cr-4W. LütgertM. SeilsJ. SimonJ. G. HamannF. Rittelmeyer    
 
GEORG BAUDLER
Hamanns Londonerlebnis

Sokratische Denkwürdigkeiten
Vernunft und Sprache
Hamann und Herder
Dieses vom "Hören des Wortes" geprägte Denken stellt Hamann dem Denken des autonomen Verstandes gegenüber, um damit die babylonischen Turmbauten menschlicher Rationalität niederzureißen.

Das Londoner Bibelerlebnis war für HAMANN der während seines ganzen Lebens und seiner gesamten Autorschaft bleibend gegenwärtige Ansatzpunkt des Denkens. Das in seinem Erlebnis Erfahrene war das menschliche Wort Gottes, das HAMANN, geweckt vom Wort der Hl. Schrift, in seinem Herzen sprechen hörte.

Um diesen erfahrenen Anspruch des Wortes in seiner letztlich unauslotbaren Tiefe wenigstens annähernd begreifen zu können, ist es zunächst notwendig, in großen Zügen HAMANNs Entwicklungsgang zu verfolgen. Als Sohn des vielbesuchten städtischen Baders in Königsberg wuchs HAMANN zusammen mit seinem jüngeren Bruder auf und wurde von den frommen und tiefgläubigen Eltern im lutherischen Glauben erzogen. Von Kindheit an litt er unter Sprachstörungen und wenngleich er wenig dadurch auffiel, so war er doch zeit seines Lebens ein Stotterer. Nach verschiedenartiger Schulausbildung, in der HAMANN nach seinen eigenen Worten zwar eine ganze "Jahrmarktsbude" voll Wissen gewann, aber desto weniger Schulung im systematischen Denken, ging er an die Universität seiner Heimatstadt, um dort evangelische Theologie zu studieren. Er brachte es aber nicht fertig, sich auf dieses Studium zu konzentrieren, sondern ging seinen verschiedenen wissenschaftlichen Neigungen nach; vor allem die Literaturwissenschaften haben ihn dem Theologiestudium entfremdet.

Nur "zum Schein", wie er sagt, sattelte er um zur Rechtswissenschaft, ohne hier ernsthaft einen Abschluß anzustreben. Unter dem Eindruck des Londoner Bekehrungserlebnisses sieht er in seiner Mißachtung eines geordneten "Brotstudiums" eine moralische Schuld, vor allem gegenüber seinem alternden Vater, der viele Opfer für ihn gebracht hatte und nun keine "Früchte" sehen konnte. Nach einem fast sechsjährigen Studium der verschiedensten Wissenschaftsbereiche suchte HAMANN nun anstelle eines Studienabschlusses nach einer, wie er sich ausdrückte, "Gelegenheit", sein Glück zu machen und "in der Welt seine Freiheit zu versuchen". Nach verschiedenen Versuchen als Hauslehrer, in denen er seine pädagogische Aufgabe sehr ernst nahm, aber meist schon nach kurzer Zeit mit seinen Brotgebern in Konflikt kam, war ihm der "Schulstaub verhaßt geworden" und er beschloß, im Handelshause seines Freundes BERENS mitzuarbeiten und hier sein Glück zu versuchen. In dieser Zeit trifft ihn sehr tief der Tod seiner Mutter. Unmittelbar darauf erhielt er vom Handelshause BERENS "Geld und Vollmacht" zu einer Reise nach London, deren Sinn und Zweck trotz der jüngsten Forschungen KOEPPs 1) nicht eindeutig feststellbar sind.

In unserem Zusammenhang ist nur die Tatsache wichtig, daß alle Hoffnungen und Bemühungen HAMANNs, in London jene "Gelegenheit" zu finden und auszunützen, nach der er seit dem Abbruch seines Studiums suchte, total gescheitert sind. Das beginnt mit dem mißlungenen Versuch, von seinem Sprachfehler geheilt zu werden, setzt sich fort im Scheitern seines mysteriösen Auftrags, sowie in wachsender Verschuldung und Geldknappheit und endet schließlich mit der sogenannten "Senel-Affäre": HAMANN, der selber die Laute spielt und sich damit in Londoner Kaffeehäusern Geld verdiente, glaubte in einem Lautenisten einen Freund gefunden zu haben. Längere Zeit lebte er mit ihm in dessen Wohnung, bis er aus Briefen erfuhr, daß sein Freund in homosexuellen Beziehungen zu einem Gutsbesitzer namens SENEL stand und von diesem regelmäßig Geld empfing. Spekulationen, wonach HAMANN in seiner Londoner Zeit selbst in homosexuelle Beziehungen verstrickt gewesen sei und man von daher sein "Bekehrungserlebnis" verstehen müsse, haben sich nach KOEPPS eindringender Forschung eindeutig als falsch erwiesen.

Umso größer war seine innere Enttäuschung. Abrupt trennte er sich von dem Lautenisten und stand wieder fast ohne Geld auf der Straße. Er logierte und spielte in verschiedenen Kaffeehäusern, bis er endlich bei guten Leuten eine kleines und billiges Zimmer fand. Dort kapselte er sich völlig ein, lebte, durch Not gezwungen, von "Wassergrütze und einmal des Tages Kaffee" und suchte Trost und inneren Frieden zu finden bei seinen Büchern. Aber die "Dürre" und "Wüste" in der er sowohl äußerlich als auch seinem inneren Zustand nach steckte, war zu groß. Der Geschmack an den Büchern war ihm verdorben und sie waren ihm "leidige Tröster". Wie sehr HAMANN vor allem unter der menschlichen Enttäuschung und Einsamkeit litt, zeigt sein Bekenntnis in den "Gedanken über meinen Lebenslauf", daß er in dieser Zeit "Gott immer um einen Freund bat".

Am 13. März 1758, nachdem er alle Lust an der Lektüre seiner Bücher verloren hatte, begann HAMANN ein zweites Mal die Bibel durchzulesen. Um sich dabei zur Aufmerksamkeit und Sammlung zu zwingen, beschloß er, seine Gedanken bei der Bibellektüre niederzuschreiben. Diese umfangreiche Niederschrift ist uns erhalten. HAMANN nannte sie zuerste "Tagebuch eines Christen" und später "Biblische Betrachtungen". In diesen Blättern, die unmittelbarer, tagebuchartiger Ausdruck seines inneren Erlebens sind, seiner Urerfahrung des Wortes, ist im Keim schon HAMANNs gesamtes Denken enthalten. Alles, was er später schreibt, ist zutiefst in der hier gewonnenen religiösen Erfahrung des Wortes begründet.

Dieses "Bibelerlebnis", wie wir es zunächst etwas vordergründig nennen wollen, war seiner inneren Struktur nach ein Sprachereignis. KOEPP hat im Anschluß an seine Erforschung der Senel-Affäre mit Recht festgestellt, daß im Gegensatz zur bisherigen Auffassung das Londoner Erlebnis nicht eigentlich eine "Bekehrung" aus dem klaren Bewußtsein einer bestimmten Sünde, (eben der sexuellen Verirrung) heraus gewesen ist. Das einzige Mal, wo HAMANN den Terminus "Bekehrung" auf seine Londoner Situation anwendet, bezieht sich das dabei zugrunde liegende Schuldbewußtsein eindeutig auf den "Kummer", den er, offenbar durch seinen ungeordneten Ausbildungsweg, seinem Vater bereitet hat. Dieses Motiv taucht in den "Gedanken über meinen Lebenslauf" öfter auf. Diese Einsicht ist aber nur eine von vielen, zum Teil rein theologischen "Einsichten", die HAMANN durch sein Londoner Bibelstudium gewonnen hat.

KOEPP stellt eine lange Liste der neuen Erkenntnisse HAMANNs zusammen; es sind jene Grundeinsichten, die sein späteres Sprachdenken im Kampf mit der Umwelt entfaltet. Trotzdem dürfter auch der von KOEPP vorgeschlagene Terminus "Erleuchtung", der bei HAMANN selbst nicht vorkommt, etwas zu vage sein, um das Londoner Geschehen in seinem Kern hinreichend zu charakterisieren. Denn der Gewinn neuer Einsichten und Erkenntnisse, das "Aufgehen der Augen", ist nur die erste und größte Frucht dessen, was sich in ihm ereignet hat, nicht aber das Ereignis selbst. Das eigentliche Londoner Geschehen bestand vielmehr darin, daß sich der Mensch JOHANN GEORG HAMANN beim Lesen der Heiligen Schrift in einer nur religiös erfahrbaren Tiefe seines Herzens als von Gott angesprochen erfuhr. Diese Erfahrung war keine "Vision"; sie vollzog sich nicht im Schauen, sondern im Hören; es war aber auch keine Privatoffenbarung, in der HAMANN irgend eine verborgene Mitteilung erfahren hätte, vielmehr war es, noch vor allem konkret Inhaltlichen des Gesagten, einfach die Erfahrung des göttlichen Anspruchs als solchen, die, aufgebrochen aus der Not des Herzens, HAMANN so tief getroffen hat.

Wie ist das genauer zu verstehen? Hören wir zunächst auf das, was HAMANN selber sagt. Durch menschliche Enttäuschung einsam geworden und bedrückt von der Not der äußeren Umstände, greift er zur Bibel. Und was die anderen Bücher nicht vermocht hatten, nämlich ihn zu fesseln und von seiner Not und Enttäuschung abzulenken, gelang von Anfang an durch die Lektüre dieses ihm längst bekannten Buches. "Je weiter ich kam, je neuer wurde es mir, je göttlicher erfuhr ich den Inhalt und die Wirkung desselben". "Ich vergaß alle meine Bücher". Und zwar fesselte ihn das Buch deshalb, weil er, HAMANN selbst, sich von den Worten der Schrift angesprochen fühlte.
"Ich erkannte meinen eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volkes, ich las meinen eigenen Lebenslauf, und dankte Gott für seine Langmut mit diesem seinem Volk, weil nichts als ein solches Beispiel mich zu einer gleichen Hoffnung berechtigen konnte."
Diese "eigenen" Verbrechen sind dabei, wie sich aus den "Biblischen Betrachtungen" selbst eindeutig ergibt, nicht etwa sexuelle Verirrungen, sondern eben das, was "Gottes Weg" zum Menschen in der Heilsgeschichte immer wieder verbaut: "Gleichgültigkeit" und "Trotz", "Fühllosigkeit im Rausch der Lüste" (gar nicht die Lüste selbst), innere Verhärtung, durch die wir gleichsam zur Salzsäure erstarrt sind wie LOTs Frau, jene Herzlosigkeit, mit der wir in den Gerichten Gottes lieber ein "Schauspiel", eine "Augenweide" sehen, als uns innerlich davon berühren und ansprechen zu lassen - mit einem Wort: Die "Taubheit" und "Blindheit", mit der wir Gott gegenüber "verschlossen" und "verblendet" sind.
"Wenn ihr mich (Gott) nicht hören wollt, dies ist der Anfang der Sünde".
Je weiter HAMANN in seiner Lektüre kam, desto mehr begann sich seine eigene Verhärtung zu lösen und desto stärker und inniger wußte er sich von Gottes Wort angesprochen.

Dieser Vorgang erreichte einen ausgeprägten, von HAMANN in seinen "Gedanken über meinen Lebenslauf" schriftlich festgehaltenen Höhepunkt. "Mit diesen Betrachtungen", so schreibt er,
"las ich den 31. März des Abends das 5. Kapitel des 5. Buches Moses, verfiel in ein tiefes Nachdenken, dachte an ABEL, von dem Gott sagte: Die Erde hat ihren Mund aufgetan, um das Blut deines Bruders zu empfangen. - Ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern, als die Stimmes des Bluts, als die Stimme des erschlagenen Bruders, der sein Blut rächen wollte, wenn ich selbiges beizeiten nicht hörte und fortführe, mein Ohr gegen selbiges zu verstopfen, - daß eben dies KAIN unstätig und flüchtig machte. Ich fühlte auf einmal mein Herz quellen, es ergoß sich in Tränen und ich konnte es nicht länger - ich konnte es nicht länger meinem Gott verhehlen, daß ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war. Der Geist Gottes fuhr fort, ungeachtet meiner großen Schwachheit, ungeachtet des langen Widerstandes, den ich bisher gegen sein Zeugnis und seine Rührung angewandt hatte, mir das Geheimnis der göttlichen Liebe und die Wohltat des Glaubens an unseren gnädigen und einzigen Heiland immer mehr und mehr zu offenbaren".
Im 5. Kapitel des Deuteronomiums wiederholt MOSES vor seinem Volk die zehn Gebote. Dabei ist mehrmals die Rede von jenem Rettergott, der sein Volk aus der Not und dem Elend der ägyptischen Knechtschaft herausgeführt hat "mit einer mächtigen Hand und mit ausgerecktem Arm". HAMANN ist hier sicher an seine eigene Not und sein eigenes Elend erinnert worden und hat die Richtung erkannt, in der auch für ihn die Rettung lag. Dann heißt es wiederholt in dem Kapitel: "Wir haben seine Stimme aus dem Feuer gehört". Die Stimme des rettenden Gottes redet aus der "Finsternis", aus dem "Dunkel" und aus dem "Feuer".

Diese Schriftworte haben HAMANN zum Nachdenken gebracht. Er ist sich neu und tiefer der "Finsternis" und des "Dunkels" seiner eigenen Lage inne geworden. Das Feuer der Not und Einsamkeit brannte in ihm auf, die Feuerqual einer leidvoll erfahrenen Diskrepanz zwischen der Hoffnung und Sehnsucht dessen, der ausgezogen war in ein fremdes Land, um dort sein "Glück" und seine "Freiheit" zu versuchen und der faktischen Not und Einsamkeit, in der er sich vorfand. HAMANNs Londonerlebnis bestand nun darin, daß auch er, wie das erwählte Volk, aus dem Feuer dieser Not heraus die Stimme Gottes vernahm. Das Wort der Heiligen Schrift vermochte diese Stimme Gottes freizulegen und zum Hören zu bringen, weil es selber der Widerhall dieser Stimmer Gottes war (und für den glaubenden Menschen sogar im letzten mit ihr identisch ist).

Freilich ist die Stimme, die HAMANN gehört hat, nicht mehr die Stimme des mächtigen Herrschergottes des Alten Testaments, sondern die Gottesstimme des Neuen Testaments: Es ist die Stimme eines Gottes, der unser "Bruder" wurde und am Kreuze für uns starb. Es ist kein Wort von der Macht und Herrlichkeit, sondern das "Seufzen und Jammern" eines "erschlagenen Bruders". Und doch ist die Wirkkraft dieser Stimme des gekreuzigten Gottes vielleicht noch größer als das befehlende Machtwort des Herrschergottes: HAMANN hat das Wirken dieser "Knechtsgestalt des Wortes" erfahren "als ein zweischneidig Schwert, das durchdringt bis zur Scheidung der Seele und des Geistes, der Gebeine und des Marks in demselben, das die Gedanken und Triebe des Herzens sichtet", die Verstocktheit des Herzens aufbricht, das Leben von Grund auf ändert und bleibend prägt.

So kommt vielleicht noch eine dritte Differenz in HAMANNs Londonerlebnis zum Ausdruck, die freilich in ihrer grundsätzlichen und allgemeinen Bedeutung hier nicht erörtert werden kann: Die Differenz von Wort und Stimme. HAMANN hält die Begriffe nicht im einzelnen auseinander. Aber dort, wo er von seinem eigentlichen Londonerlebnis redet, spricht er stets von der "Stimme", die ihn getroffen hat. Die Stimme liegt dem gesprochene Wort voraus, sie ist als solche noch nicht klar artikuliert, sie teilt nicht begrifflich mit, sondern spricht durch ihren unmittelbaren Ausdruck an (eben durch das "Seufzen und Jammern", das HAMANN in der Tiefe seines Herzens gehört hat). Der Kern des Londonerlebnisses besteht also nicht primär, wie KOEPP meint, in einer neuen mitgeteilten Erkenntnis, sondern im Erlebnis des Angesprochenseins, dessen existenzielle Tiefe in erster Linie durch die Unmittelbarkeit des Ausdrucks der Stimme und erst in zweiter Linie durch den mitgeteilten, begrifflich und reflex erfaßten Inhalt vermittelt wird.

Zusammenfassend kann also gelten: HAMANN hat in seinem Sicheinlassen mit der Welt die tiefe und vom Menschen her unüberbrückbare Diskrepanz erfahren, die als von ihm verschuldete letztlich tödliche Not alle Korrespondenz des Menschen mit der "Welt" belastet. Am Höhepunkt und im "Feuer" dieser Not jedoch ist sich HAMANN des absoluten und tragenden Grundes inne geworden, der vom Menschen her unverfügbar, aber gerade so "wirklich" immer schon die tödliche Diskrepanz überbrückt, indem der alle Korrespondenz des Menschen mit der Welt im voraus trägt: HAMANN hat erfahren, daß in den tiefsten Grund aller Not des Menschen in seiner Korrespondenz mit der Welt jene "Stimme" eingesenkt ist, die auch noch als "Seufzen und Jammern" eines Gekreuzigten (und gerade so) die in Freiheit wirkmächtige, aufbrechende und Leben und Lebenswerk des Menschen tragende Stimme des absoluten und rettenden Gottes ist. HAMANN hat die leidvolle Korrespondenz des Menschen mit der Welt durchgehalten und, vom Wort der Heiligen Schrift geleitet, in eine Tiefe geführt, in der der absolute Gott selbst als jener Grund erfahren wird, der das Kreuz der Korrespondenz des Daseins auf sich nimmt und trägt.

Weil diese Stimme den bleibenden und tragenden Grund der Korrespondenz des Menschen mit der Welt bildet, ist sie nicht plötzlich und auf einmal laut geworden, sie ist vielmehr schon immer da, nur sind unsere Ohnren meist "gegen selbige verstopft", so daß wir sie nicht hören. "Im Abgrund meines Herzens" ist immer schon diese Stimme, aber der "Satan läßt sie uns nicht hören"; Gott aber hört sie, ehe wir selbst sie hören und sucht uns auf sie aufmerksam zu machen. Gott weiß um unsere Not und Bedürftigkeit, er
"hört uns schreien, wenn uns der Schlaf oder Rausch der Sünden an nichts weniger als uns selbst denken läßt, er weiß die Not, in der wir alsdann sind; diese unsere Not ist das Geschrei, das Gott nötig hat, uns zu hören. Wie eine Mutter das Geschrei ihres Kindes ohne Sprache versteht, so fühlt Gott unseren Hunger und Durst, unsere Blöße und Unreinigkeit."
Wenn Gott uns durch sein Wort, das von außen aus der Heiligen Schrift zu uns spricht, dieser letzten, von Gott angenommenen Bedürftigkeit inne werden läßt, dann erkennen wir, daß sie durch keine irdische Wirklichkeit mehr gestillt werden kann.
"Wir hören alsdenn in unserem Herzen das Blut des Versöhners schreien; wir fühlen es, daß der Grund desselben mit dem Blut besprenkt ist, das zur Versöhnung der ganzen Welt vergossen worden ist."
In der Tiefe des Herzens hören wir dann einen "Engel, der sich für schuldig erkennt", und zu Gott um Gnade ruft. So hat HAMANN in London unmittelbar, ohne inhaltlich und begrifflich darüber zu reflektieren, jene unendliche Offenheit erfahren, die den endlichen, sterblichen Menschen über alles Endliche hinaus hinrichtet auf das unendliche Geheimnis Gottes. HAMANN spricht vom "Ruf" der Gnade und der Erlösung, der an die Welt ergangen ist, und in uns widerhallt als schreiende Not und Bedürfigkeit. HAMANN faßt diese von Gottes Gnade geschenkte Offenheit nicht als feststellbaren Befund, sondern dynamisch als tragenden, aber unverfügbaren Grund der Korrespondenz des Menschen mit der Welt. So wie unsere leibliche Natur ihre Bedürnisse in uns weckt, bewirkt auch die Gnade gleichzeitig eine "Schöpfung" und "Erfüllung" unserer "Gedanken und Wünsche" nach dem Unendlichen; und wie die Natur im voraus das bereitstellt, was das natürliche Bedürfnis braucht, ja als schon geschaffene Erfüllung vieleicht dieses Bedürfnis braucht, ja als schon geschaffene Erfüllung vielleicht dieses Bedürfnis erst weckt, so hat auch die Gnade "schon für uns geschlachtet und zugerichtet und uns ihr Abendmahl bereitet, früher als wir uns unseres Daseins und künftigen Hungers bewußt waren". Ja erst dieses schon im voraus bereitete Gastmahl hat unsere "Aufweckung" aus dem Schoß der Nacht bestimmt.

Hier ist der eigentliche und tiefste Ursprung von HAMANNs "Verbalismus", der aller Wirklichkeit Wortcharakter zuerkennt. Alle Wirklichkeit weist in den Augen dessen, der von Gottes Wort getroffen und aufgeschlossen worden ist, hin auf die Liebe Gottes, die diese gleichwohl leidvolle Wirklichkeit annimmt und dadurch rettet; in dieser Bedeutung ist die Wirklichkeit worthaft und zwar ist sie Träger von Gottes Wort und Verheißung, so daß sie wirklich (wenn auch mit einer bleibenden Diskrepanz), zu korrespondieren vermag mit der auf das Unendliche gerichteten Sehnsucht des Menschen: "Alle Erscheinungen in der Natur sind Träume, Gesichter, Rätsel, die ihre Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben". Im Gegensatz zu den Begebenheiten der Schrift ist dieser Wortcharakter der außerbiblischen Wirklichkeit weniger ausgeprägt, weniger klar und deutlich, nur verschwommen und chiffrehaft. "Das Buch der Natur und Geschichte sind nichts als Chiffern". Darum kann es auch nur der in letzter Tiefe verstehen, dessen Gehör vom Wort Gottes in der Schrift geführt und geöffnet worden ist. Dieses Wort ist der "einzige Schlüssel, uns eine Erkenntnis in beiden zu eröffnen". Nur dem Menschen, der "aufgeschlossen" vom "Schlüssel" des Gotteswortes, in der Grundhaltung des Hörens Natur und Geschichte betrachtet, werden beide zu einem "Buch" das vom "weisen Schöpfer" und "gerechten Regierer" und durch dies alles vom liebenden Gott erzählt.

In dieser Wendung scheint sich HAMANNs Gedanke vom Wortcharakter der Wirklichkeit in ein bloß erbauliche Redewendung zu verflüchtigen. Aber HAMANN versteht trotz dieser manchmal vorkommenden Wendungen diesen Gedanken nicht subjektiv-erbaulich. Es schließt ja nicht das "Selbst-Sehen-Wollen", sondern das hörende Sehen, das "Sehen im Wort" die wahre Wirklichkeit dem Menschen auf. Ihr Wortcharakter ist daher ihr wahres Wesen und es geht hier nicht primär um religiöse Erbauung, sondern um echte Erkenntnis: "Einer gesunden Philosophie könnte sich hier ein weites Feld öffnen".

Bisweilen hat HAMANN versucht - freilich ohne recht weiter zu kommen - Ansätze für eine solche Philosophie zu finden. Er geht aus von dem noch näher zu erörternden Gedanken, daß alles wirkliche Geschehen, auch das außermenschliche in und wegen seiner Endlichkeit "Figuren" beschreibt, die sich in immer neuen Variationen wiederholen, und in ihrem "Grundriß" auf jenes Geheimnis hindeuten, in dem Gott die irdische Wirklichkeit als die seine annimmt. In diesem Sinn sind alle Schätze der Natur
"nichts als eine Allegorie, ein mythologisch Gemälde himmlicher Systeme, so wie alle Begebenheiten der weltlichen Geschichte Schattenbilder geheimerer Handlungen sind." "Wir sind Erde, aber diese Erde ist mit einem unsterblichen und vom Ruf der Gnade Gottes geprägten Geist verknüpft".
Diese Verknüpfung sieht das Auge, das "im Worte sieht".

Dabei erkennt es jedoch eine tiefe Diskrepanz, ein erschreckendes Mißverhältnis zwischen der unendlichen Bedürftigkeit des Menschen und der Endlichkeit und Vergänglichkeit des ihm Gegebenen. Es erfährt die Not und Unvollkommenheit der natürlichen Wirklichkeit. Sie kann keine Erfüllung geben, weil sie selber bedürftig ist. In der ganzen Schöpfung erklingt die Stimme der Not und Bedürftigkeit. Sie, die eigentliche Trägerin, mit allen Sinnen erfahrbares Wort der Verheißung, ein Vorbote der auf uns zugehenden Liebe Gottes sein sollte, hat selbst "Gottes Mildtägigkeit zu seinem Glücke nötig, hat seine Schranken, die Gott ersetzen muß, hat sein Maß, das er füllen muß". So spürt der Mensch, den Gott zum Hören auf den gnadenhaften Grund der Korrespondenz seines Daseins zwischen unendlicher Sehnsucht und endlicher, aber ursprünglich Gottes unendliche Verheißunt sinnlich erfahrbar machender Wirklichkeit aufgebrochen hat, einen nicht sein sollenden Riß, eine grausame und erschreckende Diskrepanz in dieser Dynamik, die umso tödlicher und quälender ist, als er sich dabei selber als Schuldigen erfährt: Erst der Mensch, der sich von Gott angesprochen, neu dem Hören auf den letzten Grund aller Korrenspondenz mit der Welt öffnet, leidet unter der Härte und Verstocktheit seines Herzens, die als Folge einer ständig sich wiederholenden "Usurpation" in ihm ist; einer Usurpation, in der er sich aus der Zugehörigkeit zu diesem Wort des tragenden Grundes löst und das immer erst aus dem Hören aufspringende begreifende Vernehmen autonom setzt und als "Vernunft" benützt, um mit ihr die Welt selbstmächtig zu erobern und einzurichten.

Die durch diese Usurpation entstandene "Dürre" und Leere des Geistes strahlt aus auf die den Geist umgebende geschöpfliche Wirklichkeit. "Vielleicht macht der Hunger, der Kummer, die Dürre, worin unser Geist lebt, den Leib so schwach, so gierig". Andererseits ist es aber, wie HAMANN am eigenen Leib erfahren hat, gerade auch dieser leibliche Hunger, der (in einer Art Rückschlag der Materie) dem Menschen helfen kann, zur Erkenntnis seiner sündigen Bedürftigkeit und damit zur "Bekehrung" zu gelangen. Das von Gott gewirkte neue Hören, die neue Zugehörigkeit zum Wort des tragenden Grundes jedoch deckt erst ganz und schonungslos diese verborgene Sünde und "Blöße" des Menschen auf: "... ich konnte es nicht länger meinem Gott verhehlen, daß ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war".

Was HAMANN in diesem neu aufgenommenen Hören vernimmt, ist die "Stimme", das "Seufzen und Jammern" einer gekreuzigten Kreatur, einer Kreatur, die, hingerichtet auf das Unendliche, ihre Endlichkeit erfährt. In seiner "Usurpation" vollzieht der Mensch immer wieder neu diese Kreuzigung. Das war, unter dem Aspekt der Sünde gesehen, der Vorgang, den HAMANN in London erlebte: Geöffnet vom Wort der Schrift, das in der äußeren und inneren Not seines Lebens zu ihm sprach als ein Wort, das "von jenseits der See kommt - gleich den reichbeladenen Kaufmannsschiffen, die Waren und Güter von ferne zuführen", hat er sich von der Usurpation der menschlichen Vernunft abgekehrt und zurückbekehrt zum Hören auf den gnadenhaften Grund der Korrespondenz des Menschen mit der Welt, der seinerseits selbst mit dem "Jenseits" des Schriftwortes korrespondiert und aus dem alles faktische Menschsein entspringt. In diesem Sinne war das Londoner Ereignis wirklich auch eine "Bekehrung", eine biblische "Metanoia", die freilich keine bestimmte Einzelsünde voraussetzt, sondern zu der jeder immer wieder neu aufgerufen ist.
LITERATUR - Georg Baudler, Im Worte sehen - Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970
    Anmerkungen
    1) Wilhelm Koepp, Magier unter Masken, Göttingen 1965