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ERNST STIEDENROTH
Theorie des Wissens
[mit besonderer Rücksicht auf Skeptizismus
und die Lehren von einer unmittelbaren Gewißheit]

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"Empirisch kann man nicht bis zum Letzten vordringen; daher die Verachtung des empirischen Wissens, welches man wohl eine Wisserei ohne Wissen genannt hat. Die Untersuchung des Gegebenen muß der Forschung nach den Ursachen vorangehen, wenn diese gelingen soll. Wer das Gegebene untersucht und sich bestrebt, zu ihm die nicht gegebenen Ursachen, jenem gemäß aufzufinden, der philosophiert."

"Alle Philosophie hat die Tendenz zur strengsten Wissenschaftlichkeit und ist in der Idee durchaus Wissenschaft. Eben deshalb, weil sie Wissenschaft sein will, muß ihre erste Frage nach der Möglichkeit des Wissens sein, und ihr erstes Bestreben, diese Frage genügend zu beantworten. Denn wolte sie diese Frage umgehen, so würde ihr ganzes Fundament schwankend bleiben und sie würde befürchten müssen, daß ihr Bau wieder zusammenstürzt."


Erster Abschnitt
Erörterung des Begriffs des Wissens

Behauptet jemand, daß er etwas weiß, so wird gefragt, woher oder wodurch; man ist also mit der bloßen Behauptung nicht zufrieden, und deutet an, daß das Wissen, um ein solches zu sein, irgendwie begründet sein muß. Wird die Quelle des Wissens angeführt, so wird das vorgegebene Wissen teils anerkannt, teils verneint. Es ist also nicht genug, daß ein Grund angegeben wird, sondern das Gewußte muß durch diesen Grund wahrhaft verbürgt werden. Wiederum kann es geschehen, daß zwar der Grund, wie er ist, für das Wissen ausreicht, daß aber der Grund selbst wieder der Frage nach einem neuen Grund unterliegt, aus dem die Gewißheit desselben folgt. Indem nun die letzte Gewißheit nicht bloß vom vorangehenden Grund, wie er ist, abhängt, sondern von der Gewißheit desselben, und so fort bis zum letzten, erweitern sich die Forderungen für das Wissen. Haben aber alle Gründe bis zum letzten die gleiche Gewißheit und innere notwendige Verknüpfung, so wird das Wissen anerkannt. Das Wissen ist also der Besitz einer Wahrheit, sofern derselbe durch lauter zwingende Gründe erhalten ist, und Gewißheit ist die Überzeugung von jenem Besitz. Das Wort zwingend scheint überflüssig, denn ein Satz, oder was es sonst ist, heißt eben nur insofern ein Grund, als er etwas begründet, und das Begründen setzt eine notwendige Folge dessen voraus, was für begründet gelten soll. Allein sofern auch Scheingründe Gründe genannt werden, ist jener Zusatz nicht überflüssig, welcher sogleich auf das eigentümliche Verhältnis zwischen Grund und Folge hinweist. Das Wissen muß natürlich immer zuletzt auf einem Bewußtsein ruhen, denn über das Bewußtsein hinaus gibt es keinen Stoff des Denkens, folglich auch keine Anfänge des Denkens; in keiner Gestalt aber ist das Wissen einerlei mit dem Sich-Bewußt-Sein. Das Sich-Bewußt-Sein so oder anders, sofern es den Charakter der Notwendigkeit und Unabwendbarkeit trägt, d. h. sofern dasselbe von unserer Willkür völlig unabhängig ist, und wir es schlechterdings nicht anders gestalten können, als es ist, gibt nur den letzten Grund für das Wissen her. Ich weiß, daß irgendetwas so oder so ist und der Grund davon ist, weil ich davon ein schlechthin notwendiges Bewußtsein habe. Diese Unterscheidung ist keineswegs gleichgültig, wie sie vielleicht auf den ersten Blick scheinen möchte; sie dient dazu, den Begriff des Wissens rein zu erhalten, welches namentlich für die höhere philosophische Spekulation von großer Wichtigkeit ist. Ist das Gewußte bloß faktisch und hat es weiter keinen Grund als den des notwendigen Bewußtseins in mir selbst, oder in einem andern, von dem ich es übernommen habe, so ist das Wissen empirisch - welches eben am leichtesten mit dem Sich-Bewußt-Sein verwechselt wird - ist es aber nicht bloß faktisch, ruht es nicht bloß auf einem notwendigen Bewußtsein, und ist es keine bloße Folge aus einem Bewußtsein, sofern es ein solches ist, so ist es rational. Dies scheint dem Obigen zu widersprechen, in welchem gesagt wurde, daß alles Wissen zuletzt auf dem Bewußtsein ruht; allein der Widerspruch ist nur scheinbar, was eben behauptet wurde, wird hier nicht geleugnet, nur übersehe man die näheren Bestimmungen nicht, die in der negativen Beschreibung des rationalen Wissens gegeben sind. Wie aber wird das rationale Wissen positiv beschrieben, auf welche Weise soll es anheben, um ein solches zu sein? Diese Ausführung gehört billig für die später folgende Theorie; hier bedurfte es nur des Gegensatzes, um das Jetztfolgende zu erläutern. Da nämlich alles empirische Wissen genau genommen doch nur Erscheinung ist, indem ich in objektiver Beziehung nie sagen kann, dieses oder jenes ist so; so bedarf alles empirische Wissen, sofern es Anspruch auf Objektivität machen will, noch eines höheren, des rationalen nämlich, so daß jene objektive Beziehung berücksichtigt, streng genommen nur das rationale Wissen ein solches genannt werden kann, weil es allein zu den letzten Gründen hinaufsteigt, während das empirische Wissen nur insofern auf letzten Gründen ruht, als die Objektivität vorausgesetzt wird. Das einzige, was keiner höheren Geltung bedarf, als jener empirischen, sie auch nicht erhalten kann, sind die Vorstellungen, als solche, mit ihrem Inhalt, als einem solchen, ohne alle weitere Beziehung. Das rationale Wissen läßt sich auch ein Wissen a priori nennen, und ein anderes Wissen a priori gibt es nicht, weil alles Wissen sich auf Gründe stützen muß. Nur oben berührte Verwechslung hat bewirkt, daß man das mannigfache Bewußtsein von diesem und jenem nicht selten ein Wissen a priori genannt hat. Damit ist aber keineswegs zugleich gesagt, daß es keine Vorstellungen a priori im menschlichen Geist gibt, d. h. solche, welche weder durch äußere oder innere Anschauung entstanden, noch an solchen entstandenen gebildet, vielmehr ursprünglich dem Geist irgendwie eingepflanzt sind. Eine solche Apriorität kann aber wieder nicht durch bloß innere Erfahrung vernommen werden, sondern wird nur durch Spekulation erhalten, und die Wahrheit derselben gelangt zu uns in einem rationalen Wissen.

Der Begriff des Wissens wird in das hellste Licht gesetzt durch die ihm verwandten und entgegengesetzten Begriffe, und so mögen diese gleich hier ihre Erörterung finden, bevor wir zur Deduktion des Begriffs der Wissenschaft übergehen.

Unter Wahrheit versteht man die Übereinstimmung der Vorstellungen mit ihren Gegenständen. Bedenkt man nun, daß das empirische Wissen nicht über den Schein hinausgeht, und daß ein Vergleich der Vorstellungen mit ihren Gegenständen, welche der Skeptizismus wundersam genug fordert, unmöglich ist, so ergibt sich zugleich, daß Wahrheit in Bezug auf das Sein nur im rationalen Wissen erhalten werden kann. Wahr ist demnach das Gewußte und der Freund der Wahrheit wird zu untersuchen haben, ob er wirklich weiß oder nur zu wissen glaubt - eine Untersuchung, welche die Menschen so wenig lieben, daß sie im Gegenteil alles anwenden, um sich zu überreden, sie wüßten etwas. Ruht nun die Erkenntnis der Wahrheit auf dem Wissen, mit dem sie eins ist, so kann nicht umgekehrt das Wissen auf der Wahrheit ruhen. Es ist daher irrig, wenn SPINOZA sagt: die Wahrheit offenbart sich selbst und auf diese Offenbarung gründet sich das Wissen. Dieser Irrtum hängt mit der Lehre über die Deutlichkeit der Erkenntnis zusammen. Übereinstimmung der Vorstellungen mit ihren Gegenständen kann sich nicht selbst offenbaren, durch welche Eigenschaft dieser Vorstellungen es ist, sondern wird nur insofern erkannt, sofern die Vorstellungen auf lauter zwingenden Gründen ruhen. SPINOZAs eigenes Beispiel belegt dies; er hatte die Wahrheit bloß deshalb nicht, weil er nur zu wissen vermeinte, ohne zu wissen.

Der Begriff der Wahrheit führt von selbst zu dem vielbesprochenen und vielgelobten Wahrscheinlichen. Es hat Philosophen gegeben, welche die Wahrheit als unerreichbar aufgaben und sich mit dem Wahrscheinlichen, das allein erhalten werden kann, begnügten. Noch mehrere mögen wohl im Herzen der Wahrscheinlichkeit gehuldigt haben, während sie öffentlich und laut die Wahrheit priesen. Wieder andere haben die Wahrscheinlichkeit ganz aus der Philosophie verbannt und uns angewiesen, sie für uns zu behalten. Das Wahrscheinliche wird wohl zuweilen bestimmt, als ein solches, welches mehr Gründe für sich, als gegen sich hat. Demnach käme es darauf an, die Gründe zu zählen, deren Quantität doch nichts bedeuten kann, sondern allein die Qualität. Ferner von ein und demselben Standpunkt aus können nicht Gründe für und gegen einen Satz ausgehen, sondern nur von verschiedenen Standpunkten; es kommt also darauf an, den rechten zu suchen, denn einer darf es doch nur sein, auch wenn die Willkür mehrere nehmen kann. Sollen denn die Gründe nicht auch wieder wahrscheinlich sein oder Wahrheit aussprechen? Jenes müssen sie wohl; daher wäre zu wünschen, daß man angäbe, wie man zur ersten Wahrscheinlichkeit ohne Wahrheit gelangen soll. Offenbar kann ohne diese von jener gar keine Rede sein, und dies führt uns zur richtigen Theorie. Erst durch die Annäherung zu einer bekannten Wahrheit kann uns etwas wahrscheinlich werden, sei es nun daß diese Annäherung in einer Ähnlichkeit der Umstände und Verhältnisse ruht, oder in gewissen Forderungen, welche wir machen müssen, ohne daß doch irgendwelche Data zum Wissen vorhanden sind. So ist es wahrscheinlich, daß der Mond mit lebenden Wesen besetzt ist. Wahrscheinlich ist folglich eine Annahme, welche auf der Ähnlichkeit von Verhältnissen ruht, denn auch bei jenen Forderungen wird diese Ähnlichkeit zugrunde liegen. Hieraus ergibt sich, daß das Wahrscheinliche vorzugsweise seinen Sitz im Faktischen hat und durch komparative [vergleichende - wp] Allgemeinheit, mittels der Schlüsse nach Analogie und Induktion erhalten wird; daß ferner die Wahrscheinlichkeit in der Philosophie, sofern dieselbe Wissenschaft sein will, keinen Platz findet.

Wenn das Wissen dem Meinen geradezu entgegengesetzt ist, so darf dieser strenge Gegensatz doch nicht in Bezug auf den Glauben angenommen werden. Von diesem geht die Rede so oft, daß er wohl eine nähere Untersuchung verdient. Soll unter Glauben ein Annehmen ohne allen und jeden Grund verstanden werden, so ist es schlechthin blind und verwerflich, weil das gerade Gegenteil dieselbe Bündigkeit hat. Kann der Glaube sich rechtfertigen, dann ist er nicht mehr ohne Gründe, folglich nicht mehr blind. Wir abstrahieren hier von allen Bestimmungen, welche man jenem Begriff in besonderen Wissenschaften oder im gemeinen Leben beilegen mag, und halten uns an seine philosophische Bedeutung.

Zu einem Satz können mehrere Gründe hinleiten, doch können die Gründe von der Art sein, daß sie keine rein objektive Kraft besitzen, also nicht für jeden, er mag ihnen zugetan oder abgeneigt sein, verbindend und zwingend werden können. Abgewiesen werden können sie nicht, ihren vollen Gehalt aber erhalten sie erst durch eine subjektive Zugabe, welche aus dem Gemüt entspringt. Nämlich für dieses Gemüt, welches eine gewisse Tendenz schon in sich trägt, werden sie verbindend. Doch müssen sie auch für sich immer von der Art sein, daß sie zumindest die Idee entweder erzeugen oder hervorrufen können. In einem solchen Fall also fehlt das Wissen und an seine Stelle tritt der philosophische Glaube. Ebenso können zwar die Gründe durchaus einen Satz ergeben, aber nicht mit allen Bestimmungen, welche die völlig ausgebildeten Begriffe jenes Satzes erfordern. In diesem Fall wird zwar jenen Gründen kein Zusatz aus dem Gemüt beigelegt, allein zu ihnen treten neue Gründe für den Satz, nach seinem vollen Begriff hinzu, welche nicht wie jene objektiv sind, sondern auf dem Gemüt ruhen. Auch hier findet der philosophische Glaube statt, der also, wie man ihn schon längst richtig bezeichnet hat, auf einer inneren, aus dem Gemüt entspringenden Nötigung ruht, das für wahr zu halten, was sich entweder überall nicht oder zumindest nicht seinem vollen Begriff nach mit Bündigkeit und Strenge demonstrieren läßt. Hieraus geht hervor, daß der Glaube auch in der Philosophie sehr wohl stattfinden darf und daß diese, wenngleich sie ihre wissenschaftliche Tendenz nie verleugnen soll, doch, wenn es sein muß, gar wohl teilweise eine bescheidene Glaubenslehre werden kann. Denn abzuweisen sind jene Gründe einmal überall nicht und auch der Zusatz darf sich geltend machen, weil er nicht in strenger Individualität, sondern im Gemüt seinen Sitz hat, von dem sich annehmen läßt, daß es beim größeren Teil der Menschen dieselbe Lage haben wird. Sollte aber bei irgendeinem das Gemüt ganz ausgestorben sein durch das Leben oder verirrte Spekulationen, so ist ihm die Glaubenslehre nichts. Der Glaube selbst kann daher nicht übertragen werden, wie es allenfalls mit dem Wissen, welches eine objektive Kraft mit sich führt, geschehen kann, wenn nur der andere fähig ist zu fassen, sondern muß in einem jeden lebendig entstehen, und deshalb ist ein toter Glaube gar keiner, sondern ein bloßes Nachsprechen, oder ein sich selbst verkennendes problematisches Dahingestelltseinlassen. Eine Glaubenslehre kann nur dann wirksam werden, wenn das Gemüt des Vernehmenden dieselbe Gestalt und Lage hat, wie das Gemüt dessen, den sein Glaube zu dieser Lehre führte. Es versteht sich nach allem Gesagten, daß das Gegenteil des Geglaubten nicht erwiesen werden kann. Sollte daher einer durch falsche Argumente einen solchen Beweis führen wollen, so tritt der Glaubenslehrer mit Recht in wissenschaftlicher Kraft zur Widerlegung des vermeintlichen Wissens und zur Verteidigung des Glaubens auf.

Ein Glaube, der sich bloß und allein auf eine Gemütslage stützt, ohne alle leitenden Gründe, ist für den Zuschauer blind, wenngleich in einem Individuum, welches ihn hat, leitende Gründe unbewußt wirken mögen und er also in diesem der Tat nach nicht blind sein mag. Ein blinder Glaube würde es sein, wenn jemand, äußerst empfänglich für das Schöne und Erhabene, einer Ansicht bloß deshalb beipflichten wollte, weil sie schön und erhaben wäre. Hier ruhte der Glaube allein auf der Gemütslage und hätte keine philosophische Bedeutung. Ein Glaube, der nicht zugleich auf die leitenden Gründe und das Gemüt gestützt ist, setzt den Glaubenden nicht selten in die größte innere Peinlichkeit, wenn er etwa bestritten wird. Diese Peinlichkeit entsteht aus der Notwendigkeit zu glauben und der Unmöglichkeit den Glauben positiv durch irgendwelche Gründe zu rechtfertigen und den Gegner zu beschämen. Der so Glaubende pflegt sich wohl auszudrücken: ich bin nicht mathematisch, wohl aber moralisch gewiß; ein Ausdruck, der passender ist, als man zuzugeben pflegt, indem das Mathematische die strenge Demonstration, das Moralische hingegen das Gemüt repräsentiert.

Ein Autoritätsglaube, da er nicht aus eigenem Bedürfnis lebendig hervorgegangen ist, weiß weder von der Bescheidenheit des philosophischen Glaubens, noch von der Peinlichkeit des bloßen Gemütsglaubens, sondern ist keck und verwegen und betrachtet den Gegner entweder als einen Unverständigen oder als einen Nichtswürdigen.

Im Leben wird Glauben und Meinen jeden Augenblick verwechselt; ja selbst das Wissen tut manchmal, als meine es bloß, aus Rücksicht oder Bescheidenheit. Das Meinen aber ist von beiden ganz verschieden, denn es ist ein von der Gemütslage unabhängiges, mit dem Bewußtsein der Unsicherheit der Gründe verbundenes Annehmen. Da man nicht umhin kann, irgendetwas von den Dingen zu denken und auszusagen, das Wissen aber schwer zu erreichen ist, so geht das Meinen in der Geschichte des Denkens immer voran. Die bemerkte Irrigkeit mancher Meinungen führt zur Prüfung derselben überhaupt. Diese sollte mit einer solchen Strenge vorgenommen werden, daß während derselben keine Meinung irgendeinen Einfluß gewinnt, sondern die Forschung mit Ruhe und Besonnenheit zwischen dem Gegebenen und den Meinungen in der Mitte schwebt. Das Unglück der Philosophie aber ist: daß die Philosophen einige Meinungen berichtigen, während sie sich von anderen ebenso unumschränkter beherrschen lassen. Aus der Philosophie soll alles Meinen verbannt sein.

Der Gebrauch des Wortes Philosophie in den bisherigen Auseinandersetzungen führt umso mehr zu einer Entwicklung dieses Begriffs, je mehr wir in der Folge, wenn von Wissenschaft die Rede sein wird, über diesen Gegenstand im Klaren sein müssen. Alle Welt redet von Philosophie, viele philosophieren selbst, man schreibt Geschichten der Philosophie und weiß gar wohl, was in sie aufzunehmen ist, ja man kennt und nennt die einzelnen philosophischen Disziplinen, und dennoch: wenn keine Definition verlangt wird, stockt mancher und die übrigen geben so verschiedenartige Definitionen, daß man kaum glauben sollte, es sei von derselben Sache die Rede. Ohne Zweifel rührt diese Verschiedenheit daher, daß man die Definition den Resultaten seines Denkens anpassen, daß man in ihr den Inhalt seiner eigenen Philosophie geben oder auch den Kreis beschreiben wollte, den man sich zur Untersuchung ausersehen hatte. Aus jenem falschen Anpassen erklärt sich auch, wie man behaupten konnte, es habe bis zur Erscheinung eines gewissen Systems gar keine Philosophie gegeben. Der Kreis aber darf nicht willkürlich genommen werden, sondern ist gegeben.

Eine der gewöhnlichsten Definitionen ist: Philosophie ist die Wissenschaft, welche das Rätsel des Daseins der Dinge und der Bestimmung des Menschen zu lösen hat. Diese Definition, wenn man ihr auch noch hinzufügt, durch welchen Charakter der Spekulation jene Lösung geschehen soll, ist durchaus unstatthaft. Denn ob die Dinge da sind, und ob es eine Bestimmung des Menschen gibt, kann selbst erst durch Philosophie herausgebracht werden, und darf also keineswegs vorläufig in ihren Begriff geschoben werden. Dazu kommt noch, daß es sich ganz von selbst versteht, daß das Rätsel des Daseins nicht gelöst werden kann. Ferner leidet die Definition an der willkürlichsten Einseitigkeit in der Beschränkung der Sphäre und dieser bloßen, durch nichts zu rechtfertigenden Willkür entquillt nachher wieder die Behauptung, daß die Ästhetik, Logik und Psychologie nicht zur Philosophie gehören, weil sie in jene Sphäre nicht eingehen wollen. So wird man von seiner eigenen Willkür fortgeführt, während man der Notwendigkeit zu gehorchen meint.

Wenn alles Philosophieren vom Gegebenen ausgeht, wie es muß, weil es sonst von Nichts ausginge, so macht auch alles Gegebene den gleichen Anspruch auf die Spekulation und unterliegt dem Philosophieren auf die gleiche Weise, sofern es nämlich durch sich selbst dem Philosophieren einen Anfang bietet. Philosophie ist also Wissenschaft des Gegebenen und zwar des gesamten Gegebenen. Diese Definition muß jedoch dadurch noch genauer bestimmt werden, daß angegeben wird, was das Gegebene, durch die Art, wie es gegeben ist, verlangt. Zuerst ist es ohne Ordnung und inneren Zusammenhang, ferner ist es zum Teil mit Widersprüchen behaftet - man denke nur an Raum und Zeit. Der innere Zusammenhang muß also aufgesucht und dargelegt, das Gegebene selbst aber muß zur möglichsten Klarheit gebracht, die Widersprüche, wenn sie sich finden, müssen herausgeschafft, schließlich die Vollständigkeit der Begriffe, welche unter sich eine gesonderte Masse bilden, muß dargelegt werden. Ferner, das bloße empirische Wissen bleibt zwar bei der Gegebenheit stehen; allein dies genügt nicht. Die Veränderungen führen auf Ursachen, diese auf neue und so fort. Empirisch kann man nicht bis zum Letzten vordringen; daher die Verachtung des empirischen Wissens, welches man wohl eine Wisserei ohne Wissen genannt hat. Die Untersuchung des Gegebenen selbst muß der Forschung nach den Ursachen vorangehen, wenn diese gelingen soll. Wer das Gegebene untersucht und sich bestrebt, zu ihm die nicht gegebenen Ursachen, jenem gemäß aufzufinden, der philosophiert. Die Geschichte der Philosophie stimmt mit all dem überein. Wer sie studiert, findet, daß die Tendenz aller Systeme dahin geht, zum Gegebenen die nicht gegebenen Ursachen, jenem gemäß zu finden, es möge nun das gesamte Gegebene oder ein Teil desselben in Betracht gezogen werden. Philosophie als Wissenschaft ist demnach die Wissenschaft von der Natur des Gegebenen und seinen Ursachen. Eine gewisse Philosophie besteht aber oft nur in einer zusammengereihten Masse von Philosophemen, ohne Wissenschaftlichkeit. Dies gilt namentlich von den empiristischen Philosophien, wie dies schon aus dem, was eben vom strengen Wissen gesagt wurde, klar sein muß und noch weiter klar werden wird.

Indem wir uns dem Begriff der Wissenschaft zuwenden, sieht man leicht, daß unter diesem Wort kein einzelnes Wissen gedacht wird, sondern ein verbundenes. Von welcher Art aber wird diese Verbindung sein müssen? Gewiß nicht bloße Aggregation, die nur ein Nebeneinanderbestehen ohne inneres Band ist; ein solches muß aber vorhanden sein, wenn die Wissenschaft eine und nicht mehrere sein soll. In einer Wissenschaft müssen alle Glieder ineinander greifen, und zwar so vollständig und genau, daß ein jedes Glied an dem Ort steht, wo es von einem vorangehenden mit Notwendigkeit hervorgetrieben wird, und einem nächst folgenden mit Notwendigkeit vorangeht. Diese notwendige innere Verknüpfung muß rückwärts fortgehen bis zum ersten Glied, ob dieses Satz oder Begriff oder was auch immer das erste Glied oder Prinzip genannt wird, vorwärts dringen muß die Verknüpfung solange, bis sie den Hauptbegriff, welcher einer Wissenschaft zugrunde liegt, vollständig ausgefüllt hat. Erst, wenn beides stattfindet, ist die zur Wissenschaft erforderliche Abgeschlossenheit in sich vorhanden. Daß die Wissenschaft nur ein Prinzip haben soll, aus dem alle ihre Sätze fließen, ist keineswegs notwendig. Man urteilt: ohne ein solches einiges Prinzip würde es nicht die eine Wissenschaft geben, sondern mehrere, indem von jedem Prinzip aus eine eigene unabhängige Reihe durchlaufen wird. Allein sofern die mehreren Prinzipien, welche nicht notwendig Sätze zu sein brauchen, sondern auch Begriffe sein können, mittels eines gemeinschaftlichen Klassenbegriffs, auf den sie sich beziehen, miteinander in Verbindung stehen, muß auch alles, was aus ihnen folgt, in Verbindung sein und sich gegenseitig bedingen, daher sind auch die Reihen nicht unabhängig, sondern sie greifen fortwährend ineinander, wie man dies z. B. gleich in der Moral sehen kann, welche durchaus nicht auf ein Prinzip zurückgeführt werden kann, sondern so viele Prinzipien hat, wie sittliche Ideen vorhanden sind, welche jedoch alle durch ihre Beziehung auf den Willen und den Begriff des Guten miteinander in Verbindung stehen, und in den Reihen, welche sie bilden, einen steten gegenseitigen Einfluß zeigen. Wissensschaft ist also nach den gegebenen Erörterungen das Wissen, sofern es ausgehend von sicheren Prinzipien, in einem notwendigen Fortschritt die Sphäre eines Klassenbegriffs vollständig und allseitig erfüllt. Alle Wissenschaft ist ein organisches Ganzes, worin jeder Teil den anderen bedingt, nur nicht in der Kreisform, sondern in der Reihenform.

Alle Philosophie hat die Tendenz zur strengsten Wissenschaftlichkeit und ist in der Idee durchaus Wissenschaft. Eben deshalb, weil sie Wissenschaft sein will, muß ihre erste Frage nach der Möglichkeit des Wissens sein, und ihr erstes Bestreben, diese Frage genügend zu beantworten. Denn wolte sie diese Frage umgehen, so würde ihr ganzes Fundament schwankend bleiben und sie würde befürchten müssen, daß ihr Bau wieder zusammenstürzt. Leugnet sie nun das Wissen, so kommt sie ihrer Idee nach, in welcher sie Wissenschaft ist, nicht zustande; bejaht sie aber das Wissen, so bildet die Theorie desselben ihr Fundament. Diese kann zu einer allgemeinen Wissenschaftslehre ausgebildet werden, wenn nicht bloß das Wissen dargetan wird, sondern wenn die Idee der verschiedenen philosophischen Wissenschaften und die Prinzipien dieser Wissenschaften deduziert werden. Die Theorie des Wissens aufzustellen, ist hier die Absicht.

Vor dem Schluß dieses Abschnitts mag noch ein Unterschied erwähnt werden, welcher im Wissen gemacht wird, nicht an und für sich, sondern sofern dasselbe sich auf Realität bezieht. Man redet nämlich von einem objektiven Wissen oder Dogmatismus und einem subjektiven Wissen oder Formalismus. In dieser Beziehung wird unter jenem nicht etwa ein Wissen von dem, was außerhalb des Menschen ist, unter diesem ein Wissen von dem, was im Menschen ist, verstanden; in diesem Sinn gebraucht man jene Gegensätze nicht vom Wissen. Vielmehr will das Objektive auf das Ansich, d. h. auf die Dinge, wie sie unabhängig von unseren Vorstellungen sind, folglich auch auf den Menschen und zwar, weil der Körper der Außenwelt angehört, auf den menschlichen Geist, wie er unabhängig von seiner Vorstellung von sich sein soll; das subjektive dagegen will sich allein auf Erscheinungen und ihre Formen beziehen und vom Ansich nichts wissen. Da Erscheinung und ihre Form nicht getrennt gegeben sind, sondern vereint, so kann der Formalismus nicht mit wissenschaftlicher Strenge zustande kommen; denn die apagogischen Beweise [indirekter Beweis durch Aufzeigen der Unrichtigkeit des Gegenteils - wp], deren er sich eigentlich allein bedienen muß, reichen dazu nicht aus. Da ferner die Form wieder der Untersuchung unterliegt, so muß sich der Formalismus aufheben, weil die Form um ihrer inneren Widersprüche willen undenkbar ist und die Forschung folglich dabei nicht ruhen kann. Schließlich will zwar aller Formalismus ein subjektives Wissen, folglich in Beziehung auf Erscheinungen und deren Formen im Besitz der Wahrheit sein; allein das Wissen steht selbst, der Konsequenz der Lehre nach, unter dem Einfluß des Formalismus und wird folglich zu Nichts.
LITERATUR: Ernst Stiedenroth, Theorie des Wissens, Göttingen 1819