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FRIEDRICH HARMS
Kants Problem
und seine Problemlösung

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"Wären unsere Anschauungen nicht rezeptiv, sondern spontan, und wären sie nicht sukzessiv, infolge unserer Sinne, sondern simultan, so würden wir die Dinge nicht außerhalb von uns im Raum, sondern in uns als unsere Taten wahrnehmen, und wir würden sie nicht sukzedierend, als in einer Zeit gegeben, sondern wir würden sie als ein totales Ganzes wie mit einem Blick anschauen. ... Da wir aber diese Kraft der intellektuellen Anschauungen nicht besitzen, sondern alle unsere Anschauungen sinnlich sind, so schauen wir Menschen allgemein und notwendig, d. h. a priori Alles, was die Sinne empfinden, als im Raum und in der Zeit gegeben an. Der Grund, daß wir so anschauen, liegt nicht im Inhalt, sondern in der Form unserer Sinne."

"Zum Erkennen gehört mehr als ein Objekt, oder als ein Stoff; zum Erkennen gehört, wenn es möglich sein soll, vor Allem auch ein 'Subjekt, welches seine Erkenntnisse nur dadurch besitzt, daß es sie selber durch seine formende und ordnende Tätigkeit hervorbringt. Dieses Subjekt hat die frühere Erkenntnislehre des Rationalismus wie des Sensualismus übersehen und zu beachten vergessen; erst 'Kant hat es nicht unbeachtet gelassen und es erst hinzugebracht für die Erklärung von der Möglichkeit der Erkenntnis."


Die Lösung des Problems.

KANTs Lösung seines Problems ist enthalten in seiner "Kritik der reinen Vernunft", in der "Kritik der praktischen Vernunft" und in der "Kritik der Urteilskraft". Diese drei Werke zusammen enthalten den Kritizismus KANTs, nicht aber die Kritik der reinen Vernunft für sich allein. "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", dienen zur Ergänzung seiner Kr. d. r. V. "Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" enthält eine Einleitung zur "Kritik der praktischen Vernunft". Die Habilitationsschrift "De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principis" enthält den ersten Entwurf des Kritizismus KANTs, woraus die "Kritik der reinen Vernunft" entstanden ist.

Die "Kritik der reinen Vernunft" beschäftigt sich mit der Möglichkeit der theoretischen Erkenntnis, welche sich auf das Seiende bezieht. Die "Kritik der praktischen Vernunft" untersucht die praktische Erkenntnis, welche auf das, was sein soll, gerichtet ist. Der Gegenstand der praktischen Erkenntnis ist das Ideale, der Gegenstand der theoretischen das Reale. Die "Kritik der Urteilskraft" erzielt eine Vermittlung zwischen der theoretischen und der praktischen Erkenntnis, dem Idealen und dem Realen, der physischen und der ethischen Erkenntnis.

Zur theoretischen Erkenntnis gehört nach alter Einteilung die Mathematik, die Physik und die Metaphysik. Die Untersuchung über die theoretische Erkenntnis zerfällt daher in die drei Fragen nach der Möglichkeit der mathematischen, der naturwissenschaftlichen und der metaphysischen Erkenntnis. KANT beginnt die Lösung seines Problems mit der Untersuchung über die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori in der Mathematik.

Hieraus ist ein Mangel in der Darstellung der kantischen Philosphie entstanden. Indem KANT sein Problem sogleich im Besonderen abhandelt, unterläßt er es, die allgemeinen Bedingungen und Voraussetzungen seiner Lösung für sich abzuhandeln. Er setzt daher als bekannt und gewiß voraus, was zweifelhaft erscheint und nicht als bekannt gelten kann.

Eine Kritik der Erkenntnis ist nicht möglich ohne einen idealen Begriff vom Wesen der Erkenntnis, was sie leisten soll, welches Ziel sie hat und womit im Vergleich jede einzelne Erkenntnis beurteilt und gemessen wird. Ohne Zweifel ist in KANTs Werken ein solcher Begriff vorhanden, allein er nimmt ihn als bekannt und zugegeben an, und begründet ihn überall nicht. Erkenntnis, meint KANT, ist nach ihrer Bestimmung, ihrem wahren Begriff nach, eine Erkenntnis der Dinge wie sie sind oder wie sie ansich sind. Alle Prüfung der Erkenntnis ist bei ihm eine Untersuchung und Beurteilung derselben nach diesem in der Tat idealen Begriff, dessen Erörterung vorausgesetzt ist. Der Begriff eines Dings-ansich, den man wohl den Begriff a priori kat exochen [schlechthin - wp] der kantischen Philosophie genannt hat und in dem der Charakter ihrer ganzen Denkweise enthalten ist, stammt aus dem idealen Begriff der Erkenntnis oder des Wissens, wie KANT dasselbe auffaßt. Es ist kein wahres Wissen vorhanden anders als in der Erkenntnis des Seins oder der Dinge ansich. Dies ist die absolute Wahrheit, oder die reale und metaphysische Wahrheit, welche KANT als Maßstab und Kriterium zur Beurteilung jeder einzelnen Erkenntnis voraussetzt. Sie ist das Ziel allen Denkens, mögen wir dasselbe erreichen können oder nicht, ohne ihre idealen Begriff ist keine Kritik des Erkennens möglich. In dieser Voraussetzung stimmt KANT völlig überein mit dem platonischen und dem Rationalismus seit CARTESIUS. Nur macht er von diesem Begriff einen anderen Gebrauch, da er ihn zur Beurteilung von der Möglichkeit aller Erkenntnis verwendet.

Man kann zweifeln, ob der ideale Begriff des Erkennens aus dem der Begriff des Dings-ansich entspringt, der absoluten Wahrheit, wie KANT ihn auffaßt, richtig ist, und aus KANTs Lehre sind gerade in der Entwicklung der deutschen Philosophie solche Zweifel entstanden, welche dahin geführt haben, diesen Begriff in anderer Weise zu erklären und aufzufassen, und man wird sich auch mit Recht eine Untersuchung dieser Voraussetzungen, welche KANT macht, vorbehalten müssen; wie die kantische Philosophie nun aber einmal gegeben ist, bleibt nichts Anderes übrig, wenn man sich den Eingang in sie nicht im Voraus vverschließen will, als diese Voraussetzungen vorläufig zu akzeptieren, denn ihr Mangel läßt sich nicht, wie es von REINHOLD versucht worden ist, von fremder Hand verbessern, so wenig, wie dies bei vielen Kunstwerken möglich ist.



Die Anschauungen a priori vom Raum und von der Zeit
Prinzipien der mathematischen Erkenntnis

Das Wesen der Mathematik liegt nach KANT nicht in ihrem Objekt, daß sie von den Größen handelt, sondern in ihrer Erkenntnisart. Sie erkennt durch Konstruktion der Begriff in Anschauungen. Durch ihre Erkenntnisart unterscheidet sie sich von der Empirie und von der Philosophie. Empirische Erkenntnis ist Erkenntnis ex datis, aus gegebenen Anschauungen. Philosophie ist Erkenntnis ex principiis. Sie ist die Wissenschaft von notwendigen Wahrheiten aus Begriffen. In der Mitte steht die Mathematik, welche aus der Konstruktion der Begriffe in Anschauungen erkennt. Die Geometrie erkennt die Kongruenz der Dreiecke nicht aus ihrem Begriff, sondern aus ihrer Konstruktion in der Anschauung. Die Arithmetik erzeugt die Zahlen in der Anschauung, indem sie damit rechnet.

Zugleich aber ist die Mathematik, wie die Philosophie, eine Wissenschaft a priori, da sie durch die Konstruktion allgemeine und notwendige Erkenntnisse hervorbringt. Allgemein und notwendig ist 21 dividiert durch 3 = 7. Die Mathematik erkennt auch in synthetischen Urteilen, da zu den Begriffen durch die Anschauung etwas Neues hinzukommt. 7 + 5 = 12 sagt KANT ist ein synthetisches Urteil, wie sich von selbst versteht, a priori. Denn nicht zufällig und in einzelnen Fällen, sondern allgemein und notwendig ist 5 + 7 = 12. Aber 12 ist auch 3 x 4, 36 dividiert durch 3, 20 - 8, und auch 9 + 3. Es liegt Alles in 12, wie die Eiche in der Eichel, und kann doch nicht durch bloße Analyse erkannt werden. Niemand, der den Begriff der Eiche in der Eichel denkt, hat eine Anschauung von der Eiche. Sie muß erst zum Begriff hinzukommen, wenn die Wirklichkeit dessen erkannt werden soll, was im Begriff als ein Mögliches gedachte worden ist. Alle wahre Erkenntnis ist eine Synthesis von Anschauungen und Begriffen. Und so verhält es sich auch mit der Behauptung KANTs, die so viel Kopfzerbrechen verursacht hat, daß der Satz 7 + 5 = 12 ein synthetisches Urteil ist. Ob 12 dies ist, oder ob es 20 - 8, oder 36 : 3 ist, das kann doch nur durch die verschiedenen Rechnunsgsarten gefunden werden. Alle Rechnungsarten sind aber ein Denken, welches nur mit der Hilfe der Zeitanschauungen möglich ist, denn kein quantitativer und arithmetischer Unterschied läßt sich durch bloße Begriffe, sondern nur durch Anschauungen bestimmen. Es ist auch in all diesen Sätzen keine bloße logische Notwendigkeit, welche auf der Analyse der Begriffe nach dem Grundsatz des Widerspruchs ruht, vorhanden. Es ist nicht geradezu ein Widerspruch in der Behauptung, daß 12 nicht gleich 7 + 5 ist, denn es ist auch 20 - 8. Ob es ein Widerspruch ist oder nicht, hängt davon ab, ob ich 12 als Summe oder als Differenz oder als Quotient ansehen will, welches aber bedingt ist durch die Anwendung der Rechnungsarten, die ein Denken in Anschauungen sind. Die Verneinung des Prädikats vom Subjekt bringt hier keinen direkten Widerspruch hervor. Die Notwendigkeit ist in diesen Sätzen eine mathematische, die sich gründet auf der Vollziehung des Denkens nicht für sich, durch eine Analyse von Begriffen, sondern in Anschauungen, worin alle mathematische Erkenntnis ihren Grund und ihre Apriorität, d. h. Allgemeinheit und Notwendigkeit hat.

Der Satz, die gerade Linie ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten, ist nach KANT ein synthetisches Urteil, da ich nicht aus der Analyse vom Begriff des Geraden, einer qualitativen Bestimmung, den Begriff des Kürzesten, eine Quantitätsbestimmung, finden kann, wozu vielmehr ein Vergleich in Anschauungen notwendig ist des Geraden mit dem Krummen. Der Satz enthält ein synthetisches Urteil a priori, gegründet auf Anschauungen.

Die Lösung des Problems, wie reine Mathematik oder synthetische Urteile a priori in der Mathematik möglich sind, ist daher nur zu gewinnen, wenn sich beweisen läßt, daß es Anschauungen a priori gibt; denn sollten die Anschauungen, ohne welche mathematisches Denken und Erkennen unmöglich ist, selbst singulär und zufällig sein, so würden doch schließlich alle Erkenntnisse der Mathematik auch nur eine singuläre und zufällige Gültigkeit haben.

Die Prolegomena zur Metaphysik und die Kritik der reinen Vernunft beschäftigen sich mit der Lösung dieses Problems. In der Kritik der reinen Vernunft handelt hiervon die transzendentale Ästhetik. Ästhetik heißt Anschauungslehre. Ästhetik im engeren Sinne, wie das Wort jetzt gebraucht wird, heißt Lehre von den Anschauungen, woraus Wohlgefallen und Freude an schönen Erscheinungen entsteht. Allein allgemein heißt es in seinem Wortsinn nach Anschauungslehre, und so hat KANT es gebraucht. Die transzendentale Ästhetik handelt von der Möglichkeit der Anschauungen a priori, ihrem Ursprung und ihrer Gültigkeit.

Der Mathematik liegen Anschauungen zugrunde, aus denen sie ihre Erkenntnisse erwirbt: der Geometrie die Anschauung des Raumes und der Arithmetik die Anschauung von der Zeit, da diese ihre Zahlenbegriffe nur durch ein sukzessives Hinzufügen der Einheiten zueinander bildet, wobei die Zeit die Anschauung der Sukzession ist. Entspringen hieraus aber ihre Erkenntnisse a priori in synthetischen Urteilen, so müssen die Vorstellungen vom Raum und der Zeit selbst Anschauungen a priori sein. Zweierlei muß daher nachgewiesen werden, teils daß die ursprünglichen Vorstellungen vom Raum und von der Zeit Anschauungen sind, und andererseits, daß sie Anschauungen a priori sind.

Wenn wir von Etwas eine Anschauung haben, dann können wir hinterher auch einen Begriff davon haben. Wenn KANT daher auch von Begriffen des Raumes und der Zeit spricht, so steht dies in gar keinem Widerspruch mit seiner Lehre, daß die ursprünglichen Vorstellungen vom Raum und von der Zeit keine Begriffe, sondern Anschauungen sind. Wir würden gar keinen Begriff vom Raum und von der Zeit haben, wenn wir keine Anschauungen davon hätten. Wir wissen ursprünglich davon nicht durch Begriffe, sondern durch Anschauungen.

Die Vorstellungen vom Raum und von der Zeit sind ursprüngliche Anschauungen, weil diese Vorstellungen einzelne sind und alle Bestimmungen vom Raum und von der Zeit nicht durch bloße Begriffe, sondern nur durch Anschauungen erkannt werden können. Wenn diese Behauptungen richtig sind, so ergeben sich die Verneinungen von selbst, daß die Vorstellungen vom Raum und von der Zeit keine empirischen und keine allgemeinen oder diskursiven Begriffe sind. Der Sinn und die Tragweite der Verneinungen ist überdies stets bedingt durch die positiven Behauptungen, aus welchen sie auch allein verstanden werden können.

Die Vorstellungen vom Raum und von der Zeit sind Anschauungen, weil sie einzelne Vorstellungen sind, denn der Raum ist nur einer, die Zeit ist nur eine, gleich wie ein Individuum. Es gibt nur einen Raum, nur eine Zeit. Verschiedene Räume und verschiedene Zeiten sind nur Einschränkungen und Modifikationen des einen Raumes und der einen Zeit. Der eine Raum begreift alle Räume, die eine Zeit alle Zeiten in sich. Man kann sich keinen Kubikfuß [1/35 Kubikmeter - wp] anders vorstellen, als begrenzt durch den ihn von allen Seiten umgebenden Raum. Jeder Zeitabschnitt ist nur ein Teil innerhalb der einen unermeßlichen Zeit. Wie die ursprüngliche Vorstellung von jedem einzelnen Gegenstand eine Anschauung ist, so sind auch die Vorstellungen vom Raum und der Zeit Anschauungen. Der Grund davon liegt in der Sache selbst, daß es nur einen Raum und nur eine Zeit gibt. So wenig es von GOETHE eine allgemeine Vorstellung gibt, die noch auf etwas Anderes, als auf GOETHE bezogen werden könnte, so wenig gibt es vom Raum und der Zeit eine allgemeine Vorstellung, die noch auf etwas Anderes als auf den Raum und die Zeit bezogen werden könnte. Weil diese Vorstellungen der Natur der Sache nach singulär sind, sind sie Anschauungen.

Es kommt aber das Zweite hinzu, daß alle Bestimmungen des Raumes und der Zeit nur durch Anschauungen erkennbar sind. Was in einem Raum nach der einen und nach der anderen Seite liegt, was oben und unten, rechts und links, vorn und hinten ist, welche Zeit vorgeht und nachfolgt, was heute, morgen, gestern, vorgestern, übermorgen usw. ist, kann nur durch Anschauungen erkannt werden. Ohne Anschauungen ist es durch keinen Begriff, durch kein Denken zu bestimmen. Welche Hand die rechte ist und welche die linke, welche Schnecken und Schrauben rechts und welche links gewunden sind, - kein Begriff kann es bestimmen, es ist nur durch Anschauungen zu erkennen. Das Spiegelbild der rechten Hand ist eine linke, für den Begriff identisch, nur für die Anschauung verschieden. Raum und Zeit sind ein Inbegriff von lauter Relationen, welche schlechterdings sich nicht objektiv durch Begriffe bestimmen lassen, deren Bestimmung nur möglich ist durch Anschauungen und unter der Angabe des Standpunktes des anschauenden Subjekts. Wenn wir hiervon absehen, sind alle jene Relationen nur eine absolute Verworrenheit, ein wahres Nichts des Vorstellens. Die Vorstellungen vom Raum und von der Zeit sind Anschauungen, da alle ihre Bestimmungen nur mittels einer Anschauung erkannt werden können.

Die Vorstellungen vom Raum und von der Zeit sind aber nicht bloß Anschauungen, sondern sie sind Anschauungen a priori, d. h. allgemeine und notwendige Vorstellungen eines jeden menschlichen Geistes. Jedermann hat notwendig eine anschauliche Vorstellung vom Raum und von der Zeit. Wie verschiedene Sprachen Menschen auch reden mögen, so daß Keiner den anderen versteht, über die Bestimmungen des Raumes und der Zeit können sie sich jederzeit durch bloßes Demonstrieren verständigen. Dadurch unterscheiden sich diese Vorstellungen von allen übrigen Anschauungen, daß diese immer nur zufälliger und besonderer Art sind. Die empirischen Anschauungen vom Jupiter, von einer Tulpe, von einem Chinesen sind nicht allgemein und notwendig. Ob jemand diese Vorstellungen besitzt, ist zufällig und partikular, während die Anschauungen vom Raum und von der Zeit allgemein und notwendig sind.

Allein wenn es auch gewiß ist, daß die Vorstellngen vom Raum und von der Zeit Anschauungen a priori sind, so ist es doch notwendig, nachzuweisen, wie Anschauungen a priori möglich sind. Begriffe a priori hat man von PLATO an in der Philosophie angenommen, aber daß es Anschauungen a priori gibt, hat erst KANT behauptet. Wenn es nun schon nicht leicht war, die Möglichkeit von Begriffen a priori nachzuweisen, so erscheint es doch noch viel schwieriger, die Möglichkeit von Anschauungen a priori zu erklären.

Die Anschauung ist eine unmittelbare Vorstellung von einem einzelnen Gegenstand, welche wir durch die Sinne empfangen. Ohne Sinn keine Anschauung; die Sinne empfangen sie durch die Einwirkung der Gegenstände auf die Sinne. Alle Anschauungen sind singulär und zufällig oder empirisch, da sie stets eine Einwirkung der Gegenstände voraussetzen. Eine allgemeine und notwendige oder eine Anschauung a priori scheint es hiernach nicht geben zu können. KANT jedoch meint, daß sie möglich ist, und zwar aus zwei Gründen:

Anschauungen sind nur möglich durch einen Sinn. Der Sinn bedingt die Möglichkeit der Anschauungen. Der Sinn aber geht nicht erst aus der Einwirkung der Gegenstände hervor, sondern dieser vorher und bewirkt erst, daß aus der Einwirkung eine Empfindung entsteht. Für sich enthält der Sinn keine Empfindungen, in welchen der Stoff für alle Vorstellungen gegeben ist, sondern ist leer. Aber der Sinn, für sich leer, ist doch die formale Bedingung für die Entstehung aler möglichen Empfindungen in den Sinnen durch die Einwirkung der Gegenstände auf die Sinne.

Es gibt nur einen äußeren Sinn, wenngleich es fünf Sinnesorgane gibt, wie es nur einen inneren Sinn gibt, der ohne körperliches Werkzeug ist. Die Form oder die formale Natur des äußeren Sinnes, der die Bedingung von der Möglichkeit aller Empfindung durch die fünf Sinnesorgane ist, ist die Rezeptivität; sie bewirkt es, adß wir durch den äußeren Sinn uns Gegenstände als außerhalb von uns und diese insgesamt im Raum vorstellen. Die Anschauung a priori vom Raum entspringt daher aus der Form des äußeren Sinnes, seiner Rezeptivität. Die Form oder formale Natur des inneren Sinnes ist die Sukzessivität; innerlich kann ich meine Zustände mir nur als aufeinander folgend in der Zeit vorstellen. Die Anschauung a priori von der Zeit entspringt aus der Form des inneren Sinnes. Beide sind sich schlechthin entgegengesetzt. Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig wie der Raum als Etwas in uns.

Die Form der Sinne, der inneren wie der äußeren, ist nichts Totes, kein Gefäß ruhend im Geist, in das Etwas hineingelegt werden kann, sondern etwas Lebendiges. Und hierin besteht der zweite Grund in KANTs Deduktion der Möglichkeit der Anschauungen a priori. Die Form bewirkt, daß die mannigfaltigen Empfindungen der Sinne in bestimmten Verhältnissen geordnet werden. Raum und Zeit sind Ordnungen der Empfindungen, des Auseinander, Nebeneinander, Nacheinander, welche Ordnungen aus der Form der Sinne hervorgehen.

Die Empfindungen und ihre räumlichen und zeitlichen Ordnungen entstehen nicht nacheinander, sondern miteinander in der Seele vermöge der Natur ihrer Sinne. Raum und Zeit sind nur für sich unwahrnehmbar, nicht nur in ihrer Allgemeinheit, sondern auch in allen ihren Modifikationen und Einschränkungen, in allen möglichen Gestalten, in allen möglichen Einteilungen oder Abschnitten der Zeit; wahrnehmbar werden sie nur zugleich mit den besonderen Empfindungen der Sinne, welche den Raum und die Zeit erfüllen. Eine Gestalt ist keine Farbe, aber auch kein Licht und kein Schatten, und auch kein Weiß und kein Schwarz; die gesamte Körperwelt, sofern sie nichts ist, als ein Inbegriff von Raumgestalten, ist für sich völlig unwahrnehmbar, sie ist wahrnehmbar nur in den Empfindungen der Sinne. Dasselbe gilt von der Zeit, sie ist für sich unwahrnehmbar in allen ihren Abschnitten. Kein Heute, Morgen, Gestern ist für sich wahrnehmbar, sie sind es nur in den Zeiterfüllungen durch Empfindungen der Sinne. Eine Gestalt wird aber nicht wahrgenommen durch die Empfänglichkeit der Sinne, sondern nur durch die Aktivität des Geistes, indem er die sinnlichen Empfindungen der Farbe usw. ordnet. Dasselbe gilt von jedem Zeitabschnitt, er wird nur durch eine Ordnung des Inhaltes und also nicht durch bloße Empfänglichkeit erkannt.

Aber auch umgekehrt, so die Lehre KANTs, ist keine Empfindung möglich ohne räumliche und zeitliche formale Bestimmtheiten, denn sie sind nur möglich durch die formale Natur des Sinnes. Nicht der Eindruck allein, sondern zugleich die formale Natur des Sinnes macht die Empfindung möglich oder wirklich, was in diesem Fall dasselbe ist. Keine Farbe ist sichtbar ohne Extension, kein Ton hörbar ohne Extension, kein Geschehen in uns wahrnehmbar, und alles Geschehen wird innerlich wahrgenommen, ohne Extension. Beides wird zumal wahrgenommen. Den absoluten Lichtpunkt hat noch niemand gesehen, ohne ihn zugleich außerhalb seiner selbst im Raum wahrzunehmen. Auch das absolute Minimum einer Ausdehnung des Raumes wie der Zeit ist eine Ausdehnung. Raum und Zeit werden nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahiert, sondern zugleich mit den Empfindungen wahrgenommen. Raum und Zeit sind Anschauungen a priori des äußeren und des inneren Sinnes in den Empfindungen dieser Sinne selbst.

Zweierlei exkludiert die Lehre KANTs. Die Annahme des leeren Raumes und der leeren Zeit. Beide sind nur willkürliche Abstraktionen der Phantasie aus dem vollen Raum und der erfüllten Zeit, welche allein wahrnehmbar sind.

Zweierlei exkludiert die Lehre KANTs. Die Annahme des leeren Raums und der leeren Zeit. Beide sind nur willkürliche Abstraktionen der Phantasie aus dem vollen Raum und der erfüllten Zeit, welche allein wahrnehmbar sind. Und zweitens die Annahme eines ursprünglichen Chaos der Empfindungen in der Seele. Eine solches Chaos von sinnlichen Empfindungen ohne alle räumlichen und zeitlichen Ordnungen ist nur eine Fiktion der Phantasie durch eine willkürliche Abstraktion. Raum und Zeit und ihre Modifikationen kommen nicht hinerher zu den Empfindungen und ihrem Chaos hinzu, sondern werden zugleich mit ihnen wahrgenommen, weil kein Sinn irgendetwas anderes perzipieren kann als seiner formalen Natur gemäß. Die Rezeptivität und Sukzessivität ist die formale Natur all unserer sinnlichen Anschauungen. Raum und Zeit sind daher Anschauungen a priori, welche aus der Form unserer Sinne entspringen.

Es mag erlaubt sein, noch Etwas zur Erläuterung dieser Lehre hinzuzufügen, das, wenn es auch nicht gerade direkt aus KANTs Werken entlehnt ist, doch nur, wie wir glauben, eine Entwicklung seiner Gedanken ist. Wären unsere Anschauungen nicht rezeptiv, sondern spontan, und wären sie nicht sukzessiv, infolge unserer Sinne, sondern simultan, so würden wir die Dinge nicht außerhalb von uns im Raum, sondern in uns als unsere Taten wahrnehmen, und wir würden sie nicht sukzedierend, als in einer Zeit gegeben, sondern wir würden sie als ein totales Ganzes wie mit einem Blick anschauen. Man kann sagen, eine solche intellektuelle Anschauung hervorzubringen, ist der Zweck allen Denkens, aber diese Anschauung ist keine Tatsache, sondern nur das unendliche Ziel des Denkens. Da wir aber diese Kraft der intellektuellen Anschauungen nicht besitzen, sondern alle unsere Anschauungen sinnlich sind, so schauen wir Menschen allgemein und notwendig, d. h. a priori Alles, was die Sinne empfinden, als im Raum und in der Zeit gegeben an. Der Grund, daß wir so anschauen, liegt nicht im Inhalt, sondern in der Form unserer Sinne.

Die Vorstellungen vom Raum und der Zeit sind ursprüngliche Anschauungsarten des menschlichen Geistes, die nach KANT von nichts Anderem abgeleitet werden können, als von der Form der Sinne. KANT leitet sie auch von nichts Anderem ab. Es besteht hierin, wie man es auffaßt und beurteilt, der Vorzug oder der Mangel der kantischen Lehre. Er leitet sie nicht ab weder von den einzelnen Empfindungen der Sinne, noch aus anderen Begriffen, sondern behauptet, daß sie von nichts Anderem ableitbar sind.

Die Ableitung aus den einzelnen sinnlichen Empfindungen, welche vom Sensualismus ausgeht, nennt man die psychologische Deduktion, welche aber nur in einer Geschichtserzählung besteht, wie aus dem ursprünglichen Chaos der sinnlichen Empfindungen hinterher und durch zufällige Umstände die in Raum und Zeit geordnete Welt entsteht. Die Ableitung aus anderen Begriffen nennt man die metaphysische Deduktion, welche den sinnlichen Raum und die sinnliche Zeit wie HERBART und SCHELLING, aus einem intelligiblen Raum und einer intelligiblen Zeit herleitet. Diese Deduktionen stehen der kantischen Auffassung dadurch entgegen, daß sie diese Anschauungen zurückführen wollen entweder auf Begriffe oder auf einzelne Empfindungen, welche den Stoff der Sinne bilden.

Für KANTs Auffassung ist aber doch noch ein positiver Grund in der Sache selbst enthalten. Der Raum ist einer, ein kontinuierliches Ganzes, alle Teile sind in ihm und aus ihm durch Einschränkungen und Modifikationen. Die Zeit ist eine, ein kontinuierliches Ganzes, alle Abschnitte sind in ihr und aus ihr. Das Ganze ist früher als die Teile, welche nur in und aus dem Ganzen sind. Sollten Zeit und Raum, diese, wie KANT meint, ursprünglichen Anschauungen a priori aus den Formen der Sinne, von etwas Anderem abgeleitet werden, sei es aus sinnlichen Empfindungen oder aus metaphysischen Begriffen, so müßten sie aus einer Komposition vorhergehender Teile, einfachen Empfindungen oder Begriffen entspringen. Allein eine solche Deduktion ist die Aufhebung dessen, was deduziert werden soll, des Raumes und der Zeit in dem, was sie sind, daß sie Kontinua sind. Die Deduktionen wollen das Kontinuum aus der Komposition vorhergehender diskreter Teile ableiten und heben damit den Begriff selbst auf. Auch dies ist ein Mangel oder ein Vorzug der kantischen Auffassung, daß sie annimmt, der Begriff eines Kontinuums sei ursprünglich durch die Anschauung a priori des Raumes und der Zeit gegeben und aus nichts Anderem abzuleiten. In der ganzen Sinnenwelt ist durch Raum und Zeit, die Formen aller sinnlichen Anschauung, Kontinuität.

Vor KANT galt die Erkenntnis a priori, falls ihre Faktizität nicht wie vom Sensualismus in Zweifel gezogen wurde, da er ihren Ursprung aus den Sinnen nicht nachweisen konnte, als angeboren. Fast allgemein verbreitet ist die Meinung, daß auch KANT angeborene Erkenntnisse oder Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe angenommen hat. Dies ist nun aber doch nicht der Fall. Auch KANT lehrt, daß alle Erkenntnis erworben ist und keine angeboren.
    "Die Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffenen oder angeborenen Vorstellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmit sie als erworben an. Es gibt aber auch eine ursprüngliche Erwerbung (wie die Lehrer des Naturrechts sich ausdrücken), folglich auch dessen, was vorher noch gar nicht existiert, folglich keiner Sache vor dieser Handlung angehört hat. Dergleichen ist, wie die Kritik behauptet, erstens die Form der Dinge im Raum und in der Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen; denn keine von beiden nimmt unser Erkenntnisvermögen von den Objekten, als in ihnen ansich gegeben, her, sondern bringt sie aus sich selbst a priori zustande." (Werke I, Rosenkranz, Seite 444, Hartenstein IV, Seite 37)
Ich erwerbe in derivativer Weise Eigentum durch Kauf. Ich erwerbe aber auch Eigentum in ursprünglicher Weise durch Okkupation [Eroberung, Besetzung - wp], durch Arbeit, durch Spezifikation. Diese Erwerbung setzt voraus, daß vorher kein Eigentum war, sondern erst entsteht, während der Kauf schon Eigentum an der Sache voraussetzt. Das Eigentum ist nicht angeboren, sondern entsteht entweder durch die deritative [ableitende - wp] oder ursprüngliche Erwerbung. Die ursprüngliche Erwerbung der Erkenntnis setzt voraus, daß ihr keine andere vorhergeht, von der sie abgeleitet wird, sondern daß sie erst durch diese Erwerbung entsteht. Sie ist nicht angeboren, es geht ihr auch keine andere vorher, von der sie abgeleitet wäre, sondern sie entsteht durch diese ursprüngliche Erwerbung. Das Eigentum ist nicht vor den Handlungen, durch die es ursprünglich erworben wird, vorhanden, sondern entsteht erst durch diese Handlungen. Freilich setzen diese ursprünglichen Erwerbsarten des Eigentums einen Stoff voraus, der durch diese Handlungen zum Eigentum wird. Ebenso setzt die ursprüngliche Erwerbung von Erkenntnissen a priori einen Stoff in den Sinnen voraus. Allein wie jener Stoff erst durch die Handlungen der ursprünglichen Erwerbungsarten Eigentum wird, und dasselbe daher nicht angeboren ist oder, wie man auch sagt, sich von selbst versteht, so ist auch der Stoff in den Sinnen vor der Handlung des Geistes, keine Erkenntnis, sondern wird dies erst durch seine Handlungen, durch seine Formen. Eine Erkenntnis kann aus der anderen erworben werden, aber dieser derivative Erwerb ist völlig unmöglich, wenn es keinen ursprünglichen Erwerb von Erkenntnissen gibt.

Daß alle Erkenntnisse erworben sind, darin stimmt also KANT überein mit dem Sensualismus, der gleichfalls lehrte, daß alle Erkenntnisse erworben sind; er meinte aber, alle Erkenntnisse seien erworben, und abstrahiert von den Eindrücken, welche die Gegenstände auf die Sinne machen, konnte aber daraus nicht den Ursprung der Erkenntnis a priori nachweisen. Diese Erkenntnisse sind nicht angeboren und entspringen auch nicht aus den Eindrücken, welche die Gegenstände auf die Sinne machen, was das negative Ergebnis der Erkenntnislehre vor KANT. Er machte dann einen neuen Gedanken geltend.

Zur Erkenntnis gehört mehr als ein Stoff der Sinne, den diese durch die Einwirkung der Gegenstände empfangen, zur Erkenntnis gehört auch, wenn sie möglich sein soll, ein Subjekt, welches durch seine formale Tätigkeit, durch welche es den Stoff der Sinne ordnet, die Erkenntnis in sich hervorbringt. Ohne einen gegebenen Stoff ist keine Erkenntnis möglich; allein sie ist auch nicht möglich ohne ein Subjekt, welches aus dem gegebenen Stoff der Sinne Erkenntnis durch seine formende Kraft erzeugt. Alle wahre Erkenntnis ist erworben, alle wahre Erkenntnis produziert das Subjekt. Es hat die Erkenntnis nur durch ihre Produktion. Alle Formen, durch welche der gegebene Stoff der Sinne geordnet wird, entspringen aus dem Subjekt, sind sein Erkenntnisvermögen. Ohne die Anwendung dieser Formen bleibt der Stoff der Sinne wohl gegeben, aber unerkannt. Wirkliche Erkenntnis entspringt erst aus ihrer Verbindung. Und die Erkenntnis zu begreifen, müssen wir sie in ihre beiden Elemente zerlegen; aber diese Zerlegung ist nur eine Kunst des Gedankens, die Elemente selbst haben keine Existenz für sich, sondern in Wirklichkeit, in aller Erkenntnis sind sie miteinander verbunden.

In einem Punkt stimmen Sensualismus und Rationalismus in ihrer Erkenntnislehre, soweit sie auch sonst in ihren Bestrebungen sich voneinander entfernen mögen, überein. Beide nehmen an, daß alle Erkenntnis ursprünglich empfangen wird entweder von außen oder von innen, der Sensualismus meint durch die Sinne, der Rationalismus glaubt durch die Vernunft. In der Annahme dieser ursprünglichen Passivität aller Erkenntnis stimmen beide miteinander überein. Ob alle Erkenntnis von außen oder von innen gegeben ist, darüber streiten sie sich, aber die Erkenntnis soll doch ursprünglich durch die Sinne oder durch die Vernunft gegeben sein. Der Rationalismus nimmt die Erkenntnis a priori als gegeben an mit dem Dasein und dem Wesen des Geistes und nennt sie daher angeboren. Der Sensualismus will wohl die Entstehung dieser Erkenntnis nachweisen, aber er nimmt doch an, daß alle Erkenntnisse und Vorstellungen mittelbar oder unmittelbar durch die Sinne gegeben sind oder empfangen werden. Beide vergessen und übersehen, daß zum Erkennen mehr gehört als ein Objekt, oder als ein Stoff; daß zum Erkennen, wenn es möglich sein soll, vor Allem auch ein Subjekt gehört, welches seine Erkenntnisse nur dadurch besitzt, daß es sie selber durch seine formende und ordnende Tätigkeit hervorbringt. Dieses Subjekt [mfk] hat die frühere Erkenntnislehre des Rationalismus wie des Sensualismus übersehen und zu beachten vergessen; erst KANT hat es nicht unbeachtet gelassen und es erst hinzugebracht für die Erklärung von der Möglichkeit der Erkenntnis.

Hinterher nach KANTs Entdeckung finden Einige, welche für die Fortbildung unserer Philosophie zurückgehen entweder auf LEIBNIZ oder auf LOCKE und HUME, auch bei ihnen, was sie von KANT gelernt haben und auf diese übertragen, da der Rationalismus des Einen und der Sensualismus der anderen Beiden doch in Wahrheit nicht das enthält, was erst durch den Kritizismus ans Licht gebracht worden ist. Diese gelehrte Frage jedoch, ob wirklich bei LEIBNIZ, LOCKE und HUME bereits enthalten ist, was tatsächlich bei KANT sich findet, hat aber für uns kein so sehr großes Interesse, denn für die Fortbildung der Philosophie kommt es nur darauf an, daß man den Gedanken KANTs festhält und weiter ausbildet.

Aus den Formen, aus welchen das Subjekt den gegebenen Stoff der Sinne, sei es intuitiv oder intellektuell, ordnet, entspringt nach KANT die Erkenntnis a priori; sie wird nicht vom Eindruck der Gegenstände auf die Sinne abstrahiert, sondern sie wird durch das Subjekt produziert, indem es den Stoff der Sinne ordnet. Das Subjekt hat die Formen nicht, ohne daß es den Stoff der Sinne ordnet, und sie sind nichts Totes, in einem Subjekt Ruhendes, sondern sind seine lebendige Erkenntniskraft selber. Wir haben früher gedacht, als wir das Denken denken, und die Formen des Denkens sind bereits im ersten Denken in Ausübung, bevor wir sie selber zur Erkenntnis bringen. Wir schauen früher Alles in Raum und Zeit an, bevor wir in den Formen unserer Sinne den Grund der Apriorität der reinen Anschauungen des Raumes und der Zeit erkennen.

Diese Formen der Verbindung und Ordnung des sinnlichen Stoffes sind bei allen Menschen dieselben und werden von allen jederzeit in der Erkenntnis irgendeines besonderen Gegenstandes, der den Sinnen in der Anschauung gegeben wird notwendig angewandt, weshalb auch die Erkenntnisse, welche daraus entspringen, a priori oder allgemein und notwendig sind, meint KANT, lasse sich nicht nachweisen, nur soviel sei gewiß, daß wir Menschen nur durch diese Formen Erkenntnisse hervorzubringen vermögen.

Die Erkenntnis a priori entspringt zugleich mit der empirischen, sie ist aller Empirie immanent, aber sie entspringt nicht aus ihr, sondern aus dem Subjekt, welches den Stoff der Sinne zu einer Erkenntniswelt verarbeitet. Das Wort a priori hat daher zumindest bei KANT keine temporale Bedeutung, da er alle Erkenntnis als erworben und keine als angeboren annimmt. Sollte es eine temporale Bedeutung haben, so daß a priori die Erkenntnis ist, welche der Zeit nach der empirischen vorhergeht, wie es bei der Annahme von angeborenen Erkenntnissen gedacht wird, so würde eine solche Erkenntnis nicht allgemein und notwendig, sondern nur, wie die empirische der Sinne für sich partikular und zufällig sein. Die Lehre von den angeborenen Erkenntnissen hebt ihre Apriorität auf. Angeborene Erkenntnisse sind wie ein Geschenk der Götter, sie sind gegebene, empfangene Erkenntnisse, sie erscheinen stets wie Visionen und sind daher wie gegebene Empfindungen und Tatsachen nur partikular und zufällig. Nur erworbene, hervorgebrachte Erkenntnisse können a priori, allgemein und notwendig sein, und sie sind es nach KANT, weil sie erworben werden aus den Formen, durch deren Anwendung auf den Stoff der Sinne das Subjekt überall erst Erkenntnisse bildet.

Man kann aber nicht leugnen, daß KANT trotz seiner ausdrücklichen Erklärung, er nehme keine angeborene Erkenntnis an, doch selbst dieses Vorurteil, daß er eine angeborene Erkenntnis lehrt, veranlaßt hat, da er in der "Kritik der reinen Vernunft" und in den "Prolegomena zur Metaphysik" vielfach das Wort a priori nach seiner temporalen Bedeutung gebraucht hat, als gehe wirklich die Erkenntnis a priori der empirischen vorher, und als säßen die Formen der Erkenntnis im Subjekt als tote Gefäße zur Aufnahme des Stoffes der Sinne. Es kann daher wohl ein Streit darüber stattfinden, ob KANT das Eine oder das Andere gelehrt hat; auch ist es gewiß, daß fast allgemein geglaubt wird, das Wort a priori habe bei KANT diese temporale Bedeutung. Meiner Überzeugung nach aber schließt seine Lehre diesen Sinn aus, welcher zugleich durch KANTs ausdrückliche Erklärung vor und nach der Kritik der reinen Vernunft beglaubigt wird. Es ist nur eine Akkommodation [Anpassung - wp] an die Fassungskraft seiner Leser, wenn KANT dem Wort a priori eine temporale Bedeutung gibt. Hat das Wort a priori, wie freilich fast allgemein gelehrt wird, bei KANT eine temporale Bedeutung, so halte auch ich seine Lehre für ein unbegreifliches Ganzes. Ist dies aber nicht der Fall, so erscheint sie als ein begreifliches Ganzes. Das Urteil über KANTs Lehre ist jedenfalls davon abhängig, ob bei ihm das Wort a priori eine temporale Bedeutung hat oder nicht. Ich nehme das Letztere an, wie ich es auch von jeher in meinen Schriften aufgefaßt habe.

Nach diesem Exkurs über die Erkenntnis a priori im Allgemeinen, worüber KANT sich selbst nicht weiter verbreitet hat, da er, wie gesagt, sein Problem nur nach dessen Spezifikation, wie synthetische Urteile a priori in der Mathematik, in der Physik und in der Metaphysik möglich sind, im Einzelnen abhandelt, kehren wir wieder zurück zu dem besonderen Problem von der Möglichkeit der Anschauungen a priori, da es notwendig ist, noch die Folgerungen über die Realität und die Anwendbarkeit dieser Anschauungen des Raums und der Zeit in all unserer Erkenntnis zur Darstellung zu bringen, welche KANT aus seiner Lehre über den Ursprung dieser Anschauungen gezogen hat.

Raum und Zeit sind Formen der Erscheinungen, aber nicht Formen der Dinge-ansich. KANT lehrt die empirische Realität des Raumes und der Zeit, sofern sie Formen der Erscheinungen aller Dinge sind, und die transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit, insofern sie keine Formen der Dinge-ansich sind. Der transzendentale Idealismus ist eine negative Lehre: er verneint, daß Raum und Zeit Formen der Dinge-ansich sind. Der empirische Realismus ist eine positive Lehre, er behauptet, daß Raum und Zeit Formen der Erscheinungen sind.

Die Begriffe von Raum und Zeit haben allgemeine Gültigkeit und volle Wahrheit für Alles, was der Mensch sich sinnlich vorstellt. Was er sich aber durch die Sinne vorstellt, sind die Erscheinungen der Dinge. Die Sinne stellen nur vor, wie die Dinge erscheinen. Erscheinung heißt der Gegenstand, sofern er von uns gesehen, angeschaut, wahrgenommen wird. Darin liegt gar kein Urteil weder über das Sein noch über das Nichtsein des Gegenstandes, sondern nur daß der Gegenstand sich den Sinnen vorstellt. Raum und Zeit haben Realität für die ganze Erscheinungswelt, in der es Nichts gibt, das nicht zugleich räumliche und zeitliche Bestimmung trägt; denn wir können uns sinnlich nichts vorstellen, ohne es uns zugleich außerhalb von uns im Raum und in der Zeit vorzustellen. Da wir hiervon nicht abstrahieren können, so erscheint uns Alles im Raum und in der Zeit.

Allein daß uns Alles, was wir sinnlich wahrnehmen, im Raum und in der Zeit erscheint, hat seinen Grund im Ursprung dieser Anschauungen a priori aus der formalen Natur unserer Sinne. Wie der Ursprung der Vorstellungen ist, so urteilen wir über ihre Realität. Entsprungen aus der formalen Natur der Sinne, können Raum und Zeit nur Formen der Erscheinungen und nicht Formen der Dinge ansich sein. Raum und Zeit sind selbst nicht subsistierende Dinge, noch objektive Eigenschaften und Verhältnisse derselben, weil die Vorstellungen vom Raum und der Zeit primär keine Begrife, sondern Anschauungen sind, und alle unsere Anschauungen sinnlich und nicht intellektuell sind, und daher stets nur Erscheinungen, aber kein Sein ansich erkennen können. Jene Negationen sind nur Folgerungen aus dieser Position. Ist diese gewiß, so sind jene Folgerungen unvermeidlich und selbstverständlich. Die Dinge ansich sind nicht im Raum und in der Zeit, sondern sie erscheinen nur im Raum und in der Zeit; Raum und Zeit sind keine Prädikate der Dinge-ansich, sondern nur ihrer Erscheinungen. Die Dinge-ansich sind weder räumlich noch zeitlich, sondern werden von uns nur durch die Sinne so vorgestellt. Die sinnlichen Anschauungen stellen nur Erscheinungen vor, und Erscheinungen sind nur Gegenstände sinnlicher Anschauungen. Das Sein ansich ist kein Gegenstand sinnlicher Anschauungen, sondern der Gedanken; und alles Denken hat zum Gegenstand das Sein und nicht die Erscheinung. Daß die Dinge sind, was die Dinge sind, warum die Dinge sind, zu erkennen, ist das Ziel des Denkens. Die Auffassung der Erscheinungen ist stets nur ein Mittel und nicht der Zweck des Denkens.

Raum und Zeit bilden nicht das Wesen der Dinge, sondern sind nur Formen ihrer Erscheinung. Die Länge, Breite und Dicke eines Menschen ist nicht sein Wesen, sondern nur seine Erscheinung. Der sittliche Wert einer Handlung kommt ihr ansich zu, abgesehen von der Zeit, in der sie erscheint. Ein Begriff hat kein Tempus und kein Spatium [Zwischenraum - wp]. Die Begriffe sind identisch und verschieden, bilden ein System ohne alle räumliche und zeitliche Differenz. Mit Recht lehrte auch die alte Logik, nur Artbegriffe lassen sich definieren. Variationen können nur durch Anschauungen in räumlicher und zeitlicher Bestimmtheit beschrieben werden.

Raum und Zeit als die Formen der Erscheinungen haben nach KANT empirische Realität. Allein die Erscheinungswelt hat für sich gar keine Realität, sie existiert nur unter der Bedingung, daß ein anschauendes Subjekt ist, und daß Dinge ansich sind, welche im Subjekt Anschauungen hervorbringen, denn die Erscheinung ist der Gegenstand einer Anschauung; alle Anschauungen aber werden gegeben, alle Anschauungen sind rezeptiv. Wenn wir hiervon absehen, so ist die ganze Erscheinungswelt Nichts, sie kann nicht für sich existieren. Sie ist nur da, sofern in einem Subjekt Anschauungen entstehen; und entstehen können diese Anschauungen, welche durch die Sinne bedingt sind, nur dadurch, daß Etwas, was selbst keine Erscheinung ist, auf die Sinne wirkt. Erscheinungen können nicht auf die Sinne wirken, denn sie sind überall nicht, bevor auf die Sinne Etwas gewirkt hat. Alle Erscheinungen haben daher nach KANTs Lehre zwei Bedingungen.

Daß die Erscheinungen nur eine Bedingung haben und zwar nur im anschauenden Subjekt, ist eine Übertragung aus späteren Lehren auf KANT. Die Welt der Erscheinungen ist im sinnlich anschauenden und vorstellenden Subjekt potentialiter aber nicht realiter, virtualiter aber nicht aktualiter, ohne daß noch etwas Anderes ist, als dieses Subjekt, und das im Subjekt erst Anschauungen und Vorstellungen hervorbringt, womit in Beziehung der Gegenstand erst eine Erscheinung ist. Gerade KANT hat den Begriff der Erscheinung bestimmt, und geltend gemacht, daß Wahrheit in den Erscheinungen ist. Denn die Erscheinung ist kein Schein, der uns täuscht, wenn wir ihn auf einen Gegenstand beziehen, sondern sie ist ein Schein, der uns nicht täuscht, wenn wir ihn auf einen Gegenstand beziehen, und der notwendig auf einen Gegenstand, auf ein Ding-ansich bezogen werden muß. Die empirische Realität der Erscheinungswelt, deren Formen Raum und Zeit sind, besteht darin, daß alle Erscheinungen zwei Bedingungen haben, unter denen sie nur möglich sind, und daß in den Erscheinungen in Schein ist, der uns nicht täuscht, wenn wir ihn auf einen Gegenstand ansich beziehen. Ohne Dinge-ansich keine Erscheinungen; ohne Dinge-ansich sind Erscheinungen ein uns täuschender Schein.

Der transzendentale Idealismus KANTs ist keine metaphysische Lehre, sondern dient nur zur Kritik der Erkenntnis. Ansich ist es nur die negative Lehre, daß Raum und Zeit und alle sinnlichen Empfindungen, die ihren Inhalt bilden, keine Prädikate der Dinge-ansich sind. Was sie sind, wird durch keine sinnliche Anschauung, sei sie empirisch oder a priori, erkannt. Der transzendentale Idealismus enthält nur diese Negation. Aber die Negation ist nicht ohne eine Position, die ihr vorhergeht. Diese Position ist die Voraussetzung, daß es Dinge ansich gibt und ihre Erkenntnis der Zweck von allem Denken ist. Ohne diese Position ist der transzendentale Idealismus KANTs eine unverständliche Lehre. Er ist nur das Ergebnis der Beurteilung einer Erkenntnis in sinnlichen Anschauungen nach dem idealen Begriff der Erkenntnis, den KANT als den allein gültigen vorausgesetzt hat.

Die Begriffe vom Raum und der Zeit gelten vor KANT als metaphysische Kategorien, worin Formen der Dinge-ansich gedacht werden. KANT hat sie aus der Metaphysik entfernt, indem er lehrte, daß sie keine Begriffe, sondern Anschauungen a priori sind, und daß sie daher keine Formen des Seins, sondern Formen der Erscheinungen der Dinge sind. Nach KANT hat man freilich auch in der deutschen Philosophie den alten Standpunkt erneuert, indem man diese Vorstellungen auffaßt als bloße Begriffe, abstrahiert von den sinnlichen Empfindungen; nur scheint es, daß man im Zweifel ist, ob sie als bloße Begriffe metaphysische Kategorien sind, durch welche Formen des Seins ansich gedacht werden, oder ob sie nur Formen der Erscheinungen der Dinge sind, in welchem Fall ihre Vorstellungen, wie es scheint, auch ursprüngliche Anschauungen sein müssen.

Die Anschauungen a priori sind die Prinzipien der mathematischen Erkenntnis. Die Mathematik gilt daher auch bei KANT nicht als eine metaphysische Wissenschaft, sondern sie steht in der Mitte zwischen den empirischen und den philosophischen Wissenschaften durch ihre Erkenntnisart. Sie dient aller Empirie zur genauen Bestimmung der Formen des Raumes und der Zeit, wodurch die Erkenntnis des Inhalts vom Raum und von der Zeit, den die Empirie erforscht, bedingt ist. KANT scheidet Mathematik und Philosophie voneinander, die vor ihm nur zu oft miteinander verwechselt worden sind. Die Mathematik ist keine Metaphysik, keine Ontologie, sondern gehört zur Phänomenologie der Wissenschaften. Nicht nur die Pythagoräer haben die Mathematik für eine Metaphysik gehalten, indemm sie in den Zahlen und ihren Verhältnissen das Wesen der Dinge fanden, da sie doch nur ihre Erscheinungen betreffen, sondern auch die korpuskulare Atomistik sieht die Mathematik als eine Metaphysik an, da sie in den räumlichen Verhältnissen und in der Gestalt der Atome, worin doch nur Formen der Erscheinungen der Dinge liegen, das allein wahre Sein der Dinge-ansich annimmt. Aber auch die rationalistische Philosophie vor KANT in der Richtung des CARTESIUS bis LEIBNIZ sah in der Mathematik und ihren Verfahrensarten das wahre Organon zur Ausbildung der Philosophie und verwechselte die Erkenntnisformen beider Wissenschaften miteinander. KANT scheidet beide Wissenschaften von einander und wollte vor Allem den Gebrauch der Mathematik, als einer Metaphysik und Logik der Wissenschaft verhindern; denn das mathematische Denken in den Anschauungen a priori ist so wenig, wie das empirische Denken in den empirischen Anschauungen, das Verfahren der Philosophie, welche in der Untersuchung über die Möglichkeit aller Erkenntnisse ihr Wesen hat.

Was und wie durch Anschauungen a priori und a posteriori erkannt wird, untersucht die transzendentale Ästhetik. Sie vollzieht die Scheidung einer Erkenntnis von Erscheinungen durch diese Anschauungen von einer Erkenntnis der Dinge-ansich, welche dadurch nicht gewonnen wird. Die Frage aber, ob aus diesen Anschauungen, ob aus den Erscheinungen, eine Erkenntnis von den Dingen ansich möglich ist, ist kein Gegenstand der transzendentalen Ästhetik, sondern das Problem der transzendentalen Logik.
LITERATUR: Friedrich Harms, Die Philosophie seit Kant, Berlin 1876