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ARTHUR NUSSBAUM
Über Aufgabe und Wesen
der Jurisprudenz


"Die Rechtspraxis bedeutet die Anwendung des geltenden Rechts auf die konkreten Fälle des Lebens, sie vollzieht sich einerseits durch die Feststellung der (relevanten) Tatsachen, andererseits durch ihre Unterordnung unter die maßgebenden Rechtsnormen (Subsumtion). Die Jurisprudenz ist dagegen die allgemeine und theoretische Rechtslehre, die sich im Verhältnis zur Praxis als Mittel darstellt. Sie bedeutet dem Juristen dasselbe oder doch etwas Gleichartiges, wie etwa die Pathologie, Therapie usw. dem praktischen Arzt, die Konstruktionslehre dem Ingenieur, die Kompositions- und Harmonielehre dem Komponisten."

Alle Wissenschaften, mögen sie nun Natur- oder Kulturwissenschaften sein, stellen sich die Aufgabe, auf ihrem Gebiet die Wirklichkeit zu erkennen, d. h. aus unseren Vorstellungen von den Erscheinungen die Mängel der Wahrnehmung und Überlieferung zu eliminieren und die so richtiger gesehenen Erscheinungen in ihrem ursächlichen Zusammenhang zu begreifen; sie wollen auf induktivem Weg die Erscheinungen miteinander verknüpfen. Ganz anders die Jurisprudenz. Ihr Gegenstand ist nicht die Wirklichkeit, nicht das Sein, sondern  das Sollen;  die Frage nach der kausalen Verknüpfung kann hier überhaupt nicht entstehen.


Man kann es vielleicht bedauern, aber füglich nicht bestreiten, daß die Rechtswissenschaft sich nicht allgemein einer so hohen Schätzung erfreut wie die meisten ihrer akademischen Schwestern. Zunächst finden sich unter den Nichtjuristen, insbesondere den Naturwissenschaftlern und Technikern überaus viele, die vor der Jurisprudenz eine starke Mißachtung hegen. Mancher Leser wird sich vielleicht des temperamentvollen Angriffs erinnern, den Professor RIEDLER von der technischen Hochschule Charlottenburg vor einiger Zeit im Preußischen Herrenhaus gegen die Jurisprudenz gerichtet hat. Aber auch in den Kreisen der Juristen selbst sind äußerst bedenkliche Symptome zu konstatieren. So begegnet die juristische Theorie bei den Praktikern in zahllosen Fällen einer unverhohlenen Geringschätzung, wie sie etwa dem Mediziner gegenüber den Lehren der Physiologie und Pathologie, dem Ingenieur gegenüber denen der Mechanik ganz unbekannt ist. Es scheint mir, daß man sich in akademischen Kreisen vielfach Irrtümern über Existenz und Umfang dieser Erscheinung hingibt, vielleicht vermag auch nur der Praktiker darüber ein sicheres Urteil zu fällen. Man kann sich nun nicht etwa damit trösten, daß nur die Banausen unter den Praktikern jenen ablehnenden Standpunkt gegenüber ihrer Wissenschaft einnehmen. Nicht selten ist nämlich der Hergang der, daß der junge Jurist mit dem besten Willen, ja mit Begeisterung an seine Wissenschaft herangeht, sich in sie vertieft und sie lieb zu gewinnen trachtet, um sich schließlich enttäuscht und mit dem Gefühl einer inneren Lehre von ihr abzuwenden. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch der auffälligen Tatsache Erwähnung zu tun, daß hochkultivierte, auf der Höhe der Wissenschaft stehende Nationen, wie die Engländer und die Amerikaner, eine dogmatisch-systematische Rechtswissenschaft in unserem Sinne gar nicht kennen (1). Überhaupt spielt letztere außerhalb Deutschlands, wenn man von Italien absieht, nur eine geringe Rolle und ist, soweit sie im Ausland auftritt, vielfach auf deutsche Einflüsse zurückzuführen.

Diese und manche andere Beobachtungen regen notwendig den Zweifel an, ob und innerhalb welcher Grenzen die Jurisprudenz berechtigt und unentbehrlich ist, ob sich die ungeheure Gedankenarbeit lohnt, die auf die Probleme der juristischen Theorie verwendet worden ist.

Eine schlechthin verneinende Antwort hierauf hat im Revolutionsjahr 1848 der damalige Staatsanwalt von KIRCHMANN gegeben. In einem vor "Juristischen Gesellschaft" zu Berlin gehaltenen, später veröffentlichten Vortrag "Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" unternahm er es, die Wertlosigkeit dieser Disziplin sowohl in theoretischer wie praktischer Hinsicht zu erweisen. KIRCHMANN vergleicht die Jurisprudenz zu diesem Zweck mit anderen Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften, deren Erhabenheit ihr fremd ist, er wendet sich mit scharfen Worten gegen die Unsinnigkeit gelehrter Rechtsprechung, gegen die Fremdheit, mit der die Juristen dem Leben und der Politik gegenüberstehen, und seine Ausführungen gipfeln in der Forderung, daß man die Rechtsprechung "völlig dem gesunden Sinn der Laien überlassen" und die Gesetzgebung nur auf den Ausspruch einiger "leitender Grundsätze" beschränken soll.

Unschwer erkennt man in solchen Gedankengängen den Geist des Jahres 1848, obgleich der Verfasser hie und da geradezu reaktionäre Bemerkungen hervorbringt und die Neigung, den Begriff der Wissenschaft auf die Naturwissenschaften zu beschränken, dürfte mit dem damals schon eingetretenen Rückschlag gegen HEGELs Philosophie und der zunehmenden Verbreitung des naturwissenschaftlichen Materialismus zusammenhängen, wie er durch die Namen CARL VOGT und LUDWIG BÜCHNER gekennzeichnet wird. Auch die Persönlichkeit des Vortragenden ist für seine Lehre nicht ohne Bedeutung. KIRCHMANN, der noch im Jahr 1848 zum Appellations-Vizepräsidenten aufrückte, nahm an den politischen Ereignissen des Jahres lebhaften Anteil, trat in das Abgeordnetenhaus ein und geriet schließlich in Konflikt mit der Regierung, die ihn auf dem Weg eines Disziplinarverfahrens seines Amtes enthob. KIRCHMANN widmete sich seitdem vorwiegend philosophischen Studien, den er schon vorher zugetan war; unter den philosophischen Schriftstellern des vergangenen Jahrhunderts steht sein Name nicht an letzter Stelle.

Der Schrift über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz kann man das Verdienst nicht absprechen, eine wichtige Frage aufgeworfen, sie in selbständiger Weise behandelt und im einzelnen zu ihrer Lösung manche treffende oder doch anregende Bemerkung beigesteuert zu haben. Im Ganzen ist der Versuch KIRCHMANNs jedoch mißglückt. Es fehlt seiner Arbeit vor allem an einer scharfen Problemstellung, und die einzelnen Glieder der Beweisführung schließen sich nicht zusammen. Fernerhin zeigt sich allenthalben eine schlimme Begriffsverwirrung: es werden z. B. einerseits Rechtswissenschaft, Gesetzgebungspolitik und forensische Praxis, andererseits positives und sogenanntes natürliches Recht miteinander verwechselt. Über den schließlichen Vorschlag von KIRCHMANNs ist kaum ein Wort zu verlieren. Seine Erfüllung würde, wenn sie überhaupt möglich wäre, eine unerhörte Willkür, Ungleichheit und Unsicherheit der Rechtsprechung herbeiführen.

Die bald sich meldenden Gegner von KIRCHMANNs hatten daher leichtes Spiel. Eine glänzende Widerlegung lieferte insbesondere STAHL in der unverdient vergessenen Abhandlung "Rechtswissenschaft oder Volksbewußtsein" (2). Eine eingehendere Erörterung der Frage ist seitdem nicht mehr erfolgt. Dagegen fehlt es in der Literatur nicht an gelegentlichen Bemerkungen, die teils in dem einen, teils in einem anderen Sinn lauten und damit erkennen lassen, daß das Problem durch die Schriften KIRCHMANNs und seiner Gegner keineswegs gelöst ist.

Ein Ergebnis wird jedenfalls dann nicht zu gewinnen sein, wenn die Frage sogleich auf den Wert oder Unwert der Jurisprudenz abgestellt wird. Zunächst muß man sich einmal über Aufgabe und Methode der Jurisprudenz einigen, da hiervon die Entscheidung über den Wert, falls eine solche überhaupt möglich ist, zu einem Teil abhängt. Über jene Punkte herrscht aber tatsächlich nichts weniger als Einigkeit. Den in dieser Hinsicht bestehenden Gegensätzen nachzugehen und ihre Beseitigung anzustreben, dürfte vielleicht gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt angezeigt erscheinen, wo die methodologischen Probleme in den Vordergrund des allgemeinen philosophischen Interesses gerückt sind, ohne daß jedoch die Jurisprudenz an dieser Bewegung bisher teilgenommen hätte.

Worin liegt die Aufgabe der Jurisprudenz, das also ist unsere erste Frage. Eines können wir darauf mit Sicherheit erwidern: die Jurisprudenz ist nicht etwa die Lehre vom Recht schlechthin. Das Recht spielt eine wichtige Rolle in einer großen Anzahl anderer Disziplinen, z. B. in der Volkswirtschaftslehre, der Verwaltungswissenschaft, der Philosophie, der Geschichte (hier besonders das Staatsrecht), der Ethnologie, ferner aber z. B. auch in der Politik. Für die Geschichte kommt das positive Recht einer bestimmten Nation in Betracht als Ursache oder Wirkung historisch relevanter Vorgänge, für die Ethnologie als Ausdruck der anthropologischen, geographischen, wirtschaftlichen und sonstigen Lebensbedingungen eines (Natur) Volkes, für die Politik handelt es sich um die Fortbildung des geltenden Rechts mit Hilfe der dazu tauglichen Machtmittel usw. Der Unterschied der Jurisprudenz gegenüber der Politik liegt nun auf der Hand. (3) Letztere will lediglich Regeln für praktisches Handeln, d. h. Vorschriften der Zweckmäßigkeit aufstellen, der Rechtswissenschaft ist es dagegen um die kontemplative Erkenntnis des Rechts zu tun. Hieraus ergibt sich zugleich der Gegensatz der Jurisprudenz zu den anderen genannten Disziplinen. Denn sie bleibt dabei stehen, das Recht als solches, d. h. es formal auf seinen Inhalt hin zu betrachten; der Rechtssatz kommt für sie nur als Norm, nicht als kausal bedingte Tatsache des geistig-sozialen Lebens in Betracht. Welche psychologischen, wirtschaftlichen und andere Faktoren das Recht zustande gebracht haben, welche psychologischen, wirtschaftlichen und anderen Wirkungen es äußert, ferner aber auch die Frage nach einem etwaigen überempirischen Ursprung oder Zusammenhang des Rechts - all dies kann nicht mit den Mitteln der Jurisprudenz, sondern nur mit denen der Psychologie, Geschichte, Philosophie usw. entschieden werden.

Damit ist nun erstens keineswegs gesagt, daß jene Disziplinen dem Juristen nichts bringen könnten oder ihm gar fremd bleiben sollten. Im Gegenteil: Ganz abgesehen davon, daß dem geistig strebenden Juristen daran liegen wird, das Recht einmal von einer anderen Seite zu sehen wie der ihm zugewendeten, besteht auch ein gewisser innerer Zusammenhang. Denn wenngleich es richtig ist, daß man vor allen Dingen eines gesunden Rechtsgefühls und praktischer Lebenserfahrung bedarf, um den Inhalt des Rechts zutreffend und sicher zu bestimmen, so sind doch hierbei nicht selten theoretische Kenntnisse, insbesondere solche volkswirtschaftlicher, geschichtlicher und psychologischer Art vonnöten. So treten eine ganze Reihe von Lehren zur Jurisprudenz in das Verhältnis von Hilfsdisziplinen, und auch der sogenannten Rechtsgeschichte kommt keine andere Stellung zu (4), denn sie ist dem Wesen nach (methodologisch) Geschichte, sie will wie jede Geschichte ihren Gegenstand, d. h. hier das positive Recht, in seinem Werden und Vergehen als einen ursächlich verknüpften Komplex tatsächlicher (und zwar geistiger) Lebenserscheinungen zur Darstellung bringen.

Auf allen Gebieten methodischer Geistestätigkeit, nicht nur im Verhältnis der Wissenschaften, kehrt diese Gruppierung von Haupt- und Hilfsdisziplinen wieder. So sind z. B. Geschichte, Astronomie, Geologie usw. Hilfsdisziplinen für die Geographie; Musikgeschichte und Akustik für die musikalische Kompositionslehre; Kunstgeschichte, Statik und Baurecht für die Architektur usw. Es ist dabei ohne weiteres ersichtlich, daß die zu einer Gruppe gehörigen Disziplinen die verschiedenste methodologische Struktur aufweisen können, und ferner, daß das Verhältnis von Haupt- und Hilfswissenschaft relativ ist. Jede Hauptdisziplin kann an anderer Stelle zur Hilfsdisziplin werden, und wenn z. B. die Nationalökonomie eine Hilfslehre der Jurisprudenz darstellt, so ist andererseits auch die letztere eine Hilfslehre der ersteren. Will man das Wesen einer Disziplin erkennen, so muß man deshalb, von allen Hilfsdisziplinen absehend, aus ihr selbst heraus ihre Eigenart bestimmen. Und so haben wir für unsere Zwecke lediglich die den Inhalt des objektiven Rechts entwickelnde, die "dogmatische Jurisprudenz" ins Auge zu fassen.

Wenn wir ferner auf den Gegensatz zwischen Jurisprudenz und Gesetzgebungspolitik hingewiesen haben, so ist damit natürlich nicht gesagt, daß der Jurist der letzteren fernbleiben soll. Zunächst kommt auch die Politik, wie wir noch sehen werden, für die Jurisprudenz als Hilfsdisziplin in Betracht. Weiterhin aber erscheinen die Juristen kraft ihrer Rechtskenntnisse sogar in hervorragendem Maß befähigt und berufen, an der politischen Arbeit mitzuwirken; es ist dies zwar nicht ihre juristische, aber ihre staatsbürgerliche Pflicht. Zudem wird dem Juristen dadurch ein wirksames Gegengewicht gegen die Einseitigkeit seiner Berufstätigkeit gewährt. Denn gar zu oft steht das formal-juristisch Gerechte nicht im Einklang mit jener höheren Gerechtigkeit, bei der sich allein das Rechtsgefühl beruhigen sollte, und da die Politik gerade von der Unvollkommenheit des positiven Rechts ausgeht, so bietet die Beschäftigung mit ihr eine unvergleichliche Gelegenheit, den Juristen vor der Verkümmerung seines Gerechtigkeitsempfindens zu bewahren. Aber alle diese praktischen Erwägungen können in keiner Weise die methodologische Verschiedenheit der beiden Disziplinen aufheben.

Auch von der Rechtspraxis ist die Jurisprudenz logisch wohl getrennt zu halten. Die Rechtspraxis bedeutet die Anwendung des geltenden Rechts auf die konkreten Fälle des Lebens, sie vollzieht sich einerseits durch die Feststellung der (relevanten) Tatsachen, andererseits durch ihre Unterordnung unter die maßgebenden Rechtsnormen ("Subsumtion"). Die Jurisprudenz ist dagegen die allgemeine und theoretische Rechtslehre, die sich im Verhältnis zur Praxis als Mittel darstellt. Sie bedeutet dem Juristen dasselbe oder doch etwas Gleichartiges, wie etwa die Pathologie, Therapie usw. dem praktischen Arzt, die Konstruktionslehre dem Ingenieur, die Kompositions- und Harmonielehre dem Komponisten.

Die Notwendigkeit einer besonderen theoretischen Rechtslehre ergibt sich aus den Unvollkommenheiten jedes positiven Rechts, aus den Schwierigkeiten, die sein Rohstoff der Rechtsanwendung entgegenstellt. Jedes geltende Recht setzt aus positiven, scharf umrissenen Normen zusammen, nach der üblichen Einteilung: befehlenden, verbietenden und gewährenden; und das gilt auch vom Gewohnheitsrecht, das übrigens fast immer in Rechtssprichwörter, sogenannten Rechtsbücher, Präjudizien [Präzendenzfälle - wp] und dgl. eine literarische Ausprägung zu finden pflegt. Immerhin läßt sich sagen, daß die Positivität des Rechts hier auf einer niedrigeren Stufe stehen geblieben ist, und es verdient dem gegenüber bemerkt zu werden, daß eine theoretische Rechtslehre sich immer nur auf dem Boden des Gesetzesrechts entwickelt.

Das positive Recht ist nun erschöpfend in dem Sinn, daß aus ihm für jeden möglichen Rechtsfall eine Entscheidung abgeleitet werden kann, daß mithin jeder mögliche Fall eine Norm findet, unter welche er gehört. Diese kann aber sehr häufig nur mit Hilfe einer von prinzipiellen Gesichtspunkten getragenen, theoretischen Rechtslehre gefunden werden, und man bedarf dieser Hilfe in zunehmendem Maß, je komplizierter sich Rechts- und Lebensverhältnisse gestalten.

Die Jurisprudenz leistet solche Hilfe zunächst dadurch, daß sie die in den Normen auftretenden Begriffe, die Rechtsbegriffe definiert. Die Definitionen dienen übrigens nicht nur dazu, die Subsumtion des einzelnen Falles, sondern auch die der Rechtsbegriffe untereinander zu ermöglichen. Ob z. B. die eingetragene Genossenschaft ein "Verein", die Begründung eines Wohnsitzes ein "Rechtsgeschäft" ist, hängt natürlich von den Definitionen der Begriffe  Verein  und  Rechtsgeschäft  ab.

Aber in den Definitionen erschöpft sich die Aufgabe der Jurisprudenz nicht. Jene bleiben am Paragraphen haften; die Normen des objektiven Rechts decken sich jedoch keineswegs immer mit seinen einzelnen Paragraphen. Wie jede durch die Sprache vermittelte Geistesschöpfung, so kann auch das Recht ganz und zutreffend nur in seinem Zusammenhang erkannt werden. Aus letzterem heraus kann sich unter Umständen herausstellen, daß ein Paragraph den in ihm enthaltenen Rechtsgedanken, die Norm, nur unvollkommen wiedergibt. Man gelangt dann dahin, eine allgemeinere Norm aufzustellen, von der die in einem Paragraphen entaltene nur einen Teil oder eine Folgerung wiedergibt. Man erstreckt z. B. die Norm eines nur für die Aktiengesellschaft gegebenen Paragraphen auf die eingetragene Genossenschaft, "wegen Gleichheit des inneren Grundes", wie die übliche Formel lautet; darin liegt, daß jene Norm, wenn man sie im Zusammenhang des gesamten Rechtssystems betrachtet, sich sowohl für die Aktiengesellschaft wie für die eingetragene Genossenschaft als gültig erweist. Der Wortlaut des Paragraphen bringt hier also nur einen Teil der Norm zum Ausdruck. Die Erkenntnis ihres wahren Umfangs wird in diesem Fall gewöhnlich als "Analogie" oder "analoge Anwendung" bezeichnet. Dieser aber ist (für die Zwecke unserer Betrachtung) gleichartig der auch im einzelnen von ihr oft kaum zu unterscheidende zweite Fall, daß die Norm des einzelnen Paragraphen oder die Norm einer Reihe einzelner Paragraphen nur als Folgerungen der neu aufgefundenen allgemeineren Norm erscheinen, ohne deren Inhalt zu erschöpfen. So etwa wenn aus einer Reihe von Paragraphen der Zivilprozeßordnung entnommen wird, daß durch durch Erhebung der Klage ein bestimmt qualifiziertes Rechtsverhältnis unter den Parteien oder aber ein Rechtsschutzanspruch der letzteren gegen das Gericht erzeugt wird, oder wenn man in einzelnen Vorschriften Belege dafür zu finden glaubt, daß den Voraussetzungen des rechtsgeschäftlichen Willens durchgängig bestimmte Rechtsfolgen zukommen und dgl. In solchen Fällen bildet den Ausgangspunkt, man kann sagen, das Kristallisationszentrum für die Gewinnung der höheren Norm ein neu aufgefundener, in den einzelnen Paragraphen nicht enthaltener Rechtsoberbegriff, in den angeführten Beispielen "Rechtsverhältnis", "Rechtsschutzanspruch", "Voraussetzung". Andere Beispiele lassen sich leicht bilden, wenn man an Begriffe wie "akzessorische Haftung", "Prozeßstandschaft" und dgl. denkt. In der theoretischen Darstellung pflegt die Gewinnung des Rechtsoberbegriffs sehr in den Vordergrund zu rücken. Er pflegt die Überschriften abzugeben, und man kann daher leicht übersehen, daß er, wie jeder Rechtsbegriff, nur im Zusammenhang mit einer Norm seine Bedeutung erhält, daß der indikative Charakter der Darstellung (Aufstellung des Begriffs "Voraussetzung"; "Prozeßstandschaft" usw.) nur die Form ist, hinter der sich der imperativisch-normative Gehalt verbirgt. Übrigens darf man nicht überall, wo die Theorie eine im positiven Recht nicht gebrauchte Bezeichnung verwendet, einen neuen Rechtsoberbegriff und eine allgemeiner Norm in dem vorher dargelegten Sinn suchen; sehr häufig haben jene Bezeichnungen, wie z. B. der Ausdruck "Legalitätsprinzip" für die Vorschrift des Paragraph 152, Abs. 2 der Strafprozeßordung (5), nur terminologische Bedeutung.

Die Entwicklung der allgemeinsten Begriffe und Normen des objektiven Rechts wollen wir "Konstruktion" nennen. Dies tut auch der gewöhnlichste Sprachgebrauch, doch verwertet derselbe den Terminus zugleich für andere juristische Denktätigkeiten, nämlich bisweilen für die Subsumtion der Lebenserscheinungen unter die Rechtsbegriffe (das Gericht "konstruiert" diese oder jene Vereinigung von Gewerbetreibenden als offene Handelsgesellschaft) und vor allem für die Subsumtion der durch das positive Recht unmittelbar gegebenen Begriffe untereinander. (Es wird z. B. die Rechtsform der Aktiengesellschaft als Verein im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs "konstruiert".) Die letztere logische Prozedur ist dem, was wir als Konstruktion bezeichnen, in der Tat eng verwandt. Denn wie weit die allgemeinsten Rechtsbegriffe und Normen im Gesetz selbst Aufnahme gefunden haben, hängt lediglich von einem geschichtlich bedingten, für die logische Betrachtung mithin zufälligen Grad der Vervollkommnung des Gesetzes ab. Die Gesetzgebung zeigt die deutliche Tendenz, unter Ausnutzung der von der Theorie gewonnenen Ergebnisse den Normen oder sagen wir den Paragraphen eine möglichst allgemeine Ausprägung zu geben; als das in dieser Hinsicht am weitesten vorgeschrittene Gesetzgebungswerk ist wohl das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch anzusehen. Allerdings wird die Gesetzgebung hinter der Theorie immer weit zurückbleiben, zum Teil schon aus gesetztechnischen Gründen, die häufig dahin führen, die theoretisch wichtigsten Fragen, wie man zu sagen pflegt, "der Wissenschaft zu überlassen", d. h. es der Theorie anheimzustellen, die Antwort auf die Frage aus dem Zusammenhang des objektiven Rechts zu finden. Auch lassen es gesetztechnische Erwägungen häufig als nicht wünschenswert erscheinen, einer Norm im Gestz ihren allgemeinsten und darum am meisten abstrakten Ausdruck zu geben. Aber es ist doch zumindest in der Idee ein Gesetzbuch von so allgemeinen und vollkommenen Vorschriften denkbar, daß die Notwendigkeit von Analogiebildungen und Konstruktionen (im oben angegebenen Sinn) entfiele und der Rechtslehre nur noch die Definition der Rechtsbegriffe und deren Subsumtion untereinander übrig bliebe.

Eines der wichtigsten Hilfsmittel für die Definition, Analogiebildung und Konstruktion ist die Heranziehung der gesetzpolitischen Gesichtspunkte. Die Erkenntnis des äußeren, materialen Zwecks, den der Gesetzgeber mit einer Vorschrift erstrebt, kann viel dazu beitragen, den Inhalt der Norm zutreffend zu bestimmen. Nebenher können die gesetzpolitischen Gesichtspunkte auch dazu verwendet werden, Normen nach ihnen zu gruppieren (so besonders im Prozeß: Vorschriften zur Verhinderung der Prozeßverschleppung, zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit usw.). Man kann hier von allgemeinen Begriffen sprechen, aber es bedarf nur der Erwähnung, daß ihre Aufstellung nicht mit den "Konstruktionen" verwechselt werden darf und überhaupt ansich nicht der näheren Bestimmung des Gesetzesinhaltes dient.

Letzteres aber ist, wie wir gesehen haben, durchgängig die Aufgabe der spezifisch-juristischen Denktätigkeiten, die so die zutreffende Anwendung des Rechts erleichtern oder ermöglichen sollen.

Dieser Zweck ist nun ein rein praktischer. Damit werden wir auf eine Frage von prinzipieller Bedeutung geführt. Die Astronomie, Biologie, Chemie, Physik, Nationalökonomie, Psychologie usw. verfolgen auch praktische Ziele, aber wir sehen sogleich, daß ihre eigentliche Bestimmung nicht auf praktischem Gebiet liegt. Bei anderen und zwar besonders den sogenannten "Kulturwissenschaften" im Sinne RICKERTs (6), tritt das praktische Moment ganz und gar in den Hintergrund, so bei der Sprachwissenschaft und der Geschichtswissenschaft. Darin äußert sich nun ein durchgreifender sachlicher, methodologischer Unterschied gegen die Jurisprudenz.

Alle ihr im Vorstehenden gegenübergestellten Wissenschaften, mögen sie nun Natur- oder Kulturwissenschaften sein, stellen sich nämlich die Aufgabe, auf ihrem Gebiet die Wirklichkeit zu erkennen, d. h. aus unseren Vorstellungen von den Erscheinungen die Mängel der Wahrnehmung und Überlieferung zu eliminieren und die so richtiger gesehenen Erscheinungen in ihrem ursächlichen Zusammenhang zu begreifen; sie wollen auf induktivem Weg die Erscheinungen miteinander verknüpfen. Ganz anders die Jurisprudenz (7). Ihr Gegenstand ist nicht die Wirklichkeit, nicht das Sein, sondern das Sollen; die Frage nach der kausalen Verknüpfung kann hier überhaupt nicht entstehen. Das Recht als ursächlich bedingte Tatsache des geistigen und sozialen Lebens zu betrachten fällt, wie wir gesehen haben, nicht der Jurisprudenz, sondern anderen Disziplinen zu. Die juristische Theorie kann nichts weiter wollen als den Inhalt des ihr gegebenen positiven Rechts näher bestimmen. Dies geschieht und kann nur geschehen, wie dargelegt, auf deduktivem Weg, nämlich durch eine Umformung eines ansich schon gegebenen, aber unvollkommen gefaßten Denkinhaltes. Durch die Praxis, und erst durch sie wird allerdings ein Zusammenhang zwischen juristischer Theorie und Wirklichkeit hergestellt: er besteht darin, daß die Erscheinungen des Lebens rechtlich rubriziert werden. Man lasse sich nicht dadurch täuschen, daß bei den oben genannten Wissenschaften eine ähnliche Rubrizierung stattfindet, denn sie hat dort eine ganz andere Bedeutung. Ob z. B. das Licht eine Ätherbewegung oder, wie eine Theorie früherer Jahrhunderte meinte, ein von den leuchtenden Körpern sich absondernder Stoff ist; ob der Ring des Saturn eine feste oder eine gasförmige Masse oder eine Anhäufung einzelner Körper ist, diese Fragen aufklären heißt unsere Vorstellung vom Tatsächlichen jener Erscheinungen und von der Möglichkeit ihrer Einordnung in kausale Zusammenhänge bestimmen. Ob das Licht aber als Sache im Sinne des Bürgerlichen Gesetbuchs anzusehen ist, ist für unsere Kenntnis von der Lichterscheinung ohne jede Bedeutung. Der Jurist kommt im Verhältnis zur Wirklichkeit nicht darüber hinaus, ihren Elementen rechtliche Etiketten aufzukleben.

Man kann die Jurisprudenz auch nicht, trotz einiger nebensächlicher Ähnlichkeiten, mit der Mathematik auf eine Stufe stellen (8), denn diese beschäftigt sich gleichfalls mit den Dingen (Erscheinungen), nämlich insofern sie Größen sind; ihr Wert für die Erkenntnis der Wirklichkeit tritt am deutlichsten in den speziellen Anwendungen hervor, die sie in der Physik, Chemie, Astronomie usw. erfährt.

Mit dieser methodologischen Sonderstellung der Jurisprudenz hängen einige ihrer Eigentümlichkeiten zusammen, die von jeher mehr als prinzipielle Erwägungen die Zweifel an ihrer Gleichberechtigung im Rang der akademischen Lehrdisziplinen angefacht haben. So besonders die Vergänglichkeit der juristischen Gedankenarbeit. Denn letztere steht und fällt mit dem positiven Recht, dessen Auslegung sie dient. Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers, sagt mit epigrammatischer Übertreibung von KIRCHMANN, und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur. Übertrieben ist die Bemerkung insofern, als in einzelnen freilich seltenen Fällen juristische Arbeiten über den Wechsel der Gesetzgebung hinaus einen literarischen, rechtsgeschichtlichen oder gesetzpolitischen Wert behalten können, einzelne Gedanken können auch für die Auslegung des neuen Rechts verwertet werden, nämlich  soweit das letztere dem älteren gleichartig ist.  Aber die  wesentliche  Bedeutung einer juristischen Untersuchung wird durch eine materielle Änderung des Rechts, auf das sie sich bezieht, in der Tat aufgehoben. Nun sind zwar auch in den der Erkenntnis zugewendeten Disziplinen selbst die bedeutendsten Schöpfungen der Gefahr des Veraltens ausgesetzt. Aber dadurch wird ihnen nicht ihr wesentlicher Wert genommen. Haben sie nämlich überhaupt einmal zum Fortschritt der Wissenschaft beigetragen, so kann ihr die dadurch erzielte Förderung nicht mehr verloren gehen, auch wenn das betreffende Werk selbst jede Aktualität eingebüßt hat und in das wissenschaftliche Unterbewußtsein hinabgesunken ist. Die Arbeit dagegen, die etwa auf die Auslegung eines älteren partikularen Strafgesetzbuchs verwendet worden ist und dessen Anwendung damals noch so sehr gefördert hat, ist für  den gegenwärtigen Stand der Rechtslehre  (mit den oben angegebenen Einschränkungen) vergebens getan.

Eigentümlich ist ferner der Jurisprudenz ihre nationale Beschränktheit. Selbstverständlich sind Gegenstand und Inhalt der Chemie, Geologie, überhaupt der Naturwissenschaften allen Nationen gemeinsam, aber wenn sich auch in anderen Wissenschaften z. B. auf dem Gebiet der Geschichte eine nationale Begrenzung des Gegenstandes findet, so ist doch der Inhalt der Geschichtswissenschaft von einer solchen Beschränkung frei, denn sie will den gesamten Inhalt des in Wechselwirkung stehenden geschichtlichen Lebens entwickeln, und sie erreicht dieses Ziel, indem sie jedes einzelne in seiner kausalen Verknüpfung zur Darstellung bringt. Ebenso hat z. B. innerhalb der Sprachwissenschaft die einzelne Sprache, mit der sich der Forscher beschäftigt, nur die Bedeutung eines Beispiels, letztes Ziel ist hier die Erkenntnis des Wesens der Sprache überhaupt. Anders die Jurisprudenz. Sie richtet ihr Augenmerk von vornherein nicht auf die unabsehbare FÜlle der übrigens in den verschiedensten Entwicklungsstadien befindlichen positiven Rechte - die ist vielmehr hauptsächlich das Geschäft der sogenannten "vergleichenden Rechtswissenschaft", die methodologisch der Ethnologie zuzurechnen ist und der Jurisprudenz als Hilfswissenschaft dient. Für letztere aber ist das "letzte Ziel" die Auslegung eines bestimmten positiven Rechts, dem sie ihren ganzen Inhalt entnimmt. Es gibt daher im Grund so viele Jurisprudenzen wie theoretisch behandelte positive Rechtssysteme. Das schließt nicht aus, daß die Auslegung des einen Rechts für die des anderen fruchtbar gemacht werden kann, nämlich wiederum soweit eine materielle Übereinstimmung stattfindet, wie dies für die Rechte der Kulturvölker in hohem Maß zutrifft. Diese wechselseitige Befruchtung der nationalen Rechtslehren und erst neuerdings voll erkannte Bedeutung jedoch auf dem Gebiet der Gesetzgebungspolitik liegt.

Für die Stellungnahme mancher wissenschaftlich Gebildeten gegenüber der Jurisprudenz kommt schließlich noch psychologisch die Erwägung in Betracht, daß die deduktive Methode dieser Disziplin einerseits viel müheloser, anderereits aber - zumindest für die Empfindung vieler - weit weniger schöpferisch ist als die Mühseligkeiten der Induktion.

Die meist mehr dunkel gefühlte als klar erkannte methodologische Sonderstellung der Jurisprudenz wird häufig auf die Formel gebracht, daß die Jurisprudenz keine Wissenschaft ist. Um die Berechtigung dieser These nachzuprüfen, muß man natürlich zunächst einmal feststellen, was unter "Wissenschaft" zu verstehen ist (9). Betrachtet man als +Wissenschaft schlechthin jede auf einen bestimmten Gegenstand bezügliche Summe von Wissenssätzen, so fällt die Jurisprudenz zweifellos unter den Wissenschaftsbegriff, nicht minder aber auch z. B. die kaufmännische Warenkunde, die Briefmarkenkunde, die Kompositionslehre, überhaupt das Wissen um jede künstlerische oder handwerkliche Technik, kurz hunderte von Wissenskomplexen, die uns niemals als Wissenschaft zu bezeichnen einfallen wird. Vielmehr müssen wir offenbar ein Unterscheidungsmerkmal suchen, das die Wissenschaften aus jenen Wissenskomplexen heraushebt und ihnen jene hohe und erfurchtgebietende Stellung anweist, die sich mit unserer Vorstellung von der Wissenschaft untrennbar verknüpft.

Eine verbreitete Meinung sieht nun das Kennzeichen der Wissenschaft darin, daß sie den ihr gegebenen Stoff zu einer systematischen Einheit zusammenfaßt (10). Aber darin kann das gesuchte unterscheidende Merkmal nicht gefunden werden. Der menschliche Geist vermag ein Wissensgebiet (abgesehen vom Lernen durch bloße praktische Erfahrung) überhaupt nicht anders vollständig zu bewältigen, als indem er zunächst eine systematische Gliederung in dasselbe hineinträgt, er vermag sich die Fülle der Einzelheiten nicht anders zu eigen zu machen, als indem er sie unter einheitliche Gesichtspunkte zusammenfaßt. Alle von uns sogenannten Wissenskomplexe sind daher einer systematischen Gliederung sowohl fähig wie bedürftig.

Wir müssen hier eine Zwischenbemerkung über das Wesen des Systems einschalten. Das System ist ein logisches Schema für die Einordnung von Begriffen, das man sich in der Anschauung wie eine Pyramide vorzustellen hat: oben der allgemeinste Begriff, der den Inhalt aller übrigen umschließt, unter ihm seine sämtlichen aus einem bestimmten Einteilungsprinzip sich ergebenden Unterbegriffe, deren Summe natürlich den des Oberbegriffs erschöpft. Jeder Unterbegriff wird wieder in seine Abarten zerspalten, d. h. er dient seinerseits als Oberbegriff usw. Beispielsweise ließen sich die subjektiven Rechte in folgendes System bringen:


Mit Hilfe eines solchen Systems vermag man sich in der Fülle der Begriffe (oder Gegenstände), deren Ordnung es gilt, leicht zurechtzufinden. Ort und Eigenschaften jedes einzelnen Begriffs (oder Gegenstandes) werden dadurch fortschreitend näher bestimmt, daß man sie gewissermaßen von der Spitze der Pyramide zur Basis hinuntergleiten läßt, was immer nur auf  einem bestimmten  Weg geschehen kann, da im System die Unterbegriffe zueinander gegensätzlich sind, mithin nur  eine  Möglichkeit der Wahl offen lassen.

Von großer Bedeutung ist das System für die Darstellung, insofern diese die Gesichtspunkte ihrer Gliederung, man kann halb bildlich sagen: die Kapitelüberschriften, dem System der für den behandelten Gegenstand wesentlichen Begriffe zu entnehmen pflegt. Hierbei wird allerdings die logisch-systematische Einteilung aus didaktischen und anderen äußeren Gründen in der Regel nicht streng durchgeführt. Das gewöhnliche Pandektensystem ist z. B. alles andere als ein strenges System: die Gegenüberstellung des allgemeinen Teils einerseits und der vier besonderen Teile andererseits entspricht zwar noch den Erfordernissen der Systematisierung, aber die vier besonderen Teile - Obligationenrecht, Sachenrecht, Familienrecht, Erbrecht - beruhen nicht mehr auf einem einheitlichen Einteilungsprinzip und befinden sich daher untereinander nicht im Verhältnis der Gegensätzlichkeit, wie dies bei nebeneinanderstehenden Gliedern eines logischen Systems der Fall sein muß. Infolgedessen sind im Familien- und Erbrecht obligationen- und sachenrechtliche Normen reichlich anzutreffen. Erwägt man die große Bedeutung, die dem sogenannten Pandektensystem innerhalb der Rechtslehre tatsächlich zukommt, so kann man, was die Darstellung des Rechtsstoffes anlangt, schwerlich von einer besonders straffen und keinesfalls von einer strengen Systematik innerhalb der Jurisprudenz sprechen. Und was die Normen anlangt, so können diese, als Urteile im logischen Sinn, überhaupt nur im Verhältnis von Obersatz, Untersatz und Folgerung stehen, nicht aber in das logische Schema eines Systems eingehen, das seiner Natur nach nur den Begriffen als solchen eine Unterkunftsstätte bieten kann. Zuzugeben ist wohl, daß die innerhalb des Rechts auftretenden Begriffe sich meist und leicht in systematische Reihen bringen lassen, so z. B. außer den schon zusammengestellten subjektiven Rechten die Willenserklärungen, die Fristen und dgl. Aber dieser Unterschied gegenüber anderen Disziplinen ist nur ein quantitativer, die Möglichkeit einer systematischen Gruppierung der Begriffe stellt sich auf jedem Gebiet nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Kunst und des praktischen Lebens ein, sofern es methodisch in Angriff genommen wird, (man kann z. B. die Form der Maschinen oder das Äußere der Briefmarken in ein System bringen).

Mithin kann die auf das Systematische gerichtete Tendenz kein brauchbares Kriterium des Wissenschaftsbegriffs abgeben. Übrigens erscheint jene Tendenz - es ist dies allerdings nur ein Nebengesichtspunkt - auch nicht ausreichend, um die bedeutsame Sonderstellung innerlich zu begründen, die wir unserem ganzen Empfinden nach unter der Fülle der Disziplinen gerade den Wissenschaften einräumen und die wir keinesfalls außer acht lassen dürfen, wenn wir feststellen wollen, was der Sprachgebrauch tatsächlich unter Wissenschaft versteht. Denn was leistet ein System? Nicht mehr als daß es uns die Möglichkeit gibt, uns innerhalb eines Gebietes zu orientieren und jeder in dasselbe gehörigen Erscheinung ihre Stelle anzuweisen. Es dient also lediglich einem heuristischen, praktischen Zweck. Unrichtig wäre die Vorstellung, daß schon durch die Systembildung ansich eine innere Einheit oder Zusammengehörigkeit der Dinge erkannt wird. Das System ist zunächst ein inhaltloses Schema, in welchem wir unsere Begriffe von den Dingen unterbringen. Um es an einem grotesken Beispiel zu verdeutlichen: man kann etwa die Menschen einteilen in bekleidete und unbekleidete, erstere in solche, die eine Kopfbedeckung tragen und die es nicht tun, und so in ähnlicher Weise weiter  ad infinitum.  Das wäre im logischen Sinn ein System. Brauchbar wird aber ein System erst dadurch, daß die Einteilungsprinzipien der Systematisierung an natürliche oder sagen wir allgemein: an innere Unterschiede anknüpfen. Alsdann pflegt der formalen Zugehörigkeit zu einer Systemgruppe auch das Moment einer materiellen Zusammengehörigkeit hinzuzutreten, das aber für die logische Betrachtung von ersterem streng zu sondern ist.

Das System kann als nicht das bieten, was wir nun einmal von der Wissenschaft verlangen: ein über das Praktische hinausgehendes, bedeutsames Ziel. Das gewinnen wir jedoch dann, wenn wir aus den Disziplinen oder Wissenskomplexen diejenigen als "Wissenschaft" herausheben, deren Gegenstand die Erkenntnis der Wirklichkeit ist, d. h. wenn wir den früher entwickelten methodologischen Gegensatz dazu benutzen, um durch ihn die Wissenschaften von den Nichtwissenschaften zu scheiden (11). Wir erhalten dann einen Begriff von Wissenschaft, der dem Sprachgebrauch nicht entgegensteht, dessen logische Grenzen hinreichend gesichert sind, und der durch seine Abstellung auf das reine Erkennen und die Ausscheidung des lediglich Praktischen auch inhaltlich befriedigt. Man muß ihn übrigens schon deshalb akzeptieren, weil und insofern es eine andere brauchbare Bestimmung des Wissenschaftsgbegriffs nicht gibt; ich wenigstens sehe keine andere Möglichkeit. Danach also würden zu den Wissenschaften gehören z. B. die Naturwissenschaften, die Geschichte, die Volkswirtschaftslehre, die Soziologie, die Psychologie, nicht aber die Jurisprudenz.

Was aber soll die Jurisprudenz dann sein? Man hat wohl gesagt: eine Kunst. Diese Antwort beruth wohl auf einem Mißverständnis. Das richterliche Urteil, das Plädoyer des Anwalts kann, sofern es ästhetische Wirkungen auslöst, zum Kunstwerk werden, nicht minder kann die  Darstellung  einer juristischen Theorie zugleich künstlerischen Wert besitzen. Aber die theoretische Rechtslehre selbst ist ihrem Wesen nach niemals Kunst. Ihr Ziel ist nicht die Erzeugung eines formal Schönen, sondern die logische Entwicklung gewisser Denkinhalte. Am ehesten könnte man die Jurisprudenz noch methodologisch als Technik bezeichnen (12). Unter Technik ist eine Disziplin zu verstehen, die sich die Gewinnung von Regeln für praktisches Handeln, für die  Gestaltung  der Wirklichkeit zum Ziel setzt. In diesem Sinne würde man außer den eigentlichen technischen Disziplinen wie der Maschinenbaukunde, Bergbaukunde usw. z. B. die Strategie, die Politik und wohl auch die Pädagogik hierhin zu rechnen haben. Die Jurisprudenz kann in diesem Zusammenhang genannt werden, insofern sie dem Juristen nach Art einer Technik das Material für seinen Beruf, nämlich für die Rechtsanwendung, liefert und in dieser praktischen Aufgabe ihre wesentliche Bestimmung findet. Aber ein wichtiger Unterschied gegenüber der Maschinenbaukunde, Strategie, Politik, Pädagogik liegt doch darin, daß letztere selbst die Regeln für das praktische Handeln aufstellen, eine Aufgabe, die auf juristischem Gebiet nicht von der Jurisprudenz, sondern vom positiven Recht selbst besorgt wird; lediglich der Jurisprudenz obliegt es, den Inhalt dieser Regeln näher zu bestimmen.

Indessen sind alle diese terminologischen Fragen - ob Wissenschaft, ob Technik nur von untergeordneter Bedeutung. Wesentlich sind allein die methodologischen Gegensätze, die sich durch keine Terminologie auslöschen lassen. Selbst wenn man einen brauchbaren Begriff der Wissenschaft finden würde, der die Jurisprudenz mitumspannt, so würde es doch dabei bleiben, daß die Jurisprudenz nicht der Wirklichkeitserkenntnis, sondern dem rein praktischen Zweck der Rechtsanwendung dient, und daß sie hierdurch zu vielen - nach unserer Meinung zu allen - Wissenschaften in einen Gegensatz gerät, der die Methode und Stellung der Disziplin im Prinzip wie in den Einzelheiten entscheidend beeinflußt. Insbesondere muß es dabei bleiben, daß die juristisch-theoretische Gedankenarbeit nicht um ihrer selbst willen, sondern nur insofern eine Daseinsberechtigung besitzt, wie sie der Praxis zu nützen vermag; und wem das Streben nach Erkenntnis höher steht als das Streben nach praktischen Zielen, muß den Wissenschaften (in unserem Sinne) den Vorrang vor der Jurisprudenz einräumen.

Freilich liegen Anschauungen, wie wir sie hier vertreten, heute den meisten Theoretikern himmelweit entfernt. Stattdessen begegnet man bei manchen von ihnen geradezu einer maßlosen Überschätzung ihrer Disziplin. Das führt unter Umständen dahin, daß das Recht behandelt wird, als sei es wesentlich für die Zwecke der Theorie geschaffen. Eine kritische Selbstbesinnung auf Wesen und Aufgabe der Jurisprudenz könnte hier viel Nutzen stiften.
LITERATUR, Arthur Nussbaum, Über Aufgabe und Wesen der Jurisprudenz, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 9. Jahrgang, Berlin 1906
    Anmerkungen
    1) Speziell über die amerikanische Jurisprudenz, der interessante Bericht JASTROWs im "Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie", Bd. I, 1904, Seite 478f.
    2) Ferner die anonyme "Kritik der Schrift des Staatsanwalts von Kirchmann über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz", von einem Lehrer dieser Wissenschaft, Berlin 1848, sowie CARL RETSLAG, Die Apologie der Jurisprudenz, Berlin 1848.
    3) Trotzdem wird er völlig verkannt von STAMPE, "Rechtfindung durch Konstruktion", in der "Deutschen Juristenzeitung" 1905, Seite 407f und 713f. Sehr bezeichnend (und zutreffend) sind die Einwendungen, die gegen den Vortrag seiner Ansichten sofort von Praktikern erhoben wurden, vgl. den 46. Jahresbericht der "Juristischen Gesellschaft" zu Berlin.
    4) So auch BÜLOW, Heitere und ernste Betrachtungen über die Rechtswissenschaft, Seite 86f. Siehe ferner EMIL LASK, Rechtsphilosophie (in Bd II. der Festschrift für Kuno Fischer, "Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts), Seite 37.
    5) Dieser lautet: [Die Staatsanwaltschaft] ist, soweit gesetzlich nicht ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.
    6) Über RICKERTs Unterscheidung vergleich besonders den Vortrag RICKERTs "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft".
    7) Mit der nachfolgenden Unterscheidung stimmt JELLINEK, System der subjektiven öffentlichen Recht, 1892, Seite 15f, im wesentlichen überein.
    8) Zum Beispiel JELLINEK, a. a. O. Seite 16, Anm.
    9) Vgl. hierüber die zwar unzureichenden, aber mit reichen Literaturnachweisen versehenen Ausführungen bei ERNST NEUKAMP, Entwicklungsgeschichte des Rechts.
    10) Siehe etwa WUNDT, Logik II, 2, Seite 535; THEODOR STERNBERG, Allgemeine Rechtslehre I, Seite 143; MATHIEU SCHWANN, Deutsche Juristenzeitung, 1902, Seite 513.
    11) Ähnlich GUMPLOWICZ, Allgemeine Staatslehre, zweite Auflage, Seite 2 und 463f. Allerdings schließe ich mich den Folgerungen GUMPLOWICZs nicht an.
    12) Ähnlich, aber mit unbrauchbarer Begründung STEWART CHAMBERLAIN in den "Grundlagen des 19. Jahrhunderts", Seite 157 und 158. Dazu der Aufsatz von SCHWANN (Anm. 10)