ra-1ra-2O. KülpeJ.Cohnvon KernFr. Th. VischerW. Conrad    
 
MAX DESSOIR
Skeptizismus in der Ästhetik

"Gleichkräftigkeit nennen wir die Gleichheit in Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit, so daß keine von den streitenden Behauptungen der anderen als glaubwürdiger voransteht; Zurück- haltung ist ein Stillstehen der Einsicht, infolge wo- von wir weder etwas verneinen noch bejahen."

§ 1. Unter Skeptizismus verstehe ich kein leichtfertiges Spiel mit wissenschaftlichen Einsichten und Verfahrensweisen, sondern den ernsthaften Zweifel an der Möglichkeit eindeutiger Wahrheiten, allgemeingültiger Theorien, umfassender Systeme. Und zwar in diesem Fall innerhalb der Ästhetik und allgemeinen Kunstwissenschaft.

Der geschichtliche Ort einer solchen Skepsis ist eine bestimmte Lage des wissenschaftlichen Geistes überhaupt oder zumindest eines Teils der Wissenschaften. Sie ist gerechtfertigt in Zeiten, wo die vorhandenen Denkmittel, zumal die Leitsätze und Verfahrensweisen, für die irgendwie veränderten Bedürfnisse des Erkennens nicht ausreichen oder - was Grund wie Folge dieses Umstandes sein kann - gegenüber den zahlreicher und tiefer gewordenen Problemen sich als ungenügend erweisen. Allerdings werden unter Verhältnissen dieser Art auch andere Auskunftsmittel ergriffen. Oft entsteht ein Eklektizismus, der die vorhandenen Schwierigkeiten und Widersprüche durch eine Auswahl aus verschieden gefärbten Einsichten der Vergangenheit übertüncht; gelegentlich läßt man die Wissenschaft auf eine Methodologie zusammenschrumpfen, indem man glaubt, die Arbeit kann nicht eher mit Erfolg fortgesetzt werden, als bis der Aufgabenkreis der Disziplin sicher umgrenzt und das richtige Verfahren festgesetzt ist. Aber der Skeptizismus ist doch wohl die natürlichste und fruchtbarste Folge der bezeichneten geschichtlichen Lage.

Somit fehlt er auch in der Gegenwart nicht. Denn die ganze Kultur unserer Zeit entbehrt der großen Linien und der letzten Sicherheiten. Das gilt von Religion und Philosophie, Kunst und Wissenschaft. In all diesen Betätigungskreisen fühlt der moderne Mensch sich unfähig zu einer einfachen Formel. Mir scheint, daß die Philosophen, die aus dem Geist der Gegenwart heraus denken und schaffen, mit zu viel neuen und immer wechselnden Erfahrungen kämpfen müssen, zuviele Möglichkeiten erblicken und zu wenig naiven Glauben besitzen, um die überlieferte Sicherheit der Theorie- und Systembildung aller Orten festhalten zu können. In WAHLEs Buch über das Ganze der Philosophie, in SIMMELs "Einleitung in die Moralwissenschaft, in DILTHEYs Abhandlung über pädagogische Wissenschaft, in der Schrift von P. J. MÖBIUS über die Hoffnungslosigkeit der Psychologie - in diesen so verschiedenartigen und nur beispielsweise herausgegriffenen Darlegungen finden wir die gleiche Stimmung. Freilich stehen daneben genug selbstsichere Werke, deren Urheber sich der Bedrängtheit des jetzt und so Denkenden überlegen wähnen. Meist jedoch sind sie in einem schlechten Sinn zeitlos, d. h. ohne Zusammenhang mit der Eigenart unserer Kultur. Und gerade für Ästhetik und Kunstwissenschaft bedeutet das einen empfindlichen Nachteil, da eine ihrer Voraussetzungen der Sinn für ästhetisches Leben und für Kunst ist und dieser Sinn ohne eine nahe Berührung mit der Umgebung nicht gedeiht. Man wird bemerken, daß Ästhetiker, die ihre Beispiele vornehmlich aus der Gegenwart schöpfen, am weitesten von jedem Dogmatismus abrücken.

Die Bewußtseinslage der Zeit veranlaßt den, der wahrhaft an ihr teil hat, schließlich zur epoché oder Urteilsenthaltung. Hinzu treten Gründe aus der unserer besonderen Wissenschaft augenblicklich zukommenden Beschaffenheit, aber auch aus ihrer bleibenden Verfassung. Ihnen ist der Hauptteil meiner Abhandlung gewidmet. Das Dasein solcher Gründe macht nämlich im Einzelfall die Zweifelslehre zu einer besonders beachtenswerten Richtung. Schon PROTAGORAS hat seinen Satz, daß es über die Götter keine Vernunfterkenntnis gibt, mit objektiven Verhältnissen - mit der Dunkelheit der Sache und der Kürze des menschlichen Lebens - zu rechtfertigen für nötig erachtet. Zahllose Erfahrungen führten die Skeptiker zu ihrem zweifach geformten Endergebnis, das die "Pyrrhonischen Grundzüge" folgendermaßen aussprechen:
    "Gleichkräftigkeit nennen wir die Gleichheit in Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit, so daß keine von den streitenden Behauptungen der anderen als glaubwürdiger voransteht; Zurückhaltung ist ein Stillstehen der Einsicht, infolge wovon wir weder etwas verneinen noch bejahen."
Auf einer genauen Kenntnis der kirchlichen Lehren beruth ABÄLARDs berühmtes Sic et non [so und nicht so = ja und nein - wp], ein Einspruch gegen allzu schnelles Fertigsein in theologischen Angelegenheiten; nicht leichtsinnig, sondern im Besitz einer weiten Übersicht spricht BAYLE von der letztlich unlösbaren Verwicklung philosophischer Probleme. Ein ähnlicher Standpunkt läßt sich innerhalb der Ästhetik aus Beobachtungen und Erwägungen gewinnen, die wir nachher gemeinsam anstellen wollen; übrigens sei auf das Prinzipienkapitel meines Buches verwiesen, das gewissermaßen einen Friedhof für voreilige Verallgemeinerungen bedeutet und den Leser zum Ephektikter [Skeptiker des Altertums - wp] machen kann. Die Hauptsache bleibt, daß - abgesehen vom allgemeinen Rhythmus des uns umfließenden geistigen Lebens - im Wesen der Ästhetik oder zumindest in ihrer gegenwärtigen Situation sachliche Gründe zur skeptischen Haltung vorhanden sind.

Liegt es nun so, dann wird man diejenigen, die sich zu dieser Richtung mehr oder weniger entschieden bekennen, nicht mit Skeptikern anderer Art verwechseln dürfen. Aus einem, der geschilderten Denkweise gerade entgegengesetzten, Hochmut entspringt der grundsätzliche Zweifel am Neuen. Wer hat sie nicht kennengelernt, diese aus Unwissenheit und Überhebung stammende Skepsis? Ich persönlich bin ihr damals begegnet, als über die Tatsächlichkeit der hypnotischen Erscheinungen gestritten wurde. Ihr tritt zur Seite der verstandesmäßige Ausdruck wissenschaftlicher Müdigkeit und Übersättigung. Indem auf eine objektive Begründung verzichtet und die Erfolglosigkeit subjektiver Bemühungen der Unerreichbarkeit des Erkenntnisideals zugeschrieben wird, bildet sich eine stumpfe Gleichgültigkeit, die jede Arbeit für unnütz erklärt. Aber der hier gemeinte Skeptizismus mahnt vielmehr am lautesten zu einer eifrigen Einzeluntersuchung. Auch darin bekundet sich sein Wert. Die mit dem Namen des ARKESILAOS bezeichnete Lehre verdankte ihre große Wirksamkeit nicht nur der Widerlegung der metahysischen Schulen, sondern auch dem Umstand, daß durch den Wahrscheinlichkeitsbegriff eine positive Forschung möglich und gerechtfertigt blieb.

Die Dogmatiker verwischen alle solche Unterschiede und erklären rundweg jeden, der epoché übt, für einen Schwachkopf oder Schädling, ja sie verwechseln nicht selten den praktischen Wert der Entschiedenheit mit dem geringeren Wert, den die nämliche Eigenschaft für die Feststellung wissenschaftlicher Wahrheit besitzt. Im Leben ist entschlossener Mut eine der schätzbarsten Fähigkeiten, weil hier Wille gegen Willen steht und Handeln - selbst objektiv falsch begründetes und gerichtetes Handeln - immer noch vorteilhafter bleibt als wiederholtes Zögern. Die Wissenschaft dagegen darf nicht einen gordischen Knoten durch einen Schwertstreich "lösen", nicht ein Ei mit Gewalt zum Stehen bringen; also nötigt sie weit öfter zum Verzicht. Ihrem Fortschritt dient auch der dem Leben nicht gewachsen geistige Typus, dessen Kennzeichen sind: vielseitige Empfänglichkeit, feines Gehör und die schöne Scheu vor letzten Worten. Die Wahrheit zu sagen, ist sogar die Verzweiflung, die überall nur Fetzen um sich sieht, manches Mal wohltuender als die Unbekümmertheit der Spezialisten. So ist zumindest mir der Sachverhalt bei hochkomplizierten Gegenständen stets erschienen. Als ich vor beinahe zwanzig Jahren in meinem ersten Büchlein die Annahme zweier Zusammehänge im Bewußtsein verteidigt hatte, fügte ich hinzu:
    "Sicherlich müssen wir gegenwärtig der genauen Beschreibung des Einzelnen den Vorzug geben vor einer meist mit erstaunlicher Kühnheit durchgeführten Erörterung oberster Gattungsbegriffe. Aber gerade an der sorgsamen Aufzeichnung des Besonderen mangelt es noch. Auch die Hypothese des Doppel-Ich ist eine verallgemeinerte Abstraktion aus zahlreichen Beobachtungen, von denen vielleicht jede ihre besondere Erklärung verlangt."
Mit ähnlichen Gedanken stehe ich heute den Hauptfragen der Ästhetik gegenüber; wo andere die endgültige Entscheidung treffen wollen, erblicke ich bloß abbrechende Möglichkeiten. Schilt man nun: es enthalte "dieses Buch zu wenig Strenge des Denkens", macht man dem Verfasser "den Vorwurf der Unentschiedenheit und Halbheit", so getröste ich mich dessen, daß diese dem Sinn nach mir zugedachten Worte tatsächlich auf Herrn PAULSENs "Einleitung in die Philosophie" angewendet worden sind, also auf ein Buch, das ganz gewiß seiner Bestimmung - die derjenigen meines Versuchs einigermaßen verwandt ist - in überaus glücklicher Weise entspricht. Nichts leichter als jedes non-liquet [es ist nicht klar - wp] zu einer verächtlichen Schwäche seines Urhebers zu stempeln, nichts bequemer als die "unumstößlichen" Anforderungen der Wissenschaft und ihre "anerkannten" Methoden triumphierend auszuspielen, nichts wirksamer als abweichende Auffassungen mit den Brandmarken "Oberflächlichkeit" und "Unwissenschaftlichkeit" zu versehen.

Herr VOLKELT hat in unserer Zeitschrift (Bd. 1, Seite 161f) einige Proben dieses Verfahrens andeutungsweise mitgeteilt. Auch ich könnte mit Beispielen aufwarten, etwa mit jener Kritik, die meinen Geschmack für "spezifisch modern" erklärt und dies unnachsichtlich als einen "Mangel an wissenschaftlicher Strenge" rügt. Doch ist die allgemeine Erwägung wichtiger, daß die Verhältnisse in unserem Gebiet offenbar noch recht zerfahren sind und daß wir Geduld mit der Sache und Nachsicht miteinander werden haben müssen. Gerade wir, die wir den Sinn für Kunstwerke und Künstlerpersönlichkeiten pflegen, wir sollen lernen, uns in eine zunächst fremdartige Betrachtungs- und Darstellungsform einzuleben, und wir sollen uns vor der unsauberen Manier hüten, anders Denkende als Minderwertige abzutun.

2. Es sind im Tatbestand der Ästhetik Gründe enthalten, die gegen jeglichen Dogmatismus sprechen. Als solche Gegengründe erscheinen mir: einerseits die unzulängliche Entwicklung der Hilfswissenschaften, andererseits die intensive und die extensive Mannigfaltigkeit der ästhetischen Erscheinungen selbst. Wieviel davon geschichtlich bedingt ist, demnach eine Änderung erhoffen läßt, braucht hier nicht eingehend untersucht zu werden.

Zwei Gruppen von Wissenschaften bieten uns ihre Hilfe an. In die erste Gruppe gehören die Wissenschaften von Literatur, bildender Kunst und Musik, mit Einschluß des von der Völkerkunde aufgespeicherten Stoffes; zur zweiten Gruppe rechne ich Philosophie und Psychologie. Jene Wissenschaften sorgen dafür, daß die Werke aller Künste aufbewahrt oder in möglichster Reinheit wiederhergestellt werden; sie bringen die Werke in Zusammenhänge; sie unterrichten über Leben und Schaffen der Künstler; sie durchleuchten den Bau des künstlerischen Erzeugnisses nach vielen Seiten hin und erhellen dabei die objektiven Grundlagen des Eindrucks. Leider jedoch ist von diesen Arbeitskreisen der zuletzt genannte am unbefriedigensten ausgefüllt. Philologen und Kunstgelehrte treten mit historischen, insbesondere biographischen Gesichtspunkten an ihn heran, anstatt durch eine sachliche Zergliederung das Gefüge und die darin enthaltenen wirkungskräftigen Bestandteile erkennbar zu machen. Eine Ausnahme bildet die ziemlich hoch entwickelte Metrik. Auch beginnt man jetzt auf beiden Seiten mit analytischen Untersuchungen, die unserer Tätigkeit sehr zu gute kommen werden - nur liegt dies alles eben in den Anfängen und erlaubt dem gewissenhaften Ästhetiker keine weitreichenden Schlüsse. Am ehesten entspricht noch die Musikwissenschaft unseren Bedürfnissen; jedenfalls bemüht man sich um "die scharfe und feste Zusammenfassung des konkreten technischen Körpers dieser Kunst mit ihrem innersten Guß und Empfindungsgehalt", wie FRIEDRICH THEODOR VISCHER einmal gesagt hat. Immerhin - ehe diese ganze Einzelarbeit nicht noch viel weiter gediehen ist, schweben die auf den gleichen Gegenstand bezogenen Vermutungen der allgemeinen Kunstwissenschaft in der Luft; daß sie künftig auf festem Boden stehen werden, das darf wohl gehofft, doch nicht mit unbedingter Gewißheit erwartet werden. Vorläufig stützt sich der Einzelne auf seine künstlerische Einsicht und auf jenen wissenschaftlichen Takt, der aus geringfügigen Vorarbeiten das Wesentliche herauszuspüren unternimmt. Aber mit all dem erreichen wir nur einen mittleren Grad an Wahrscheinlichkeit und verzichten auf die Sicherheit, die umso stärker beansprucht zu werden pflegt, je geringer die Kenntnis des in den genannten Disziplinen Geleisteten tatsächlich ist.

Die Völkerkunde nebst der vorgeschichtlichen Forschung hat viel Material zusammengetragen. Indessen auf unsere Hauptfragen kann sie bisher und vielleicht auch in alle Zukunft hinein keine eindeutige Antwort geben. Wir wollen beispielsweise wissen, ob die Kunst aus einer besonderen, eigentümlich beschaffenen Anlage des menschlichen Geisteslebens quillt oder die unentwickelte Form einer anderen geistigen Verrichtung bedeutet; wir verlangen Auskunft über die Beziehung der primitiven Kunst zu den übrigen Inhalten dieses Kulturkreises, um mit Hilfe der abweichenden Verhältnisse die bei uns vorliegende Verwicklung durchschauen zu können; wir wünschen die Buntheit der uns umgebenden künstlerischen Erscheinungen durch einen Rückgang auf urmenschliche Bedingungen vereinfacht zu sehen; wir hoffen, daß die wissenschaftliche Darstellung der primitiven Kunstleistungen über die Gefühl belehrt, aus denen sie entspringen und von denen sie begleitet werden; wir suchen dort nach dem instinktiven Ausdruck ästhetischer Bedürfnisse. Und all das, ja noch viel mehr bleibt vorläufig im Dunkeln, weil die Völkerkunde aus guten Gründen solchen Problemen nicht gewachsen ist. Dafür aber scheint mir ein Ergebnis festzustehen, das zur Vorsicht mahnt. Mehrere Eigenschaften des ästhetischen Lebens und der Kunst, die wir als dauernde, sachlich notwendige zu erklären bemüht sind, bedeuten in Wahrheit Überbleibsel aus ältesten Zeiten oder auch Anklänge an die geistige Welt der Naturvölker. Gleichwie Amulette und Talismane nicht von uns aus, sondern als Reste einer niederen Kultur verständlich werden, so auch z. B. einige "Gesetze" der Ornamentik. Selbst auf die Theorie der Einfühlung läßt sich dieser skeptische Gedanke ausdehnen.

Was die Philosophie betrifft, so wäre vorerst an die ihr einverleibte Geschichte der Ästhetik zu erinnern. Sie lehrt uns gleichfalls Bescheidenheit. Sätze, die unter ganz anderen Verhältnissen gewonnen wurden, sind maßgebend geblieben und lediglich in ihrer äußeren Gestalt verändert worden: der Kern so mancher Theorie steckt in arglos aufgegriffenen philosophischen Überlieferungen. Das ist mißlich. Denn wir sollen doch den nach Beschaffenheit und Ausdehnung inzwischen erneuten Tatbestand (mit Einschluß des hilfswissenschaftlichen) schildern und erklären. Wenn jemand die alte Lehre von der Einheit im Vielfältigen dazu benutzt, um vom Bildhauerwerk eine qualitative Einheitlichkeit des Materials zu fordern, so gerät er teils mit unserer heutigen Kunst in Konflikt, teils mit den Funden und Nachweisen der Archäologie. Und darüber hilft keine Umschreibung oder Namensänderung ehrwürdiger Formeln hinweg. - Wenden wir uns zur systematischen Philosophie. Sie kann als Lehre von den allgemeingültigen Werten freilich auch ästhetische Normen entwickeln; indessen über die Berechtigung und Tragweite einer solchen Wertlehre gehen die Meinungen augenblicklich auseinander. Sieht der Ästhetiker das Hauptstück der Philosophie in der Wissenschaftslehre, so hat er mit dem Kampf der erkenntnistheoretischen Richtungen zu rechnen. Versucht er, sich zu den letzten Fragen der Weltansich und Lebensauffassung zu erheben, so bleibt ihm das relative Recht jedes der verschiedenen Weltanschauungstypen im Bewußtsein. Mit einem Wort: da es weder einen umumstößlichen Begriff der Philosophie noch ein festes Verhältnis zwischen ihr und den übrigen Wissenschaften gibt, so vermag auch der stärkste Beistand, der der Ästhetik von dort her zuteil wird, den Skeptiker nicht zu entwaffnen. Ebensowenig kann ihn eine wirrenreiche und zerrissene Psychologie zum Aufgaben seines Standpunktes veranlassen. Soll er sich auf die Assoziations- oder Apperzeptionslehre stützen, soll er das Unbewußte anerkennen oder verwerfen, soll er zur physiologischen Begründung greifen oder in begrifflicher Abwägung das Heil suchen? Anhänger des Experiments spotten über jene, die die Natur der Seele zu kennen glauben, und werden doch selbst von anderen mißachtet, weil sie keine Philosophen und darum auch keine Psychologen sind.

An einem einfachen Beispiel möchte ich zeigen, wie wenig der Ästhetiker durch die Schulpsychologie unserer Tage gefördert wird, und zwar bei psychologisch-ästhetischen Fragen. Zugleich gehe ich damit zu jener Summe von Bedenken über, die als die intensive Mannigfaltigkeit der Erscheinungen selber bezeichnet wurde.

Der Betrachter eines Gemäldes nennt eine Farbe "unnatürlich". Um die ästhetische Bedeutung dieses Urteils zu ermessen, ist es nötig, daß man den ihm zugrunde liegenden seelischen Vorgang versteht. Anscheinend werden zwei gleichwertige seelische Gebilde miteinander verglichen, nämlich die vor Augen befindliche Farbe und das Erinnerungsbild der entsprechenden Naturdinge; der Mangel an Übereinstimmung drücke sich in dem Urteil "unnatürlich" aus. In Wahrheit verhält es sich anders. Kaum jemals ist die anschauliche Gedächtnisvorstellung so lebhaft und so im Einzelnen ausgeprägt, daß sie das eine Glied in der Vergleichung heißen dürfte. Ich maße mir an, die Naturgemäßheit oder Naturwidrigkeit einer Farbengebung beurteilen zu können; ich vermag auch Gesichtsbilder von Färbungen ziemlich leicht in mir hervorzurufen. Dennoch habe ich bei solchen Urteilen höchst selten einmal eine optische Vorstellung als Gegenstück zur Wahrnehmung beobachtet. Weit häufiger geht der Eindruck der Naturähnlichkeit darauf zurück, daß durch die künstlerische Darstellung dieselbe Wortassoziation hervorgerufen wird wie durch den Naturgegenstand. Kürzlich sah ich ein Schiff gemalt, das die See durchschneidet und dan den Seiten weiß-grünliches Wasser aufwirft. Indem ich zu mir sprach: "wie naturgetreu", bemerkte ich, daß das Wort "Gletscherwasser" in meinem Bewußtsein aufgetaucht war und gewissermaßen das bejahende ästhetische Urteil rechtfertigte. Dasselbe Wort war oft gebraucht worden, wenn wir vom Deck des Ozeandampfers herab in die Fluten blickten. Die Tatsache, daß es sich jetzt wieder einstellte, war die Unterlage des Urteils. Manchmal läßt sich dergleichen nicht nachweisen. Dann enthält das Bewußtsein bloß den absoluten Eindruck der Naturähnlichkeit oder Unähnlichkeit; etwa wie der mit absolutem Gehör begabte Musiker ohne alles beziehende Wissen am erklingenden Ton ein Kennzeichen findet, wodurch er sich sogleich als ein C oder D darstellt. Ebensowenig wie in diesem Fall der gehörte Ton mit einem vorgestellten verglichen und danach bestimmt wird, ebensowenig wird in unserem Beispiel die wirkliche Farbe mit einer vorgestellten verglichen und danach mit einem Wertprädikat versehen. Und schon überhaupt muß im Sinne eines Hin- und Herwanderns des apperzipierenden und entscheidenden Ichs als dem inneren Befund widerstreitend abgelehnt werden. Aber zu einer positiven und die Gesamtheit der Fälle umfassenden Erklärung ist die Psychologie noch nicht hinlänglich gerüstet. Der Ästhetiker wird von ihr im Stich gelassen, sobald er an die Frage herantritt, was in der Kunst Natürlichkeit bedeutet und in welchem Sinn sie ein Merkmal des guten Werkes ist.

Haben wir uns darüber verständigt, daß der Ästhetiker sich auf die Vulgärpsychologie nicht stützen darf und auf die wissenschaftliche Psychologie leider oft nicht stützen kann, so ist damit schon klar geworden, daß die Seelenvorgänge beim Genießen und Urteilen äußerst verwickelt sein müssen. Ihre intensive Mannigfaltigkeit bedeutet ein ernstes Hindernis für jeden Dogmatismus. In diesem Heft ist ein Aufsatz von VERNON LEE veröffentlich, der über die zahllosen Arten, wie man Musik genießen kann, einigen Aufschluß gibt. Dabei zeigt sich, um wieviel reicher und zerlegter der psychologische Vorgang ist, als von jeder bisher gewagten Theorie angenommen wurde. Selbst die beste unter ihnen ist im Grunde ein Laufstuhl für kleine Kinder: sie wird auf wenigen, persönlich gefärbten, oft rein zufälligen Erfahrungen aufgebaut und dementsprechend von guten Beobachtern anderer Erlebnisrichtungen verworfen oder gar nicht begriffen. So ähnlich hat sich aus L. MARTINs und RICHARD BÄRWALDs Untersuchungen über das Komische ergeben, daß die uns vertrauten Theorien lediglich bestimmte Tatsachen berücksichtigen und die übrigen, ebenso häufigen und berechtigten, beiseite lassen. Als Beispiel nenne ich ferner die Anschaulichkeit der dichterischen Darstellung. Für Mitteilungen im Verkehr und für wissenschaftliche Erörterungen (sofern sie von jedem künstlerischen Moment freigehalten werden) kommt es bloß darauf an, den Sinn oder Inhalt dessen, was gesagt werden soll, möglichst klar auszudrücken. Andere Ausdrucksformen, z. B. im Leben Zeichen von allerhand Art oder in der Wissenschaft Kurven, Formeln, Tabellen, können gleichwertig für Worte und Sätze eintreten. In der Poesie ist das nicht möglich. Denn was sie geben will, das ist eben ein Sprachkunstwerk; der Dichter, und er allein, weiß alles restlos ins Wort aufzulösen. Die Eigenart der Dichtung geht denen auf, die mit Bewußtsein Dinge, Vorgänge und Menschen innerhalb des Sprachlichen zu genießen vermögen. Darüber kann kaum ein Zweifel bestehen. Wohl jedoch über die nähere Beschaffenheit eines innerhalb der Sprachformen sich vollziehenden Erlebens. Daß der Dichter überhaupt zu einem einheitlichen Miterleben nötigt, bildet schlechthin die Voraussetzung; mit welchen technischen Hilfen er den Eindruck zustande bringt, ist eine unserem Problem nur lose angeknüpfte Frage. Die Hauptsache liegt im folgenden: Was bedeutet unmittelbar erleben durch das Mittel der Sprache, voll genießen durch die Teilwirklichkeit der Worte? Noch können wir es nicht sagen, zumindest nicht in einer gut durchgebildeten Theorie, die den stichhaltigen Beobachtungen gerecht wird, das Entscheidende aus der Fülle des Zufälligen heraushebt und mehr als eine nützliche Anregung ist.

In den meisten Fällen scheinen mir unsere Theorien der inneren Mannigfaltigkeit und Zartheit ästhetischer Erfahrungen nicht gewachsen.

3. Für mich selbst habe ich daraus das Ergebnis gezogen, daß eine weiteren Kreisen dienliche Darstellung auf die Entscheidung zwischen Theorien, die höchstens Gegenwartswert haben, verzichten soll und nur dort die eigene Deutung ausbreiten darf, wo entweder die Tatsachen fein genug durchforscht sind oder andere beachtenswerte Lehren überhaupt nicht vorliegen. Dagegen gibt mein Buch, seiner Bestimmung gemäß, über die extensive Mannigfaltigkeit der ästhetischen und künstlerischen Probleme eine ziemlich umfassende Auskunft; insofern ist es - wenn ich so sagen darf - Ausdruck einer enzyklopädischen Veranlagung. Die Einteilung des weitschichtigen Stoffes, der ich einen gewissen Wert beimesse, wird aus zwei Grundsätzen verständlich; beide entstammen dem Geist des Skeptizismus.

Einerseits sind die überlieferten Einheiten aufzuheben und durch eine Mehrheit von Tatbeständen und Begriffen zu ersetzen. Die entscheidende Zerlegung, die ich übrigens schon seit zwanzig Jahren vertrete (1), betrifft das Ganze des Gebietes; sie hat ja auch unserer Zeitschrift ihren Doppelnamen verschafft. Nach dieser Auffassung ist Ästhetik nicht Philosophie des Schönen und ist namentlich die allgemeine Wissenschaft von der Kunst nicht Ästhetik, weil über Dasein und Beschaffenheit aller Künste nicht der Geschmack entscheidet, sondern ein durch die Eigenart von Wirkungsmitteln bestimmtes Darstellungsvermögen (2). Geschmack oder ästhetisches Leben kann unabhängig von der Kunst bestehen; hinwiederum ist der Künstler mehr als ein geschmackvoller Mensch und die Welt der Künste mehr als eine Ansammlung ästhetischer Reize. Es fragt sich, ob der Einschnitt im Einzelnen überall an den passendsten Stellen vollzogen wurde. Nötig war er, denn die nivellierende Betrachtung hat so viel Schaden angerichtet, daß wir jetzt ganz entschieden auf das Trennende aufmerksam machen müssen. - Die Ästhetik im engeren Sinne hat besonders zwischen Gegenstand und Eindruck zu scheiden. Es war eine unerlaubte Vereinfachung, daß in den meisten Untersuchungen die Beschaffenheit des Gegenstandes unberücksichtigt blieb oder rundweg als Auslösungsmittel behandelt wurde. Sind die objektiven Vorgänge solche, die in der Zeit spielen, so darf nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden, daß der Verlauf unseres Genießens sich vollständig mit dem objektiven Lauf deckt. Das Verhältnis zwischen den beiden Seiten ist viel feiner gegliedert und reicher entwickelt, als wir gewöhnlich denken. - Solchen Differenzierungen stehen ähnliche in der allgemeinen Kunstwissenschaft zur Seite. Die Ontogenese und Phylogenese in der Kunstentwicklung müssen als verschieden erkannt werden; es ist einzusehen, daß plastische Behandlung sich nicht mit Statuenverfertigung, malerische Arbeit nicht mit Bilderherstellung, literarisches Interesse nicht mit dichterischer Tätigkeit ohne Rest deckt; die bildenden Künste sind aufzulösen in eine Raumkunst und in eine Bildkunst, die dramatische Kunst ist auf einen doppelten Ursprung zurückzuführen usw. Noch mehr Trennungen dürften notwendig werden, sobald wir das Reich der Künste in allen Verzweigungen durchforscht haben. Das Genie trifft vielleicht ohne Einzelkenntnis die Wahrheit. Wir anderen aber dürfen über künstlerische Aufgaben und Arbeitsweisen nicht reden, ohne bei Dichtern und Musikern, im Atelier und auf dem Schnürboden einigermaßen zuhause zu sein. Und ist jemand in dieses Meer von Tatsachen untergetaucht, so wird er sich jenen Lehrmeinungen versagen, die nur durch eine Verarmung des Stoffes, durch ein bequemes Simplifizieren möglich geworden sind.

Andererseits jedoch sind Grenzen aufzuheben, die üblich und trotzdem in der Sachlage nicht hinreichend begründet sind. So habe ich selber mich veranlaßt gesehen, durchgängig den Gegensatz des Quale und Quantum zu verflüssigen. Ich sagte mir etwa: Die Kunst als Inbegriff gewisser Werke habe wohl eine besondere Qualität, die sie von der übrigen Welt abhebt, allein sie kann in dieser Beziehung auch als ein anderer Aggregatzustand der Wirklichkeit oder als Intensitätsform einer bestimmten Stufe verstanden werden. Ich versuchte zu zeigen, wie das sogenannte absolute Quantum in seiner Veränderung Eindrücke hervorruft, die qualitativ verschieden zu nennen sind; ich gebrauchte den Begriff einer ästhetischen Schwelle und übertrug ihn auf innerlich so anders geartete Hauptbegriffe wie humoristisch und tragisch; und im gleichen Zusammenhang ergab sich der Gedanke, daß einige seltene künstlerische Leistungen über die geschichtliche Bedingtheit der meisten hinausragen mögen, da offenbar eine Stufenfolge von den Erzeugnissen des Tages emporführt bis zu wahrhaft unsterblichen Werken. Schließlich verleiht eine solche Betrachtungsweise naturgemäß allen Mittelgliedern einen erhöhten Wert, z. B. der Programmmusik oder der Graphik als der mit poetischem Einschlag versehenen Bildkunst.

Das fortgesetzte Zerlegen einerseits, das Verschleifen der Grenzen andererseits hat in Ursprung und Ziel eine Verwandtschaft mit dem Skeptizismus. Dem Ursprung nach, weil ein lebhafter Sinn für Vielfältigkeit und Unbestimmtheit hochkomplizierter Gebilde zur Skepsis neigt, dem Ziel nach, weil hier wir dort die Wahrheit in den Nuance gesucht wird. Diese Zielbestimmung widerspricht nicht der logischen Forderung: das Seiende und das Erleben müßten durchweg eindeutig, in allen Gestaltungen völlig bestimmt sein; vielmehr bleibt sie nur etwas früher stehen und zwar im Bereich dessen, was den Geisteswissenschaften möglich ist. Gilt doch auch der Satz der Identität dem Skeptiker als eine ideale Anforderung an das Denken, die von der - den Theorien zugrunde zu legenden - Wirklichkeit niemals mit Strenge erfüllt wird. Wir wollen diesen Sachverhalt näher ins Auge fassen und in seiner Anwendbarkeit auf das ästhetische Gebiet prüfen.

Der Satz der Identität bewährt sich erfahrungsgemäß in dem Umfang, daß zwar bei jedem Denkinhalt mehrere Vollziehungsmöglichkeiten zugelassen, aber unvergleichlich viel mehr Vorstellungen ausgeschlossen sind: ich kann Konkreta und Abstrakta in verschiedenen Formen erleben, doch nicht in beliebigen und zahllosen. Die Einerleiheit einer seelischen Erscheinung mit sich selber - ihre Unabhängigkeit von der Zeit und der Umgebung, in der sie erlebt wird, sowie von der erlebenden Person - ist eher negativ als positiv zu bestimmen. Immerhin bleibt es fraglich, ob selbst diese eingeschränkte Bestimmbarkeit unseren ästhetischen Erfahrungen zukommt. Mir scheint, man könne unter einer einzigen Auffassung bejahend antworten. Ich setze voraus, daß die ästhetischen Gegenstände unmittelbar durch gewisse objektive Eigenschaften gefallen, außerdem mittelbar durch ihre Stellung zum Ganzen der wirklichen Welt und im Zusammenhang der gleichartigen ästhetischen Gegenstände (oder Kunstwerke), endlich durch die sich ihnen anschließenden persönlichen Erfahrungen und Stimmungen des genießenden Subjekts. Nun gibt es schon bei der Einordnung in einen übergreifenden Zusammenhang, noch deutlicher bei den Urteilen und Gefühlen, die aus individuell bedingten Vorstellungsreproduktionen stammen, keine Gleichheit der seelischen Inhalte zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Menschen. Aber die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes verbietet die Beziehung auf sehr viel mehr Zusammenhänge, Zwecke und dgl., ja sie macht regelmäßig die Angliederung entgegengesetzter Stimmungen unmöglich. Was im sachlichen Zusammenhang mit dem Objekt ästhetisch erlebt wird, liegt also zwischen gewissen Grenzen und nähert sich der Identität im besprochenen Sinn. Demnach läßt sich der Eindruck, der von einem Gegenstand mit angebbaren Eigenschaften ausgeht, als eine hinlänglich feste Größe behandeln.

Kunstbetrachtung und -kritik mögen bei diesem Ergebnis stehen bleiben; ihren Absichten genügt es, daß sie in jedem einzelnen Fall eine leidlich gleichförmige Wirkung des voll aufgefaßten Objekts annehmen dürfen. Die Ästhetik indessen will die Wirkung im allgemeinen, daher - nach unserer Ableitung - das Kennzeichen des ästhetischen Gegenstandes überhaupt untersuchen. Und hier versagt die Theorie. Denn von keinem Merkmal eines Dings kann behauptet werden: dieses Merkmal und dieses allein ist die Quelle der ästhetischen Freude.

Selbst wer mit dem skeptischen Urteil über unsere jetzigen Kenntnisse einverstanden ist, mag es mildern wollen durch den Hinweis auf die gleiche Sachlage in Wissenschaften größter Genauigkeit und Fruchtbarkeit. Besitzen etwa die chemischen Stoffe ein zu ihrer Kennzeichnung durchweg geeignetes Merkmal? Das Verbindungsgewicht, an das vornehmlich zu denken wäre, ist für die große Mehrzahl der Stoffe, nämlich für die Verbindungen, keineswegs charakteristisch, und auch für die Elemente im Grunde nicht, da sehr wohl einmal zwei Elemente mit genau demselben Verbindungsgewicht gefunden werden können (Kobalt und Nickel haben fast das gleiche). Trotzdem bestehen die eingreifendsten Unterschiede, auch in dieser Beziehung, zwischen chemischen und ästhetischen Erscheinungen. Der Chemiker kennt zumindest eine Eigenschaft seiner Stoffe, die zufällig und nebensächlich ist: die Masse, das Mehr oder Weniger. Wir jedoch dürfen bei jedem Merkmal vermuten, daß es eine Bedeutung hat. Dort gibt es Reaktionen, durch die Natur der Gegenstände geklärt wird - hier gibt es die einzige Reaktion des Subjekts, und mit ihr beginnen erst recht die Schwierigkeiten. Dort werden nach Ausschaltung störender Nebenerscheinungen die genauesten Bestimmungen und die vollkommensten Gesetzmäßigkeiten einst erreicht werden können - bei uns ist dergleichen nicht zu erwarten. Vielmehr liegt es so: Der Anschein einer befriedigenden wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit entsteht namentlich durch eine künstliche Verengung des Gebietes, das der Ästhetiker zu bearbeiten hat. Daran zu erinnern war die Absicht unserer letzten Betrachtungen. Nun sind die Folgen zu erwägen.

4. Die intensive und extensive Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verbietet die Anwendung eines einzigen Verfahrens und erschwert die Bildung eines Systems.

Wenn Philosophen an der Arbeit anderer Wissenschaften mit methodologischen Erörterungen teilnehmen, so pflegen das die Fachmänner nicht gern zu sehen: sie tadeln das unberufene Hineinreden von Leuten, die nicht hinlänglich Bescheid wissen, und nennen uns die unverbesserlichen, ja berufsmäßigen Dilettanten. Dieses Urteil ist von arger Einseitigkeit; doch mag das auf sich beruhen. Leider aber entspringt aus der Vorliebe eine verhängnisvolle Überschätzung der methodologischen Probleme. Die Meinung setzt sich bei Philosophen fest, daß von der reinlichen Lösung dieser Probleme das Schicksal jeder Wissenschaft abhängt; erst muß der Forscher Klarheit über die Verfahrensweise erlangen, ehe er mit Erfolg untersuchen kann. Ich sollte denken, daß, wer in der Geschichte der Wissenschaften einigermaßen zuhause ist, in ihr zahllose Gegenbeweise findet. Wartet man mit der Arbeit, bis alle Streitfragen über das beste Verfahren erledigt sind, so kommt man überhaupt nicht vorwärts. Der angedeutete Rat scheint so einleuchtend wie die Vorschrift an das Schulkind: erst fertig zu denken, bevor es mit dem Sprechen beginnt, oder wie die Forderung an den Künstler: nicht eher mit der Ausführung anzufangen, als bis der Plan im Einzelnen fertiggestellt ist. Aber er ist deshalb verkehrt, weil die Fortschritte der Methode, soweit sie eben über allgemeines Reden hinausgehen, in der lebendigen Wechselwirkung mit der Einzelarbeit gewonnen werden; auch das Denken gestaltet und vollendet sich beim Sprechen, auch die künstlerische Absicht entwickelt sich zugleich mit der Ausführung.

In der Ästhetik müssen wir ebenfalls die meist unfruchtbaren Auslassungen über Methodenfragen und das billige Aufstellen von Programmen auf seinen bescheidenen Wirkungskreis eindämmen. Untersuchungen über die allgemeinsten Bedingungen wissenschaftlicher Tätigkeit und über so tiefgreifende Unterschiede wie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften tragen ihren Wert in sich selber. Nützlich sind Erörterungen über das zweckmäßige Vorgehen zur Lösung ganz bestimmter Aufgaben, z. B. bei experimentellen Untersuchungen über die ästhetische Wirkung einfacher Raumformen. Betrachtungen jedoch, die sozusagen in der Mitte stehen, die einer besonderen Wissenschaft, aber ihr in ihrer Ganzheit gelten, haben vielleicht in sich einen abstrakten Wert, können jedoch die positive Arbeit äußerst selten ihren Zielbestimmungen unterwerfen. Was z. B. ein Vertreter der Wertästhetik in dieser Zeitschrift über die Anschaulichkeit der dichterischen Sprache ausgeführt hat, das hätte fast wörtlich auch von einem Anhänger der psychologischen Ästhetik gesagt werden können. Der Verfasser behauptet zwar in einer verschämten Anmerkung einen Zusammenhang seiner Wertbegriffe mit diesen besonderen Darlegungen, aber er führt ihn nicht durch, macht ihn nicht deutlich; und das eben wäre die Aufgabe (an deren Lösbarkeit ich übrigens solange zweifle, bis sie wirklich einmal gelöst sein sollte): die maßgebende Definition des ganzen Unternehmens bis ins Einzelnste hinabzuleiten.

Hat der Ästhetiker sich von der Überschätzung methodologischer Streitigkeiten frei gemacht, so wird er auch nicht mehr glauben, daß mit einem einzigen Verfahren alles zu erledigen ist. Die Methoden wechseln vielmehr je nach der Natur der wissenschaftlichen Aufgabe. Das Gefallen an Formverhältnissen ist experimentell-psychologisch zu untersuchen, das Schaffen des Künstlers verlangt gleichfalls eine psychologische Behandlung, aber eine ganz andere. Den Ursprung der Kunst erforscht eine vergleichende Methode, die in besonderer Art auch zur Feststellung der Hauptmerkmale von Einzelkünsten gebraucht wird usw. Kurz: aus den verschiedenen Gegenständen, die in unserer Wissenschaft vereinigt sind, entspringen mit Notwendigkeit verschiedene Methoden. Nun läßt es sich der Philosoph freilich nicht nehmen, das Vorhandensein des ästhetischen Lebens und der Kunst mit letzten Prinzipien in Verbindung zu setzen; doch wird er sich nicht einbilden dürfen, daß das dabei befolgte Verfahren entscheidend ist für die wissenschaftliche Aufhellung etwa der metrischen Formen und ihres Wertes. Nebenbei bemerkt: Der Skeptiker braucht Fragen der Weltanschauung nicht auszuweichen, denn er kann eine Mindestmaß metaphysischer Betrachtungen für fruchtbar halten, im Sinne eines persönlich gefärbten Versuchs.

So wenig, wie es in neuester Zeit geglückt ist, den gesamten Stoff der Ästhetik und allgemeinen Kunstwissenschaft durch ein einziges Verfahren zu bewältigen, ebensowenig ist bisher ein System vollendet worden, das diesen Namen im strengen Sinn des Wortes verdient. Das letzte war entworfen durch HEGEL und die ihm folgten; lebendig geblieben sind davon übrigens nur Einzelheiten. Hier wurden alle Bestimmungen des Schönen und alle Erscheinungen der Kunst in eine zusammenhängende Ordnung gebracht, die unter den Voraussetzungen des dialektischen Denkens als notwendig erscheint. Den anderen Unternehmungen fehlt entweder der Rahmen einer alles Seiende umspannenden Philosophie oder das Gliederungsprinzip einer stets verwendbaren Methode; und für sich ist überhaupt kein wahrhaftes System der Ästhetik möglich: was sich dafür ausgibt, das schwebt an unbewiesenen Voraussetzungen oder gebraucht den Namen "System" in einer freieren, aber statthaften Verwendung des Wortes. Ein System, wie wir es wünschen, wird sich erst aus der Verbindung aller Einzelforschungen entwickeln und wird gerade in seinen allgemeinen Erörterungen von zwei Bedingungen abhängig sein: einmal davon, daß viele Tatbestände vorliegen und die sie erklärenden Theorien eine gewisse Höhe erreicht haben, alsdann davon, daß diese Dinge dem Systematiker - bekannt sind.

Der Anschein eines ausreichenden und geschlossenen Systems bildet sich freilich auch auf andere Art. Heutzutage namentlich in folgender Weise: teils imponiert eine bestimmte Technik der Darstellung als Systematik, teils gilt die Durchführung eines einzigen Erklärungsgrundsatzes dafür. Meines Erachtens zu Unrecht.

Eine Darstellungstechnik, die einen systematischen Zusammenhang vortäuscht, gefällt sich in Unterordnungen und Übergängen. Jene sind aber nur dann ein Zeichen wirklicher Systematik, wenn das Begriffsverhältnis genau festgelegt ist, diese nur dann, wenn eine stetige Ableitung erfolgt. Deshalb darf die bloße Form nicht für die Sache selbst genommen werden; das Äußere des wissenschaftlichen Handwerks, das sich so leicht erlernen läßt, verbürgt noch keineswegs die innere Verbindung der Gedanken nach den beiden wesentlichen Gesichtspunkten, nämlich denen des Aufbaus und der Entwicklung. Indem das Schema, das alle Gelehrte für gewisse Aufgaben und unter gewissen Umständen benutzen, mit dem Geist der Sache verwechselt wird, schwindet der Sinn für Feinheit und Reichtum freierer Gestaltungen. Können nicht auch wissenschaftliche Werke eine "heimliche Form" besitzen? Da mag eine Darlegung in der Mitte abgebrochen, es mag ohne sichtbaren Übergang von einem Gegenstand zum anderen gesprungen, es mag eine Episode eingeschaltet werden - trotzdem kann ein fester Zusammenhang walten und die Linie des Gedankens fortrücken. Die Form- und Gelenklosigkeit mancher wissenschaftlicher Bücher ist nicht ohne weiteres ein Fehler. Nur darf die Launenhaftigkeit der einen, die Kreisbewegung der anderen nicht in eine breite, graue Redeseligkeit ausarten. Wenn es heute üblich wird, sich gegen jede theoretische Möglichkeit in eine muskelstarke Kämpferstellung zu werfen, dem Leser nichts zu überlassen, sondern ihn zugleich mit der Sache zu erschöpfen, so macht das eher den Eindruck der Schwatzhaftigkeit als den der Gründlichkeit. Und dieser Eindruck bekommt leicht einen Stich ins Lächerliche, weil die Autoren sich und ihre Meinung für so grenzenlos wichtig halten; daher drängen sie dem Leser ihre Ansicht als bedeutungsvolle Erkenntnis auf, unterstreichen und betonen nach Kräften und verlernen die köstliche Kunst des Andeutens. Wir haben in unserem Schrifttum vor allen Dingen Zurückhaltung, Genauigkeit und Kürze nötig. Diese Eigenschaften führen zu der ebenfalls recht notwendigen Pflege des Stils. In unseren Kreisen scheint das Wort: Ästhetik bedeute nicht schön schreiben, sondern über das Schöne schreiben, abschreckend gewirkt zu haben, obwohl es lediglich ein frostiger Schulwitz ist. Eine kümmerliche Behandlung des Wortes indessen bedingt schließlich eine Vernachlässigung gedanklicher Feinheiten; die rohe und durchschnittliche Ausdrucksweise wirkt schädigend zurück auf die Fülle und Biegsamkeit der Gedankenbildung.

Ferner also bietet das Durchführen eines einzigen Erklärungsgrundsatzes ansich noch keine Gewähr für eine restlose Lösung der Aufgabe. Die unendliche Anzahl und Verschiedenartigkeit der Erscheinungen, für die dasselbe Prinzip gelten soll, wird allzuoft zugunsten des Prinzips verstümmelt. Natürlich: man kann die Gestalt des Menschen ins Einheitliche abrunden, indem man ihm Arme und Beine ausreißt. Aber das bekommt ihm schlecht. Im Grunde genommen sind doch die Tatsachen nicht dazu da, daß wir sie zum Spielball unserer Konsequenzenmacherei herabwürdigen. Nachdem ich einst in längeren Ausführungen gezeigt habe, wie Nahe Wissenschaft mit Herrschaft verwandt ist, muß ich mich jetzt auf die Seite der beherrschten Dinge stellen und ihr Recht vertreten. Niemand leugnet den propädeutischen [vorwissenschaftlichen - wp] Nutzen, noch weniger den Reiz des Unternehmens, in Sachen der Ästhetik und Kunsttheorie eine Ansicht oder Beleuchtung ausschließlich zur Geltung zu bringen. Jeder indessen sollte gleichzeitig Ehrfurcht verspüren vor dem was ist, sollte sich darauf besinnen, daß der Zweck seiner Arbeit nicht in der Schaustellung von Rücksichtslosigkeit, selbst nicht von Scharfsinn besteht. System meint eine natürliche Entfaltung von innen heraus. Dem widerstreitet das Verfahren, eine von anderswo her gegebene Theorie, etwa die sensualistische Gefühlstheorie, den Erscheinungen unseres Gebietes aufzupressen. Der Eindruck, daß die beim ästhetischen Genießen vorkommenden Muskeltätigkeiten und Organempfindungen die Entscheidung haben sollen, wird auch nur erweckt, indem der wichtige Vorgang der Vereinheitlichung allzu rasch und einseitig auf sie zurückgeführt wird. In Wahrheit wissen wir über das Zusammenfassen weniges mit Bestimmtheit, noch weniger über seine Gesetze. Wir können wohl sehen, daß der ästhetische Genuß verloren geht, sobald man die Bestandteile des Gegenstandes einzeln auffaßt, ungefähr so wie der Sinn der Zahl 12000 zerstört ist, wenn man die Ziffern einzeln auffaßt. Auch vermögen wir die Vereinheitlichung in ihrer Wirksamkeit noch weiter zu beobachten. Wenn in einem Bild ein die Aufmerksamkeit sofort fesselnder Bestandteil nicht in der Mitte steht, und dennoch die durch ihn hergestellten Teile des Bildes als gleich erscheinen, so liegt das daran, daß wir jenen Bestandteil ebenso leicht und sicher mit dem einen wir mit dem anderen Bildteil synthetisch aufzufassen imstande und geneigt sind. Doch worauf das beruth, ist bisher meines Erachtens nicht ermittelt worden. Die Lehre, solche schon bei einfachsten Empfindungsverhältnissen vorkommenden Einheitsbildungen seien das Werk des Muskelsinns, bleibt bedenklich; jedenfalls bedeutet sie nicht ein System der Ästhetik.

Schließlich ist noch zu erwägen, daß vielfach dieselben Beziehungen, die als Werkzeug der Einheit gelten können, sich im Sinne einer Teilung, Gliederung, Belebung des Ganzen verstehen lassen. Hierin klingt eine Grundschwierigkeit des Denkens nach, die am lautesten aus der kantischen Wissenschaftslehre hervortönt. KANTs Apriori ist ein Inbegriff von Synthesen, Reihungsprinzipien, Verknüpfungsmöglichkeiten; Seele bedeutet ihm nicht Substanz, sondern eine tatsächlich geteilte Kraft, Ordnung herzustellen. Aber diese Vereinheitlichung ist doch zugleich eine scharfe Grenzsetzung und Zerlegung, ein Abscheiden der Bestandteile voneinander, damit einige in einen Verband zusammengefaßt werden. Ja, vielleicht ist KANTs innerste Neigung dieser Seite zugewandt gewesen, denn er, der Verkünder der synthetischen Kraft des Geistes, war doch im Grunde ein analytisches Genie. Mithin zeigt sich schon an der Wurzel, daß Zusammenfassung und Trennung, Einheit und Mannigfaltigkeit ineinander verweben, oder daß dieselbe Maßnahme des Geistes als ein Verbinden und als ein Auflösen angesehen werden kann.

Die Erinnerung daran, wie Tatsachen des Bewußtseins möglicherweise in apriorischen Bedingungen verankert sind, legt eine Betrachtung nahe über die rein philosophische Ästhetik. Gehen wir wiederum von der Psychologie aus. Nach einer sehr verbreiteten Anschauung gibt es in der Seele nur Inhalte, sind also alle Erlebnisse, auch die verwickeltsten, schließlich auf einfache Inhalte (Empfindungen) zurückzuführen; nach einer anderen Theorie gibt es nur Tätigkeiten, die meist für Bekundungen des Ich erklärt und im Ich zusammengefaßt werden. Mir scheint es ratsamer, ein einheitliches seelisches Sein und zwei Klassen von Eigenschaften anzusetzen; diese bezeichne ich als Zustandseigenschaften und Vorgangseigenschaften und verstehe unter dem ersten Ausdruck zunächst dasjenige, was man ohne Rückgang auf ein einheitliches Wesen die seelischen Inhalte zu nennen pflegt, unter dem zweiten Ausdruck die seelischen Akte. Nun aber frage ich: ist mit dem Wahrnehmen und Vorstellen, Fühlen und Wollen und allem Ähnlichen die Summe der Vorgangseigenschaften erschöpft? Der Kantianer antwortet: nein. Er nimmt, kurz gesagt, als Prius der Erfahrung gewisse formgebende Vorgänge an, Funktionen, die die gemeinsame Ordnung der Sinneswelt und andere Tatsachen der Erfahrung erklären. Ferner frage ich: Ist mit den Farben und Tönen und all dem Ähnlichen die Simme der Zustandseigenschaften erschöpft? Der Platoniker antwortet: nein. Denn er erkennt in Begriffen etwa und Werten mehr als bloße Sachvorstellungen, aber auch anderes als zusammenfassende Funktionen. Was heutzutage Objektiv oder Gebilde oder Sachverhalt heißt (und worunter auch die Werte nebst Mittel und Zweck gehören), was ich in meinem Buch als objektiven Geist beschrieben habe, das Feste und Überindividuelle im Geistigen also, dies wäre die höchste und feinste Potenz der in der Seele möglichen Zustände.

Demnach hätte die philosophische Behandlung der Ästhetik, wenn sie im Sinne des Idealismus erfolgt, mehrere Aufgaben zu lösen. Als kritischer Idealismus müßte sie die apriorischen Geltungsgesetze des ästhetischen Denkens ermitteln. Liegt der Kunst - die wie der Religion, Wissenschaft und Moral - eine Vernunftnotwendigkeit zugrunde, so läßt diese sich sowohl in ihrer Besonderheit erfassen als auch im Zusammenhang mit den übrigen Richtungen des Apriori verstehen; der Erfolg einer solchen erkenntnistheoretischen Untersuchung wäre einmal der, daß mit den kritischen Lehren über religiöse (wissenschaftliche, moralische) Ideenbildung Übereinstimmung erzielt und ihnen eine Ergänzung geschaffen wird, und zum anderen der, daß die gewonnene Norm als Maßstab für die Erscheinungen des ästhetischen und künstlerischen Lebens benutzt werden kann. Vom Standpunkt eines platonisierenden Idealismus aus wäre der Gegenstand des ästhetischen Urteils zu den Gebilden des objektiven Geistes zu zählen. Diese Auffassung schließt mancherlei in sich. Sie bedeutet erstens, daß der Gegenstand des ästhetischen Fühlens nicht nur ein eigenartiger Erscheinungszusammenhang, sondern etwas ist, das unter allgemeine Begriffe fällt; zweitens, daß seine Gegenständlichkeit sich niemals in der persönlichen und augenblicklichen Bewußtseinslage des Genießenden erschöpft; drittens, daß eben deshalb das ästhetische Objekt für alle Menschen der Absicht oder dem Ideal nach dasselbe ist; viertens, daß sein Wert durch keine psychologische Zergliederung eines Sondererlebens, durch keine geschichtliche Tatsache, durch keine entwicklungsmäßige Ableitung bewiesen werden kann, vielmehr lediglich in einer unmittelbaren Gewißheit höherer Ordnung begründet ist.

Wenn die idealistische Philosophie des ästhetischen Seins und der Kunst hiermit richtig umschrieben sein sollte, so leuchtet ein, welche Schwierigkeiten es bietet, einen natürlichen Übergang zur Fülle und Buntheit des Gegebenen zu finden. Die übliche Verwendung empirischer und psychologischer Gesichtspunkte scheint mir fehlt am Platze. Beispielsweise hat man bei der Abgrenzung des Ästhetischen vom Angenehmen die als Forderung auftretende Allgemeingültigkeit des Ästhetischen mit der Erfahrungstatsache belegen wollen, daß der Einzelne sich zum Genuß vorher verschmähter Werke erziehen, sich in die anfangs so wunderlich erscheinenden Erzeugnisse fremder Völker und ferner Zeiten einleben kann. Aber das eine hat mit dem anderen schlechterdings nichts zu tun; und außerdem wird - was ich beiläufig hinzufüge - etwas Falsches behauptet, da jene Möglichkeit der Erweiterung auch beim bloß Angenehmen besteht: beim Essen und Trinken, ja, bei allen groben Genüssen. Der entscheidende Punkt bleibt immer der, ob es gelingt, von abstrakten Philosophemen aus den Reichtum der Erscheinungen aufzuschließen und die bedeutsamen Widersprüche ohne Verlust an Tatsachen zu beseitigen. Ist das nicht der Fall, so muß zumindest der Glaube an philosophische Systeme der Ästhetik aufgegeben und die teils vor, teils hinter der Erfahrungsästhetik liegende begriffliche Spekulation als ganz für sich stehend betrachtet werden. Die platonisierenden Philosophen der Gegenwart, deren es fast schon mehr gibt als strenggläubige Kantianer, sollten dessen eingedenk sein, daß PLATO selbst in späteren Jahren von seiner Zuversicht eingebüßt und sich mit wahrscheinlichen Ergebnissen der Beobachtung und Einteilung begnügt hat.

Wer vom Leben oder von der Kunst zur ästhetischen Wissenschaft kommt, der hofft auf eine reinliche und runde Wahrheit. Er muß enttäuscht werden, denn er findet mehr Aufgaben als Aufschlüsse. An den wichtigsten Stellen trifft er auf logisch Unvereinbares. Dürfen wir ihn mit Dogmen betrügen?
    "Weil nichts, was uns in der Erfahrung erscheint, absolut angesprochen und ausgesprochen werden kann, sondern immer noch eine limitierende Bedingung mit sich führt, so daß wir Schwarz nicht Schwarz, Weiß nicht weiß nennen dürften, insofern es in der Erfahrung vor uns steht: so hat auch jeder Versuch, er sei wie er will und zeige was er will, gleichsam einen heimlichen Feind bei sich, der dasjenige, was der Versuch a potiori [der Hauptsache nach - wp] ausspricht, begrenzt und unsicher macht. Dies ist die Ursache, warum man im Lehren, ja sogar im Unterrichten nicht weit kommt; bloß der Handelnde, der Künstler entscheidet, der das Rechte ergreift und fruchtbar zu machen weiß." (Goethe)

LITERATUR Max Dessoir, Skeptizismus in der Ästhetik, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 2, Stuttgart 1907
    Anmerkungen
    1) vgl. Bayreuther Blätter XIV, 4.
    2) Man vergleiche hingegen die Ansicht, daß die gleiche Bezeichnung Künstler nicht gerechtfertigt sei durch "eine gemeinsame Art der Arbeit", sondern aus einer "Ähnlichkeit der Beurteilung, welcher die Produkte jener Berufsarten unterliegen". (JONAS COHN, Allgemeine Ästhetik)