ra-2J. G. HamannAugustinusSchleiermacherS. KierkegaardA. Ruge    
 
FRIEDRICH RITTELMEYER
Tolstois religiöse Botschaft

"Viel mehr als wir es ahnen, werden ja unsere Meinungen bestimmt durch tiefe oder zarte Eindrücke unseres Lebens und namentlich unserer Jugend, die wir manchmal selbst vergessen haben, bestimmt nach Art und besonders auch nach Farbe. Ganze Dramen und Romane ließen sich darüber schreiben, wie Menschen sich nicht verstehen, weil selbst die Farbe ihrer Worte durch solche tief verborgene aber sehr wirksame Lebenseindrücke geworden ist."

"Damals hat der Mann, der buchstäblich alles besaß, was das Dasein nur seinen bevorzugten Lieblingen gewährt: Gesundheit, Manneskraft, Reichtum, Bildung, Ansehen, Weltruhm, Familienglück, - dieser Mann hat sich nicht getraut, allein mit seinem Gewehr auf die Jagd zu gehen, hat alle Schnüre vor sich verborgen, um sich nicht an einem Querpfosten zwischen den Schränken seines Zimmers zu erhängen."

"Ein sehr scharfsinniger Denker der Gegenwart, Christoph Schrempf, hat über  Tolstois Bekehrung die Bemerkung gemacht, der Schluß, durch den Tolstoi zum Glauben gekommen ist, habe eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einem Trugschluß; denn, wenn ich nur durch den Glauben an Gott Leben finde, so beweist das nicht, daß Gott existiert, sondern nur, daß der Glaube das  Leben ist."


Vorrede

Im Dezemberheft der "Deutschen Monatsschrift" faßt OTTO von LEIXNER eine Würdigung TOLSTOIs in die Worte zusammen: "Was kann bei der Lösung unserer pflichtgemäßen Aufgabe Tolstoi für uns sein? Nichts." Eine ganz andere Ansicht liegt dieser Schrift zugrunde. Wenn jede Zeit nur zu ihrem eigenen Schaden ihre starken religiösen Persönlichkeiten vernachlässigen kann, so bedarf es gerade der Menschheit unserer Tage, daß man ihr Wegzeichen aufrichte nach allen heiligen Quellen, die vielleicht abseits vom Staub der Landstraße irgendwo im Waldesdickicht rauschen. Wie mir selbst der geistige Besuch bei dem ernsten Einsiedler wertvoll und bedeutungsvoll geworden ist, so sind, wie ich hoffe, meine "Erlebnisse bei Tolstoi" auch für andere nicht ohne Interesse.

"Exzentrisch", "utopisch", "hyperasketisch" - mit diesen Schlagworten haben sich im Falle TOLSTOI leider auch die sonst so anerkennungsbereiten Deutschen oft jede weitere Auseinandersetzung erspart. Ich meine aber, der ernste, große und tapfere Geist TOLSTOIs ist es wert, daß wir vor ihm das gute Gewissen zu unserer Kultur prüfen, daß wir seine Kritik nicht als "selbstverständlich" irrtümlich ignorieren, sondern durchdenken und durchsprechen, und vor allem, daß wir uns durch die Unerfreulichkeiten und Unrichtigkeiten seiner Weltbeurteilung nicht abhalten lassen, das merkwürdige religiöse Ringen dieser selbständigen und innerlichen Seele mitzuerleben.

Zwischen der allzu objektiv berichtenden Schrift BODEs über TOLSTOI und dem allzu subjektiv deutenden Buch E. H. SCHMITTs scheint mir in der Mitte für dieses Büchlein noch ein Platz zu sein. Gelingt es ihm, dem Nachdenken über religiöse Fragen einige Anregung zu geben, so sind die verborgenen Wünsche des Verfassers in Erfüllung gegangen.



Tolstois Entwicklung

"Wenn dieser junge Most einmal ausgegoren sein wird, wird ein Göttertrank aus ihm werden", so schrieb vom 28-jährigen Grafen LEO TOLSTOI der gefeiertste Schriftsteller des damaligen Rußland, IWAN TURGENIEW. Zwei Monate später faßte TURGENIEW seine Weissagung in die prosaischere Form: "Dieser Mensch wird sehr weit kommen und tiefe Spuren hinterlassen." Heute nach fast fünfzig Jahren, hat dieses Wort des großen Zeitgenossen bereits seine Erfüllung gefunden und geht noch größerer Erfüllung entgegen. Gewiß ist LEO TOLSTOI eine echt russische Gestalt, in vielem uns recht fern und fremd; aber er ist doch wohl ohne Zweifel die interessanteste religiöse Persönlichkeit unserer Zeit, und mit bedeutenden Persönlichkeiten sich tief und Gründlich auseinanderzusetzen, sie still zu betrachten und zu bewundern, sich heimlich mit ihnen zu messen und durch sie bereichern zu lassen, das gehört zu den edelsten und wertvollsten Beschäftigungen der Welt. Nichts anderes kann und will ich Ihnen in den folgenden Stunden bieten, als was ich selbst an TOLSTOI erlebt habe, und nichts anderes wünsche ich Ihnen, als daß sie selbst an TOLSTOI Erlebnisse machen möchten.

Es gibt Menschen, bei denen die Kenntnis der äußeren Lebensumstände wenig beiträgt zum Verständnis ihrer inneren Anschauungen; in denen sich gleichsam Ideen auf die Erde niedergelassen haben und unter den Menschen dahingewandelt sind: solche Menschen sind etwa BUDDHA oder PLATO oder SPINOZA. Es gibt andere, bei denen die Kenntnis ihres äußeren Lebens beinahe die erste Bedingung ist zum Verständnis ihrer Persönlichkeit; zu diesen gehört etwa LUTHER oder GOETHE und auch TOLSTOI. Darum zunächst kurz einiges über seinen äußeren Lebensgang.

TOLSTOIs Vater war Offizier gewesen, hatte die gewaltigen Kämpfe gegen NAPOLEON mitgekämpft, nachher aber sein großes Vermögen im Spiel durchgebracht und durch die Ehe mit einer - nicht jungen, nicht schönen, aber reichen - russischen Fürstin seine Verhältnisse wieder geordnet. Mit neun Jahren war TOLSTOI Doppelwaise und wurde im Haus seiner Tante erzogen. Diese Tante, eine gutmütige und sehr kirchliche Dame, scheint doch ihre Erzieherpflichten etwas eigentümlich aufgefaßt zu haben. Denn sie riet ihrem heranwachsenden Neffen, möglichst bald ein Verhältnis einzugehen mit einer verheirateten Frau; das sei die beste Bildungsschule für einen jungen Mann. Kein höheres Ziel des Ehrgeizes mußte sie in die Seele des empfänglichen Knaben prägen als: eine Adjutantur beim Zaren, ein reiches Mädchen und viele Leibeigene. Man denke sich: das war der Boden, aus dem ein Mann wie TOLSTOI emporwuchs, der mit elementarer sittlicher Energie zu den höchsten Höhen des Menschentums aufstrebte! Da kann uns klar werden, wie verkehrt es ist, das "milieu" zu überschätzen. Es ist ein wunderbares Geheimnis um jede Menschenseele, die die Bühne der Welt betritt und vielleicht ist unsere Geschichtswissenschaft, wie unsere Erziehungswissenschaft noch nicht genug erfüllt von Ehrfurcht vor diesem Geheimnis. Das Erforschliche erforschen und das Unerforschliche verehren: eines hat unsere Zeit großartig geübt, das andere manchmal vergessen, beides  zusammen  aber macht nach dem schönen Wort GOETHEs erst den ganzen gesunden Geist.

Als 15-jähriger Student bezieht TOLSTOI die Universität Kasan. Es wird gewiß manche unter Ihnen beruhigen zu hören, daß TOLSTOI in den studentischen Prüfungen mehr Niederlagen als Siege zu verzeichnen hatte. Aber sonst war er doch ein recht ungewöhnlicher Student. Ein merkwürdiger Grübler, der unermüdlich und unerbittlich sein eigenes Seelenleben durchwühlt, dabei wiedr ein selbstbewußter aristokratischer Lebemann, der sich an alle Freuden des Daseins, auch die unedlen, verlieren kann und doch wieder ein geborener Seelenkämpfer und Selbstbezwinger, gespornt, geradezu gequält von einem unwiderstehlichen Vervollkommnungstrieb, der aus unbekannten Tiefen aus ihm aufsteigt, das war TOLSTOI als Student. Alles, was des späteren TOLSTOI weltgeschichtliche Eigenart ausmacht, kann man hier in seinen Ansätzen und Anfängen beobachten: die Fähigkeit, stark und lebhaft die Eindrücke des Augenblicks zu empfinden - verbunden mit dem unbezwinglichen Trieb, diese Eindrücke zu zergliedern; den unbedingten Mut zu jeder Wahrheit, sei sie noch so hart und einsam - verbunden mit der rücksichtslosen Entschlossenheit, daraus handelnd die Folgen fürs Leben zu ziehen.

Nach verschiedenen Mißerfolgen verläßt der junge Graf die Universität und geht mit den besten Vorsätzen und Hoffnungen auf sein väterliches Besitztum. Aber alle seine gutgemeinten Bemühungen um das leibliche und geistige Wohl seiner Bauern scheitern; unüberwindlich ist der Widerstand, den ihm die zähen Gewohnheiten des Bauernstandes und sein vielhundertjähriges Mißtrauen entgegensetzen. Schließlich kommt sich der jugendliche Weltverbesserer vor, als habe er seinen Bauern Unrecht getan. Nach Art aller unerfahrenen Idealisten hatte er seine Kräfte falsch an die Welt herangebracht. Um der Welt wirklich zu dienen, dazu gehört eben nicht nur ein Fonds von jugendlichem Idealismus, sondern eine gesunde Harmonie von Idealismus und Realismus; dazu gehört, daß man die Dinge genau sieht, wie sie sind, und doch über ihnen die höchsten Ziele und Ideale unverrückbar im Auge behält.

Mißerfolg und Enttäuschung pflegen jungen Weltverbesserern meist verhängnisvoll zu sein. So wundern wir uns nicht, wenn wir hören, daß TOLSTOI sich in den nächsten Jahren ein ganz anderes Leben erwählt, ein Leben in allen Passionen des russischen Adels. Es ist manchmal wie ein Verzweiflungskampf gegen den mächtig mahnenden ethischen Urtrieb seines Wesens. Eines Tages findet er in einem Ballokal Petersburgs einen heruntergekommenen deutschen Musiker. Mit Aufopferung nimmt er sich seiner an und sucht ihn einem menschenwürdigen Dasein wiederzugeben - erfolglos. "Wir kann ich daran denken andere zu bessern, wenn ich kaum mit mir selbst ins Reine zu kommen vermag?" Mit diesen Worten zieht er das Ergebnis seiner Erfahrungen. Nicht fremde Schuld,  eigene  Schuld hat er wieder gefunden - seine ganze spätere weltgeschichtliche Rolle huscht wie ein Traum an ihm vorüber.

Es gibt Menschen, die aus den größten Ereignissen ihres Lebens keinen wirklichen Gewinn zu ziehen verstehen, und es gibt andere, bei denen die kleinsten Ereignisse voll tiefer Bedeutung und unvergänglichen Gewinns werden. TOLSTOI gehört zu den letzteren. Der unauslöschliche Eindruck solcher Erfahrungen war im Verborgenen wirksam, wenn er später seine Abscheu gegen das Trinken in so grimmiger Weise an den Tag legte. Viel mehr als wir es ahnen, werden ja unsere Meinungen bestimmt durch solche tiefe oder zarte Eindrücke unseres Lebens und namentlich unserer Jugend, die wir manchmal selbst vergessen haben, bestimmt nach Art und besonders auch nach Farbe. Ganze Dramen und Romane ließen sich darüber schreiben, wie Menschen sich nicht verstehen, weil selbst die Farbe ihrer Worte durch solche tief verborgene aber sehr wirksame Lebenseindrücke geworden ist.

Damals wachte in TOLSTOI auch etwas auf, was er als zweifelhaftes Geschenk und Erbe seines Vaters empfangen hatte, der Spielteufel. Ähnlich wie GOETHE in seinem  Werther  schilderte, was sich leicht mit ihm selbst hätte begeben  können,  hat auch TOLSTOI die Konsequenzen seiner damaligen Lebensweise auf eine Phantasiegestalt abgeladen in den "Aufzeichnungen eines Markeurs" [Kellners - wp]. Er selbst rafft sich auf mit plötzlichem Entschluß und geht in den Kaukasus, um unter den Kosaken ein einfaches Leben zu führen. Die ganze Sehnsucht seines Herzens nach Wahrheit und Liebe glüht in ihm auf. Es ist ganz merkwürdig, wie er mit hellseherischer Klarheit erkennt, daß nur ein Leben in Selbstverleugnung und Liebe ihm den Frieden der Seele bringen wird, - daß er aber noch weit, weit von einem solchen Leben entfernt ist. Ein Leben in Selbstverleugnung und Liebe, das ist ihm jetzt wie ein Traumland, in das kein Pfad hineinführt; aber es war eine  fata morgana  der Stadt, auf die er unbewußt zuging. - Ist sehnsucht vielleicht überhaupt eine verborgene Weissagung? -

Noch ein großes Erlebnis bringt ihm der Kaukausus: TOLSTOI entdeckt in sich den  Dichter.  Zwei Bemerkungen über Tolstois Dichtwerke mögen für unseren Zweck genügen. Wenn GOETHE von sich gesagt hat, alle seine Dichtungen seien Beichten, "Bruchstücke einer großen Konfession", so mag das im Grunde von jedem Dichter gelten, von keinem aber mehr als von TOLSTOI. Durch alle seine Erzählungen wandelt, bald in dieser, bald in jener Maske, immer der eine  Graf Leo Nikolajewitsch Tolstoi.  Darum auch, von dem Tage an, wo der junge Dichteraar [Adler - wp] zum erstenmal sein prächtiges Gefieder entfaltete, kreist er um die großen Lebensprobleme, immer näher und näher. Und noch ein Wort über die  Form  TOLSTOIs. Als er zu schreiben begann, lag über der russischen Literatur noch der Bann einer phantastischen Romantik. TOLSTOI ist der erste, der aus dieser Nebelwelt hinaustritt in das freie Licht des Realismus. Woher dieser Fortschritt? Durch nichts anderes als durch den Wahrheitssinn des Dichters. Es könnte wohl ein interessantes Buch werden, wenn einmal jemand den Einfluß erforschen wollte, den  sittliche  Eigenschaften auf den  geistigen  Fortschritt der Welt gehabt haben. Schließlich hat doch vielleicht der  Wahrheitssinn  größere Entdeckungen gemacht als der  Scharfsinn.  Wahrhaftigkeit - das ist jedenfalls das Auszeichnende der künstlerischen Form TOLSTOIs geblieben und immer mehr geworden, Wahrhaftigkeit in einem künstlerischen Sinn als Übereinstimmung von Gedanke und Ausdruck; genau das zu sagen, was er denkt und fühlt, das ist heute noch TOLSTOIs einziges stilistisches Bemühen.

Kurze Zeit nach den Erlebnissen im Kaukasus finden wir TOLSTOI - als Militärschriftsteller. Ein merkwürdiges Geschick fügte es, daß die kurze Zeit seiner Offizierslaufbahn ihm die machtvollen Eindrücke einer der gewaltigsten Festungsbelagerungen brachte. Was er in Sewastopol erlebte, hat er, teilweise noch während der Belagerung, in eindrucksvollen Skizzen dem russischen Volk geschildert. Damals haben seine Schilderungen das Entzücken des Hofes und des Zaren erregt, was man von den späteren Schriften TOLSTOIs nicht wird behaupten dürfen. Hätte dieser Zar freilich dem interessanten Erzähler genauer zugehört, so hätte er am Ton der Stimme manches bemerken müssen, was ihm nicht gefallen konnte, manches, was den zukünftigen leidenschaftlichen Ankläger des Kriegswesens verriet. Aber erst in Jahrzehnten sind TOLSTOIs damalige Eindrücke ausgereift. -

Alle Reize des jungen Ruhmes umspielten den jungen Schriftsteller, als er, nach dem Abschied vom Militär, im Kreis der Literaten der Hauptstadt Aufnahme fand. Mancher hätte sich nun auf dem Gipfel des Glücks gewähnt, - TOLSTOI fühlt sich ganz und gar nicht wohl, so wenig wohl, als sich ein Falke unter Fasanen fühlen würde. Seine schroffe Wahrheitssuch führte Szenen herbei, von denen man nach den Beschreibungen der Augenzeugen nicht weiß, ob sie mehr ergötzend oder mehr peinlich gewesen sind. Später, als TOLSTOI sich selbst besser verstand, hat er mit vernichtender Offenheit über jene Zeit und jenen Kreis den Stab gebrochen. Alle diese Männer, sagte er, er selbst mit eingeschlossen, seien fest davon überzeugt gewesen, daß sie berufen sind, die Welt zu lehren, ohne doch eigentlich zu wissen  was;  alle waren bestrebt, so viel und so schnell wie möglich zu sprechen, als ob davon das Heil der Welt abhinge ohne selbst lernen und hören zu wollen; alle waren erfüllt von einem Selbstvertrauen und einer Selbstzufriedenheit, wie sie nur vollkommen Heilige besitzen dürften, ohne doch die einfachsten sittlichen Forderungen zu erfüllen oder auf die einfachsten sittlichen Fragen Antwort geben zu können. Sie alle bemühten sich, mit viel Würde und Eitelkeit vor der Welt einen Priestermantel zu tragen, zu dem doch der wahre innere Beruf, ein heiliges Altarfeuer und ein weihender Gott fehlte. Ob es solche Leute nur in Rußland gibt?

Fort! Hier ist die Wahrheit nicht! sagt immer deutlicher die prophetische Stimme in seinem Herzen, die Sehnsucht. TOLSTOI verläßt sein Vaterland und geht ins Ausland. Zwei Eindrücke sind es auf dieser Auslandsreise vor allem gewesen, die mächtig auf sein empfindliches Gemüt wirkten. In Paris hat er Gelegenheit, einer Hinrichtung zuzusehen.
    "Als ich sah", schreibt er, "wie der Kopf sich vom Körper trennte und hörte, wie erst der Kopf und dann der Rumpf im Kasten aufschlugen, begriff ich - nicht mit dem Verstand, sondern mit meinem ganzen Wesen -, daß keine Theorie über das Vernunftgemäße des Seienden und des Fortschritts diese Tat rechtfertigen konnte!"
Wieder kündigt sich leise ein Thema an, das wir später in machtvollen Akkorden werden erbrausen hören.

Das zweite Erlebnis hatte er in einer anderen Weltstadt, in Luzern, vor dem heute noch bestehenden Hotel  Schweizerhof.  Dort, wo die reichsten und kultiviertesten Leute von Europa sich zusammenfinden, sah TOLSTOI es mit an, wie ein armer fahrender Tiroler eine halbe Stunde zur Gitarre ein paar Lieder sang. Als er aber dann bescheiden um eine Gabe bat, da wendeten ihm dieselben Leute, die ihm eben noch vergnügt zugehört hatten, den Rücken und lachten sogar über ihn. Still und bescheiden ging der Tiroler davon. Dieses Ereignis, meint TOLSTOI, sollten die Geschichtsschreiber unserer Zeit mit unauslöschlicher Flammenschrift in das Buch der Geschichte eintragen. Es ist "bedeutsamer, ernsthafter und von tieferem Sinn als die Tatsachen, die wir in Zeitungen und Geschichtsbüchern finden". Denn wie ein greller Blitz beleuchtet es eine ganze Epoche in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und offenbart den wahren ethischen Wert der vielgerühmten Zivilisation. Wir ahnen wieder den ganzen kommenden TOLSTOI, wenn wir hören, daß er sich damals rücksichtsloe des Verhöhnten annahm und - falls diese Züge nicht in der Erzählung "Luzern" zur dichterischen Ausschmückung gehören -, unbekümmert um den Widerspruch des Portiers und der Kellner, unbekümmert um den entrüsteten Protest eines protzenhaften Engländers, den Tiroler in den Speisesaal führte und bewirtete. Tief in seinem Herzen aber grollte und wollte es immer mächtiger über die ganze jammervolle Oberflächlichkeit unserer Kultur.

In den nächsten Jahren finden wir TOLSTOI wiederholt im Ausland. Das ernsteste Ereignis dieser Jahre aber, und nach TOLSTOIs eigener Aussage der tiefste Eindruck seines Lebens, war der Tod seines geliebten älteren Bruders  Nikolaus. 
    "Wenige Minuten vor dem Tod schlummerte er ein. Plötzlich sprang er auf und flüsterte entsetzt: Was ist das! Er hatte seinen Übergang in das Nichts gesehen. Er starb unter großen Qualen, ohne begriffen zu haben, warum er gelebt hatte, und noch weniger, warum er starb."
Der Brief, den TOLSTOI damals an seinen Freund  Fjet  schrieb, beweist, wie er den ernsten Blick des Todes verstanden hatte und sich eindringlichst an alle ungelösten Lebensfragen erinnert fühlte. Aber selbst diesen ernstesten Eindruck seines Lebens vermag er noch nicht wirklich festzuhalten. Zu sehr ist er noch umklungen und umsungen von den tausend Stimmen des Lebens, auch von den "Stimmen im Grunde", die ihn hinabziehen wollen in die verderblichen Strudel.

Kurze Zeit nachher finden wir TOLSTOI - als Schulmeister! Den gefeierten Salonschriftsteller konnte man damals im Kreis seiner Bauernbüblein sitzen sehen; er erzählte ihnen Geschichten und ließ sich wieder erzählen, lauschte mit der Hingabe und Herzenswärme eines großen Pädagogen auf alles, was einer Kinderseele Eindruck macht, und lernte von allem und allen. Es konnte ihn, nach einer wichtigen Wahrnehmung, eine solche Bewegung ergreifen, daß er den Unterricht abbrechen mußte; es war ihm zumute wie einem Schatzgräber, der in der Johannisnacht die Johanniswurzel gefunden hat. Seinem Unterricht wird es gewiß einen ganz besonderen Zauber gegeben haben, daß er sich selbst nicht als der Lehrende, sondern als der Lernende fühlte; allein, als pädagogischer Grundsatz streng durchgeführt, muß diese Haltung natürlich alle Schule und Erziehung aufheben. Trotz mancher guter Beobachtungen TOLSTOIs, verrät uns diese ganze pädagogische Episode in seinem Leben doch im Grunde nur, wie überaus gern er lehren möchte, ohne doch zu wissen was.

Nun folgen fünfzehn Jahre, in denen bei TOLSTOI das Ringen mit den Weltproblemen ziemlich in den Hintergrund getreten ist. Die Familie mit ihren Freuden und Sorgen hat nach seinem späteren Geständnis damals seine Seele und sein Leben vollkommen ausgefüllt. In Wahrheit war es die Zeit, wo er dichterisch seine höchste Höhe erreichte, die eigentlich künstlerische Periode seines Lebens. Damals schrieb er seine bedeutendsten großen Romane "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina". Was für ein Geständnis aber für den gefeiertsten Schriftsteller der damaligen Literatur, wenn er uns später verrät, daß er diese Romane geschrieben habe mit dem Bewußtsein von der Nichtigkeit der Schriftstellerei im Herzen, und in dem Bestreben, die Frage nach dem Sinn des Lebens in sich zu übertäuben! -

Wir richten nun an unseren "russischen Faust", wie man ihn genannt hat, die alte Faustfrage: Wie hältst du's mit der Religion? TOLSTOI erzählt uns, er habe mit seinem sechzehnten Jahr zu glauben aufgehört, oder vielmehr, er habe nie wirklich  Glauben  gehabt, sondern nur  Vertrauen  zu dem, was ihm die Erwachsenen über religiöse Dinge sagten. Aus ihrem Verhalten zog er den Schluß, daß man den Katechismus lernen und in die Kirche gehen müsse, daß man aber alle diese Dinge nicht so besonders ernst zu nehmen braucht. Er urteilt, bei diesen Leuten hätte man aus ihrem  Wesen  niemals schließen können, daß sie Christen sind; sie bekannten ihren Glauben irgendwo abseits vom Leben. Und dieser Glaube war oft von so imaginärer Bedeutung, daß ein kleines Ereignis des Lebens, eine harmlose Bemerkung auf ihn wirken konnte, wie ein Stoß mit dem Finger gegen eine Wand, die nahe daran war, von selbst einzufallen. Auf einmal stellte sich heraus, daß dort, wo diese Leute ihren Glauben vermuteten, schon längst nur eine Leere war. - Das ist in der kühlen Form der Beschreibung die vernichtende Kritik eines Mannes, der weiß, was  Glauben  heißt, an dem, was man so gewöhnlich "Glauben" nennt und damit auch eine Kritik unserer Verhältnisse.

TOLSTOI bekennt uns nun weiter, er habe das Dasein Gottes zwar nie eigentlich geleugnet (in seinen Dichtwerken redet er mitunter ganz unbefangen vom "Weltgeist"!); aber  welches  Gottes, das habe er nicht sagen können. Er habe auch  Christus  und seine Lehre nicht geleugnet, aber worin diese bestand, das sei ihm nicht klar gewesen. Gelebt habe damals in ihm nur eines, das Streben nach Vervollkommnung. Sehr bedeutungsvoll ist, was TOLSTOI uns über die Geschichte dieses Strebens mitteilt. Zuerst habe er gestrebt mit heißem Bemühen, besser und edler zu werden. Aber dieses Streben verkümmerte mehr und mehr, da ihm das nährende Erdreich der Religion und die Pflege durch die Umgebung fehlte. An seine Stelle trat der Wunsch, mächtiger, vornehmer, stärker zu sein als die andern. Später blieb nur ein allgemeiner Glaube an den Fortschritt zurück: "Alles schreitet fort und also auch ich!" Und dieser Glaube geht schließlich über in das Bemühen, in der Familie sich das Dasein so angenehm wie möglich zu gestalten. Ob diese Entwicklung nicht ganz folgerichtig ist? Könnte es nicht vielleicht auch der Menschheit im Ganzen so gehen, wenn sie sich für immer von der Religion lossagen würde? Zuerst Streben nach Vollkommenheit, dann Streben nach Macht und Glanz, dann Streben nach einer Besserung der Lage, und schließlich das Streben nach Genuß: nachdenkenswert bleibt diese Entwicklungsschilderung eines stark empfindenden und scharf beobachtenden Geistes jedenfalls sehr.

Mit besonderem Nachdruck hat sich TOLSTOI später gegen die Religion des "Fortschritts" gewendet, die lange Zeit bei ihm selbst der einzige dürftige Rest von Glauben war, den er sich erhalten hatte. Dieser unbestimmte Glaube an den Fortschritt, meint er, sei gerade so töricht, wie wenn ein Mensch, der in seinem Kahn auf dem Meer hin und her getrieben wird von Wind und Wellen, auf die einzige für ihn wichtige Frage: wohin soll ich steuern? sich begnügen wollte mit der Antwort: es treibt mich irgendwohin! nur zurzeit seiner geistigen Schwäche habe er sich mit solchen Antworten zufrieden gegeben. - Könnte man darüber eine Untersuchung anstellen, so dürfte sich zeigen, daß der Glaube an den Fortschritt heutzutage bei Hunderttausenden von Menschen, von den gelehrtesten bis zu einfachen Arbeitern herab, in der Tat ihre eigentliche Religion ist, das Einzige, was man bei ihnen  Glauben  nennen kann, aber auch Glauben nennen  muß.  Eine ganze Geschichte und Psychologie dieser Religion des Fortschritts ließe sich schreiben, die "Quietive" und die "Motive" dieses Glaubens, wie man jetzt sagt, ließen sich aufzeigen, alle Formen der Religion, von der schwächlich sich beruhigenden bis zur kraftvoll sich erhebenden, ließen sich nachweisen. Nur kommt es den wenigsten so klar und lebendig wie TOLSTOI zu Bewußtsein, wie sehr diese Religion des Fortschritts in der Luft hängt, ohne klare Orientierung nach vorwärts und rückwärts, vor allem ohne befriedigende innere Begründung.

Mit jener Meisterschaft der Selbstbeobachtung, die wir schon an ihm kennen, schildert TOLSTOI in seiner "Beichte", einem der merkwürdigsten Bücher der Weltliteratur, was nach der Vollendung seiner großen Romane in ihm vorging.
    "Es ereignete sich etwas Seltsames. Es kamen Augenblicke des Zweifels des Stillstandes des Lebens, als ob ich nicht wüßte, wie ich leben, was ich tun sollte."
Immer häufiger und immer heftiger kamen diese Zustände. Wie aus dem Abgrund tauchen vor ihm die Fragen auf:
    "Und warum? und was dann? Was folgt aus dem, was ich heute tue, was ich morgen tue? was folgt überhaupt aus meinem ganzen Leben? Warum muß ich leben, warum wünschen und handeln? Was ist das Wirkliche Ergebnis meines Daseins? Welchen Sinn hat mein zeitliches Dasein auf dieser ewigen Welt?"
Zuerst denkt er, das sind kindische, dumme Fragen; sowie ich anfange, mich mit ihnen zu beschäftigen, werde ich sie im Handumdrehen lösen. Aber umgekehrt - sowie er anfängt, sich mit ihnen zu beschäftigen, sieht er, daß er sie durch kein Nachdenken jemals lösen wird. Aber die Fragen verfolgen ihn, immer wieder stehen sie plötzlich vor ihm wie unheimliche starräugige Gespenster. Sein Leben beginnt ihm zu erscheinen, wie ein dummer, boshafter Scherz, den sich jemand mit ihm erlaubt hat; "und er lacht darüber", sagte eine Stimme in ihm; er selbst aber findet die Sache ganz und gar nicht lächerlich, sondern einfach grausam und dumm. Eine lähmende Verzweiflung legt sich über seine Seele. Ihm schwindelt vor den gähnenden Abgründen des Daseins, die er erblickt hat. Der Gedanke an den Selbstmord klopft grausig an seine Tür. Damals hat der Mann, der buchstäblich alles besaß, was das Dasein nur seinen bevorzugten Lieblingen gewährt: Gesundheit, Manneskraft, Reichtum, Bildung, Ansehen, Weltruhm, Familienglück, - dieser Mann hat sich nicht getraut, allein mit seinem Gewehr auf die Jagd zu gehen, hat alle Schnüre vor sich verborgen, um sich nicht an einem Querpfosten zwischen den Schränken seines Zimmers zu erhängen. Aber auch auf die Frage: warum tötest Du Dich eigentlich nicht? weiß er keine Antwort. Er fühlt nur, daß eine unbestimmte Erwartung, eine unklare Hoffnung ihm im Leben festhält.

Nun blickt er um sich nach den andern Menschen seinesgleichen. Sie leben dahin, unbekümmert um seine Fragen. Er sieht, daß sie alle tun, was sie die andern tun sehen, "die ihrerseits nicht wissen, wozu sie es tun". Aber "eine unzählige Menge sinnloser und unvernünftiger Persönlichkeiten zusammengenommen macht noch kein einziges vernünftiges Leben aus". Diesen "Stumpfsinn" hat er nicht mehr und vermag ihn auch nicht künstlich in sich hervorzurufen. "Man kann nicht aufhören zu wissen, was man weiß."

Er wendet sich an die  Kunst,  der er so lange Jahre treu gehuldigt hatte. Aber siehe da, nun versagt sie völlig, sie wird ihm auf einmal "lächerlich, ja peinlich". Als einen Spiegel des Lebens hatte er die Kunst immer betrachtet, wie konnte er sich daran ergötzen, im Spiegel zu sehen, "wie dumm und verzweifelt seine Lage war".

Aber die Wissenschaft, sie wird ihm Antwort geben.
    "Ich suchte", sagt  Tolstoi,  "in allen jenen Wissenschaften, welche dem Menschen zu Gebote stehen; ich suchte, ausdauernd und beharrlich, Tag und Nacht; ich suchte, wie ein Untergehender nach Rettung sucht, und - nichts habe ich gefunden!"
Seine Frage lautet: welchen Sinn hat mein Leben? - und die Wissenschaft antwortet: die Sonne bewegt sich auf das Sternbild des  Herkules  zu; die Fixsterne haben eine nachweisbare chemische Zusammensetzung; die Atome sind unendlich kleine, unwägbare Teile des Äthers. Das ist aber keine Antwort, sondern ein Hohn auf seine Frage. Doch die Wissenschaft hat noch eine bessere Antwort; sie sagt:
    "Du bist ein Klümpchen, das sich zufällig zusammengeballt hat. Das Klümpchen schwitzt, dieses Schwitzen nennt das Klümpchen sein Leben. Das Klümpchen zerspringt in Stücke und das Schwitzen und alle Fragen hören auf."
Das ist aber wieder keine Antwort, sondern ein "Verzicht auf Antwort". Es ist, wie wenn bei einer Rechnung nach langem Hin- und Herbemühen schließlich  "x = x"  herauskommt, das heißt "als Antwort auf die Frage kommt die Frage selbst zurück". Es ist, wie wenn sich unaufhörlich "in einem verzauberten Kreis ein Rad dreht, in das kein Zahnrad eingreift." Es ist, wie wenn man einen Verirrten im Wald auf einen hohen Baum führt und zeigt ihm dort einen schönen weiten Horizont, "aber kein Haus und keinen Weg". Aber immer noch stehen die beiden Fragen vor ihm: warum lebt der Mensch? wozu lebt der Mensch? wie böse Geister, die immer gebieterischer ihre Entzauberung fordern, sonst trinken sie sein Herzblut aus.

Da findet der Suchende eine Antwort. SOKRATES (von dem dahingestellt sei, ob er ihn richtig aufgefaßt hat), der "Prediger", BUDDHA, SCHOPENHAUER geben sie ihm mit überraschender Einstimmigkeit. Sie sagen: das Leben  hat  eben keinen Sinn; das Leben ist  nicht  wert, gelebt zu werden. Allen Ernstes hat es TOLSTOI mit dieser Antwort versucht. Aber dabei weiter zu existieren, sich täglich "zu waschen, anzukleiden, zu speisen, zu sprechen und sogar Bücher zu schreiben", das erscheint ihm "widerlich", ja "unerträglich". Er fühlt, die unausweichliche Folgerung aus dieser Antwort ist - der Selbstmord. Dagegen aber bäumt sich sein ganzes Inneres auf. Das  kann  nicht die Antwort sein! Es  muß  eine andere geben! TOLSTOI hatte SCHOPENHAUER den genialsten aller Menschen genannt; später spricht er von der Gewissenlosigkeit der Pessimisten SCHOPENHAUER und von HARTMANN, denen gegenüber jeder Selbstmörder der Gewissenhaftere sei. So sind seine schroffen Urteile allermeist nicht die Ausbrüche blinder Gefühlswallungen, sondern der Bilderschein ernster Stunden eines harten sittlichen Ringens.

TOLSTOI blickt noch einmal um sich, dieses Mal mit schärferen Augen. Er entdeckt, daß er und die Gebildeten seinesgleichen ja nicht die einzigen Menschen sind, daß Tausende und Abertausende offenbar einen Sinn für ihr Leben gefunden haben, und daß sie ihn gefunden haben - in einem Glauben. Ein "Glaube" - was soll er damit? Kann ihm irgendjemand einen "Glauben" zumuten? Ist nicht jeder Glaube unvernünftig und unsinnig? Langsam dämmert doch die große Erkenntnis in ihm auf, daß,  solange  Menschen leben, ihnen immer nur ein Glaube die Möglichkeit des Lebens gewährt hat, daß "Glaube" nichts anderes ist als  "die Erkenntnis des Sinns des Daseins",  durch welche der Mensch den Mut hat zu leben, daß nur ein Glaube imstande ist, die schmerzlich gesuchte Verbindung zwischen Endlichem und Unendlichem herzustellen, daß jeder Mensch glauben muß, entweder an das Endliche oder an das Unendlich.

So schlägt TOLSTOI also nun einen ganz neuen Weg ein: er wendet sich an die Gläubigen der verschiedensten religiösen Bekenntnisse.  Jeden  Glauben anzunehmen ist er jetzt bereit, "wenn er nur nicht die direkte Verleugnung meiner Vernunft verlangt".  Hier  allerdings errichtet seine strenge Wahrhaftigkeit einen Schlagbaum. "Mit Umgehung der Vernunft" den Menschen einen Glauben einzuflößen, diese Versuche kommen ihm vor, wie Versuche, "einen Menschen mit Umgehung seines Mundes zu ernähren". Aber auch der neue Weg zu den "Gläubigen" bringt keine Enthüllung, sondern Enttäuschung. TOLSTOI entdeckt, daß diese Gläubigen ihren Glauben nicht bekennen, um Antwort zu haben auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, sondern zu irgendwelchen anderen Zwecken, die er nicht recht ergründen kann. Das aber ergründet er umso besser, daß das  Leben  dieser Menschen genau ist wie das seinige, nämlich ein Leben in Genuß und in Furcht, "nur mit dem Unterschied, daß es nicht den Grundsätzen entspricht, welche sie in ihren Glaubenslehren darlegen". Ihr ganzer Glaube scheint so eine Art Zierat zu sein, der ihrer epikureischen Lebensfreude dient. Mit Abscheu wendet sich der ernste Wahrheitsforscher von diesem Schauspiel ab.

Es pflegt in der Natur großer Männer etwas Unberechenbares, Unauflösbares, beinahe Unvernünftiges zu geben, das oft gerade in den entscheidenden Stunden des Lebens plötzlich da ist und den Ausschlag gibt. Dieses Unfaßbare und Unbegreifliche ist bei TOLSTOI von Jugend auf seine beinahe physische Liebe zum Volk, die TURGENIEW hysterisch, TOLSTOI selbst "etwas seltsam" genannt hat. Wir wollen es anderen überlassen, hier auf Geheimnisse der Vererbung zu raten. Jedenfalls sehen wir TOLSTOI kraft dieser rätselhaften Liebe zum Volk einen letzten entscheidenden Gang antreten: er beginnt sich den armen, ungebildeten Bauern zu nähern. Und - hohe Freude flammt in ihm auf - hier endlich sind wirklich Menschen, denen ihr Glaube unentbehrlich ist, denen nur ihr Glaube den Sinn des Lebens und die Möglichkeit des Daseins gewährt, Menschen, welche unter schwerer Arbeit ihres Lebens froh bleiben und alle Schickungen ohne Mißvergnügen tragen, "in der ruhigen und festen Zuversicht, daß es so sein muß und nicht anders sein kann und daß das alles gut ist!"

Nun ist doch ein erster vorläufiger Halt gefunden - und sofort schaut der beobachtungsgewohnte Kletterer zurück und überblickt den zurückgelegten Weg. Er hatte gefragt: welchen Sinn hat mein Leben? und die Antwort hatte gelautet: es ist von Übel und unsinnig! Diese Antwort paßte durchaus - auf  sein  Leben ! Nicht sein schlechtes Denken, sondern sein schlechtes Leben war der Grundirrtum. Hier hat sich TOLSTOI zum ersten Mal die Wahrheit offenbart, die er später nicht müde wird zu verkünden, daß es unmöglich ist, die Wahrheit wirklich zu erfassen und festzuhalten, ohne daß der Wille zur Lebensänderung vorhanden ist. In einem seiner realistischen Gleichnisse verdeutlicht TOLSTOI diese neue Erkenntnis unter dem Bild eines Bettlers, den man halb verhungert in eine Fabrik aufnimmt, nährt und pflegt. Man gibt ihm hierauf den Auftrag, einen Stock auf und ab zu bewegen, und er  tut  es, ohne zu grübeln, warum und wozu. Auf diese Weise entdeckt er, daß der Stock eine Pumpe bewegt, welche Wasser pumpt, das in Gartenbeete läuft. Allmählich lernt er die ganze Einrichtung der Fabrik verstehen - durch Mitarbeiten! Die Weisen aber sitzen im Kreis und denken nach: warum soll man den Stock bewegen? das ist ja dumm! Endlich haben sie es heraus: der Herr ist dumm! oder noch besser: es gibt gar keinen Herrn, wir aber sind klug! Ein anderes Bild TOLSTOIs: Wer die Welt durch bloßes Nachdenken begreifen will, gleicht einem Kind, das die Uhr auseinandernimmt und zu einem Spielzeug macht, und sich dann höchst verwundert zeigt, wenn sie aufhört zu gehen.

Doch all dies führt über Gedanken und Reflexionen noch nicht hinaus. TOLSTOI  kennt  den "Glauben", schätzt ihn, wünscht ihn, aber  hat  ihn nicht! Fast in Verzweiflung, mit einem Gefühl unendlicher Verwaisung und Vereinsamung geht er umher. Man kann und kann mir das Dasein eines Gottes nicht beweisen! sagt er sich. Und doch ertappt er sich dabei, wie er zu eben diesem Gott betet: "Herr, hilf mir! Rette mich! Herr, lehre mich, mein Gott!" Ich kann doch nicht "ohne jede Ursache, Veranlassung, Sinn" auf der Welt erschienen sein! Ich kann doch nicht "ein solches aus dem Nest gefallenes Vögelchen" sein!
    "Oder angenommen, ich bin es und liege auf dem Rücken, zwitschern im hohen Gras, dann aber zwitschre ich von dem, was ich weiß, daß mich die Mutter in sich getragen, gewärmt, genährt und geliebt hat. Aber wo ist die Mutter?"
Unaufhörlich wogt es in ihm auf und ab. Sowie er einen Augenblick vom Dasein Gottes überzeugt ist, erheben sich freudige Wogen des Lebens; er fühlt die Möglichkeit und die Freude des Daseins; alles um ihn herum erhellt sich, belebt sich und bekommt einen Sinn! Sowie aber wieder die Zweifel mächtig werden und er sich sagt: Nein, es gibt keinen Gott, und nichts, keinerlei Wunder und keinerlei Beweise können mir das Dasein eines solchen glaubhaft machen, - da versiegt die Quelle des Lebens; alles um ihn her erstarrt, er empfindet das Verlangen, sich zu töten. So geht er hin und her, nicht zweimal, dreimal, sondern zehnmal, hundertmal.

Einmal, zu Frühlingsanfang, ist er wieder allein im Wald, lauscht auf alle Klänge der Natur, und denkt an das Eine, woran er seit drei Jahren immerfort gedacht hat, er sucht Gott. Wieder wechseln Aufleben und Erstarren miteinander. Da fragt er sich plötzlich. Was bedeutet denn das alles?
    "Ich habe ja nur dann ein wirkliches Leben, wenn ich Gottes Nähe fühle und ihn suche. Nun also, was suche ich noch, rief eine Stimme in mir; da ist er ja, er, ohne den man nicht leben kann. Gott erkennen und leben, das ist ein und dasselbe. Gott ist das Leben! Lebe, indem Du Gott suchst, dann wird es keine Leben ohne Gott geben!"
Jetzt erhellt es sich um ihn stärker als je zuvor, und dieses Licht verläßt ihn nicht wieder. Die Lebenskraft kehrte neu zurück, und "so entging ich dem Selbstmord!" -

Das ist die Entwicklung, oder, wie man manchmal gesagt hat, die "Bekehrung" TOLSTOIs, die aus dem großen Dichter einen gewaltigen Prediger der Menschheit gemacht hat. Eine ergreifende Urkunde ernstesten innerlichen Ringens eines großen und starken Menschengeistes wird diese "Beichte" TOLSTOIs für alle Zeiten bleiben, und vielleicht ehrt man solche  "documents humains"  am besten, wenn man sich schweigend lange unter ihren Eindruck stellt. Allein dann soll und wird sich allmählich auch das Urteil hervorwagen, das unsere Stellung dazu tastend feststellt. So darf ich wohl, auch auf die Gefahr hin, die unmittelbare Wirkung der tolstoischen Erlebnisse abzuschwächen, zum Schluß noch eine kurze Beurteilung versuchen.

Viele werden sich wundern, daß in dieser Entwicklung der Begriff der Sünde, der "Schuld vor Gott", so gar keine Rolle spielt, wie wir's doch, um von kleineren Geistern zu schweigen, von LUTHER und AUGUSTIN her als das Normal-christiliche zu betrachten gewohnt sind. Nicht, daß es TOLSTOI an "Sünden" gefehlt hätte, oder an "Selbsterkenntnis" - er gibt in der "Beichte" ein Selbstbildnis aus seinen früheren Jahren, dem gegenüber das Bild AUGUSTINs oder gar LUTHERs fast zum Heiligenbild wird -, und doch hat irgendein Reuegefühl für seine Entwicklung offenbar keinerlei entscheidende Bedeutung gehabt. Sollen wir nun, wie es viele getan haben, gleich hier mit unserer Kritik einsetzen und sagen: Damit ist schon seine Oberflächlichkeit zur Genüge bewiesen!? Wir könnten nicht Unüberlegteres und Ungerechteres tun! Denken wir uns einmal wirklich in LUTHER hinein: Wenn ihm die geringfügigen Verfehlungen seiner Vergangenheit so schwere Stunden machen konnten, so beweist er gerade damit, daß ihm zwei Überzeugungen eben noch unabänderliche feststehen: er hat nicht nur eine unerschütterliche Gewißheit vom Dasein Gottes, sondern auch eine ganz bestimmte Vorstellung von seinem Wesen, - daß er der über alle Begriffe heilige Gesetzgeber und Richter der Menschen ist. Wo sind beim kämpfenden TOLSTOI diese beiden Voraussetzungen? Und wenn sie fehlen, darf man ihm dann die  Folgen  aus diesen Voraussetzungen zumuten? Wo keine Gewißheit vom Dasen eines heiligen Gottes ist, da kann wohl auch ein mächtiges Verlangen nach Vervollkommnung vorhanden sein, da kann sich wohl auch ein lebendiges Gefühl der eigenen Unkraft regen - und beides  haben  wir bei TOLSTOI gefunden - es  kann  dies alles aber gar nicht als ein "Sündengefühl" zu Bewußtsein kommen, sondern nur als ein - vielleicht sehr starkes - Gefühl der Unbefriedigung, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, - ganz wie bei TOLSTOI!

Es ist heutzutage sehr wichtig, diesen Zusammenhang klar und deutlich zu überschauen. Vielleicht knüpfe ich da am besten an eine eigene Erfahrung an. Ich habe jahrelang in dem Gedanken gelebt: der einzige Weg zu Gott ist die Reue über deine Sünden; du mußt einsehen, daß du die Vergebung der Sünden brauchst, dann öffnet sich dir das hehre Wundertor des Christentums! Aber - das war nun das ewig Niederdrückende - ich war zwar ganz davon durchdrungen, daß ich ein unvollkommener, mangelhafter Mensch sei, allein zu einem wirklich echten und starken Reuegefühl wollte es durchaus nicht kommen. Erst sehr viel später sah ich ein, daß niemals ein Sündengefühl das Mittel sein kann, Gott zu finden, da ja dieses Gefühl eben die Gewißheit Gottes bereits voraussetzt. Sicherlich wird es Hunderte von Menschen geben, die sich in ähnlicher innerer Verwirrung befindent! Die alte Klosterfrage LUTHERs: wie erlange ich Gewißheit darüber, daß der heilige Gott mir persönlich gnädig ist?, sie ist für uns ganz zurückgetreten hinter der viel größeren und ernsteren  Lebens frage: wie erlange ich Gewißheit darüber, daß ein lebendiger Gott  da  ist? Freilich  die  Menschen dürften zu suchen sein, die mit demselben strengen Ernst wie LUTHER um diese Fragen ringen!

Ist aber einem von uns die Gewißheit Gottes aufgegangen, dann steht es wieder nicht so, daß wir nun alle Seelenkämpfe LUTHERs nachzuholen hätten, weil uns ja die  zweite  Voraussetzung LUTHERs fehlt, daß er sich Gott als einen in erster Linie fordernden und richtenden Gesetzgeber vorstellte, während und von Jugend an der Vatername als Symbol für Gott in die Seele geprägt wird. Aber doch wird man sagen können: je lebendiger und ausschließlicher das Gottesbewußtsein unser ganzes Wesen durchdringt, umso mehr wird auch das Gefühl der eigenen Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit einen religiösen Charakter annehmen. Gerade an TOLSTOI können wir das nachweisen. In einem Brief aus seinen letzten Jahren findet er sogar sehr starke Ausdrücke der Selbstverurteilung.
    "Ich erkenne an, daß ich schuldig und abscheulich und verachtungswürdig bin, darum, daß ich die christliche Lehre nicht erfülle. Ich habe noch nicht ein Zehntausendstel erfüllt, das ist wahr, und ich bekenne mich schuldig. Belehrt mich, klagt mich an ... helft mir! Mein Herz bricht in Verzweiflung darüber, daß wir uns alle verirrt haben!" -
Wer also TOLSTOI hier ohne weiteres mit LUTHER vergleichen und ihn von hier aus heruntersetzen wollte, der würde es wohl weniger aus Frömmigkeit als aus Gedankenlosigkeit tun.

Doch TOLSTOIs Frage lautet ja nicht: gibt es einen  Gott?  sondern sie lautet: gibt es überhaupt einen  Sinn des Lebens?  und das ist sicher die noch tiefere und umfassendere Frage. Die Frage nach dem Dasein Gottes  kann  eine bloße "Frage der Weltanschauung" sein; hier aber ist das Problem des Lebens selbst gestellt. Doch, genau besehen, hat TOLSTOI nicht  diese  Frage gestellt, sondern eine andere, die Frage:  was  ist der Sinn des Lebens?  Daß  es einen Sinn des Lebens geben muß, das ist ihm, wie wir sahen, in den entscheidenden Stunden seines Lebens festgestanden.

Jeder Mensch und jeder noch so große Denker hat unterhalb seiner Gedanken und Fragen schließlich einen Bereich, wo er nicht mehr denkt und fragt, sondern - glaubt. Und man hat ihn erst ganz ergründet, wenn man den Spaten bis zu diesem harten Urgestein in seiner Seele geführt hat. Auch TOLSTOI hat seinen Urglauben gehabt, und er schildert zunächst sich selbst, wenn er später einmal sagt:
    "Der Mensch hat in seiner tiefsten Seele den Glauben und das unauslöschliche Verlangen, daß sein Leben ein Wohl für ihn ist und einen vernünftigen Sinn hat."
Das ist ihm die Grundtatsache des Seelenlebens und wer nicht hiervon ausgeht, der gleicht einem Menschen,
    "dem man auf einem Zettel eine genaue Angabe dessen gegeben hat, was er braucht, und der, da er diesen Zettel nicht zu lesen versteht, diesen Zettel weggeworfen hat und alle ihm Begegnenden frägt, ob  sie  nicht wüßten, was er braucht."
Wir müßten uns also, ehe wir weitergehen, eigentlich die Frage vorlegen: kann man das Lebensproblem nicht vielleicht noch tiefer und gründlicher erfassen als TOLSTOI? Allein solche Fragen werden wohl niemals durch bloßes Nachdenken, sondern durch das Erleben starker Persönlichkeiten entschieden. Vielleicht ist aber hier wirklich die Grenze des menschlichen Fragens erreicht, denn jenseits dieser Grenze sehen wir das Gespenst des Selbstmordes stehen. Wo wirklich ein Mensch gar nichts mehr in sich trägt von diesem tolstoischen tiefen Glauben, "daß sein Leben ein Wohl für ihn sei und einen vernünftigen Sinn habe", dann müßte er sich doch eigentlich das Leben nehmen. Wollte jemand etwa an den Buddhismus erinnern, so wäre ihm zu entgegnen, daß der Buddhismus allerdings nichts anderes ist, als die feinste und edelste Form des Selbstmordes, ein Selbstmord der Seele, weil der altindische Seelenwanderungsglaube den  Lebens hintergrund bildet; bei, wo diese Voraussetzung fehlt, müßte eine ähnliche pessimistische Überzeugung, so viel ich sehen kann, in ihrer Konsequenz unbedingt zum wirklichen Selbstmord führen.

Gegen den Selbstmord aber, das haben wir wieder an TOLSTOI mit einleuchtender Klarheit gesehen, gegen den Selbstmord sträubt sich etwas im Menschen, ein Trieb, der ihm ins Innerste seines Wesens gepflanzt ist, der sein eigentlicher Grundtrieb ist, der  Selbsterhaltungstrieb.  Und nun können wir unsere Betrachtung umkehren! Was TOLSTOI zur Religion getrieben hat, das ist nichts anderes gewesen als der Selbsterhaltungstrieb, ein bei höchstem Weltbewußtsein und Selbstbewußtsein tätiger Selbsterhaltungstrieb, der ihn mit zwingender Notwendigkeit zur Religion geführt hat.

Ein sehr scharfsinniger Denker der Gegenwart, CHRISTOPH SCHREMPF, hat über TOLSTOIs "Bekehrung" die Bemerkung gemacht, der Schluß, durch den TOLSTOI zum Glauben gekommen ist, habe eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einem Trugschluß; denn, wenn ich nur durch den Glauben an Gott Leben finde, so beweist das nicht, daß  Gott existiert,  sondern nur, daß der  Glaube  das  Leben  ist. Rein logisch wird da SCHREMPF im Recht bleiben. Aber ob man, bei rein logischer Untersuchung, nicht bei jedem Denker im Untergrund seiner Weltanschauung auf voreilige Schlüsse, auf unbewiesene Annahmen stoßen würde? Der berühmte Schluß des CARTESIUS: ich denke, also lebe ich! scheint mir jedenfalls kein besserer Schluß zu sein.

Doch mit dieser rein logischen Stellungnahme hat man nicht den richtigen Standpunkt gegenüber den tolstoischen Erlebnissen gewählt. Man könnte eher von einer ethischen Hypothese, von einem "Postulat der praktischen Vernunft" sprechen, und TOLSTOIs praktische Erlebnisse den kantischen theoretischen Sätzen zu einem interessanten Vergleich gegenüberstellen, - wenn man ihm damit ganz gerecht würde. TOLSTOI geht aus von der Tatsache: ich bin da und  will leben!  Das ist ihm das Grundfaktum seiner ganzen Existenz, die Urtatsache der Welt überhaupt. Ich  kann  den Wunsch zu leben in mir selbstverständlich verneinen, allein damit verneine ich eben die Urtatsache meiner Existenz. Bejahe ich aber meinen Lebenswillen, so ist diese Tatsache, daß ich leben will, für sich allein ungenügend, unvollkommen, ja unsinnig und unhaltbar. Der  Wunsch  zu leben fordert zu seiner Ergänzung die  Möglichkeit  zu leben; sonst ist er nur ein Fragezeichen. Stoße ich nun, nachdem mir so das Leben selbst fragwürdig und unhaltbar geworden ist, auf etwas, das mir allein die Möglichkeit des Lebens gewährt, so finde ich gleichsam die zweite Tatsache, auf die die erste nur ein Hinweis ist, gleichsam die Erfüllung zu dieser Urweissagung. Wie nun etwa ein Hungriger aus der bloßen Tatsache seines Hungers schließt, daß es irgendwo eine Sättigung geben muß, und wenn er Sättigung findet, daraus schließt, daß das, was ihm Sättigung gewährt hat, ebenso wirklich sein muß, wie sein Hunger, so wird der, der in der Voraussetzung irgendeiner Wirklichkeit die einzige Möglichkeit seiner Existenz findet, zur Annahme dieser Wirklichkeit ebenso notwendig sich gedrungen fühlen, wie zur Bejahung seines Lebenswillens selbst.  Das etwa ist der Vorgang in Tolstois Seele gewesen.  Man könnte nun fragen, ob solche Gründe zur Annahme von "Wirklichkeiten" führen dürfen, allein - da ließe sich vielleicht zurückfragen, ob wir irgendwo  bessere  Gründe zur "Setzung von Realitäten" haben.

Eine Frage zwingt sich uns allerdings auf: TOLSTOI fand die einzige Möglichkeit zu leben in der Überzeugung vom Dasein Gottes: wie steht es mit den Menschen, die diese Annahme nicht für lebensnotwendig halten oder eine andere widersprechende Annahme für sich in gleicher Weise als unentbehrlich bezeichnen? Mit anderen Worten: Hat TOLSTOIs Schluß etwas Allgemeingültiges und Notwendiges? Gewiß nicht in dem Sinn - das beweisen die Tatsachen -, daß alle Menschen das Gleiche  erleben Aber vielleicht in dem Sinn, daß alle Menschen, wenn sie das gleiche Wachbewußtsein hätten gegenüber der Welt und gegenüber sich selbst, ähnliches erleben  müßten?  Theoretische Betrachtungen darüber würden uns wenig helfen. Wir können aber TOLSTOI einmal neben andere große Geister der Menschheit stellen und ihn in seinem Ringen um die Lebensprobleme mit ihnen vergleichen. Wir denken da an DAVID FRIEDRICH STRAUSS, der nach dem Verzicht auf das Christentum in den Genüssen edler Kunst eine resignierte Befriedigung fand, während TOLSTOI, selbst Künstler und ein so bedeutender Künstler, die gesamte Kunst als ein täuschendes, ablenkendes und irreführendes Spiegelwerk empfindet, solange die letzten Lebensfragen ungelöst sind; wir denken an SCHOPENHAUER, der mit großer Beredtsamkeit einen "Sinn des Lebens" verkündete, mit dem er selbst nicht Ernst machen wollte oder konnte, während wir sehen, wie TOLSTOI gerade SCHOPENHAUERs Lehre ernst nimmt und dabei auf neue harte Tatsachen des Seelenlebens stößt; wir denken an NIETZSCHE, der seine Sehnsucht philosophisch in Musik setzte, mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit lebte, während TOLSTOI neben diesem Zukunftsromantiker steht wie ein strenger Realist, der nur gegenwärtige Wirklichkeiten gelten läßt; wir denken selbst an GOETHE-Faust, der von der aussichtslos erscheinenden Fahrt auf dem Ozean der großen Fragen sich in den Hafen einer gemeinnützigen Wirksamkeit flüchtete, während TOLSTOI eben in diesem Hafen seine Ruhe nicht findet und sich wieder hinauswagt auf das gefährliche Meer, - weil er fühlt, daß eben dieses Wirken für andere gerechtfertigt werden muß durch eine klare Einsicht in den Sinn des Lebens; wir denken an das alles und können zumindest das Eine nicht leugnen, daß sich TOLSTOI an Gründlichkeit und Entschlossenheit im Durchdringen zum Lebensproblem recht wohl neben ihnen allen sehen lassen kann. Wenn Tausende von Menschen zeitlebens ihre Wohnung aufschlagen auf einem Grund, den er auch geprüft und als unsicher empfunden hat, so ist das gewiß kein Beweis gegen  ihn!  Jedenfalls haben wir TOLSTOI einen Menschen vor uns, der ohne jede Erschütterung von außen, ja ohne jeden Einfluß von außen, ganz von innen heraus, nur durch den Wunsch, nicht sein Leben zu verlieren, durch den Selbsterhaltungstrieb, mit aller Notwendigkeit zur Religion geführt wurde. Ganz folgerichtig hat er dann auch Gott als "das Leben" bezeichnet.

Von hier aus wagen wir noch einige Fragen: Ist vielleicht die Religion, wissenschaftlich betrachtet, überhaupt nichts anderes als die feinste und edelste Blüte des Urtriebs der menschlichen Natur, des Selbsterhaltungstriebs? Ist vielleicht das Ich des Menschen so angelegt, daß es sich bei vollkommen klarem Bewußtsein in dieser Welt nur durch Religion aufrechterhalten kann. Ist eine solche Auffassung eine Herabwürdigung der Religion oder nicht vielmehr gerade die Erkenntnis ihrer ursprünglichen Notwendigkeit, ihres unauflösbaren Zusammenhangs mit dem Dasein? Vorausgesetzt, daß es einen Gott gibt, konnte er die Religion innerlicher und fester mit dem Dasein verbinden, als indem er sie an den mächtigsten und ursprünglichsten aller Triebe knüpft? Ließe sich vielleicht nachweisen, daß sich in der Tat bei jedem Menschen aus seinem Selbsterhaltungstrieb irgendeine religiöse Weltauffassung entwickelt, mag diese auch manchmal recht ungenügend und auf die Dauer unbefriedigend sein?

Doch wir wollen nicht mit solchen Fragen schließen. Vielmehr drängt es mich, zum Schluß dieses Abends noch ein Wort zu finden, in dem wir alle, wenn auch verschiedenen Lebensauffassungen huldigend, uns in unseren Gedanken und Gefühlen vereinigen können. Vielleicht dient uns dazu ein Ausspruch, den wir in ganz ähnlicher Weise bei so verschiedenen Geistern, wie PASCAL, GOETHE und FEUERBACH finden. Recht lebhaft ist uns allen, wie ich hoffe, heute abend zu Bewußtsein gekommen: das interessanteste Studium für den Menschen ist und bleibt  der Mensch! 
LITERATUR Friedrich Rittelmeyer, Tolstois religiöse Botschaft, Ulm 1905