten Mitglied der Gesellschaft fällt es oft schwer genug, seine Familie vor dem Verhungern zu bewahren." "Und wenn ich den Lohn meiner Arbeit erhalte, so gibt man mir hundertmal mehr Nahrung als ich verzehren und hundertmal mehr Kleider als ich tragen kann. Wo ist hier die Gerechtigkeit? Wenn ich der größte Wohltäter des Menschengeschlechts bin, ist das ein Grund, um mir zu geben, was ich nicht brauche, zumal wenn mein Überfluß Tausenden von größtem Nutzen sein könnte."

Diese ungleichmäßige Güterverteilung läuft dem Wohl der Gesamtheit durchaus zuwider. Sie hemmt den geistigen Fortschritt. "Die Anhäufung von Eigentum tritt die Macht des Gedankens in den Staub, löscht den Funken des Genius aus und ertränkt die große Masse der Menschen in schmutzigen Sorgen. Dem Reichen aber nimmt sie die heilsamsten und kräftigsten Triebfedern zur Tätigkeit;" und mit seinem Überfluß kann er "nichts kaufen als Glanz und Neid, nichts als das traurige Vergnügen, dem Armen als Almosen das zurückzuerstatten, auf was ihm Vernunft ein unbestreitbares Recht gibt.

Die ungleichmäßige Güterverteilung ist aber auch ein Hindernis sittlicher Vervollkommnung. Beim Reichen erzeugt sie Ehrsucht, Eitelkeit und Prahlerei, beim Armen aber Gewalttätigkeit, Knechtssinn und Arglist und in deren Gefolge Neid, Bosheit und Rachsucht. "Der Reiche steht als der einzige Gegenstand allgemeiner Achtung und Ehrerbietung da. Umsonst sind Mäßigkeit, Lauterkeit und Fleiß, umsonst die erhabensten Geisteskräfte und die glühendste Menschenliebe, wenn Du in schlechten Verhältnissen lebst. Vermögen zu erwerben und zur Schau zu stellen, ist die allgemeinen Leidenschaft." "Gewalt hätte sicher schon längst vor Vernunft und Bildung das Feld geräumt, aber die Anhäufung von Eigentum hat ihr Reich befestigt." "Daß´ein Mensch das im Überfluß besitzt, woran ein anderer darbt, ist eine reiche Quelle des Verbrechens."

II.  Das Wohl der Gesamtheit verlangt, daß eine Güterverteilung lediglich aufgrund seiner Vorschriften an die Stelle des Eigentums tritt.  Wenn GODWIN für den durch diese Vorschriften dem Einzelnen zugewiesenen Güteranteil den Ausdruck  Eigentum  verwendet, so geschieht dies nur in einem übertragenen Sinn; im eigentlichen Sinn kann als Eigentum nur ein durch das Recht zugewiesener Güteranteil bezeichnet werden.

Nach den Geboten des Wohles der Gesamtheit nun soll ein jeder Mensch die Mittel zu einem guten Leben haben. 1. "Wonach hat es sich zu bestimmen, ob ein Gegenstand, der zum Wohl der Menschheit brauchbar ist, Dein oder mein Eigentum sein soll? Es gibt nur eine Antwort: nach der Gerechtigkeit." "Die Gesetze verschiedener Länder verfügen über das Eigentum auf tausend verschiedene Arten, aber nur eine von ihnen kann der Vernunft am meisten entsprechen."

Die Gerechtigkeit fordert zunächst, daß jeder Mensch die Mittel zum Leben hat. "Unsere tierischen Bedürfnisse bestehen, das ist längst erkannt, in Nahrung, Kleidung und Wohnung. Wenn Gerechtigkeit irgendeinen Sinn haben soll so kann nichts ungerechter sein, als daß diese irgendeinem Menschen fehlen und daß gleichzeitig ein anderer zuviel davon hat. Aber Gerechtigkeit bleibt hier nicht stehen. Jedermann hat, soweit der Gütervorrat der Gesamtheit reicht, nicht nur den Anspruch auf die Mittel zum Leben, sondern auf die Mittel zu einem guten Leben. Es ist ungerecht, daß ein Mensch bis zur Zerstörung seiner Gesundheit oder seines Lebens arbeitet, während ein anderer im Überfluß schwelgt. Es ist ungerecht, daß ein Mensch nicht die Muße hat, seinen Geist zu bilden, während ein anderer keinen Finger zum Wohl der Gesamtheit rührt." 2. Ein solcher "Zustand der Eigentumsgleichheit" würde das Wohl der Gesamtheit im höchsten Grad fördern. In ihm "müßte die Arbeit zu einer so leichten Bürde werden, daß sie vielmehr die Natur eine Erholung und Leibesübung annähme". "Jedermann würde ein einfaches, aber gesundes Leben führen; einem jeden erhielte die mäßige Übung seiner Körperkräfte die Heiterkeit des Geistes; niemand bräche vor Müdigkeit zusammen; alle hätten Muße, die menschfreundlichen Regungen der Seele zu entwickeln und ihre Fähigkeiten im Streben nach Vollkommenheit zu betätigen.

"Wie schnell und erhaben würden die Fortschritte unseres Verstandes sein, wenn allen das Feld des Wissens offenstände. Es ist ja freilich anzunehmen, daß die geistige Ungleichheit in gewissem Grad bestehen bliebe. Aber man darf dennoch überzeugt sein, daß die Geister eines solchen Zeitalters alle bisherigen Leistungen weit hinter sich lassen würden."

Und ebenso groß wie der geistige wäre der sittliche Fortschritt. Die Laster, welche mit dem gegenwärtigen Eigentumssystem unzertrennlich verbunden sind, "müßten in einem Gesellschaftszustand verschwinden, in welchem die Menschen in Fülle lebten und alle in gleichem Maß an den Gaben der Natur Anteil hätten. Engherzige Selbstsucht fände keinen Raum mehr. Da niemand mehr über sein geringes Vermögen zu wachen oder sich rastlos um die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu mühen brauchte, so könnte jeder ganz im Gedanken an das Wohl der Gesamtheit aufgehen. Niemand würde seinem Nachbarn feind sein, weil kein Gegenstand des Streites vorhanden wäre; und so würde Menschenliebe den Thron einnehmen, welchen die Vernunft ihr anweist."

3. Wie aber ließe sich eine solche Güterverteilung im einzelnen Fall durchführen?

"Sobald einmal das Recht abgeschafft wäre, würde man anfangen, der Billigkeit nachzuforschen. Angenommen nun, es würde unter diesen Umständen ein Erbschaftsstreit vor den Richter gebracht, und die alte Gesetzgebung wiese fünf Erben die Erbschaft zu gleichen Teilen zu. Die Richter würden die Bedürfnisse und die Lage jedes einzelnen untersuchen. Der erste, nehmen wir an, ist ein redlicher Mann und kommt in der Welt vorwärts, er ist allgemein geachtet, von einer Vergrößerung seines Vermögens würde er weder einen Vorteil noch Genuß haben. Der zweite ist ein Unglücklicher, den die Not erdrückt und das Mißgeschick überwältigt. Der dritte ist zwar arm, doch ohne Sorgen; aber sein guter Wille treibt ihn, eine Stellung zu erlangen, in der er von großem Nutzen sein kann; um diese billigerweise zu übernehmen, bedarf er jedoch eines Betrachtes, der zwei Fünfteln des Nachlasses gleichkommt. Eine der Parteien ist ein lediges Frauenzimmer, Nachkommen sind von ihr nicht mehr zu erwarten. Die letzte ist eine unbemittelte Witwe, die eine zahlreiche Familie zu erhalten hat. Wenn dieser Erbschaftsstreit der schrankenlosen Entscheidung vorurteilsfreier Richter anheimgegeben wäre, so müßten sie sich notwendig die Frage vorlegen: welche Gerechtigkeit ist in der bisherigen unterschiedslosen Verteilung?" Und ihre Antwort könnte nich zweifelhaft sein.


6. Verwirklichung

Die durch das Wohl der Gesamtheit gebotene Wandlung soll sich nach  GODWIN  so vollziehen, daß diejenigen, welche die Wahrheit erkannt haben, die anderen davon überzeugen, wie notwendig die Wandlung für das Wohl der Gesamtheit ist, und daß hierdurch von selbst Recht, Staat und Eigentum verschwinden und der neue Zustand eintritt. 

I. Es ist lediglich erforderlich, die Menschen davon zu überzeugen, daß das Wohl der Gesamtheit die Wandlung fordert. 1. Jeder andere Weg ist zu verwerfen. "Diejenigen Waffen werden unserer Urteilskraft immer verdächtig sein, die mit gleicher Aussicht auf Erfolg auf beiden Seiten angewandt werden können. Deshalb sollten wir alle Gewalt mit Widerwillen betrachten. Wenn wir in die Kampfesschranken hinabsteigen, so verlassen wir das sichere Gebiet der Wahrheit und geben die Entscheidung der Launes des Zufalls anheim. Die Phalanx der Vernunft ist unverwundbar; sie rückt mit ruhigem, sicherem Schritt vor, und nichts vermag ihr zu widerstehen. Legen wir aber unsere Gründe nieder und greifen zu den Schwertern, so ist es anders. Wer kann im Lärm und Getümmel eines Bürgerkriegs sagen, ob der Erfolg für oder gegen ihn sein wird? Wir müssen deshalb sorgfältig zwischen Belehrung und Aufreizung des Volkes unterscheiden. Entrüstung, Groll und Leidenschaft müssen wir zurückweisen und nur die nüchterne Erwägung, das klare Urteil und eine unerschrockene Erörterung begehren."

2. Es gilt, die Menschen möglichst allgemein zu überzeugen. Nur wenn dies gelingt, werden sich Gewalttaten vermeiden lassen. "Weshalb sahen die Umwälzungen in Amerika und Frankreich alle Stände und Menschengattungen so gut wie einig, während der Widerstand gegen KARL den Ersten unser Volk in zwei gleiche Parteien spaltete? Weil sich dieses im siebzehnten, jenes aber am Ende des achtzehnten Jahrhundert ereignete. Weil zur Zeit der Umwälzungen in Amerika und Frankreich Philosophie bereits einige von den großen Wahrheiten der Staatskunde entwickelt und unter dem Einfluß von SYDNEY und LOCKE, von MONTESQUIEU und ROUSSEAU eine Anzahl von denkenden und starken Geistern erkannt hatte, was für ein Übel Gewalt ist. Wären diese Umwälzungen noch später eingetreten, nicht ein Tropfen Bürgerblut wäre von Bürgerhand vergossen worden, nicht in einem einzigen Fall hätte man gegen Menschen oder Sachen Gewalt geübt."

3. Das Mittel, um die Menschen möglichst allgemein von der Notwendigkeit einer Wandlung zu überzeugen, besteht in "Beweis und Überredung. Die beste Gewähr eines glücklichen Ausgangs liegt in der freien, unbeschränkten Erörterung. Auf diesem Kampfplatz muß immer die Wahrheit Sieger bleiben. Wollen wir also die gesellschaftlichen Einrichtungen der Menschheit verbessern, so müssen wir durch Wort und Schrift zu überzeugen suchen. Diese Tätigkeit hat keine Grenzen, dieses Bemühen duldet keine Unterbrechung. Jedes Mittel ist anzuwenden, nicht so sehr um die Aufmerksamkeit der Menschen zu fesseln und sie durch Überredung zu unserer Meinung herüberzuziehen, als vielmehr um jede Schranke des Denkens zu entfernen und den Tempel der Wissenschaft und das Feld der Untersuchung für jedermann zu öffnen." "Zwei Grundsätze sollte deshalb der Mensch, dem die Wiedergeburt seiner Gattung am Herzen liegt, immer vor Augen haben, nämlich den Fortschritt jeder Stunde bei Entdeckung und Aussaat der Wahrheit als wesentlich zu betrachten und ruhig Jahre dahinfließen zu lassen, bevor er auf die Ausführung seiner Lehre dringt. Bei all seiner Vorsicht ist es möglich, daß die ungestüme Menge dem ruhigen, stillen Gang der Vernunft vorauseilt; dann wird er nicht die Umwälzung verurteilen, die sich einige Jahre vor dem durch Weisheit gebotenen Zeitpunkt vollzieht. Aber läßt er strenge Vorsicht walten, so kann er unzweifelhaft manchen verfrühten Versuch vereiteln und die allgemeine Ruhe beträchtlich verlängern."

"Dies bedeutet nicht, wie man glauben könnte, daß die Wandlung unserer Zustände in unermeßlicher Entfernung liegt. Die Natur der menschlichen Dinge ist so beschaffen, daß große Veränderungen plötzlich eintreten und große Entdeckungen unverhofft, gleichsam zufällig, gemacht werden. Wenn ich den Geist eines jungen Menschen bilde, wenn ich mich bemühe, den eines älteren zu beeinflussen, so wird es lange Zeit den Anschein haben, als hätte ich wenig ausgerichtet, und die Früchte werden sich zeigen, wenn ich sie am wenigsten erwarte. Das Reich der Wahrheit kommt leise. Die Saat der Tugend kann noch aufgehen, wenn man sie schon verloren wähnte." "Wenn der echte Menschenfreund nur unermüdlich die Wahrheit verkündet und wachsam jedem Hindernis ihres Fortschreitens begegnet, so darf er mit ruhigem Herzen einem schnellen und günstigen Ausgang entgegensehen."

II. Wenn die Überzeugung, daß das Wohl der Gesamtheit eine Wandlung unserer Zustände fordert, erst allgemein durchgedrungen ist, so werden Recht, Staat und Eigentum ganz von selbst verschwinden und dem neuen Zustand Platz machen. "Die vollständige Umgestaltung, deren es bedarf, kann kaum als Tat betrachtet werden. Sie ist eine allgemeine Erleuchtung. Die Menschen fühlen ihre Lage, und ihre Ketten verschwinden wie ein Wahngebilde. Wenn die Stunde der Entscheidung schlägt, so brauchen wir kein Schwert zu zücken und keinen Finger zu rühren. Die Gegner werden zu schwach sein, um dem allgemeinen Gefühl der Menschheit Stand zu halten."

In welcher Weise kann sich die Wandlung unserer Zustände vollziehen?

1. "Als in Frankreich der Nationalkonvent seine Tätigkeit begann, war dort die Meinung besonders verbreitet, er habe lediglich einen Verfassungsentwurf aufzustellen, welcher dann den Bezirken vorzulegen und erst nach ihrer Zustimmung als Gesetz zu betrachten sei."

"Dieser Gedanke legt zunächst die Forderung nahe, daß nicht nur Verfassungsgesetze, sondern überhaupt alle Gesetze der Prüfung der Bezirke unterworfen werden sollten. Wenn aber die Zustimmung der Bezirke zu irgendwelchen Bestimmungen nicht eine nur scheinbare sein soll, so darf deren Erörterung in den Bezirken auf keine Weise eingeschränkt sen. Es ist dann allerdings nicht leicht, ein Ende des Verfahrens abzusehen; einige Bezirke werden mit irgendwelchen Artikeln unzufrieden sein; und hat man um ihretwillen diese Artikel geändert, so ist das Gesetz vielleicht gerade hierdurch für andere Bezirke minder annehmbar geworden."

"So führt der Grundsatz einer Zustimmung der Bezirke, wenn auch vielleicht heilsamerweise nur Schritt für Schritt, unmittelbar zur Auflösung aller Regierung." Es ist in der Tat "wünschenswert, daß die wichtigsten Beschlüsse der Volksvertretungen der Billigung oder Mißbilligung der vertretenen Bezirke unterworfen sind; und zwar ganz aus demselben Grund, der es wünschenswert macht, daß auch die Beschlüsse der Bezirke in nicht zu ferner Zeit nur noch für diejenigen Einzelnen gelten, die sich mit ihnen einverstanden erklärt haben."

2. Dieses System hätte erstens die Wirkung, daß die Verfassung sehr kurz ausfiele. Es würde sich bald herausstellen, daß die freie Zustimmung einer großen Zahl von Bezirken zu einem umfangreichen Gesetzbuch nicht zu erlangen wäre; und die ganze Verfassung dürfte aus einer Bestimmung über die Einteilung des Landes in Bezirke mit der gleichen Bevölkerungsziffer und aus einer anderen über die Wahlperioden für die Nationalversammlung bestehen, ja diese letztere Bestimmung könnte ebensogut auch wegbleiben.

Eine zweite Wirkung wäre die, daß man es bald als unnötigen Umweg erkennen würde, Gesetze, die ohne Bedeutung für die Gesamtheit sind, zur Prüfung an die Bezirke zu schicken, und daß man es also in möglichst vielen Fällen den Bezirken überlassen würde, ihre Gesetze selbst zu machen. "So würde das, was zuerst ein großes Reich mit einheitlicher Gesetzgebung war, sich bald in einen Bund von kleineren Gemeinwesen verwandeln, in welchem ein allgemeiner Kongreß oder Amphiktyonenrat [Stammesrat - wp] das Zusammenwirken bei außerordentlichen Anlässen ermöglichte."

Eine dritte Wirkung bestände im allmählichen Aufhören der Gesetzgebung. Eine zahlreiche Versammlung, die aus den verschiedensten Teilen eines weiten Gebietes zusammengekommen und als alleinige Gesetzgeberin dieses Gebietes bestellt ist, macht sich sofort eine übertriebene Vorstellung von der Menge der nötigen Gesetze. Eine große Stadt bedenkt sich unter dem Einfluß kaufmännischer Eifersucht nicht lange, Satzungen zu erlassen und Gerechtsame [Schankgerechtigkeit, Brotgerechtigkeit, Braugerechtigkeit etc. - wp] zu erteilen. Aber die Bewohner einer kleinen Gemeinde, die noch einigermaßen einfach und naturgemäß leben, würden bald dahin kommen, allgemeine Gesetze für unnötig zu erachten und die Sachen, die sie zu entscheiden haben, lieber nach der Eigenart des einzelnen Falles als nach ein für allemal aufgezeichneten Grundsätzen zu beurteilen."

Eine vierte Wirkung läge darin, daß die Beseitigung des Eigentums befördert wurde. "Alle Ausgleichung des Ranges und der Stellung begünstigt in einem hohen Grad den Ausgleich des Besitzes." So würden nicht nur die niedrigeren, sondern auch die höheren Stände die Ungerechtigkeit der gegenwärtigen Eigentumsverteilung einsehen. "Die Reichen und Großen verschließen sich keineswegs der Aussicht auf ein allgemeines Glück, wenn ihnen diese nur in aller Deutlichkeit und in ihrem ganzen Zauber gezeigt wird." Aber auch soweit sie etwa nur an ihr Einkommen und Behagen denken sollten, ließe sich ihnen doch leicht begreiflich machen, daß es vergeblich ist, der Wahrheit zu widerstehen, und gefährlich, den Haß des Volkes auf sich zu laden, und daß es für sie selbst das Beste sein dürfte, sich wenigstens zu Zugeständnissen zu entschließen.
LITERATUR: Paul Eltzbacher, Der Anarchismus, Berlin 1900