ra-2E. Laskvon KirchmannE. KaufmannJ. BinderL. Kuhlenbeckvon Wieser    
 
ADOLF MERKEL
(1836-1896)
Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie
zur "positiven" Rechtswissenschaft


"Die Geschichte der einzelnen Rechtsteile als bereits in relativer Selbständigkeit existierender sucht ihre Ergänzung in der Geschichte ihres Hervorwachsens aus einem gemeinsamen Stamm (der Differenzierung des Rechts in öffentliches und Privatrecht, Strafrecht und Zivilrecht etc.) und weiterhin in der Geschichte der Verselbständigung des Rechts selbst: seines Hervortretens aus dem Grund der Sitte, seiner Emanzipation von der Religion, seiner Scheidung von den übrigen Elementen des Ethos, seiner damit zusammenhängenden relativen Lösung vom nationalen Charakter."

"Wir finden als Zivilisten das normgebende Prinzip des Rechts im Willen, während wir als Kriminalisten ein ethisches Prinzip zum Ausgang nehmen. Vielleicht werden wir in ersterer Qualität demnächst den Nutzen an die Stelle des Willens setzen, aber als Kriminalisten fortfahren, das Moment des Nutzens als unter der Dignität des Rechts stehend aus der Reihe der für die Funktionen desselben bestimmenden Motive auszuscheiden."

"Ein einzelner Moment kann in einem ununterbrochenen fortschreitenden Prozeß nicht Gegenstand einer selbständigen Disziplin sein und ist für sich isoliert überhaupt nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung. Der preußische Staat, wie er sich am 1. Januar 1874 darstellt, die Konfiguration des Gewölks in der Mittagsstunde eines bestimmten Tages, die Natur überhaupt in einem gegebenen Moment, können für sich isoliert nicht den Inhalt einer wie immer benannten Disziplin abgeben. Das Bild eines Zustandes in einem gegebenen Moment gibt uns losgelöst von dem, was vorausging, über die einzelnen Merkmale hinaus keinen Aufschluß, wie ihn die wissenschaftliche Betrachtung fordert. Dies gilt auch vom gegenwärtigen Rechtszustand."


I.

Welche Stellung kommt der Rechtsphilosophie im Bereich unserer Wissenschaft zu? Wie ist ihr Begriff, wie ihre Aufgabe, wie ihr Verhältnis zur "positiven" Jurisprudenz zu bestimmen? Diese Fragen würden es verdienen, aufgeworfen zu werden, selbst wenn im Wesentlichen eine Übereinstimmung ihrer bestünde. Denn eine bündige Beantwortung derselben liegt nicht vor, es fördert aber unsere Gedanken immer, wenn wir uns um den einfachsten und korrektesten Ausdruck für dieselben bemühen. Jene Übereinstimmung ist indessen nicht vorhanden. Dagegen empfängt man gelegentlich den Eindruck, als ob ein stillschweigendes Einverständnis bestünde, diese Fragen zu berühren. Seitdem die Rechtsphilosophie einer gleichsam offiziellen Todeserklärung zum Trotz sich unter einem durchsichtigen Inkognito unter den Lebenden behauptet und ihren Einfluß im Stillen festgehalten, ja in manchen Richtungen erweitert hat, ist sie für Viele eine Art von Verlegenheitsobjekt geworden. Man hatte sich seinerzeit mit ihr glücklich abgefunden und findet es verdrießlich, sich nochmals ins Reine mit ihr setzen zu sollen.

Man hatte sich mit ihr abgefunden, indem man sich auf den Standpunkt der historischen Schule bezog, von dem Viele, wunderlich genug, annahmen, daß er mit jener Todeserklärung gleichbedeutend sei. Nun ist durch Arbeiten älteren und neueren Datums der bedeutsame  philosophische  Kern des Programms dieser Schule vollständiger zutage gefördert worden. Daneben ist die Einseitigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit jenes Programms vor langer Zeit nachgewiesen und neuerdings durch JHERING in mehrfacher Richtung zur Evidenz gebracht worden. Wie man sich aber auch im Einzelnen zu den einschlagenden Untersuchungen stellen mag, jedenfalls ist durch sie der Standpunkt der historischen Schule so entschieden in den Bereich der Kontroversen und in eine Mitte philosophischer Fragen gerückt worden, daß mit der einfachen Berufung auf denselben überall nichts mehr getan ist, am wenigsten im Sinne derjenigen, welche sich damit einer Beantwortung der hier aufgeworfenen Fragen entheben zu können meinten.

Die bezeichnete Sachlage aber verdient es, schon weil sie der Wissenschaft nicht würdig ist, ein Ende zu finden. Auch dürften andere Rücksichten es als zeitgemäß erscheinen lassen, die Frage der Rechtsphilosophie in der Art, wie es hier geschieht, auf die Tagesordnung zu setzen.


II.

Die Häufung einzelner Wahrnehmungen hat im Bereich der verschiedensten Wissenschaften neuerdings die gleiche Erscheinung hervorgerufen. Nachdem man lange dem Kultus des Einzelnen in einer ausschließlichen Weise gelebt hat in der begründeten Überzeugung, daß es sich vor allem darum handelt, einen sicheren Boden zuverlässiger Beobachtungen zu gewinnen, und daß die Anschauung des Einzelnen in seiner Wahrheit und in seiner eigentümlichen Entwicklung und mit Rücksicht auf das Allgemeine, das es in sich trägt, einen unschätzbaren Wert habe (RANKE), läßt sich das Bedürfnis nach einer umfassenderen, die einzelnen Wahrnehmungen verknüpfenden, Erkenntnis nirgends mehr zurückdrängen. Die glückliche Verfolgung des angedeuteten Weges selbst ließ dieses Bedürfnis mit jedem Schritt entschiedener hervortreten. Sie stellte die Forschung überall unversehens vor allgemeinere Probleme, an denen kein Weg vorbeizuführen, und von deren Lösung es abhängig zu sein schien, in welcher Richtung die Erforschung des Einzelnen ihre Fortsetzung zu finden habe.

Besonders auffallend und zugleich hochbedeutsam ist dieser Vorgang im Bereich der Naturwissenschaften. Hier findet sich die Forschung vielfach vor Problemen, an denen sich vor langer Zeit eine verachtete Philosophie abgemüht hat, und sieht sich ihnen gegenüber in die Position dieser Philosophie einzurücken wider Willen genötigt. Ex causa mag an die zahlreichen Beziehungen erinnert werden, welche zwischen den wirklichen oder vermeintlichen Ergebnissen moderner naturwissenschaftlicher Arbeit und den Untersuchungen und Meinungen KANTs (1) (Darwinismus) (2), Ausgangspunkte der mechanischen Wärmetheorie, Kosmogonie, Metereologie etc. und SCHOPENHAUERs (3) (Physiologische Optik etc.) bestehen (4).

Verwandten Erscheinungen begegnen wir auf dem Gebiet unserer Wissenschaft. Die dogmatische Arbeit sieht sich an zahlreichen Punkten, nicht durch die subjektive Neigung des betreffenden Gelehrten, sondern durch den objektiv begründeten Gang der Untersuchungen auf allgemeinere Fragen und auf die erneuerte und eindringenere Prüfung allgemeinerer Begriffe, mit denen wir als mit gegebenen Größen zu operieren uns gewöhnt hatten, hingeführt.

Als Beispiel mag die wiederholt auf die Tagesordnung gestellte Frage der Abgrenzung des strafbaren Betrugs dienen (5). Sie schließt u. a. die Frage nach dem Verhältnis jenes zum bloßen Zivilbetrug in sich. Diese aber führt zu der allgemeineren Frage, wie sich denn überhaupt die zivilrechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit zueinander verhalten und wie, was damit zusammenhängt, die Merkmale der Rechtsverletzung zu den Merkmalen des Verbrechens im weiteren Sinne. Bei ernsterer Prüfung ergibt sich hierbei, daß wir weder mit dem Begriff des Verbrechens, noch mit dem der Rechtsverletzung auf völlig sicherem Boden stehen, und das Gleiche ergibt sich, wenn wir zu den höheren Begriffen vordringen, denen sich jene unterordnen. So führt uns die aufgeworfene Frage über die Grenzen des Sondergebietes hinaus, welchem sie in ihrer ursprünglichen Fassung angehört, und in einen Bereich von Problemen ein, welche eine Beziehung auf das Ganze der Rechtswissenschaft haben und hinsichtlich welcher deshalb eine Kooperation von Vertretern der juristischen Teildisziplinen eintreten sollte.

Solange wir uns mit unseren dogmatischen Untersuchungen auf einem noch wenig bearbeiteten Boden und einer wenig entwickelten Gesetzgebung und Praxis gegenüber befinden, wird der von ihnen ausgehende Impuls nicht ausreichen, um uns den bezeichneten Weg vom Besonderen zum Allgemeinen beharrlich und bis zur Gewinnung haltbarer Positionen verfolgen zu lassen. An einem nicht entfernten Punkt wird die Ermüdung und die Geneigtheit eintreten, sich in Bezug auf die aufgeworfene Frage mit irgendeiner vorläufigenn Beantwortung zufrieden zu geben. Einem Fortschritt in der angegebenen Richtung wird dagegen ein Wachsen der Tragweite dieser Impulse entsprechen, wofür die soeben erwähnte Frage mit ihren Schicksalen in älterer und neuerer Zeit einen Beleg abgeben kann. (6)

Auch nach der rechtsgeschichtlichen Seite hin treten die gleichen Erscheinungen hervor. Auch hier hat die Fülle des gesammelten Materials das Bedürfnis geweckt, umfassendere Gesichtspunkte und eine tiefere Einsicht in den inneren Zusammenhang der gewonnenen Daten zu gewinnen. Dasselbe hat in JHERINGs "Geist des römischen Rechts" einen frühen und hochbedeutsamen Ausdruck gefunden. -

In dem bezeichneten Zusammenhang liegt übrigens nicht der einzige Grund, welcher in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit den allgemeineren in unser Gebiet fallenden wissenschaftlichen Problemen wieder entschiedener zugewendet hat. Ein weiterer Grund hierfür liegt in den tiefgehenden Gegensätzen, welche das gesellschaftliche Leben der Gegenwart charakterisieren und die rechtlichen Grundlagen seines damaligen Bestandes in Frage stellen. Ein anderer in der wachsenden Bedeutung der Volkswirtschaft und folgeweise der Fragen, welche sich auf das Verhältnis derselben zur Rechtswissenschaft beziehen. Ein wichtiger Grund endlich in den politischen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit und deren tiefgreifenden Einwirkungen auf das gesamte Rechtsleben. Jedes Heraustreten aus der Kontinuität der Rechtsentwicklung - und ein solches ist durch jene Ereignisse vielfach herbeigeführt worden - erzeugt ein Bedürfnis, allgemeinere, über die Peripherie des überlieferten Rechts hinausgreifende, Gesichtspunkte zu gewinnen, welche uns erlauben, dem Neuen gerecht zu werden, ohne dem Alten gegenüber die Wahrheit zu verleugnen, und die zwischen beiden sich dehnende Kluft mit den Elementen einer tieferen Einsicht in die Entwicklungsgesetze des Rechts zu überbrücken.

Einen solchen Einfluß haben die Ereignisse, welche zur Neubegründung des deutschen Reiches führten, unverkennbar ausgeübt, wenn auch bis jetzt ein Hauptwerk, in welchem er sich fixiert hätte, sich nicht bezeichnen läßt. Unter anderem aber sind die der neueren Zeit angehörigen rechtsphilosophischen Untersuchungen, welche das Verhältnis zwischen Staat und Kirche betreffen, hierherzuziehen.

Bei diesen nun, wie mehrfach bei der Erörterung allgemeinerer Fragen, macht sich die unter I. charakterisierte eigentümlich zerfahrene Sachlage in ungünstiger Weise geltend. Sie läßt den Einzelnen ohne sicheren Rückhalt und verweist ihn allzusehr auf sich selbst. Dies verleitet zu Improvisationen, welche nur einen dilettantischen Charakter haben können und in der Regel alte Irrwege wiederbetreten lassen. So konnte es geschehen, daß man bei der Erörterung der erwähnten staatskirchenrechtlichen Verhältnisse sich genötigt und berechtigt glaubte, die Begriffe von Recht und Staat und Kirche, also den elementaren Apparat für die Lösung er gestellten Aufgabe, sich neu und gleichsam aus freiher Hand zu konstruieren und mit den gewonnenen Begriffen in der Weise des alten Naturrechts zu operieren; etwa zu beweisen, daß diesen Begriffen das in Deutschland augenblicklich (nach Erlaß der bekannten Gesetze) bestehende Verhältnis zwischen Staat und Kirche allein entspreche, und daß folglich dieses jetzt und immerdar festgehalten werden muß. Auf diese Weise wird hhier, vermutlich unbewußt, die "historische Ansicht" des Rechtslebens über Bord geworfen und mit ihr die Hauptlehre des Jahrhunderts, daß die Schöpfungen der Natur und des Menschen (mit Einschluß von Recht und Staat und Kirche) gleichmäßig in den Fluß der Geschichte gestellt seien und als  ephemere  [Eintagsfliegen - wp], in jenem auftauchende und von ihm unendlichen Metapmorphosen unterworfene Bildungen betrachtet sein wollen.

Damit meint der Verfasser die Stellung seiner Fragen motiviert zu haben.

Vielleicht aber macht sich die Meinung geltend, daß das bloße Aufsteigen vom Besonderen zum Allgemeinen, welches hier hauptsächlich betont wurde, noch nicht aus dem Gebiet der positiven Rechtswissenschaft in das der Rechtsphilosophie überführt und daher mit der Frage nach der Bedeutung der letzteren unmittelbar nichts zu schaffen hat. Orientieren wir uns also über die Natur derselben.


III.

Im Bereich der Wissenschaft überhaupt läßt sich eine zweifache geistige Bewegung wahrnehmen: eine fortschreitende Ausbreitung des Wissens und eine fortschreitende Konzentration desselben. Der Erweiterung des Kreises unserer Beobachtungen und Kenntnisse steht gegenüber die Erweiterung der Erkenntnis des Zusammenhangs unter denselben.

Die wissenschaftliche Tätigkeit nun, welche der letzteren, centripetalen, Bewegung zugrunde liegt, bezeichnen wir als die philosophische.

Dieselbe vermittelt jene Erkenntnis, indem sie die Elemente bestimmt, auf welche die Erscheinungen eines betreffenden Gebietes zurückzuführen sind, und das allgemeine Verhalten dieser Elemente und ihrer Verbindungen zueinander feststellt. Dies gilt gleichmäßig für alle Teile der Wissenschaft, die nur  eine  ist und sich in ihrer Entwicklung überall an die nämlichen, in den gleichen Richtungen sich bewegenden Funktionen gebunden sieht.

Durch diese philosophische Arbeit werden die kausalen Beziehungen dargelegt, welche unter den Einzelheiten im Umkreis unseres Wissens bestehen, und diese hierdurch für unsere Erkenntnis zu einem lebendigen, nach bestimmten Gesetzen sich entwickelnden und behauptenden Ganzen, verbunden.

Dieser Weg zur Einheit geht, wie sich aus dem Gesagten erhellt, durch die Trennung, und jenes Aufsteigen vom Besonderen zum Allgemeinen, dessen im Vorigen gedacht worden ist, bildet einen Bestandteil des geschilderten Vorgangs.

Derselbe ist bestimmt, sich auf das gesamte Gebiet der menschlichen Wahrnehmungen auszudehnen. Denn nur was jenem Ganzen sich als ein integrierendes Moment einfügt, wird zu einem völlig gesicherten und vollkommen fruchtbaren Bestandteil unseres geistigen Besitzes und damit zu einem Ferment jener Macht, welche die Wissenschaft dem menschlichen Geist ihrem Wesen gemäß verleiht.

Die philosophische Arbeit ist daher ein allgemeines Element der wissenschaftlichen Tätigkeit, welches sich auf keinem Gebiet derselben zurückweisen oder ausscheiden läßt. Die Frage, ob dieses Element im Bereich der Jurisprudenz Geltung habe, ist daher identisch mit der Frage, ob dieselbe als Wissenschaft anzuerkennen sei. Dasselbe gilt hinsichtlich sämtlicher Teile unserer Disziplin. Die philosophische Richtung und Arbeit haben zu allen das gleiche prinzipielle Verhältnis. Daß ihre Bedeutung sich in Beziehung auf das öffentliche Recht, insbesondere das Strafrecht, im Allgemeinen entschiedener aufgedrängt hat als in Beziehung auf das Privatrecht, hängt mit dem bisherigen Zustand der Rechtsquellen zusammen. Tatsächlich wird indessen in der Gegenwart im Bereich des letzteren nicht weniger und nicht in einem anderen Sinn philosophisch gearbeitet wie im Bereich des öffentlichen Rechts und speziell des Strafrechts. Auch ist es nicht unwahrscheinlich, daß in der nächsten Zukunft in jenem die philosophische Richtung mehr und mehr hervortreten, im Bereich des Strafrechts dagegen infolge der Herstellung des neuen Reichsstrafgesetzbuchs verhältnismäßig neben Exegese [Auslegung - wp] und Kasuistik [Einzelfallbetrachtung - wp] zurücktreten wird.


IV.

Die wichtigste Ablagerungsstätte für die Resultate jener philosophischen Arbeit innerhalb der juridischen Partialdisziplinen ist im "Allgemeinen Teil" derselben gegeben. Hier finden sich die Elemente, aus welchen sich die besonderen Rechtssätze zusammensetzen, ansich und in ihrem allgemeinen Verhalten zueinander charakterisiert. So findet sich im allgemeinen Teil der Strafrechtswissenschaft das allgemeine Wesen der Verbrechen und der Strafen und der zwischen beiden bestehende Zusammenhang nach seiner allgeminen, gesetzmäßigen Begründung bestimmt. Außerdem alles, was für den Inhalt und die Anwendung der speziellen Strafgesetze allgemein bestimmend ist (Strafzumessungsgründe, Verjährung etc.) Diese speziellen Normen finden ihre Begründung und zugleich ihre Verknüpfung zu einem einheitlichen Ganzen durch die Bestimmungen des allgemeinen Teils. Wir haben in ihm den Stamm und die Äste, an welchem jene wie zweige und Blätter hervortreten. Gleiches gilt vom allgemeinen Teil des Privatrechts. In den Begriffen des Vertrags, des Rechtsgeschäfts, der juristischen Tatsachen, der Klage usw. behandelt derselbe die Elemente der besonderen Rechtsbestimmungen. Zugleich legt er den allgemeinen Zusammenhang dar, welcher zwischen diesen Elementen, z. B. zwischen Klage und Rechtsgeschäft, besteht.

In historischer Hinsicht gilt hier das Gleiche. Der speziellen Dogmengeschichte stellt der allgemeine Teil, wenigstens in Fragmenten, die Geschichte der Grundbestandteile und -Verhältnisse des betreffenden Rechtsteils gegenüber.

Hiernach ist es keineswegs ungereimt, den allgemeinen Teil der juridischen Disziplinen, wie es FEUERBACH bezüglich des Strafrechts getan hat, als den "philosophischen" zu bezeichnen. Nur dürfte man diesem philosophischen Teil nicht mit FEUERBACH einen "positiven" gegenüberstellen, da ein Gegensatz dieser Art überhaupt nicht existiert, sondern denjenigen Teil, der die Darlegung des Einzelnen zu seinem Hauptinhalt hat, also einfach den speziellen Teil. Auch diese letztere Gegenüberstellung, ist freilich  cum grano salis  [mit einem Augenzwinkern - wp] zu verstehen. Der spezielle Teil sondert sich bei höherer Entwicklung naturgemäß wieder in Teile von relativer Selbständigkeit, welche ihrerseits wieder einen allgemeinen Teil ausscheiden, der zum sonstigen Gehalt der betreffenden Unterabteilung im nämlichen Verhältnis steht, wie der früher besprochene allgemeine Teil zum gesamten speziellen. So hat z. B. im Bereich des Privatrechts das Obligationenrecht einen, und zwar bereits höher ausgebildeten, allgemeinen Teil.


V.

Wie nun die einzelnen Teile und Unterabteilungen der Rechtswissenschaft bei einem gewissen Grad der Ausbildung einen allgemeinen Teil ausscheiden, woraus sich der Reif bildet, der die Fragmente des besonderen Teils zu einem Ganzen verbindet, so muß und wird auch das Ganze der Rechtswissenschaft zu seinem allgemeinen Teil kommen und in ihm den Ausdruck und die vollständige Realisierung seiner Einheit finden. Jene allgemeinen Teil der juridischen Partialdisziplinen haben in ihm ihre Verknüpfung und notwendige Ergänzung zu suchen. Die Arbeit, welche in jenen an einem, ansich willkürlich bestimmten, Punkt abgebrochen wurde, hat in diesem ihre Fortsetzung und ihren natürlichen Abschlß, und die dort gewonnenen Resultate haben hier ihre Bestätigung und bzw. ihr Korrektur zu finden. Die von jener geschaffenen, auf das nämliche Objke bezüglichen, Skizzen sollen so zu einem Ganzen verarbeitet werden, in welchem das Rechtsleben nicht mehr bloß in tausend Einzelheiten, sondern in seiner Einheit zum Vorschein kommt. (7)

Wenn im allgemeinen Teil des Strafrechts der allgemeine Begriff des Verbrechens bestimmt wird, und die Untersuchung, wie es der Fall zu sein pflegt, bei diesem Begriff als einem Element  strafrechtlicher  Normen stehen bleibt, so stellt sich für den allgemeinen Teil der Rechtswissenschaft die Aufgabe heraus, die höheren Begriffe, denen sich jener unterordnet, und welche nicht mehr bloß eine strafrechtliche, sondern eine allgemeine juridische Bedeutung haben, in welchen sozusagen Elemente der Rechtsnormen überhaupt gegeben sind, wie der Begriff der Rechtsverletzung, der Begriff der rechtlich verantwortlich machenden Handlung etc., anhand der gesamten Materialien der Jurisprudenz zu entwickeln. Ebenso werden wir uns auf diesem höheren Standpunkt veranlaßt sehen, vom Begriff der Strafe, einem anderen Element der strafrechtlichen Normen, zu dem für alle Rechtsteile bedeutsamen Begriff der "Rechtsfolgen des Unrechts" aufzusteigen. Beschäftigen wir uns im Strafrecht mit dem gesetzmäßigen Zusammenhang von Verbrechen und Strafen, so werden wir hier die allgemeinen Bedingungen, unter welchen sich eine rechtliche Verantwortlichkeit begründet und den inneren Zusammenhang, welchter unter den auf die Verknüpfung von Handlungen und rechtlichen Wirkungen bezüglichen Grundsätzen besteht, zu untersuchen haben.

Wenn ferner im allgemeinen Teil des Privatrechts die Lehre von den Rechtsquellen unter ausschließender Berücksichtigung der dem privatrechtlichen Gebiet angehörigen Tatsachen entwickelt zu werden pflegt, so ergibt sich für jenen universelleren Standpunkt die Aufgabe, diese Lehre im Hinblick auf die ganze Phänomenologie des Rechtslebens einer kritischen Bearbeitung zu unterziehen. Wenn ebenso daselbst die Lehre von den juristischen Personen nur privatrechtliche Verhältnisse zum Ausgang nimt, so ergibt sich für diesen Standpunkt die Forderung, das was auf öffentlich-rechtlichem Gebiet hinsichtlich der juristischen Persönlichkeit gilt, zum Vergleich heranzuziehen, und aus allen Teilen unserer Wissenschaft die Materialien für eine umfassende Lehre von den Rechtssubjekten zusammenzutragen.

Die wichtigste Aufgabe aber wird sein, die zerstreuten Beiträge zur Darstellung einer Entwicklungsgeschichte des Rechts zusammenzufassen und, so weit sie dies gestatten, zu einer solchen Darstellung zu verarbeiten. Wenn der Kriminalist sich vertraut gemacht hat mit der Entwicklung des Strafrechts bei verschiedenen Völkern und darin wiederkehrende Stufenfolgen, eine, wenn auch beschränkte, Regelmäßigkeit des Fortschreitens, zu erkennen meint, wenn Ähnliches von den Vertretern anderer Teile unserer Wissenschaft gilt, so handelt es sich auf jenem allgemeineren Standpunkt darum, in dem auf dieser und auf jener Seite wahrgenommenen gesetzmäßigen Zusammenhang Momente eines einheitlichen Prozesses zu erkennen. Die Geschichte der einzelnen Rechtsteile als bereits in relativer Selbständigkeit existierender sucht ferner ihre Ergänzung in der Geschichte ihres Hervorwachsens aus dem gemeinsamen Stamm (der Differenzierung des Rechts in öffentliches und Privatrecht, Strafrecht und Zivilrecht etc.) und weiterhin in der Geschichte der Verselbständigung des Rechts selbst: seines Hervortretens aus dem Grund der Sitte, seiner Emanzipation von der Religion, seiner Scheidung von den übrigen Elementen des Ethos, seiner damit zusammenhängenden relativen Lösung vom nationalen Charakter.


VI.

Der in Frage stehende allgemeine Teil wird in Bezug auf unsere Wissenschaft den Satz vom Widerspruch zu vertreten und die Gewähr dafür zu bieten haben, daß das Identische in allen Gebieten derselben als identisch, das Verschiedene als verschieden behandelt werde. Man denke nicht, daß damit die Aufgabe gestellt sei, einen Wasserspiegel zu ebnen, daß die geforderte Übereinstimmung sich überall von selber herstellt und ein bewußtes Bemühen um dieselbe daher als unnütz anzusehen sei. Daß es sich nicht so verhält, läßt sich u. a. in Bezug auf den wichtigsten Begriff unserer Disziplin, den Begriff des Rechts, erweisen. Nicht bloß fehlt hier überhapt die Übereinstimmung hinsichtlich der wesentlichsten Punkte, wie z. B. hinsichtlich der Frage, ob die Positivität zum Begriff des Rechts gehört oder nicht, sondern wir vertreten auch im einen Gebiet Auffassungen, von welchen das Gegenteil unsere Voraussetzung in einem anderen bildet. So finden wir als Zivilisten das normgebende Prinzip des Rechts im Willen, während wir als Kriminalisten ein ethisches Prinzip zum Ausgang nehmen. Vielleicht werden wir in ersterer Qualität demnächst den Nutzen an die Stelle des Willens setzen, aber als Kriminalisten fortfahren, das Moment des Nutzens als unter der Dignität des Rechts stehend aus der Reihe der für die Funktionen desselben bestimmenden Motive auszuscheiden. Andererseits beziehen wir diese Funktionen als Kriminalisten ausschließend auf das staatliche Ganze, als Zivilisten ebenso auf die Einzelnen, während der einige Begriff des Rechts für einen derartigen unvermittelten Gegensatz keinen Raum bietet. Als Zivilisten halten wir im Allgemeinen an der Ansicht fest, daß Recht nur im Staat und durch den Staat entstehen kann, während wir als Kanonisten uns mit einem Recht beschäftien, welches der kirchlichen Gemeinschaft seine Existenz verdankt und als Lehrer des Völkerrechts davon ausgehen, daß ein über die Staaten übergreifendes, sie zu bloßen Organen seiner Verwirklichung und bzw. zu Trägern von subjektiven Rechten und Pflichten herabsetzendes, Recht sich bilden kann und gebildet hat etc.

Die Aufgabe des allgemeinen Teils wird es sein, die Maske wegzunehmen, welche jetzt hier, jetzt dort die wahren Züge des Rechts verbirgt und seine Identität im Bereich unserer Wissenschaft nicht zur Geltung gelangen läßt.


VII.

Im Vorigen ist gezeigt worden, daß die philosophische Arbeit in allen Gebieten der Rechtswissenschaft eine Heimstätte in Anspruch nimmt und besitzt. Für deren Ergebnisse sich die hauptsächlichsten Ablagerungsstätten gegenwärtig in den "Allgemeinen Teilen" der verschiedenen Abteilungen unserer Wissenschaft gegeben. In ihnen finden die Kenntnisse und Einsichten, welche den einzelnen Lehren angehören, ihre natürliche Verknüpfung (siehe IV.). Aber das Bedürfnis, das ihrer Entwicklung zugrunde lag, weist über sie hinaus auf einen allgemeinen Teil der Gesamtdisziplin hin, dem für die letztere die nämliche Bedeutung zukommen würde, wie jenen für die Teildisziplinen. Allzusehr stehen die Zweige unserer Wissenschaft gesondert, da sie doch zusammengehören und die Bedingungen der Blüte in ihrer Isoliertheit nicht dauernd finden können. Es wird die Aufgabe des erwähnten allgemeinen Teils sein, sie in ihrer natürlichen Verbindung darzustellen und die Hemmnisse zu beseitigen, welche diese Verbindung bisher zu einer fruchtbaren sich nicht gestalten ließen (siehe V., VI. oben). Mit ihrer Lösung aber wird für die philosophische Arbeit auf dem Gebiet der Jurisprudenz ihr Ziel erreicht haben. Denn für diese Arbeit ist nur diese Aufgabe gesetzt: die wesentlichen Beziehungen darzulegen, welche unter den Rechtsbestimmungen bestehen, und diese auf solche Weise zu einem einheitlichen und gegliederten, sich nach bestimmten Gesetzen sich entwickelnden und behauptenden Ganzen zusammenschließen zu lassen (III. oben).

Hierin liegt, daß die "Rechtsphilosophie" ihre Stellung nicht außerhalb des gezogenen Kreises haben kann. Es läßt sich für dieselbe kein vernünftiger Inhalt und es lassen sich keine Probleme für sie erweisen, welche nicht diesem Kreis angehören. Darin liegt weiter, daß jene nicht mit Grund "als eine zunächst philosophische Disziplin" (FELIX DAHN) der Rechtswissenschaft überhaupt oder der "positiven Rechtswissenschaft" gegenübergestellt wird, daß sie ihre bisherige Sonderexistenz vielmehr mit Unrecht führt, und daß sie, sobald sie zu einem deutlicheren Bewußtsein ihrer Selbst gelangt sein wird, mit der "positiven Rechtswissenschaft" unvermeidlich in Eins zusammenfließen wird.

Andererseits wird diese "positive" Rechtswissenschaft das hervorgehobene Beiwort abzustreifen haben. Es sind eitel Mißverständnisse und Widersprüche, auf welche dasselbe hinweist. Insofern durch seine Beifügung die Philosohie aus dem Gebiet dieser Disziplin ausgeschieden werden will, haben wir es mit einem Mißverständnis des Wesens der Philosophie und ihres Verhältnisses zum Begriff der Wissenschaft zu tun. Nach ihrem Ausscheiden bleibt nichts übrig, was für sich als Wissenschaft gelten könnte. Die auf das Einzelne gerichtete Forschung gehört hier wie sonst mit der auf das Allgemeine und den Zusammenhang gerichteten (d. h. philosophischen) zusammen und erfüllt hier wie sonst erst in ihrer Verbindung mit dieser den Begriff der Wissenschaft. Auch ist zwischen der vermeintlich selbständigen Rechtsphilosophie und jener vermeintlich selbständigen positiven Rechtswissenschaft keine natürliche Grenze vorhanden und keine Scheidelinie zu ziehen, die nicht schlechthin willkürlich und bar jeder rationalen Bedeutung wäre. Was man als durch keine Brücken verbundene Inseln ansah, das läßt eine beharrliche Küstenfahrt als verschiedene Seiten des nämlichen Festlandes erkennen.

Denkt man bei dem Wort "positiv" an die äußere Geltung betreffender Normen, so haben wir es in der "positiven Rechtswissenschaft" und bzw. im "positiven Recht" mit einer Tautologie zu tun; da das Moment der äußeren Geltung bereits im Begriff des Rechts enthalten ist. - Denkt man schließlich bei dem Wort an die augenblickliche Geltung betreffender normen bei einer gegebenen Gesellschaft oder überhaupt an das besondere Recht einer bestimmten politischen Gemeinschaft, so führt uns dies allerdings zu einem besonderen Objekt, aber nicht zum Objekt einer besonderen Wissenschaft. Für die einzelnen Gelehrten bildet das Recht ihres Landes und speziell das zur Zeit ihrer Tätigkeit bestehende den natürlichen Ausgangspunkt der letzteren, sowie den regelmäßigen Brennpunkt ihrer Forschungen, in welchem die Strahlen der gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnis im angesehenen Sinn - eine Wissenschaft, deren ganzer Inhalt territorial bestimmt und bedingt wäre und welche diesen Inhalt von heute auf morgen ändern könnte - erhalten wir damit nicht.

Ein einzelner Moment in einem ununterbrochenen fortschreitenden Prozeß kann nicht Gegenstand einer selbständigen Disziplin sein und ist für sich isoliert überhaupt nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung. Der preußische Staat, wie er sich am 1. Januar 1874 darstellt, die Konfiguration des Gewölks in der Mittagsstunde eines bestimmten Tages, die Natur überhaupt in einem gegebenen Moment, können für sich isoliert nicht den Inhalt einer wie immer benannten Disziplin abgeben. Das Bild eines Zustandes in einem gegebenen Moment gibt uns losgelöst von dem, was vorausging, über die einzelnen Merkmale hinaus keinen Aufschluß, wie ihn die wissenschaftliche Betrachtung fordert. Dies gilt auch vom gegenwärtigen Rechtszustand. Das ist auch innerhalb unserer Disziplin nicht verkannt worden. Seit langem ist ja die historische Seite derselben mit Vorliebe gepflegt worden. Dem heutigen Rechtszustand hat sich so als Objekt unserer Wissenschaft das Rechtsleben in seiner geschichtlichen Entwicklung, in welcher jener nur einen Durchgangspunkt bildet, substituiert. Indem es sich ferner hierbei nicht um ein äußerliches Nebeneinanderstellen von Zuständen und Fakten handelt, ebensowenig wie bei der Darstellung des heute Geltenden um eine äußerliche Nebeneinanderstellung der einzelnen Rechtsbestimmungen, sondern hier wie dort um die Darlegung des inneren Zusammenhangs und der Gesetze, in welchen derselbe sich begründet, so entfällt hier die Möglichkeit irgendeiner Grenzbestimmung der Rechtsphilosophie gegenüber. (8)

Im Gesagten liegt bereits, daß die Rechtswissenschaft sich auch nicht territorial begrenzen läßt. Der Wind innerhalb der im Reichsrat vertretenen Länder ist nicht mit weniger Grund als Gegenstand einer besonderen (positiven?) Meteorologie zu betrachten, wie das Recht dieser Länder als Gegenstand einer besonderen (positiven) Rechtswissenschaft. Die wesentlichen Elemente des gegebenen Rechtszustandes und die Gesetze ihrer Verknüpfung sind hier die nämlichen wie anderwärts. Die Besonderheiten jenes Zustandes aber schließen kein mögliches Prinzip einer selbständigen Wissenschaft in sich. Man kann sich diesen internationalen Charakter der Rechtswissenschaft u. a. in der Art deutlich machen, daß man das Verhältnis derselben zur Ethik und zur Volkswirtschaftslehre (worauf zurückzukommen sein wird) und die Beziehungen dieser letzteren zu einem bestimmten Staatswesen ins Auge faßt. (9)

Den vermeintlich selbständigen Disziplinen werden wir daher die oben (III.) unterschiedenen Seiten der wissenschaftlichen Tätigkeit zu substituieren haben. Dieselben stehen im Bereich unserer Wissenschaft in demselben Verhältnis zueinander wie im Bereich der übrigen Wissenschaften, und geben in allen gleich wenig Grund ab für eine Spaltung der wissenschaftlichen Arbeit im Sinne jener Koordinierung von Rechtsphilosophie und positiver Rechtswissenschaft. Auch hat man in Bezug auf die sonstigen Objekte der Wissenschaft einen derartigen Dualismus nicht aufgestellt, oder nicht festgehalten. Man weist sonst nicht den Zusammenhang unter den auf diese Objekte bezüglichen Begriffen einer anderen Disziplin zu als diese Begriffe selbst, nicht die Gesetze, unter welchen jene stehen, einer anderen Disziplin als deren Anwendungen etc. Wir haben es daher in jener Koordinierung mit einer Singularität zu tun, die einer wissenschaftlichen Begründung unzugänglich ist. Ihre Erklärung aber findet dieselbe darin, daß unsere Disziplin von zwei scheinbar weit voneinander entfernten Punkten ihren Ausgang genommen hat.


VIII.

Die Kunst des praktischen Juristen, gegebene Gesetze mannigfaltigen Verhältnissen gegenüber zur Anwendung zu bringen, oder auch bestimmten Überzeugungen oder Bedürfnissen oder Forderungen der Bevölkerung in gesetzlichen Bestimmungen zum Ausdruck und zur Befriedigung zu verhelfen, schließt von Haus aus nur wenige Elemente einer wissenschaftlichen Tätigkeit in sich und hat eine ausgebildete Ansicht von der Natur des Rechts und den Gesetzen seiner Entwicklung ursprünglich nicht zur Voraussetzung. Die auf Erkenntnisse dieser Natur und Genesis des Rechts gerichtete Forschung empfängt deshalb von dorther nicht ihren ersten Impuls. Auch finden die Philosophen, welche diese allgemeineren Probleme zum Gegenstand ihres Nachdenkens machen, sich durch die Tätigkeit der praktischen Juristen anfänglich nicht direkt gefördert, ebensowenig wie diese eine direkte Förderung ihrer Arbeiten bei den Philosophen finden. Beiden Gruppen verbirgt sich hier leicht der Zusammenhang zwischen den ihnen gestellten Aufgaben, und die Ausbildung einer philosophischen Lehre von Recht und Staat neben einer davon wesentlich unberührten Jurisprudenz erscheint als begreiflich und naturgemäß.

Jene Kunst der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung aber zeigt sich einem entwickelteren Rechtsleben gegenüber mehr und mehr an theoretische Voraussetzungen, d. h. an den Besitz allgemeinerer Einsichten gebunden. Die Praxis bedarf fortan einer sie orientierenden und den Besitz jener Einsichten vermittelnden Doktrin. Diese im Dienst der Praxis stehende und von daher ihre ersten Impulse empfangende Doktrin aber sieht sich, um jenen sich erweiternden Bedürfnissen fort und fort gerecht werden zu können und durch ihr eigenes Entwicklungsgesetz genötigt, immer beträchtlichere Höhen der Abstraktion zu erklimmen und mehr und mehr eine philosophische in dem früher entwickelten Sinn zu werden. Auf diese Weise gelangt sie unvermeidlich dazu, jene allgemeineren Probleme auch ihrerseits in Angriff zu nehmen, und trifft hierbei mit jener unter dem Einfluß anderer Motive zur Entwicklung gelangten philosophischen Disziplin auf dem nämlichen Gebiet zusammen. Sie wird diese letztere darin abzulösen haben. In dem Moment, wo sie sich auf diesem Gebiet einrichtet, wird die bisher hier dominierende selbständige Rechtsphilosophie ihren Beruf, der nur ein vorübergehender sein konnte, erfüllt haben.

Diese Rechtsphilosophie alten Stils ist nicht hervorgewachsen aus einer voraussetzungslosen Bearbeitung der in ein System gebrachten Begriffe selbst, sondern in ihren Grundlinien gegeben durch die Philosopheme, denen die betreffenden Autoren anhängen. Diese haben ihren festen Standort außerhalb der Welt (hier der Jurisprudenz), die sie ordnen wollen. Der Kosmos entsteht hier nicht durch die natürliche Entwicklung und das Gleichgewichtsstreben seiner eigenen Bestandteile, sondern durch das Zauberwort eines über den Wassern schwebenden Genies. Aber das System, das so zustande gekommen ist, wird sich stets als ein künstliches, wenn auch noch so genial erdachtes ausweisen, das nur den Wert eines vorläufigen Behelfs in Anspruch nehmen kann. Das natürliche und definitive System wird nur auf jenem anderen Weg, der die zu ordnenden Begriffe selbst und bzw. deren geschichtliches Substrat zum Ausgang nimmt, gewonnen werden. Vom Mittelpunkt einer umfassenden Welt- und Lebensansicht ausgehend mag es dem Denker wohl gelingen, für die Auffassung und Normierung eines einzelnen Lebensgebietes bedeutende allgemeine Gesichtspunkte aufzustellen und die Beziehungen desselben zu anderen Gebieten in fruchtbringender Weise zu erhellen. Je weiter er aber, von seinem Ausgangspunkt sich entfernend, in dem besonderen Lebensgebiet vordringt, und je mehr er sich hier verwickelteren Verhältnissen gegenübergestellt findet, desto entschiedener wird die Kraft versagen, die ihn bei seinem Ausgangspunkt leitete, und desto mehr wird er sich in Abhängigkeit versetzt finden von den Resultaten der auf induktivem Weg fortschreitenden Forschung. Unversehens wird er, der auszog, um zu leiten, sich in das, Impulse nur empfangende, nicht gegebene, Gefolge versetzt finden. Vielleicht weiß er, dem römischen Recht sich zuwendend, zur Charakterisierung der römischen Rechts- und Staatsauffassung oder über die Ergänzungsbedürftigkeit der römischen Jurisprudenz Neues und Anregendes beizubringen, und findet sich dann gleichwohl bei der Entwicklung seines privatrechtlichen Systems im Einzelnen von dieser römischen Jurisprudenz abhängig, wenn nicht gar genötigt, im Schatten eines einzelnen, vielleicht antiquierten, Pandektenkompendiums seinen Weg zu suchen. Mit dem Ausgangspunkt dieser Arbeiten hängt es ferner zusammen, daß jede für sich steht, jede von vorn beginnt und das Werk für sich allein herzustellen unternimmt. Sie geben in ihrer Aufeinanderfolge nicht das Bild einer ineinandergreifenden, von den Kräften Vieler getragenen und auf sicherem Grund voranschreitenden Arbeit, welche am Ende trotz aller Irrungen und Abwege dem Ziel näher führen müßte, sondern sich das Bild eines beständigen Aufbauens und Wiedereinreißens, wobei als Resultat ein immer wachsender Haufen kostbarer, das Baugebiet weithin überdeckender Trümmer, darstellt.

Ein anderes Bild bietet sich uns im Bereich des allgemeinen Teils des Privatrechts, auch des Strafrechts etc. Hier findet ein Ineinandergreifen der Untersuchungen und eine Kontinuität in der Behandlung der Probleme statt, weil und insofern hier das Ganze der durch geschichtliche und dogmatische Arbeit gewonnenen Resultate zum Ausgang genommen wird. Diese geben die Richtungen an, in welchen voranzuschreiten ist und lassen es nicht als einen bloßen Zufall erscheinen, wenn die eingeschlagenen Wege zu einem glücklichen Zusammentreffen führen. Im Bereich des allgemeinen Teils der gesamten Disziplin wird die gleiche Erscheinung hervortreten, wenn die demselben angehörigen Fragen in der nämlichen Weise wie die allgemeineren privatrechtlichen Fragen etc. und in einem engen Zusammenhang mit diesen in Angriff genommen werden. Daß dies aber möglich und zugleich geboten sei, ergibt sich aus dem dargelegten Verhältnis dieses allgemeinen Teils der Rechtswissenschaft zu jenen allgemenien Teilen unserer Partialdisziplinen. Bei der Entwicklung dieses allgemeinen Teils werden jene Trümmer ihre Verwertung finden. Mit ihr wird sich die Okkupation jenes bisher von der selbständigen Rechtsphilosophie behaupteten Terrains vollenden. Damit wird an die Stelle der letzteren, wie anstelle der alten Naturphilosohie eine von philosophischem Geist getragene, die Erkenntnis des Zusammenhangs der Erscheinungen anstrebende, Naturwissenschaft teils getreten ist, teils zu treten sich anschickt, die von der geschichtlichen und dogmatischen Bearbeitung des gegebenen Rechtsstoffs ausgehende bisher so genannte positive Rechtswissenschaft in ihren allgemeinen Lehren treten.


IX.

Wollen wir dem Wort "Rechtsphilosophie" eine dem bisherigen Gebrauch desselben einigermaßen entsprechende Beziehung auf einen objektiv bestimmten Teil unserer Wissenschaft wahren, so kann dies nur dadurch geschehen, daß wir diesen namen auf den mehrerwähnten allgemeinen Teil der Rechtswissenschaft übertragen. Als gerechtfertigt würde dies insofern erscheinen und ein Anschluß an das Bisherige würde darin insofern liegen, als dieser allgemeine Teil die Stelle für sich in Anspruch nimmt, welche tatsächlich bis jetzt von der Rechtsphilosophie eingenommen wird, und den Bedürfnissen gerecht zu werden bestimmt ist, welche bisher bei jener Befriedigung suchten. Die Fragen, welche nach unserer Ausführungen dem allgemeinen Teil zuzuweisen sind (wie die nach den Grundbegriffen unserer Wissenschaft, nach dem Verhältnis der Teile von dieser zueinander, nach dem Verhältnis derselben zu den nächstverwandten Disziplinen etc.) haben den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bemühungen gebildet, welche bisher unter dem Zeichen der Rechtsphilosophie stattgefunden haben. Wir würden daher, wenn diesem Wort die in Frage stehende Bedeutung gegeben würde, in sachlicher Richtung durch dasselbe an gleiche Aufgaben erinnert werden wie bisher. Anders hinsichtlich der Art, wie diese Aufgaben in Angriff zu nehmen sind, und hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen ihnen und den seitens der rechtswissenschaftlichen Detailarbeit behandelten. Daß diese Änderung trotz ihrer Indifferenz bezüglich der zu beantwortenden Fragen nicht bedeutungslos sein würde, braucht nicht hervorgehoben zu werden. Das Ablehnen der Philosophie seitens der Einen wäre damit ebenso als verkehrt anerkannt, wie die Meinung der Anderen, für ihre Arbeit andere entscheidende Instanzen zu haben als die von ihnen sogenannte positive Rechtswissenschaft. Alle sähen sich damit auf das nämliche Gebiet und auf eine Kooperation hingewiesen, wie sie bisher nur innerhalb der einzelnen Teile jener vermeintlich positiven Disziplin stattgefunden hat. -

HEGEL fand das Verhältnis zwischen dem Naturrecht und dem positiven Recht dem zwischen Institutionen und Pandekten [Überlieferungen des römischen Rechts - wp] entsprechend. Es bedarf wohl keiner Ausführung, daß dieser Vergleich einer wesentlich anderen als der hier vertretenen Auffassung entspricht. Nach jener würde sich die Rechtsphilosophie dem Ganzen der Rechtswissenschaft als ein Besonderes zur Seite stellen und sich gleich den Institutionen in ihrem Verhältnis zu den Pandekten als einen durch kein wissenschaftliches, sondern nur durch ein didaktisches Interesse geforderten Auszug charakterisieren. Nach unserer Auffassung dagegen kommt das Ganze der Rechtswissenschaft erst durch die Rechtsphilosophie zustande. -

Den Philosophien im eigentlichen Sinn des Wortes ist es selbstverständlich auch nach dieser Auffassung nicht verwehrt, "ihr allgemeines spekulatives Prinzip auch am Rechtsstoff zu erproben", hinsichtlich dieses letzteren so wenig wie hinsichtlich des Stoffs und der Prinzipien aller übrigen Disziplinen. Dadurch aber werden diesen ihre Prinzipien nicht entfremdet und die entscheidende Instanz in Bezug auf die Richtigkeit der bezüglich ihrer entwickelten Lehren nicht aus ihrem Gebiet weggerückt. Der Philosophie im eigentlichen Sinn kommt das nämliche Verhältnis zu allen übrigen Disziplinen zu. Ihr die "Prinzipien des Rechts" zuzusprechen, wie es mehrfach geschehen ist, ist daher in keinem anderen Sinn zulässig, als in welchem die Prinzipien aller übrigen Wissenschaften für sie in Anspruch zu nehmen sind. Nach unserer Auffassung ist ihre Bestimmung der Gesamtheit der anderen Disziplinen gegenüber derjenigenn entsprechend, welche hier dem allgemeinen Teil der Rechtswissenschaft den Gliedern der letzteren gegenüber zugesprochen worden ist, d. h. sie hat die unter jenen bestehenden Beziehungen im Anschluß an deren allgemeine Lehren darzulegen, die ihnen gemeinsamen Prinzipien aufzusuchen und zu entwickeln und auf diesem Weg, so weit es der Stand dieser Disziplinen gestattet, dieselben zu einem einheitlichen Ganzen zu verknüpfen.


X.

Die theoretischen Voraussetzungen der hier bekämpften dualistischen Ansicht werden von den Meisten nicht mehr als haltbar angesehen. Hierher gehört es, daß man es im Allgemeinen aufgegeben hat, dem positiven Recht ein "Naturrecht" zu koordinieren. Denn wenn der Dualismus in Bezug auf das Recht selbst nicht haltbar ist, so scheint nichts gewisser, als daß er auch hinsichtlich der Rechts wissenschaft  aufzugeben sei. Gleichwohl kann jene Ansicht unter denjenigen, welche nicht von der Philosophie überhaupt überall nichts wissen wollen, noch immer als die herrschende angesehen werden. Wenigstens hält man an Benennungen ("Naturrecht auf dem Grund der Ethik - auf philosophisch-anthropologischer Grundlage" etc., "positive Rechtswissenschaft", "Philosophie des positiven Rechts" usw.) und an Formen der Behandlung (siehe VIII oben) fest, welche dieser Ansicht entsprechen. Auch tritt eine gegenteilige Auffassung nirgends entschieden und in entwickelterer Gestalt auf. Weder findet sich die Rechtsphilosophie mit der philosophischen Funktion im Bereich unserer Wissenschaft, wie sie oben bestimmte worden ist (III. bis VI.), identifiziert, noch in der oben besprochenen Weise mit dem allgemeinen Teil der letzteren. Und doch scheint das eine oder das andere unvermeidlich zu sein, wenn jen Ansicht aufgegeben wird. Statt desen findet sie in mancherlei Erfahrungen, Gewöhnungen und Befürchtungen eine noch ungebrochene Stütze, und zwar auf beiden Seiten der künstlichen Grenze, deren Aufhebung hier in Frage steht. Die Einen würden eine Art von  capitis deminutio  [Schmälerung des rechtlichen Status - wp] der Rechtsphilosophie darin begründet zu finden, wenn dieselbe sich auf das gleiche Arbeitsgebiet verwiesen und beschränkt sähe, wie die von ihnen seit CICERO wesentlich niedriger gestellte positive Jurisprudenz. Bei den Anderen macht sich die Befürchtung geltend, daß die Aufhebung jener Grenzen eine Invasion philosophischer Improvisationen in das Gebiet ihrer auf historischen und exegetischem Grund langsam aber kontinuierlich voranschreitendenn Arbeit zur Folge haben köne. Diese Motive interessieren hier nicht weiter. Dagegen verdient die Art, wie man die Existenzberechtigung einer Naturrechts wissenschaft  und überhaupt einer selbständigen Rechtsphilosophie zu begründen versucht, nachdem man die Lehre von einem besonderen, dem positiven Recht zur Seite zu stellenden  Naturrecht  aufgegeben hat, eine speziellere Berücksichtigung.


XI.

Noch immer spielt die Vorstellung eine Rolle, daß es die Rechtsphilosophie, wenn auch nicht mit dem Naturrecht im Sinne der Älteren, so doch mit einem anderen Recht zu tun hat, als die positive Rechtswissenschaft. Den Gegenstand jener soll das "rationale Recht" oder, nach Mehreren, das "ideale Recht" bilden. Letzteres wird von dem Schriftsteller, dessen rechtsphilosophische Arbeiten am meisten Verbreitung gefunden haben, bestimmt als "ein von menschlichen Satzungen unabhängiges und in demselben nur unvollkommen erscheinendes Recht", "welches seinen Grund in einer höheren sittlichen Welt und Lebensordnung (hat) und als Richtschnur zur Beurteilung und Fortbildung des bestehenden Rechts zu dienen bestimmt (ist)" (AHRENS). Dieses ideale Recht soll aber, da es "zunächst nur eine vernünftige Rechtsforderung" sei, "durch Sitte oder Gesetz positiv werden" müssen, "um zur Geltung zu gelangen". Hier läßt sich zunächst einwerfen, daß es willkürlich und irreleitend ist, den Begriff und Namen des Rechts auf die Richtschnur desselben, auf die Forderungen, welche hinsichtlich der Fortbildung des Rechts aufzustellen sind, zu übertragen. Es wäre ebenso begründet, die Richtschnur für die Anlegung von Grundbüchern selbst als ein Grundbuch, die Regeln, welche in Bezug auf die Zucht und Veredlung einer Tierspezies aufzustellen sind oder auch die Idee dieser Spezies selbst als eine Tierspezies, die Anforderungen, welche hinsichtlich der korrekten Erfüllung einer Verbindlichkeit bestehen, als eine Art der Erfüllung (als eine ideale Zahlung) gelten zu lassen. Wir haben es hier mit einer logischen und sprachlichen Gewaltsamkeit zu tun, welche, da sie die wesentliches Voraussetzung der selbständigen Rechtsphilosophie betrifft, ansich schon geeignet ist, Mißtrauen der letzteren gegenüber zu begründen. Streifen wir aber diese Gewaltsamkeiten ab, so erhalten wir als Gegenstand dieser Disziplin die Idee, welche im (sogenannten positiven, d. h. wirklichen) Recht "positiv wird", d. h. "Form und Einkleidung" gewinnt. Hierin aber haben wir es nicht mit einem vom (wirklichen) Recht selbst Verschiedenen, sondern mit einem wesentlichen Moment desselben, ja mit seiner eigentlichen Substanz zu tun. Diese Idee kann daher nicht außerhalb der Sphäre derjenigen Disziplin liegen, welche, wie die sogenannte positive Rechtswissenschaft, das wirkliche Recht zu ihrem Gegenstand hat. Eine Rechtswissenschaft, welche sich mit dem Wesentlichen ihres Gegenstandes nicht beschäftigt, wäre  lucus a non lucendo  [Das Wort für Hain kommt nicht von Leuchten. - wp] oder vielmehr ein Widerspruch in sich.

Will man gleichwohl am Dualismus der Disziplinen festhalten, so bleibt hier nur der Ausweg, daß man das Recht in seine Elemente: "Idee und positive Erscheinung, Gehalt und Form" zerlet und, wie es denn in der Tat geschieht, die Idee der Philosophie, die Form der Jurisprudenz zuweist. Damit wäre dann das sonderbare Resultat erreicht, daß das Recht selbst den Gegenstand einer Wissenschaft überhaupt nicht bilden würde, und daß demnach sowohl die positive Rechtswissenschaft wie die Rechtsphilosophie, als welche es beide nur mit Elementen des Rechts, also nicht mit dem Recht selbst zu tun hätten, ihren Namen zu Unrecht führten. Es ist indessen leicht einzusehen, daß damit keine haltbare Position eingenommen ist.

Eine Jurisprudenz, welche sich um "Idee und Gehalt" der rechtlichen Institutionen nichts kümmerte und sich nur an die gesetzliche und gewohnheitsrechtliche Form ihrer Existenz hielte, würde ebensowenig imstande sein, das Verständnis dieser Institutionen zu vermitteln und ihrer Fortbildung zu dienen, und würde sich als ebenso unfruchtbar erweisen müssen, wie eine Philosophie, welche von der "positiven Erscheinung" abstrahierte und die Idee isoliert, von jener losgelst zu erfassen bestrebt wäre. -

Die ehedem verbreitete Ansicht, die den empirischen Wissenschaften, denen es verwehrt ist, zur Idee vorzudringen, die spekulative Wissenschaft gegenüberstellt, welcher abseits von den Pfaden empirischer Forschung das für die letztere Unerreichbare durch die Macht des gesetzmäßig fortschreitenden Denkens von selbst zufalle, kann gegenwärtig wohl als überwunden angesehen werden. Wir haben es im Allgemeinen aufgegeben, die Wissenschaft und deren Objekt zu spalten und dem empirischen Begriff des letzteren einen philosophischen gegenüberzustellen. Im Einzelnen aber begegnen wir noch den Nachwirkungen jener Ansicht. Unter anderem in der besprochenen Scheidung von Idee und Form des Rechts.

Es gab eine Zeit, wo dem Witzwort eine gewisse Berechtigung zuzuerkennen war: daß der philosophierende Deutsche, um das Wesen des Kamels zu bestimmen, nicht etwa das lebendige Tier beobachtet, sondern, abgekehrt von der "positiven Erscheinung", aus der Tiefe seines Gemütes schöpft. Gegenwärtig möchte ihm diese Berechtigung nicht mehr zuzusprechen sein. Doch geschieht es in unserem Bereich noch immer, daß man die Erkenntnis des Wesens der rechtlichen Institutionen nicht aus deren geschichtlicher Existenz, sondern anderswoher, etwa "aus der Idee und dem Ideal der Menschheit und der menschlich-gesellschaftlichen Lebensbestimmung" zu gewinnen trachtet, ja an einer besonderen Disziplin festhält, welche aus solchen, außerhalb der "positiven Erscheinung des Rechts" oder, was hier dasselbe ist, jenseits der Grenzen des wirklichen Rechtslebens fließenden Quellen ihren Inhalt und die Erkenntnis der "Idee des Rechts" zu schöpfen sich angewiesen sieht.


XII.

Die Gebote und Verbote des Rechts erweisen sich, wenn wir sie auf ihre verpflichtende Kraft ansehen, als Moralvorschriften. Davon sich zu überzeugen, bietet keine Schwierigkeiten, so viel Kunst kann man auch zu verschiedener Zeit angewendet hat, das was greifbar vor aller Augen liegt, durch mehr oder minder künstlich gesponnene Mißverständnisse zu verdecken. Jenen Geboten eine verpflichtende Kraft beilegen und gleichwohl von ihnen behaupten, daß sie mit der Moral nichts zu schaffen haben, heißt, da der Begriff der Pflicht außerhalb des Gebietes der letzten keinen Inhalt hat, einen einfachen Widerspruch aufstellen (10). Die wichtigsten jener Vorschriften, diejenigen, in deren Befolgung die wesentlichste Voraussetzung der rechtlichen Ordnung gegeben ist, begegnen uns, wenn auch nicht ausdrücklich aufgestellt, im Strafrecht, indem daselbst die Verletzungen dieser Vorschriften mit Strafe bedroht sind. Man mache sich eine Zusammenstellung dieser Gebote und Verbote und man wird eine neue, den heute herrschenden moralischen Anschauungen angepaßte, Ausgabe der zehn Gebote haben. Die neuere Rechtsphilosophie hat dann auch in den meisten ihrer Repräsentanten diese ethische Seite des Rechts nicht verneint oder übersehen, dieselbe vielmehr häufig in einer einseitigen und ausschließenden Weise zur Geltung zu bringen gesucht. Die Rechtsphilosophie gestaltete sich hier zu einem Teil der Ethik, und bzw., da unter den Prinzipien der letzteren das der Gerechtigkeit in der nächsten Beziehung zu jenen Rechtsvorschriften steht, zu einer  Lehre vom Gerechten.  (11) Das ideale Recht, welches den Gegenstand der Rechtsphilosophie bilden soll, war hier einfach das Gerechte, die Rechtsidee wurde als identisch genommen mit der Idee der Gerechtigkeit. (12)

Daß der so charakerisierten Disziplin eine selbständige Stellung neben der Rechtswissenschaft zukommt, ist nun freilich nicht zu bestreiten. Wohl aber, daß derselben der Name der Rechtsphilosophie zukommt. Von der letzteren ist doch in jedem Fall zu fordern, daß sie das Recht selbst, nicht lediglich ein einzelnes Element desselben, wie es im Gerechten gegeben ist, zu ihrem Gegenstand macht. (13) Wir fordern von ihr, daß sie uns das Verständnis des Rechts nicht bloß nach seiner ethischen Seite, sondern auch nach seiner physischen Seite erschließt. Dies aber kann die Lehre vom Gerechten nicht. Ebensowenig, wie sie uns über die relative Gleichgültigkeit der sittlichen Triebfeder im Bereich des Rechts oder über die Veränderlichkeit seines Inhalts etc. Aufschluß geben kann etc. Die gesamte Entwicklungsgeschichte des Rechts bleibt vom isolierten ethischen Standpunkt aus vollkommen unbegreiflichen.

Die Regeln der Moral erlangen eine Geltung als Recht nicht einfach durch diese ihre ethische Qualifikation. Immer ist hierbei vorausgesetzt, daß der in einem Gemeinwesen maßgebende Wille die äußere Geltung dieser Regeln fordert und durchsetzt und immer zeigen sich hierbei Motive wirksam, welche außerhalb des Moralgebiets liegen. Gehen wir diesen Motiven nach, so werden wir u. a. und insbesondere dem Gebiet der Volkswirtschaft zugeführt werden, und es wird sich uns die Überzeugung aufdrängen, daß diese in ebenso naher Beziehung zum Recht steth, wie die Moral. Jene Vorschriften, welche sich uns zuerst als Moralvorschriften darstellten, erscheinen uns nun als Vorschriften von volkswirtschaftlicher Bedeutung. Mit nicht besserem Recht identifiziert man das Prinzip des Rechts mit dem der Gerechtigkeit als mit dem des Nutzens. Dem Verständnis der physischen Seite des Rechts rücken wir nur von dieser Seite näher. Desgleichen dem Verständnis der beständigen Veränderungen seiner Oberfläche etc. Kein Wunder, daß bei manchen Neueren die Neigung hervortritt, der bisherigen Rechtsphilosophie, welche sich meist als ein Stück der Ethik charakterisierte, die Volkswirtschaft zu substituieren. (14) Daß damit nur eine Einseitigkeit mit einer anderen vertauscht wäre, bedarf hier keiner Darlegung. Der Beweis hierfür liegt in dem, was über die ethische Seite des Rechts gesagt worden ist.

Auf den Einfall, diese Disziplin um der angegebenen Beziehungen willen in "Rechtsphilosophie" umzutaufen, ist man bis jetzt glücklicherweise nicht gekommen. Es würde sich aber, wenn dies geschehen sollte, dafür gleichviel Grund anführen lassen, wie für die Bezeichnung der "Wissenschaft des Gerechten" mit diesem Namen.

Wenn wir den Wurzeln des Rechts nachgehen, so gelangen wir in die Gebiete verschiedener Wissenschaften, wovon die wichtigsten genannt worden sind. Das Ganze des Rechts aber gehört keiner von diesen an. Es bildet den eigenartigen Gegenstand der Rechtswissenschaft und gibt die Grenzen derselben an die Hand. Wenn wir eines der Elemente, welche sich in ihm zu einem komplizierten und unter besonderen Gesetzen stehenden Gebilde verbinden, isoliert für sich, oder den Kreis von Erscheinungen, welchen es selbständig beherrscht, unserer Betrachtung unterziehen, so befinden wir uns außerhalb jener Grenzen. Wo aber jene bedeutsame Verbindung in Frage steht, da befinden wir uns innerhalb derselben auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft, deren Einheit und Selbständigkeit sich in der Einheit und Eigentümlichkeit ihres Objekts begründet. (15)


XIII.

Noch in einer anderen Weise sucht man eine prinzipielle Grenze zu gewinnen zwischen positiver Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie. Unter anderem in der Art, daß man von jener behauptet, sie habe teils in den bestehenden Gesetzen, teils in den tatsächlichen Bedürfnissen einer gegebenen Gesellschaft eine letzte, keiner weiteren Begründung bedürftige Instanz", von der Rechtsphilosophie dagegen, sie gehe "auf die allgemeinen Gründe der rechtlichen Ordnungen, auf die Rechtsprinzipien als solche" zurück (16).

Aber die allgemeinen Gründe der rechtlichen Ordnungen sind auch Gründe des in einer gegebenen Zeit bei einer gegebenen Gesellschaft bestehenden rechtlichen Zustandes. Eine Wissenschaft, welcher die Aufgabe gestellt ist, das allseitige Verständnis dieses letzteren zu vermitteln, kann daher von jenen allgemeinen Gründen nicht abstrahieren. Das Allgemeine ist ein Element des Besonderen, daher die hinsichtlich des letzteren gestellte wissenschaftliche Aufgabe nicht gelöst sein kann, ohne daß zugleich jenes, und zwar in seiner generellen Bedeutung, wissenschaftlich erfaßt ist. Wenn wir an einem gegebenen Zustand nicht unterscheiden können, was zufällig oder von bloß vorübergehender oder lokaler Bedeutung, von dem, was wesentlich und dauernd ist und eine allgemeine Bedeutung hat, so können wir uns nicht rühmen, daß wir ihn begriffen hätten. Ohne die Kenntnis jener allgemeinen Gründe, oder was auf dasselbe hinausläuft, der Rechtsprinzipien, sind wir nicht einmal imstande den Inhalt der irgendwo in einer gegebenen Zeit geltenden Gesetze in einer geordneten, wissenschaftlich befriedigenden Weise vorzutragen. Wer etwa in einem Lehrbuch des Strafrechts nicht von einer bestimmten und im Wesentlichen richtigen Auffassung von den Prinzipien des Strafrechts ausginge, der könnte die Bestimmungen des allgemeinen Teils der Strafgesetzgebung nur entweder in einer bloß äußerlichen und unwissenschaftlichen Nebeneinanderreihung oder in einer konfusen und irreleitenden Verknüpfung darstellen. Weder im einen noch im anderen Fall würde er dem Inhalt des geltenden Rechts wirklich gerecht werden. Denn die Bestimmungen desselben stehen in einem inneren Zusammenhang und wollen in diesem aufgefaßt und aus ihm heraus erklärt sein. Die Prinzipien aber, in welchen dieser Zusammenhang sich begründet, sind, obgleich im Gesetz nicht formuliert und nicht ausdrücklich anerkannt, selbst Bestandteile des geltenden Rechts und wollen im Sinne einer Ergänzung der speziellen Bestimmungen fruchtbar gemacht sein. Es wäre daher eine arge Täuschung, wenn man glaubte, dem "positiven" Recht einer gegebenen Zeit und Gesellschaft dadurch näher zu treten, daß man das Einzelne der bestehenden Gesetzgebung isoliert ins Auge faßt und von den Prinzipien und dem in ihnen sich begründenden Zusammenhang zwischen den Einzelheiten abstrahiert. Verhält es sich aber so, so kommen wir auch auf dem hier in Frage stehenden Weg zu keiner haltbaren Unterscheidung zwischen positiver Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie.

Einen Beleg für das Gesagte können die Untersuchungen selbst, welchen die oben zitierten Worte entnommen sind, an die Hand geben. Was anders liegt diesen und anderen der Gegenwart angehörigen philosophischen Erörterungen über das Verhältnis von Staat und Kirche zugrunde als das Bedürfnis, sich und andere den tatsächlichen Zuständen einer gegebenen Gesellschaft und den darin sich begründenden gesetzgeberischen Aufgaben und Leistungen gegenüber zu orientieren? Die wissenschaftliche Aufgabe, welche diesen Zuständen und den darauf bezüglichen Fragen gegenüber zu lösen ist, kann daher nicht geschieden werden von der in Bezug auf die Prinzipien zu lösenden, und es kann daher auch die maßgebliche Instanz für die Lösung von dieser und jener nicht verschieden sein.

Eine Verschiedenheit besteht hier überall nur in Bezug auf die Nutzanwendung, welche von der Lösung des wissenschaftlichen Problems gemacht werden will, oder in Bezug auf die Belehrung, welche von der Wissenschaft aufgrund dieser Lösung gefordert wird. Man kann hier unterscheiden, ob Auskunft verlangt wird über die momentane Gestaltung des Rechtszustandes, oder über die Richtung, in welcher sich die Entwicklung bewegt, oder schließlich über das Verhältnis des bestehenden Rechts oder dem bisherigen Entwicklungsgang desselben. Es sind verschiedene Interessen, denen die Wissenschaft durch die eine und die andere Auskunft dienstbar wird, und diese Verschiedenheit verleitet leicht dazu, der Wissenschaft selbst verschiedene, jenen Interessen entsprechende Attribute beizulegen. Handelt es sich um ein philosophisches Interesse, so erscheint sie uns als eine philosophische, handelt es sich um ein praktisches Interesse, als eine praktische Wissenschaft. Aber dieser Gegensatz der Interessen liegt außerhalb des Gebietes der Wissenschaft selbst und begründet daher keine Grenzziehung innerhalb derselben. (17)


XIV.

Als Gegenstand der Rechtswissenschaft hat sich uns das Recht nach seinem gesamten Inhalt, nach seiner idealen und nach seiner praktischen Seite, nach seinen allgemeinen und seinen besonderen Merkmalen dargestellt. Auch der so charakterisierten Disziplin aber hat man eine selbständige Rechtsphilosophie gegenüberstellen zu können geglaubt. Wenn jene den Inhalt, welchen das Recht  hat,  für sich in Anspruch nimmt, so bildet der Inhalt, welchen das Recht  haben sollte,  den Gegenstand der letzteren. (18) Und zwar soll dieser mehr als eine bloße Konsequenz des Urteils über den ersteren und unabhängig von ihm erkennbar sein. Aber die Voraussetzungen, an welche hier die Existenz einer selbständigen Rechtsphilosophie geknüpft wird, sind unhaltbar wie die bisher bekämpften Meinungen.

Die Aufgabe der Philosophie ist nicht dahin zu bestimmen, daß sie der wirklichen Welt eine andere, von ihr konstruierte, gegenüberzustellen hat. Vielmehr liegt ihr Ziel wie das Wesen der Wissenschaft überhaupt nur darin, die Welt wie sie ist zu begreifen. Ist dies aber hinsichtlich der Philosophie im Allgemeinen richtig, so auch hinsichtlich der Philosophie des Rechts, so kann deren Ziel nur darin gegeben sein, die Seite des wirklichen Lebens, auf welche Wort und Begriff des Rechts hinweisen, zu begreifen.

Man ist ferner darüber einverstanden, daß die Philosophie sich um die Frage wozu? und um die praktische Verwertung der gewonnenen Erkenntnis nicht zu kümmern hat. Mit welchem Recht kehrt man hinsichtlich der Philosophie des Rechts das sonst angenommene Verhältnis um, betrachtet man hier das Begreifen des Gegebenen als außerhalb der Sphäre der Philosophie liegend, und als deren spezifische Aufgabe, diesem Gegebenen ein Seinsollendes entgegenzusetzen und, was damit gegeben,  Zielpunkte des praktischen Verhaltens aufzustellen? 

Diese Zielpunkte liegen ferner innerhalb des Bereichs der möglichen Entwicklung des Gegebenen. Welche Entwicklung möglich ist, darüber belehrt uns aber nur die Erforschung dieses Gegebenen; ebenso darüber, welche Richtung der möglichen Entwicklung zu befördern, welche zu bekämpfen ist. Jenes gilt von den Elementen eines Zustandes, auf welche die von ihm bewirkte Befriedigung, dieses von den Elementen, auf welche die in diesem Zustand sich begründenden Schädlichkeiten und Störungen zurückzuführen sind. Das "Soll" ist daher nur eine Konsequenz des Urteils über das "Ist" und kann daher nicht den Gegenstand einer Disziplin bilden, welche der Wissenschaft des "Ist" selbständig gegenüberstünde.

Vielen erscheint es freilich als unbegreiflich, wie das Bestehende den Maßstab für seine eigene Beurteilung und die Musterbilder für seine Umbildung soll an die Hand geben können, und doch handelt es sich dabei um einen Vorgang, zu dem sich Analogien auf allen Wissensgebieten finden lassen.

Dem Mediziner entwickelt sich aus der Beobachtung des gesunden und kranken menschen das Bild einer normalen Konstitution und normaler Funktionen des menschlichen Organismus, welches ihn krankhafte Bildungen und Prozesse als solche erkennen läßt und welche ihm Zielpunkte und Gesichtspunkte für die den letzteren gegenüber zu entfaltende Tätigkeit abgibt. Dem Botaniker entwickelt sich ein Bild von den normalen Formen einer Pflanzenspezies, welches ihn verkrüppelte und unvollkommene Exemplare von normal gebildeten unterscheiden läßt etc. Überall führt uns die Beobachtung des Lebens dazu, uns die Formen zu entwerfen, welche der ungehemmten, unter günstigsten Bedingungen erfolgenden, Entwicklung eines Komplexes von Kräften entsprechen. Diese idealen Formen leiten uns bei unserem Urteil über die jeweils gegebenen, zu deren Ausbildung diese Kräfte unter bestimmten Einflüssen und in einem bestimmten Moment gelangt sind. Sie bezeichnen uns zugleich je nach ihrer Bedeutung für ideale oder materielle Interessen ein erstrebenswertes Ziel. Sind unsere sittlichen Interessen dabei im Spiel, so ist in der an uns ergehenden Aufforderung ein ethisches Sollen begründet.

Für das Rechtsleben gilt hierin nichts Besonderes.

Die Prinzipien, auf deren Geltung diejenigen Formen und Bestandteile des Rechtslebens zurückzuführen sind, welche unseren materiellen Interessen entsprechen und uns zugleich eine ethische Befriedigung gewähren, haben nicht in allen Richtungen ein volle und widerspruchslose Entfaltung gefunden, weder in den Institutionen noch im Bewußtsein der Gegenwart. Diese Entfaltung hier zu vermitteln - "den Rechtsgedanken, der noch unausgesprochen im Bewußtsein der Zeit lebt, zum Ausdruck und zur theoretischen Gestaltung zu bringen" (BÄR) - dort vorzubereiten, ist die Aufgabe der einen Rechtswissenschaft, zu deren Lösung sie durch das Verständnis des wirklichen Rechtslebens und lediglich durch dieses befähigt wird. (19)

Es ist daher das nämliche Wissen, was sie befähigt, der Rechtsanwendung und der Rechtsfortbildung zu dienen, und sie hat zu einem Standpunkt  de lege lata  [nach geltendem Recht - wp] das gleiche prinzipielle Verhältnis wie zum Standpunkt  de lege ferenda  [nach künftigem Recht - wp].

Letzteres gilt auch speziell von der philosophischen Seite unserer Disziplin und insbesondere vom allgemeinen Teil der letzteren, welchen wir der selbständige Rechtsphilosophie substituiert zu sehen wünschen. Das Verständnis des inneren Zusammenhangs der Rechtsnormen, welches derselbe vermitteln soll, ist ebensowenig bedeutungslos für die Auslegung und die widerspruchslose und gleichmäßige  Verwirklichung  der geltenden Normen, wie für deren  Fortbildung.  Das Recht ist nicht eine Summe von isoliert stehenden Geboten und Verboten, es ist ein Ganzes innerlich zusammenhängender Bestimmungen und will in diesem Sinne seine Verwirklichung finden. Dafür aber ist es nicht gleichgültig, ob das Bewußtsein dieses Zusammenhands gewonnen ist oder nicht. Andererseits wird derjenige, welchem dieser Zusammenhang verborgen ist, die Wirkungen neuer Maßregeln, welche durch diesen Zusammenhang bedingt sind, nicht vorhersehen und, wenn dieselben eintreten, deren Verständnis nicht gewinnen können.

Jene Erkenntnis erweitert daher die Möglichkeit, auf die Entwicklung des Rechtslebens einen bewußten und die Absichten des Handelnden nicht überschreitenden Einfluß auszuüben. In diesem Sinne läßt sich von der Rechtswissenschaft, unter Anwendung eines Wortes von LEOPOLD SCHMID sagen, daß sie, je mehr sie zu einer philosophischen geworden ist, umso mehr eine praktische Wissenschaft sein wird.


XV.

Daß ein Zusammenhang zwischen den Rechtsbestimmungen besteht, daß sich dieselben weder in einer gegebenen Zeit bei einem bestimmten Volk in einem bloß äußerlichen Nebeneinander, noch in der Geschichte in einem zusammenhanglosen Nacheinander darstellen, ist im Bisherigen mehr vorausgesetzt als bewiesen worden, wenn auch das über die damalige Gestalt und über die Geschichte der Rechtswissenschaft Gesagte (I - VI, VIII) genügende Anhaltspunkt für die Führung eines betreffenden Beweises enthalten dürfte. Auf dieser Voraussetzung steht das ganze Gebäude der bisherigen Ausführungen. Die Existenz jenes Zusammenhangs ist nun aber in neuerer Zeit auf das Entschiedenste und von beachtenswerter Seite bestritten worden.

Nach von KIRCHMANN (20) fehlt es dem Recht an einem sachlichen Prinzip. "Der Stoff des Sittlichen", dem hier das Recht subsumiert wird, ist nach ihm aus zufälligen, unzusammenhängenden, "zerstückelten, oft dunklen Geboten verschiedener Autoritäten", "verschiedener Zeiten und Verhältnisse, unter denen keine Einheit besteht, und für die keine Regel gilt", gebildet. Sein Inhalt ist "rein positiver Natur, voller Lücken, Widersrüche und Dunkelheiten". Es fehlt ihm die sachliche Grundlage, der innere Zusammenhang, das ausnahmslos geltende Gesetz. Die Begriffe der Wissenschaft bleiben daher hier "unsicher und ihre Regeln werden von zahlreichen Ausnahmen durchlöchert; es fehlt der Zusammenhang und die Einheit, welche in der Naturwissenschaft durch die überall gleichen elementaren Stoffe und Kräfte gegeben sind."

Wenn dem so wäre, so würde das, was hier über die Bedeutung der philosophischen Funktioni im Bereich unserer Wissenschaft und speziell über den allgemeinen Teil derselben gesagt worden ist, durchaus als hinfällig erscheinen. Die Aufgabe, welche dem letzteren gestellt worden ist, wäre eine rein chimärische. Sowohl in ihrer Beziehung auf das gegebene Recht einer bestimmten Zeit, wie in ihrer Beziehung auf die Geschichtes des Rechts (an eine Entwicklungsgeschichte des Rechts wäre nicht zu denken, der Begriff der Entwicklung, selbst auf dem Gebiet des Rechtslebens ohne Realität) und in ihrer Beziehung auf den Standpunkt  de lege ferenda.  Es würde unmöglich sein, daß die Wissenschaft aus der Kenntnis des Gegebenen die Fähigkeit schöpft, der Gesetzgebung ihre Wege vorzuzeichnen . . . Die bisherigen Erörterungen können daher nur unter der Voraussetzung eine Beachtung fordern, daß es unmöglich ist, eine sachliche Grundlage des Rechts und einen inneren Zusammenhang seiner Bestmmungen darzulegen. Für mich bestehen hierüber keine Zweifel. Es soll jedoch der Versuch einer Widerlegung von KIRCHMANNs hier nicht im Vorbeigehen gemacht werden. Auch obliegt der entscheidende Beweis, soweit derselbe nicht als bereits von ihr geführt anzusehen ist, der fortschreitenden Wissenschaft selber. Denn ihr Fortschritt charakterisiert sich wesentlich als eine fortschreitende Aufklärung des in Frage stehenden Zusammenhangs.
LITERATUR Adolf Julius Merkl, Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur "positiven" Rechtswissenschaft und zum allgemeinen Teil derselben, Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 1, Wien 1874
    Anmerkungen
    1) Vgl. in Bezug auf KANT "Immanuel Kant und seine Verdienste um die Naturwissenschaft", in ZÖLLNERs "Über die Natur der Kometen", 1872. Dort finden sich auch sonst zahlreiche Belege dafür zusammengestellt, "daß in der Gegenwart auf allen Gebieten der Naturwissenschaft fast gleichzeitig, wie durch ein geheimes Band verknüpft, die Geister das Bedürfnis nach einer spekulativen Vertiefung ihrer emsig gesammelten Schätze von Beobachtungen machtvoll ergriffen hat."
    2) STRAUSS sieht in der DARWIN'schen Theorie, deren Keim sich meines Wissens zuerst bei KANT findet, "der wenn auch vorerst nur heimlichen Ehe zwischen Naturforschung und Philosophie erstes Kind". In Wahrheit dürfte es weder das einzige noch das erste sein. Im Geiste von Männern wie FECHNER, HELMHOLTZ, ROKITANSKY, EMIL DUBOIS-REYMOND etc. hat sich jene Ehe längst vollzogen und als eine fruchtbare erwiesen.
    3) Die nahen Beziehungen, welche zwischen SCHOPENHAUERs erkenntnistheoretischen und anderen Untersuchungen und den Arbeiten von HELMHOLTZ bestehen, sind bekannt. - Hinsichtlich der SCHOPENHAUER'schen Farbenlehre siehe J. CZERMAK "Über Schopenhauers Theorie der Farbe", - hinsichtlich der SCHOPENHAUER'schen Philosophie überhaupt ROKITANSKYs Vortrag "Über die Solidarität des Tierlebens" (wo jener freilich auffallenderweise nicht genannt wird). - Über den Kant-Schopenhauer'schen Idealismus siehe insbesondere ROKITANSKYs Vortrag "Über den selbständigen Wert des Wissens".
    4) Auch in Bezug auf die Genannten und bzw. die sogenannte Philosophie überhaupt, ließe gleichermaßen behaupten, was EMIL DUBOIS-REYMOND in einer Rede in Bezug auf LEIBNIZ bemerkte: "Von Vielem", sagte der berühmte Naturforscher, "was wir, des Ursprungs unserer Schätze nicht immer eingedenk, das Unsere nennen, könnte LEIBNIZ, nach zweihundert Jahren wiederkehrend, im sicheren Gefühl geistiger Urheberschaft sagen: das ist Geist von meinem Geiste, und Gedanke von meinen Gedanken."
    5) Meine "Kriminalistischen Abhandlungen" haben in diesem Sinne vornehmlich die Bedeutung einer Ausführung dieses Beispiels. Dasselbe sollte zunächst für sich zugunsten der in der gegenwärtigen Abhandlung vertretenen Auffassung, deren theoretischer Formulierung und Begründung es vorausgeschickt würde, wirken. - Vgl. von BAR, "Die Grundlagen des Strafrechts".
    6) Für die einschlägige Literatur vgl. die zitierten Abhandlungen und HÄLSCHNERs "System des preussischen Strafrechts". Zu den allgemeineren Untersuchungen, die sich an jene Kontroverse in neuerer Zeit anknüpften, vgl. BINDING, "Die Normen und ihre Übertretung", 1872.
    7) Gut bemerkt AHRENS, daß ein Gesetz der Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und den Teilen, den Grundprinzipien und den besonderen Begriffen besteht und daß eine richtige Stellung und Ausbildung der verschiedenen Zweige nur in stetiger Orientierung nach den Grundbegriffen möglich ist.
    8) Einen Gegensatz zu der verbreiteten Ansicht, welche das positive (das in einem gegebenen Moment geltende oder überhaupt das geltende) Recht als den alleinigen Gegenstand der Rechtswissenschaft betrachtet, bildet die von von LINDGREN (Die Grundbegriffe des Staatsrechts, 1869) vertretene. Nach dieser nämlich soll das positive Recht überhaupt nicht zu den Objekten der Rechtswissenschaften gehören, außer insofern die letztere als Rechtsgeschichte auftritt, oder ihre Untersuchungen an das zur Zeit bestehende Recht als an ihren Ausgangspunkt anknüpft. Damit ist in anderer Richtung über das Ziel hinausgegriffen. Der Durchschnitt der Rechtsentwicklung, welcher sich in einem gegebenen Moment unserer Betrachtung bietet, bildet allerdings nicht  das  Objekt der Rechtswissenschaft, wohl aber gehört er wesentlich  zu  diesem Objekt. Wir können von den einzelnen Momenten der Entwicklung des Rechts nicht abstrahieren, ohne daß uns das Ganze entschwindet. Ebensowenig geht es an, die Lebensverhältnisse nach ihrer rechtlichen Seite vom (positiven) Recht, das der Ausdruck dafür ist, zu unterscheiden und in einen Gegensatz zu demselben zu stellen, wie dies von von LINDGREN geschieht.
    9) Es ist ein Widerspruch, einerseits zu lehren, daß das Recht ein "Zweig der Ethik" sei, andererseits Sätze aufzustellen, wie die folgenden: "... ein jeder Staat hat sein eigenes Recht, darum (?) auch seine eigene Rechtswissenschaft. Es gibt keine allgemeine Rechtswissenschaft für alle Staaten, es gibt nur eine gemeinschaftliche wissenschaftliche Methode ..." Die in diesem Zitat begegnende Folgerung aus dem besonderen Recht auf eine besondere Rechtswissenschaft ist im Text als unrichtig dargetan.
    10) "... In der Tat leuchtet von selbst ein: ist das Recht nur Recht, unterschieden von Willkür und Gewalt, wenn und soweit es eine den Willen  verpflichtende  Kraft in sich trägt, so stellt sich jeder, der vom Recht spricht und weiß was er sagt, auf den ethischen Standpunkt" (ULRICI). Was hierin zu viel gesagt ist, wird sich aus dem Folgenden erhellen.
    11) "Rechtswissenschaft ist die Wissenschaft des Gerechten" (STAHL). "Die Rechtsphilosophie hat das Prinzip der Gerechtigkeit aufzustellen und streng in seinen Folgerungen zu entwickeln" (AHRENS).
    12) "Die Rechtsidee oder die Idee der Gerechtigkeit" (GOLDSCHMIDT)
    13) Der Fehler, Begriff und Namen des Rechts auf bloße Elemente oder Voraussetzungen oder auf den Existenzgrund des Rechts zu übertragen, ist im Bereich der Rechtsphilosophie ein gewöhnlicher. Auch ULRICI verfällt ihm in seinem Werk über das Naturrecht (Gott und Mensch, Bd. 1, 1873). Derselbe glaubt durch den Nachweis, "daß die Staatsgewalt und das von ihr proklamierte Recht einen Grund hat", die Existenz eines Naturrechts in einer Weise dargetan zu haben, daß nur derjenige es weiter leugnen kann, der da nicht will, daß es ein Naturrecht gibt, weil er will, daß Gewalt und Willkür Recht seien. "Der Grund des Bestehens der Staatsgewalt und damit der Geltung des von ihr sanktionierten Rechts" fällt nämlich "in Eins zusammen mit dem Begriff des Naturrechts" ... Aber ist es dann so selbstverständlich, daß auf den Grund der name des Begründeten zu übertragen sei?
    14) Hierher gehört es u. a., wenn DIETZEL die Erkenntnis der den Rechtssätzen zugrunde liegenden Verhältnisse schlechthin der Volkswirtschaft zuweist, oder was auf das Gleiche hinausläuft, behauptet, daß "die ausschließliche Grundlage der Rechtsverhältnisse" in gesellschaftlichen und Verkehrsverhältnissen gegeben sei.
    15) Dies wird u. a. von DIETZEL verkannt, wenn derselbe meint, daß Volkswirtschaft und Jurisprudenz "erst in ihrer Zusammenfassung die vollständige Wissenschaft des Rechts darstellen". - Die Einheit und Selbständigkeit der Rechtswissenschaft wird am entschiedensten von von KIRCHMANN bestritten.
    16) ZELLER, Staat und Kirche, 1873)
    17) Mit dem hier bekämpften Irrtum hängt u. a. auch die Scheidung des philosophischen Staatsrechts und Völkerrechts vom positiven Staatsrecht und Völkerrecht bei MOHL (Enzyklopädie der Staatswissenschaften) zusammen.
    18) "Ihr Kern ist aber unmöglich, wie man anzunehmen pflegt, die Ansicht über das Faktische, wie das Recht entsteht; sondern nur  die  über das Ethische, wie es entstehen, welchen Inhalt es erhalten soll" ... STAHL spricht hier vom "Innersten der geschichtlichen Richtung". Dies aber ist ihm zugleich das Innerste der Rechtsphilosophie.
    19) Einen scharfen Gegensatz zu der hier vertretenen Auffassung bildet die von von KIRCHMANN in seinen "Grundbegrifen des Rechts und der Moral" entwickelte. "Die Kritik des bestehenden Rechts und der geltenden Moral ist" nach ihm "der Wissenschaft des Sittlichen unmöglich. So wenig wie die Naturwissenschaft eine Kritik der Pflanzen und Tiere unternimmt oder eine Musterpflanze aufstellt, so wenig kann es" ihm zufolge "die Wissenschaft mit en Gestalten der sittlichen Welt." Es fehlt ihr dazu die Grundlage. Daher bilden nach ihm die Untersuchungen  de lege ferenda  [nach künftigem Recht - wp] "keinen Teil der Wissenschaft des Seienden". Diese Ansicht dürfte durch das im Text Gesagte ihrer scheinbaren Stützen beraubt sein. Richtig ist in dem, was zugunsten derselben vorgebracht wird, nur die Bemerkung, daß die Wissenschaft weder Lob noch Tadel habe und die treibenden Elemente des Begehrens nicht in sich enthält. In der Tat hat die Wissenschaft sich nicht die Verwirklichung des Sittlichen und dem Kampf für dessen Geltung zum Ziel zu setzen. Jede Art von praktischer Tendenz liegt außerhalb ihrer "rein wissenden Natur". Aber indem sie ihrem eigenen Geschäft nachgeht, der Erweiterung und Vertiefung des Wissens, übt sie auf die Bewegung des Lebens beständig einen tiefgreifenden Einfluß aus und bereitet häufig den Triumpf jener treibenden Elemente, wenn derselbe den gemeinsamen Interessen entspricht, in entscheidender Weise vor. Ja im Haushalt des nationalen Lebens erscheint dies nach dem Zeugnis der Geschichte, insbesondere nach dem der Rechtsgeschichte, als die normale Funktion derselben.
    20) von KIRCHMANN, a. a. O.