ra-3R. HamerlingDubois-ReymondE. LaskerM. VerwornH. Spencer    
 
RICHARD WAHLE
Das Ganze der Philosophie
und ihr Ende

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"Alle anderen Wissenschaften können auf neue belehrende Tatsachen hoffen, die Philosophie allein hat seit den ersten Denkversuchen ihr Material komplett. Ob noch hundert neue chemische Elemente oder ein Urelement, neue Sterne, Leitungsbahnen im Gehirn, neue Agentien entdeckt würden, man wird nichts Neues über die allgemeinen Elemente der Welt finden, keine Bewegung etwa, die Ruhe wäre, keine Bereicherung des Inhalts metaphysischer Begriffe, wie Materie, Kraft oder Verursachung. Und diese Metaphysik die immer hätte fertig sein können, ist noch immer nicht fertig."

"An der Hoffnung ist nichts Weises. Wenn die Chancen für den Eintritt des günstigen und ungünstigen Falles gleich sind, ist wohl das Überwiegen der freundlichen Zukunftsbilder erklärlich, aber korrekt und für die Seelenruhe am besten wäre die Suspendierung der bezüglichen Gedanken. Daß aber die Menschen, gar wenn die Chancen schlecht stehen, das Gute hoffen, ist eine Selbsttäuschung, die zwar vom Trieb der Selbsterhaltung fein erfunden ist, aber eine unsinnige Schwäche bleibt. Diejenigen muß man loben, die im Unglück auf Hoffnung verzichten können."


Vorwort

1. Wissenschaft und Technik sind im rastlosen, glücklichen und vielbewunderten Mehren ihrer Kulturschätze begriffen, und daneben nimmt sich das Treiben der Philosophie gar so traurig aus, die, noch immer reich an Prätensionen [Wichtigtuereien - wp], aber arm an Erfolgen, an Achtung und Anhang, in einem Chaos zerschellter Hoffnungen wandelt. Während ringsum auf festem Boden die Geister fröhlich blühen und Früchte tragen, erscheint die Philosophie wie ein Wesen das auf eine Eisscholle gebannt ist, die der Auflösung in warmen Meeren entgegentreibt. Dieses Buch möchte der Philosophie in ihrer zu entdeckenden wahren Gestalt eine rettende Insel sein, wo sie eine bescheidene, aber unzerstörbare Heimstätte finden könnte.

2. Es kann nicht unrecht sein, der uralten Philosophie, die aber nicht ewig jung, sondern ewig schwächlich war, ein Ende bereiten zu wollen - keine Ende mit Schrecken, sondern eine sanfte Liquidation, in der Haltbares dauernd und unveränderlich für Wissenschaft und Lebensauffassung nutzbar gemacht wird.

Wer da meint, aus dem häufigen geringschätzigen Reden über sie, aus der relativ geringen Zahl neu erscheinender Werke in ihrem Gebiet schließen zu dürfen, daß sie, trotz ihrer Universitätslehrstühle, von der Welt verschwunden sei, und auch keines Leichenredners mehr bedürfe, der hätte übersehen, daß sie in der Theologie willkommen erscheint, daß sie im unzüchtiggen Gewand des Pessimismus, ausstaffiert mit naturwissenschaftlichen Prachtstücken, gar nicht unbeliebt ist, und daß sie in unzähligen gebildeten und ungebildeten Geistern ein wunderliches Wesen treibt. Meint man aber andererseits, sie sei, wenn auch nicht von solider Beschaffenheit, doch unentbehrlich wie die unfaßbare Luft, sie müsse in irgendeiner Form im einzelnen Individuum und in großen Zeitperioden doch immer wieder auftauchen, man müsse sie durchgemacht haben wie Kinderkrankheiten, so gebührt es sich, daß dagegen die Philosophie selbst protestiere, in Erinnerung daran, daß sie nichts als eine feste, stete und solide Erkenntnis sein will. Das müßte sie als tödlichen Vorwurf empfinden, daß sie nichts anderes sei als ein immer und überall wandelbares Produkt unreifer Geistesentwicklung. Auf die Macht freilich wird sie nicht so bald hoffen dürfen, daß ihr wahres Bild in den Köpfen all derer, die sich um sie bemühen, gleichmäßig sicher ruhe, aber sie muß doch streben, ihr klares, unzweideutig bestimmtes Wesen endgültig zu fixieren. So muß sich ja auch die Liebe gefallen lassen, daß sie hier und dort mit Verliebtsein und schwüler Leidenschaft verwechselt wird. Aber sie ist in ihrer drängenden Sehnsucht, ihrer Opferfreudigkeit, in ihrer völligen Erfüllung und Beglückung des Geistes, in ihrer ungefährdeten Dauer nur  eine  und einzig, eine Kraft, die alles verschönt, um schöner zu sein als alles. Wenn die Philosophie auch nichts so Großes, Herrliches ist, so ist sie doch etwas gleich Klares, Lauteres und Einziges und braucht sich nicht damit zu bescheiden, als Gegenstand beliebigen und vergänglichen Sportes zu dienen.

Sie ist auch nicht vergangen, so wie sie gewiß auch in denen, die ihre Existenz leugnen, ein verborgenes Dasein führt. Je näher einer herantritt, um sie zu schmähen, desto mehr wird er von ihr bestrickt. enn man über sie nicht zur Klarheit gekommen ist, wird auch die Theologie, die Physik, die Sinnesphysiologie und Pädagogik nicht ganz im Reinen sein.

Muß sie denn  bleiben, was  sie ist - das absonderliche Ding, das immer an unverdaulichem Zeug wiederkaut, entweder von dem spricht, was es nicht weiß, oder davon spricht, daß es nichts weiß? Scham und Trauer erfüllen einen, wenn man von anderen Wissenschaften und deren Betrieb auf ihren prekären Zustand blickt, und erregen den innigsten Wunsch, sie zur Gesunden und und  permanenten Stabilisierung  ihrer Natur zu führen. Schönes und Gediegenes hat ja auch die Gegenwart inder Philosophie hervorgebracht, vieles Richtige ist ja gesagt worden, aber solange auch noch Falsches aus einem Standpunkt erwächst, kann er nicht völlig unverdorben sein. In allen Forschungen beugen sich schließlich die widerstrebenden Autoritäten einer gesicherten Wahrheit; muß nur die Philosophie so geartet bleiben, daß in ihr jeder, dem für eine alte Sache ein neues Wort einfällt, das Gerde von frischem beginnen darf? Man muß sich gewöhnen, eiserne Kriterien für die Zulässigkeit einer Behauptung zu verlangen, und das Bedürfnis nach einer Verfestigung der Philosophie muß so stark werden, daß man Verachtung für all die laut werdenden Meinungen hat, die sich als freies Phantasieren und rednerische Ummodelung von Altbekanntem für Philosophie ausgeben!

3. Wohl; der Gesamteindruck, den sie immer noch bietet, ist wenig erfreulich! Welch unendliches Mißverhältnis zwischen den Zielen und dem Erreichten! Ob ein Gott sei und eine unsterbliche Seele fragen Millionen; der Philosoph antwortet, er wisse es nicht. Wozu philosophiert er dann? Wenn aber einer aufgrund ältester Argumente Gott und Unsterblichkeit behauptet, so ist diese Lehrmeinung für ihn selbst so ohne alle Konsequenzen und er bleibt so in Selbstsucht, kleinlichem Treiben und irdischer Furcht befangen, daß aller Welt die Hohlheit seiner vermeintlich errungenen Begriffe klar wird. Alle anderen Wissenschaften können ja auf neue belehrende Tatsachen hoffen, die Philosophie allein hat seit den ersten Denkversuchen ihr Material komplett. Ob noch hundert neue chemische Elemente oder ein Urelement, neue Sterne, Leitungsbahnen im Gehirn, neue Agentien entdeckt würden, man wird nichts Neues über die allgemeinen Elemente der Welt finden, keine Bewegung etwa, die Ruhe wäre, keine Bereicherung des Inhalts metaphysischer Begriffe, wie Materie, Kraft oder Verursachung. Und diese Metaphysik die immer hätte fertig sein können, ist noch immer nicht fertig.

Die Psychologie aber gefällt sich entweder in einem Gegensatz zu physiologischen Anschauungen und treibt dann eine bunte Fülle lächerlichster unwirklicher, erfundener Unterscheidungen hervor, oder sie wieg sich in dem Glauben, in der physiologischen Psychologie einer neuen Blüte entgegenzugehen, während man doch einsehen müßte, daß sie auf diesem Weg zugunsten der Sinnesphysiologie abdankt. Mit dem Ruf nach psychologischen Laboratorien sind- wenn auch nicht unnütz - doch nur von Physiologen direkt oder indirekt erreichtbar und geben förmlich als mehr oder weniger dilettantische Dependenzen physiologischer Laboratorien nur der Physiologie Quartier.

Und die Ethik, die uns lehren sollte, wie wir den Anforderungen des Lebens gerecht werden, wie wir in Sturm und Not aufrecht bleiben und milde, hilfsbereit, glücklich sein können, sie sicht erst mit Brillen nach den Gründen, warum Lügen und Stehlen nichts Erlaubtes und warum die Freude etwas Gutes sei. Fühlt sie aber einmal das Bedürfnis, praktisch zu werden, so glaubt sie etwas getan zu haben, wenn sie sich aus nationalökonomischen, juridischen, sozialen Werken einige Kapitel angliedert. Wem anders als der Philosophie müßte es obliegen, den Erziehungsbestrebungen höchste Regulative zu geben, den Einfluß der Religion darauf abzuschätzen - und wie indifferent und indolent steht sie diesen Fragen gegenüber.

Auch Früchte des Fleißes, des Scharfsinns, fein Gedachtes, Vortreffliches findet sich, aber wie häufig erblickt man Geschichtsschreibung der Philosophie ohne Empfindung für das Bedürfnis der Probleme, ohne eigenes Sichzurechtfinden. Da kann man sehen: historische Kritik und dahinter dieselben Schnitzer, die schon unzähligemale kritisiert waren; ein Zerpflücken und Zerfasern der gegnerischen Ansicht, woe eine kleine Korrektur derselben viel bessere Dienste erwiesen hätte; das Auffassen der Argumente als Prozeßschriften, wo ein kleiner Fehler im Begehren den Prozeß verlieren machen kann, anstatt dem Argument immer zu helfen und auf seinen Geist einzugehen; ein Kämpfen mit selbstgemachten Einwänden, an die niemals ein anderer Mensch im Ernst gedacht hätte; ein Heranziehen problematischer Analogien, größte Breite, dabei ein Unentschiedenlassen fundamentaler Fragen und schließlich nach allen Kniffen und Widerlegungen alles so ziemlich wie es früher gewesen war.

4. Jeder darf doch streben, das Schlechte gut machen zu wollen. Müßte dieses Wirrsal bestehen bleiben, so müßte man das Schreiben philosophischer Bücher verbieten. Der Menschengeist ist schon schwieriegeren Fragen als der philosophischen Herr geworden. Fast jeder Philosophe - der originellen übrigens, in denen sich die eigentliche Philosophie bewegte, gab es ja nicht so viele - meinte, daß sie etwas sei, was ein einzelner zu Ende führen könne. Und nicht das war der Irrtum bei seinem Bestreben, sondern das war fehlerhaft, daß der eine alles, der andere nichts zu wissen vorgab und daß alle trotz des Vorsatzes vorurteilslosesten Denkens doch immer in erschlichene Annahmen verfielen. Vielleicht gelingt es einem, nach Unterdrückung alles Persönlichen, nach hunderfacher Verwarnung vor Fehlern, einem, der nur Evidentem traut und die Wahrscheinlichkeit jedes Gedankens in Rechnung zieht, ein Werk zu liefern, das nicht sein Werk ist, das sich andererseits auch niemals zeigen würde, wenn es nicht viel Neues sagen müßte, das schließlich die Philosophie haltbar und fruchtbar gestaltet. Vielleicht gibt es eine Form, in der sie permanent als Kanon verharren kann, vor Irrwegen für alle Zeit Schranken errichtet und auf die Punkte hinweist, wo sich Ahnungen anheften könnten, mit dem unverlierbaren Bewußtsein, daß sie nichts als Ahnungen sind! Vielleicht gibt es eine Form der Philosophie, in der sie für die Physiologie und für die Wege zur Vervollkommung der Menschen maßgebende und feste Direktiven enthielte, einen ewigen Frieden zwischen Religion und Wissenschaften machte und alle erziehlichen Elemente miteinander in Harmonie brächte! Wenn aber diese Form gefunden ist, dann müßten doch noch immer Hochwarten errichtet bleiben, von wo aus die Versuche neuer Trübungen erblick und durch Belehrung abgewehrt würden.

5. Klar, fest und dauernd müssen die philosophischen Überzeugungen des Menschengeschlechts werden, so solide und unerschütterlich, wie seine Stellung zur Naturwissenschaft. Damit, daß gelegentlich, hier und dort ein sogenanntes philosophisches Bedürfnis erwacht und sich durch irgendein Kauderwelch, durch spiritistische Terminologie, novellistische Skizzen und Visionen wieder einschläfern läßt, damit ist es nicht genug. Dem sogenannten unauslöschbaren  Bedürfnis  der Menschheit nach einem Höheren machen wir  nicht  unsere Referenz; nur der definitiven  Klärung  jedes Strebens gebührt Anerkennung. Die Menschen scheinen sich etwas kokett, sentimental zu benehmen, wenn sie meinen: ja unser Trieb nach dem Höheren ist nunmal nicht zu Ruhe zu bringen. Warum den nicht? Muß man denn immer unreif, jünglingsartig bleiben? Durch Wissen oder Nichtwissen oder durch ein Glauben, das seine Berechtigung weiß, soll das unruhige Auffliegen und Ermatten und Schwärmen des Geistes ein Ende finden. Die Menschen kommen sich in ihrer Unklarheit auch im ähnlichen Fall so teilnahmswürdig und rührend vor, wo sie sich von der  Hoffnung  - notabene der irdischen - nicht trennen können. Aber auch an der Hoffnung ist nichts Weises. Wenn die Chancen für den Eintritt des günstigen und ungünstigen Falles gleich sind, ist wohl das Überwiegen der freundlichen Zukunftsbilder erklärlich, aber korrekt und für die Seelenruhe am besten wäre die Suspendierung der bezüglichen Gedanken. Daß aber die Menschen, gar wenn die Chancen schlecht stehen, das Gute hoffen, ist eine Selbsttäuschung, die zwar vom Trieb der Selbsterhaltung fein erfunden ist, aber eine unsinnige Schwäche bleibt. Diejenigen muß man loben, die im Unglück auf Hoffnung verzichten können.

Wie der einzelne, gut Beanlagte, in seiner Lebens- und Leidenslaufbahn immer mehr erstarkt und schwankende Jllusionen verbannt, so muß auch das Menschengeschlecht für alle seine Maximen und seine philosophischen Bekenntnisse innerlich begründete Glaubwürdigkeit gewinnen. Nüchtern darf es nicht werden, aber seine Stellung zum Letzten und Höchsten muß eine gleichbleibende und sein Aufschwung ein gleichmäßiger werden. Was begreiflich und was unbegreiflich ist muß für immer auseinandergehalten werden; aber man soll hier sehen, welch große Lehren man auch aus dem Unbegreiflichen schöpfen kann.

6. Und nach diesem Stoßgebet wollen wir uns nun wohlgemut, leichten, sicheren Schrittes aufmachen, dieses Dauergebilde der sogenannten Philosophie zu suchen. Dieser Mission wird aber ein Buch zu entsprechen scheinen, das seine Stärke und sein Volumen den durch ihre Wahrheit sich Eingang erzwingenden, positiven Darstellungen, nicht aber Zitaten und Widerlegungen verdankt. Wie ein Same seine Entstehung und sein Wachstum überkommenen Elementen verdankt und doch der eigene Quellpunkt seiner Entwicklung ist, so lebt sich auch hier, trotz vielfach fruktifizierter [fruchtbar gemachten - wp] übermittelter Kenntnisse, ein selbständiges Prinzip einfacher Anschauung des plan Gegebenen aus, und sollte sich dem Leser so mitteilen, daß er im Lesen selbst das Buch aufbaut.

Soll eine Partie desselben übergangen werden, so ist es dem Buch lieber, man überschlägt die Einleitung, als das, was auf sie folgt. Durch eine vorgängige Durchsicht des "Abschlusses" kann man vielleicht eine wenn auch blasse, so doch nicht unnütze Vorstellung vom Ganzen erlangen.

Man wird das Schicksal der Philosophie in folgendem Geschichtchen etwa allegorisiert finden dürfen. Ein junges träumerisches Mädchen leistet bei Bauern Dienste; da findet sich einiges zusammen, um den Glauben zu erwecken, es schwebe ein großes Familiengeheimnis über ihr, sie sei eine von ihren fürstlichen Eltern hier verborgene Prinzessin. Nun findet man dann gar bald, sie habe immer nach etwas Edlerem ausgesehen und alles an ihr sei von unverkennbarer Hoheit. Neidische Dinger aber, gereizt, fanden, daß sie sich für eine Prinzessin gar linkisch und tölpisch benimmt. Schließlich aber verlief sich der Lärm, und man wurde sich klar, daß sie wirklich ein ganz echtes und nicht unschönes Bauernkind ist und sie heiratete einen tüchtigen Bauern, der Witwer geworden war. Sie blieb zwar kinderlos, aber dessen Kinder aus früherer Ehe wurden durch sie auf rechte Wege gebracht, und durch sie auch von Ahnungen erfüllt zogen sie aus und entdeckten das Meer und kehrten edler wieder zu den Schätzen ihres Bodens zurück.
LITERATUR: Richard Wahle, Das Ganze der Philosophie und ihr Ende - ihre Vermächtnisse an die Theologie, Physiologie, Ästhetik und Staatspädagogik, Wien und Leipzig 1894