ra-2Ernst CassirerHarald Höffding    
 
SIEGFRIED MARCK
(1889-1957)
Substanz- und Funktionsbegriff
in der Rechtsphilosophie

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"Zurechnung soll nach Kelsen die Verknüpfung eines Sachverhalts mit einem Subjekt aufgrund einer Norm und als solche etwas von Verursachung völlig Verschiedenes bedeuten. Verursachend sind nach Kelsen bei einem Mord z. B. zunächst bestimmte Körperbewegungen, letztlich bestimmte physikalisch-physiologische Vorgänge, zugerechnet aber wird der Mord der verbrecherischen Person als ganzer und zwar nach Kelsen aufgrund der Norm, die den Mord verbietet. Verursachung kann bei Unterlassungen deliktischer Art überhaupt nicht als ein Moment im Verhalten des Delinquenten festgestellt werden, Zurechnung aber findet dennoch statt, verursachend mag - immer nach Kelsen - der psychologische Wille als ein Faktor - unter einer Vielheit psychologischer Faktoren - sein, zugerechnet aber wird nicht zu einem isolierten einmaligen Wollen, sondern zur Ganzheit einer Person, eines Subjekts. Dieses Subjekt hat mithin nichts mehr mit dem psychologischen Willen zu tun, auch nicht mit dem Menschen als Inbegriff psychologisch-biologischer Gesetzlichkeiten, es ist ein reines Normsubjekt, eine Konstruktion der normativen Betrachtung, der  Punkt  zur Anheftung zurechnender Verknüpfung: Endpunkt der Zurechnung."


Kapitel I
Funktionale und substanziale Rechts-
und Staatsauffassung

Einen Beitrag zur Diskussion und Fortbildung der neokritizistischen Rechtsphilosophie soll die vorliegende Abhandlung darstellen. Für eine solche bietet der bereits zum Schlagwort gewordene Gegensatz "Substantialismus - Funktionalismus" den geeigneten Leitgesichtspunkt. Die Überwindung des ontologischen Dingbegriffs durch den Relationsbegriff ist ja doch die eigentlich entscheidende Leistung der kritischen Erkenntnistheorie für Philosophie und Wissenschaft. In ihr spiegelt sich der Triumph des reinen Denkens gegenüber dem Gegenstand, der nicht mehr als ansich-haftes Sein gegeben und hinzunehmen ist, sondern in die objektive Geltung von Denkbeziehung aufgelöst, zum "Produkt der Methode" wird. Aller kritizistische "Kopernikanismus" scheint in dieser Tat zu beruhen. In gedanklichen Operationen wird der Gegenstand der Erkenntnis in einem kontinuierlichen Fortgang erzeugt, er stellt niemals etwas Festes und Gegebenes, sondern den jeweilig verschiebbaren Haltepunkt im Verfahren der Wisssenschaft dar, dessen endgültige Bestimmung damit zur unendlichen, nie erreichbaren Aufgabe wird.

Auch in der Rechts- und Staatsphilosophie hat der Neukritizismus das Banner des Relationsbegriffs gegen den Ontologismus entrollt. Hier sind die Namen STAMMLER (1), BINDER (2) und KELSEN (3) der Ausdruck dieser Bewegung. Der Rechtsbegriff soll als Relationsbegriff erfaßt werden (4), der Kopernikanismus in der Rechtswissenschaft zur restlosen Durchführung gelangen, der kritische Rechts rationalismus  und Rechtslogismus in einer  reinen Rechtslehre  sich Ausdruck schaffen. Während die Tendenzen des methodischenn Idealismus bei STAMMLER durch seine teleologische Begriffsbildung und seine ethischen Postulierungen verdeckt werden, treten sie bei BINDER und insbesondere bei KELSEN und seiner Schule mit aller Deutlichkeit hervor. Hier ist aller Akzent auf den Kampf des Relationalismus gegen den Ontologismus und Substantialismus gelegt.

Gegen welche ontologischen Begriffsbildungen aber richten sich denn jene relationistischen Angriffe in der Rechts- und Staatsphilosophie? In der Naturwissenschaft kehren sie ihre Spitze gegen einen dinglich realen Begriff der Substanz, gegen die der Abstraktionstheorie zugrunde liegende Vorstellung von Ding und Eigenschaften, gegen Materie und Kraft, als  qualitates occultae  gefaßt. In der Rechtswissenschaft können nur die entsprechenden Grundbegriffe des  Staates  und des  Rechtssubjekts,  die Grundbegriffe des öffentlichen und des Privatrechts selbst aus Substanzen in Relationen verwandelt werden. In der Tat konzentrieren sich die Probleme des Rechtsfunktionalismus mit einer gewissen Ausschließlichkeit um den Begriff der Person, der "individuellen", der "juristischen", schließlich der "Staatsperson" herum. Das Festhalten an diesem Begriff als einer in Rechtsbeziehungen nicht auflösbaren, ihnen als Träger zugrunde liegenden Gegebenheit soll das eigentliche Bollwerk dieser Einstellung, nach der gerade der Persönlichkeitsbegriff in der Rechtswissenschaft einen  dinglichen  Dogmatismus repräsentieren soll, muß hier allerdings bereits bei oberflächlicher Betrachtung ins Auge springen.

Ehe jedoch auf diesen Punkt auch nur im Rahmen dieser Vorbemerkungen näher eingegangen wird, soll noch das andere Motiv hervorgehoben werden, mit dem der Funktionalismus in der Rechtslehre sich gegen andere und hergebrachte Richtungen wendet. Funktionalismus gegen Substantialismus, das ist zugleich rationalistischer Primat der Methode und der Form gegen die "Gegebenheiten" empirischer Inhalte. Dies kann innerhalb der Rechtswissenschaft - wie es hier noch vor der Klärung des Verhältnisses von Rechtswissenschaft und Recht formuliert werden soll - nur den Primat der spezifischen  Rechtsformen  gegenüber den  sozialen Inhalten  bedeuten, die in jenen ihre rechtliche Bedeutung erhalten. Der Funktionalismus in der Rechtslehre muß bewußt Formalismus sein; indem er vom Sozial-Empirischen fortwährend zum Juristisch-Formalen drängt, will er die sich gegen die "metajuristischen" Inhalte isolierende Herausarbeitung der reinen Formen des Rechtsdenkens für die alleinige Aufgabe der Rechtswissenschaft erklären. Juristische und soziologische Begriffe, juristische und politisch-historische Betrachtungsweise, formale Rechtslogik und ethisch-politische Postulate sollen scharf voneinander getrennt werden. Nicht nur in der Entdinglichung der Begriffe, nein, auch in der möglichst weit getriebenen "Entleerung" von ihrer "Materie", in einer möglichst großen Zurückdrängung der sozialen Inhalte durch die rechtliche Form soll sich der Antisubstantialismus hier betätigen.

Mit dieser letzten Formulierung aber ist das Bedenkliche der Entwicklung des Neo-Kritizismus in der Rechtsphilosophie schon angedeutet, vor allem dasjenige, worin er gerade - und nicht zufälligerweise - von der zentralen Leistung jener Richtung in der Grundlegung der Mathematik und Naturwissenschaft abweicht. Als Formalismus rückt er in die Nähe der sogenannten formalen Logik, mit der Tendenz zur "Entleerung" seiner Begriffe in die Abstraktionstheorie. Transzendentale schöpferische Logik und "konkrete Allgemeinheit" aber wurden in der kritizistischen Wissenschaftsleere als eigentliche Pointe dem traditionellen Ontologismus entgegengestellt. Gerade die Darstellung CASSIRERs, der im Gegensatz von Substanz und Funktion die wichtige Formel des Kritizismus schafft, wird aller Nachdruck auf die Erhaltung der Inhaltlichkeit in und durch die erzeugende Form der mathematischen Begriffe gelegt. Im Verhältnis der Relation zum Relat, des Reihenprinzips zum Reihenglied soll gerade die Inhaltsferne, die Leere der Allgemeinvorstellung und des Abstraktionsbegriffs überwunden sein. Offenbar aber besitzt der Rechtsrationalismus nicht die Reichweite und Zeugungskraft des mathematischen Rationalismus, der seinen Gegenstand  konstruieren,  das Reihenglied aus dem Reihenprinzip "erzeugen" kann. Juristische Konstruktion bedeutet eben etwas anderes wie mathematische, und die sozialen Inhalte erscheinen gegenüber der spezifisch juristischen Methodik heterogen und nicht aus ihr ableitbar. Mit dieser Versperrung des Zugangs zur konkreten Allgemeinheit scheint dann der Logizismus in der Rechtslehre notwendig in abstrakten Formalismus abgleiten zu müssen, der sich vor den sozialen Realitäten abschließt. Wiederum hat STAMMLER durch die These vom Recht als der Form der Wirtschaft sich diesen Konsequenzen zu entziehen gesucht, während sie bei BINDER und KELSEN unverhüllbar hervortreten.

An diesem Punkt hat dann auch die Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie durch ERICH KAUFMANN (5) eingesetzt. Entsubstantialisierung im Sinne der Inhaltslosigkeit und Leere statt lediglich Überwindung des ontologischen Dogmatismus macht er ihr zum Vorwurf. Nicht eine Metaphysik der Dinge habe diese Richtung hier entwurzelt, sondern sich von einer echten Metaphysik des Geistes entfernt, die auf diesem Gebiet allein in Frage käme, Funktionalismus und Logisierung bedeuten hier Substanzlosigkeit im Sinne des Mangels an geistigem "Gehalt"; in "Wesens"begriffen müsse hier das Substantielle zum Ausdruck gelangen, die die Ursprünglichkeit der unmittelbar gegebenen sozialen und politischen Inhalte sowohl in ihrer Lebendigkeit spiegelten, wie sie "mit ewigen Gedanken befestigen" sollten. Im kritizistischen Dualismus von Form und Inhalt innerhalb der Rechtslehre fehle die Verbindung durch die erzeugenden Konstruktionsmethoden der Mathematik. Deshalb reiße eine formalistische Rechtslehre diese Elemente abstraktionshaft auseinander. Sie könne nur durch eine von KAUFMANN erst postulierte, aber bereits unverkennbare HEGELsche Züge tragende Metaphysik des Geistes zugunstenn der konkreten Allgemeinheit überwunden werden. Der Neukritizismus käme zu den sozialen Wirklichkeiten in kein ausgeglichenes Verhältnis, weil er sie formalistisch ignoriert, um sie dann aus Besorgnis vor völliger Inhaltslosigkeit positivistisch zu "substruieren", anstatt sie mit ihnen von vornherein adäquaten inhaltsvollen Begriffen zu bewältigen.

Schält man aus KAUFMANNs Kritik den eigentlichen philosophischen Kern und das Berechtigte heraus, so ist es in der anderen Bedeutung fundiert, die der Substanzgedanke in den Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften besitzt. In diesen gelingt eine Auflösung der Gegebenheit des Dingbegriffs in einen Relationsbegriff bis auf jenen Rest, mit dem der kritisch verstandene Begriff der Gegebenheit sein Recht behauptet und im Gedanken einer unendlichen Aufgabe wieder erscheint. In den Geisteswissenschaften ist der Begriff eines  hinzunehmenden  beharrlichen, vor rationaler Bearbeitung schon Formstruktur aufweisenden Inhalts nicht eine dogmatische und in Relationen kritisch auflösbare Setzung. Hier bedeutet jenes Beharrliche, Inhaltliche tatsächlich einen bestimmten wesentlichen Gehalt, der sich nicht weiter rationalisieren läßt, sei es wegen seines irrationalen oder seines überrationalen Charakters. Dies ist natürlich noch eine vorläufige Bezeichnung: am nächsten kommt seinem Sinn das, was HEGEL unter "Substanz" dem Subjekt gegenüberstellt: der überlieferte, in natürliche Grundlagen herabreichende, von Reflexion nicht angetastete Inhalt des geistig-kulturellen Lebens. Von ihm ist es jedenfalls sicher, daß er nicht ein schlechthin Ungeformtes bedeutet, das in  theoretischer  Rationalität erst seine Formung fände. Vielmehr übernehmen die Geistes- oder Kulturwissenschaften ihren Gegenstand ja schon in der Geformtheit durch eine außertheoretische Sphäre, er ist ursprünglich nicht nur "Vorwurf" der  theoretischen  Erkenntnis, sondern steht in ethischer, ästhetischer usw. Form, ein Tatbestand, der gerade für das Verhältnis von Recht und Rechtswissenschaft eine ausgezeichnete Bedeutung erhält. Die Nicht-Erzeugung der Geformtheit durch ihre eigene Methode, die sich ihr vielmehr anzuschmiegen hat, stellt das "substantielle" Moment der Geisteswissenschaften dar. Ist es doch auch kein Zufall, daß der theoretische Ontologismus seit PLATO an das ethisch-ästhetische Gebiet angeknüpft hat. Bei der Erwägung der Sonderstellung des Substantialismus auf diesem Gebiet rückt nunmehr auch die Rolle des Personenbegriffs in Rechts- und Staatswissenschaft in eine neue Beleuchtung. Mehr noch als der geisteswissenschaftliche "Gehaltsbegriff" bleibt er jenseits des Gegensatzes Substanz oder Relation. Denn hier kommen die spezifischen aus dem psychologischen Begriff des Ich genommenen Gründe hinzu, die Person als Gebilde  sui generis  [eigener Art - wp] unauflösbar in Relationen und dennoch nicht als dinghaft anzusehen.

Die Fragen, die in diesem ganzen Komplex innerhalb des Kritizismus aufgeworfen sind, sind nicht auf die Rechtsphilosophie allein beschränkt, auf der ganzen Linie ist ihm das Problem der Gegebenheit, des Inhalts, des Begriffs der Wesenheit gestellt. Von diesem Punkt aus suchen ihn Lebensphilosophie, Phänomenologie (6) und neuhegelsche Metaphysik zu überwinden. Auch KAUFMANN will für die Lehre der neukantischen Rechtsphilosophie die Gesamtheit des Neukritizismus verantwortlich machen. Indessen ist von ihm dieser Prozeß gegen den Neukritizismus vorschnell entschieden worden. Dessen Entwicklung zeigt vielmehr bei Festhalten seiner Methodik die Grundbegriffe einer Weiterbildung in "substantieller" Richtung fähig. Eine solche kann außer durch den Einbau phänomenologischer Motive durch eine Umformung der Dialektik (7) zu einer Methode des Kritizismus geschehen. Ebenso ist in dieser Richtung der junge Zweig der Denkpsychologie durchaus fruchtbar gewesen (8). Wenn sich die antipersonalistische "Staatslehre ohne Staat" auf die "Psychologie ohne Seele" beruft, so damit auf einen in dieser selbst schon überwundenen Standpunkt. Die Seelensubstanz ist wohl zersprungen, die "monadische" Struktur desto schärfer herausgearbeitet worden. Die neuartige Behandlung, die in der heutigen Psychologie das Ich-Problem erfährt, ist für das Problem der juristischen Persönlichkeit sehr fruchtbar.

In den folgenden Ausführungen soll an den Grundbegriffen der neukritizistischen Rechts- und Staatsphilosophie die Frage ihrer Elastizität über den steril gewordenen Gegensatz von Ontologie und Relationismus hinweg geprüft werden. Es soll mit anderen Worten die Möglichkeit untersucht werden, ob mit diesen Begriffen ins Substantielle vorgedrungen werden kann, ohne die kritische Grundeinstellung zugunsten einer neuen Metaphysik aufgeben zu müssen. Bei dieser Untersuchung werden der Begriff der Person und der des Staates, beide schließlich zusammengefaßt in dem der Staatspersönlichkeit, eine hervorragende Rolle zu spielen haben.

Für den Gang der Untersuchung aber soll zur Grundlegung der positiven Entwicklung dieser Begriffe zunächst eine eingehende Darstellung und Kritik der reifsten und radikalsten Form des Rechtsrelationismus den Ausgangspunkt bilden. Diese Form stellt die KELSEN'sche Schule in der Ganzheit ihrer Entwicklung dar, deren Analyse wir uns nunmehr zuwenden.


Kapitel II
Kelsens Staatslehre ohne Staat

1. Der Begriff des Staatswillens in den
Hauptproblemen der Staatsrechtslehre
(9)

a) Explikativ und normlogisch

Der schroffe Dualismus des Logisch-Formalen und des Inhaltlich-Gegebenen ist für KELSEN der Leitstern der reinen Rechtslehre, die er aller bisherigen Rechtswissenschaft entgegenzusetzen unternimmt. In bewußter und keine Konzessionen kennender Einseitigkeit soll sich bei ihm die juristische Methode von jeder Beimischung sowohl metaphysischer wie empirisch-soziologischer Bestandteile freihalten. Gerade in ihrer Behauptung gegen Metaphysik und Empirismus in rationaler Methode soll sie eine gesicherte positive Wissenschaft sein. Im Sinne dieser Reinhaltung erfolgt bei ihm die Trennung der normlogischen und der explikativen Methode, auf der die gesamte Analyse seiner Hauptprobleme der "Staatsrechtslehre" aufgebaut ist. Kausale Erklärung im Sinne der Naturwissenschaften und Normsetzung im Sinne von Ethik und Recht sind scharf auseinanderzuhalten, stehen zueinander als sich ausschließende Alternativen, keine Brücken führen für ihn hinüber und herüber. Dieser Gegensatz soll mit dem zwischen juristischer und soziologischer Methode zusammenfallen, welche erste allerdings um ihres theoretischen Zielpunktes halber als norm logisch  rechts wissenschaftlich  gegenüber dem norm setzenden  Verfahren des Rechts und der Ethik abgehoben wird. Alles Inhaltliche am Recht, alles, was an ihm als politisch-historisch-soziologische Gegebenheit scheint, die gesamte "soziale Materie" soll als solche der explikativen Methode unterstehen, die gegebene Seinsinhalte auseinander ableitet. Die juristische Methode dagegen richtet sich auf die  Form  der normativenn Satzung allein, in der diese Inhalte im Recht geregelt werden. Nicht das Was, nur das Wie der Regelung habe die reine Rechtslehre zu interessieren; indem voller Ernst mit der Trennung von Form und Inhalt gemacht wird, indem gegen diejenigen polemisiert wird, denen dieser Gegensatz relativ erscheint, soll die Elimination alles Substantiellen zugunsten des Formalen zu einer rücksichtslosen Durchführung gelangen. Nicht nur entziehen sich rechtswidrige Vorgänge des politischen Lebens wie Verfassungsbrüche, Staatsstreiche und Revolutionen der juristischen Konstruktion, auch die psychologischen Beziehungen der unter der Rechtsordnung stehenden Menschen sowie die soziologischen und wirtschaftlichen Verhältnisse gingen als solche in die juristische Konstruktion nicht ein, müssen als der kausal-explikativen Methode überantwortet werden. In einer Welt reiner Formen, in Abstraktion von den sozialen Inhalten  schaffe  die juristische Konstruktion ihre Begriffe und die ihnen adäquaten, den unmittelbaren sozialen Inhalten gegenüber umgeformten sozialen Inhalte. Der Dualismus der juristischen normlogischen Konstruktion und der sozialen Explikation tritt in einen ausdrücklichen Gegensatz zu einer monistischen Einstellung auf diesem Gebiet.

Die zustimmende Haltung KELSENs gegenüber denjenigen Autoren, die in Abkehr von JHERING (10) den Zweck aus der Jurisprudenz ausschalten wollen, erscheint angesichts dieser Voraussetzungen selbstverständlich (11). Mit LABAND (12) will er die Definition der begrifflichen Elemente der Rechtsinstitute von ihren sozialen Zwecken geschieden wissen, denn dieser Zweck einer Rechtseinrichtung stelle ihr inhaltlich substantielles Element dar, das für die formale Betrachtung nicht in Frage kommt, auch JHERING selbst betrachte die Jurisprudenz als eine Theorei der  Mittel  zu den gesellschaftlichen Zwecken. Die Herausarbeitung der Zwecke der Rechtseinrichtungen wird so als eine Angelegenheit der politischen, soziologischen, sozialphilosophischen Betrachtungsweise, die hierbei wiederum nach dem kausalen Ursprung der Einrichtungen forschen werde, aus der Jurisprudenz ausgeschaltet. Diese habe lediglich ihre begriffliche Definition und Konstruktion zu geben. Sie soll in ihrem Verhältnis zu den sozialen Inhalten als formale Wissenschaft der Beziehung der Geometrie zur Physik, ja zur Technik parallel zu setzen sein. Zweifellos ist ja auch der wissenschaftliche Zweck der Definition, das Was eines Gegenstandes etwas anderes als die Entwicklung eines Systems von Beziehungen, u. a. auch der Zweckbeziehungen, in denen er steht. Eben darum aber steht die Definition vorläufig am Anfang der Wissenschaft, wo vom System der Beziehungen des Gegenstandes aus methodischen Gründen abgesehen wird oder an ihrem "Ende", wo jenes System der Idee nach in die Definition eingeht. So mag der "transzendente", das Besondere sozialphilosophischer und politischer Betrachtung ausmachende Zweck des Rechtsinstituts außerhalb der juristischen Definition bleiben, während in den Definitionsgliedern von ihrem Zweck einfach deshalb nicht abgesehen werden kann, weil dieser auf das Engste mit dem System von Beziehungen verknüpft ist, ohne das jene Elemente keinen  Sinn  besäßen. Indessen macht sich KELSEN diesen naheliegenden Einwand nicht, wirft auch die Frage nach dem Unterstreichung des Bildes von der Geometrie: nach dem Zweck des Rechtsinstitutes fragen, sei gleichbedeutend mit der Frage nach dem Stoff eines unter geometrischer Gesetzlichkeit stehenden Naturdings, bedeute also den Übergang in eine total andersartige empirische Sphäre. Gewiß, so gibt er zu, werde durch die formal-juristische Betrachtungsweise ebensowenig die  "Totalität der Rechtserscheinung"  erfaßt wie durch die Geometrie die physikalische, jedoch wie jene müsse sich die Rechtswissenschaft gegenüber dem schaffenden regelnden Recht mit  Formen ohne Inhalt  begnügen.

Die Konsequenzen des KELSEN'schen Dualismus zwischen Juristischem und Soziologischem seien sogleich bei seiner einführenden Darstellung ins Auge gefaßt. Sie bedeuten einen Bruch mit aller bisherigen Rechtswissenschaft (13) und die Festlegung auf einen durchaus einseitigen Standpunkt hinsichtlich der soziologischen Methode. Denn alle Rechtswissenschaft war - mehr oder weniger bewußt - auf ein Zusammenarbeiten mit der soziologischen Betrachtung, auf eine Synthesis ihrer Formen mit den sozialen Inhalten abgestellt, sie erblickte ihre  Aufgabe durchaus in einem Verstehen der Rechtserscheinunge in ihrer Totalität.  Sie hat einen Gutteil Soziologie vor deren Verselbständigung zur eigenen Wissenschaft in sich geschlossen. Sie rekurriert auch jetzt (14) nach deren Ausscheiden dauernd auf sie als Hilfswissenschaft. Auf der anderen Seite hat die Soziologie u. a. durch die Beziehung auf die Rechtsnormen ihren Charakter als Geisteswissenschaft entgegen der naturwissenschaftlichen Behandlungsweise beansprucht. Von der Seite der Form und gleichsam von oben her und von der des Inhalts, also gleichsam von unten her haben Jurisprudenz und Soziologie im Verstehen rechtlich geformter Sozialerscheinungen zusammenzuarbeiten versucht. Dieser Zusammenhang wird bei KELSEN durchschnitten, die Methode der Jurisprudenz wird die der reinen rationalen Mathematik, die ihren Gegenstand in logischer Schöpfung konstruiert, während die Soziologie in den Bereich einer rein empirisch induktiv vorgehenden  Natur wissenschaft hineingebannt erscheint; die juristische Konstruktion ist nicht Nachkonstruktion schon geformter und in sich sinnvoller sozialer Gebilde, die das Recht selbst schon vorfände, die Soziologie in KELSENs Auffassung hat es nicht mit deren Bedeutung, sondern mit ihrer naturwissenschaftlich kausalen Erklärung zu tun. Diese Grundeinstellung wird sich in allen Verzweigungen der KELSEN'schen Rechts- und Staatslehre geltend machen.


b) Verursachung und Zurechnung

Als erstes der substantiellen Momente, die in der Schule KELSENs zugunsten der Relationen eliminiert werden sollen, wird der Begriff des Willens in der Jurisprudenz einer totalen Umwandlung unterzogen. Eliminiert aus ihr soll der psychologische Willensbegriff werden und in die explikativ-kausale Sphäre zurückverwiesen, an seine Stelle soll ein rein  normlogischer Willensbegriff  treten. In gleicher Weise sollen der Begriff des individuellen psychologischen Willens und der eines problematischen kollektiven Willens dieser radikalen Transformation unterworfen werden. Die Trennung des juristischen und des psychologischen Willensbegriffs zunächst im Bereich des individuellen Willens ist auf die Unterscheidung von Verursachung und Zurechnung aufgebaut. Nicht ob der Mensch und sein Wille Ursachen eines bestimmten Tatbestandes geworden sind, interessiert den Juristen und überhaupt den normativ eingestellten Betrachter - denn der Ethiker wird sich in dieser Hinsicht nicht vom Juristen unterscheiden - sondern ob er sich normgemäß verhalten hat oder nicht. Der normative Gesichtspunkt der Verschuldung oder Nichtverschuldung ist anders als der seinswissenschaftliche der Verursachung oder Nichtverursachung. Für jeden kritisch Eingestellten versteht es sich ja von selbst, daß im ersten Fall der Wertgesichtspunkt der Norm eine radikale Unterscheidung von kausaler Verknüpfung enthält, ein Plus, das zur Feststellung einer vorliegenden kausalen Beziehung hinzukommt, wenn auch die Bewertung an den vorliegenden Kausalnexus angeknüpft wird. Offenbar wäre aber damit die KELSEN'sche Ansicht nicht richtig wiedergegeben. Nicht zufällig setzt er den Begriff der Zurechnung, nicht der Verschuldung, dem der Verursachung gegenüber, nicht nur soll damit ein für Willensbeziehungen im Zivil- und Strafrecht gleichmäßig brauchbarer Terminus gegenüber dem strafrechtlich belasteten der Verschuldung gefunden werden. Im Begriff der Zurechnung gelangt vielmehr die von KELSEN inaugurierte  völlige Ausschaltung der Kausalbeziehung bei der Feststellung eines normgemäßen, bzw. normwidrigen Verhaltens eines Subjekts in Ethik und Jurisprudenz zum Ausdruck.  Denn Zurechnung soll nach ihm die Verknüpfung eines Sachverhalts mit einem Subjekt aufgrund einer Norm und als solche etwas von Verursachung völlig Verschiedenes bedeuten. Verursachend sind nach KELSEN bei einem Mord z. B. zunächst bestimmte Körperbewegungen, letztlich bestimmte physikalisch-physiologische Vorgänge, zugerechnet aber wird der Mord der verbrecherischen Person als ganzer und zwar nach KELSEN aufgrund der Norm, die den Mord verbietet. Verursachung kann bei Unterlassungen deliktischer Art überhaupt nicht als ein Moment im Verhalten des Delinquenten festgestellt werden, Zurechnung aber findet dennoch statt, verursachend mag - immer nach KELSEN - der psychologische Wille als ein Faktor - unter einer Vielheit psychologischer Faktoren - sein, zugerechnet aber wird nicht zu einem isolierten einmaligen Wollen, sondern zur Ganzheit einer Person, eines Subjekts. Dieses Subjekt hat mithin nichts mehr mit dem psychologischen Willen zu tun, auch nicht mit dem "Menschen" als Inbegriff psychologisch-biologischer Gesetzlichkeiten, es ist ein reines Normsubjekt, eine Konstruktion der normativen Betrachtung, der "Punkt" zur "Anheftung" zurechnender Verknüpfung: Endpunkt der Zurechnung. Der psychologische Wille verwandelt sich in der normlogischen Betrachtungsweise in den rein ideellen konstruktiv gesetzten Endpunkt normativer Zurechnung. Auch diese Gedankenkette steht somit im Zeichen des radikalen Dualismus des kausalen und des normlogischen Gesichtspunktes bei KELSEN. "Psychologische Voraussetzung und normative Zurechnung werden verbindungslos getrent, der psychologisch-kausale Gesichtspunkt soll bei ethischer und juristischer Zurechnung schlechthin keine Berücksichtigung finden, Wille im ethisch-juristischen Sinn und mit ihm Zurechnung werden zu von normativen Ordnungen aus geschaffenen Konstruktionen verflüchtigt, die mit dem realen psychologischen Willen nur noch - aber warum? dies ist eine Frage, die alsbald weiterführen muß! - den Namen gemeinsam zu haben scheinen.

Unter Vorwegnahme späterer zusammenfassender Kritik der KELSEN'schen Gedankengänge muß bereits hier ein ernster Einwand erhoben werden, der an die zentralen und entscheidenden Stellen dieser ganzen Lehre rührt. Ist denn wirklich der Begriff der Zurechnung und des hier in Frage kommenden Subjekts nur als normlogische Konstruktion zu gewinnen? Ist der Sinn der Zurechnung als die aufgrund der Norm vorgenommene oder normwidrige Tatbestandsverknüpfung mit einem Subjekt zutreffend gedeutet? Dagegen müssen sich Einwände erheben. Schon oberflächlicher Betrachtung kann es ja nicht entgehen, daß der Begriff der  psychologischen  Zurechnung hier ausgeschaltet ist und er seine Ansprüche anmelden muß. KELSEN kennt zwar nicht einen solchen Begriff der psychologischen Zurechnung, sondern nur der psychologischen Verursachung, dennoch ist ein solcher schon im populären Gebrauch, so z. B. bei der Frage der Zurechnungsfähigkeit vorhanden und von Verursachung im physikalischen Sinne wohl unterschieden. Diese Ignorierung der spezifisch psychologischen Sphäre in ihrer Autonomie und Eigenmethodik (und mit ihr, wie später noch deutlicher werden wird, der soziologischen) ist für KELSEN sehr charakteristisch: stellt doch diese Sphäre gerade den monistischen Zusammenschluß der dualistisch getrennten, aber eben nicht auseinanderreißbaren Sphären des Wertes und des Seins in der Einheit des Sinns und der Bedeutung dar! Für KELSEN muß sie ins Explikative und Naturalistische verstoßen werden, weil für ihn außerhalb des Bereichs der Normen und Werte nur der der Natur existiert. Seine Ausschaltung des Psychologischen - hier des Willens - und seine geringe Einschätzung der logischen Leistungsfähigkeit dieser Sphäre - hier für die Darbietung eines möglichen Normsubjekts - bedingen sich gegenseitig. Eine Funktion, die KELSEN nicht vom psychologischen Subjekt erwartet und für die er deswegen eigens ein Normsubjekt konstruieren zu müssen glaubt, weiß das psychologische Subjekt ganz gewiß zu erfüllen: die Darstellung einer  Ganzheit,  die Zurechnung, die zum ganzen Ich und nicht zu einem isolierten Wollen oder einer isolierten Handlung erfolgen soll, glaubt KELSEN in der psychologischen Sphäre nicht zu finden und deshalb nicht ohne das konstruierte Normsubjekt auskommen zu können. Nun ist es aber gerade das Wesen  des Ich im psychologischen Sinne,  in jede einzelne Lebensäußerung als Ganzheit einzugehen, keine Äußerungen zu haben, die gänzlich vom eigentlichen Zentrum ablösbar wären.  Von einem dogmatischen und überlebten Psychologiebegriff aus also  erklärt sich letztlich KELSENs Reservierung des Personenbegrifs für die Sphäre normlogischer Konstruktion und seine Ablösung vom psychologischen Willen. Und ganz dasselbe Ergebnis zeitigt eine einfache Erwägung über das Wesen der Zurechnung. Gewiß ist Zurechnung Verknüpfung eines seinsmäßigen Sachverhalts mit einem Subjekt. Aber ist wirklich nur durch ethische oder rechtliche Norm eine solche Verknüpfung zu vollziehen? Stellen nicht die Intentionen des Handelnden, stellt nicht der Sinn seines Verhaltens ein Verknüpfungsprinzip dar, das die im Begriff der Zurechnung gestellten Anforderungen restlos erfüllt? Tatsächlich heißt doch jemandem einen seinsmäßigen Effekt, einen Tatbestand zuzurechnen - noch ganz unabhängig von der Bewertung seines Verhaltens im Sinne einer Norm - einen sinnvollen gedanklichen Zusammenhang zwischen seinem Verhalten, bzw. seinen Motiven und jenem Tatbestand konstatieren. Stets läßt sich dieser Zusammenhang aus der Einstellung des Handelnden, aus seinen klar zutage liegenden oder zu deutenden Motiven  verstehen,  es ist ein motivierter Zusammenhang, der über die bloße naturwissenschaftliche Explikation hinausgreift. Ein solcher muß erst vorliegen und bereits in sich konstituiert sein, ehe die Bewertung von der Norm aus sich an ihm betätigen kann. Zurechenbarkeit im psychologischen Sinn bildet für Verschuldung oder Nichtverschuldung erst die Voraussetzung. Hierin, in der Unabhängigkeit von der Norm, liegt das richtige Motiv in der Anknüpfung der Bewertung an einen kausalen Zusammenhang. Freilich ist die Zurechnung von der Konstatierung eines Kausalzusammenhangs zu unterscheiden, darin hat KELSEN völlig recht, aber der Unterschied ist nicht der zwischen Naturgesetz und Norm, sondern der zwischen mechanisch-natürlicher und psychologisch-sinnhafter oder motivischer Kausalität. In der Psychologie findet zwischen den Kausalreihen hier, um in KELSENs Terminologie zu bleiben, eine Auswahl unter dem Gesichtspunkt des psychischen Sinns statt, der erst dann eine weitere "Auswahl" unter dem Gesichtspunkt der Norm zu folgen hat. Auch die Zurechnung bei Unterlassung, mit der KELSEN zur Abgrenzung gegen die Kausalität vorzugsweise operiert, steht unter denselben Kriterien. Hier erfolgt bei bewußter Unterlassung auch aufgrund des vorhandenen Motivs des Verhaltens die psychologische Zurechnung unabhängig von einer normativen Bewertung. Lediglich der Fall fahrlässiger Unterlassung scheint dem KELSEN'schen Primat der normativen Zurechnung Recht zu geben, da hier nicht nur eine Passivität des äußeren Verhaltens, sondern auch der gesinnungsmäßigen Motivation vorliegt, die wohl als normwidrig bewertet, aber nicht als Faktor psychologischer Kausalität eingesetzt werden kann. Aber gerade diese Ausnahme muß die Regel bestätigen: der Versuch, mittels der Unterscheidung von Zurechnung und Bewirkung den psychologischen Willen und das psychologische Subjekt zugunsten eines Normsubjekts aus der Rechts- und Staatslehre zu beseitigen, muß fehlschlagen. Die weitreichenden Konsequenzen dieser Feststellung werden später noch zu entwickeln sein.


c) Staatswille und Rechtsordnung

Die Beseitigung des individuellen psychologischen Willens ist indessen für KELSEN nur ein Umweg zur Gewinnung eines rein juristischen Begriffs des Staatswillens. Hier soll jede Verbindung mit dem ohnehin problematischen Begriff eines psychologischen Gesamt- oder Volkswillens für den juristischen Begriff des Staatswillens gelöst werden. Sehr charakteristisch ist in diesem Rahmen die Abgrenzung gegen die organische Staatslehre, der ihr Festhalten am kollektiv- psychologischen  Willensbegriff zum Vorwurf gemacht wird (wie übrigens der anorganischen ihr Festhalten am individuellen): wenn PREUSS einmal den juristischen Begriff des Staatswillens den juristischen Ausdruck einer soziologischen Tatsache nennt, so wird ihm von KELSEN die allein mögliche Korrespondenz von juristischem Ausdruck und  juristischer Tatsache  entgegengehalten. Auch hier soll der Begriff der Zurechnung dem oben geschilderten Verfahren durchwegs parallel zur Gewinnung des reinen normlogischen Begriffs des Staatswillens dienen. Auch dieser muß sich als Konstruktionsprodukt und Zurechnungsstandpunkt fassen lassen. In Beug auf das Verhältnis von Staat und Staatsorgan, das in der Auseinenadersetzung mit der sogenannten anorganischen Staatslehre eine Rolle spielt, wird der Staatswille zunächst als Endpunkt der Zurechnunsglinien bezeichnet, durch die Handlungen von Organen des Staates eben als solche, d. h. aber als Handlungen des Staates selber qualifiziert sind. Damit ist aber erst das formale Zurechnungsprinzip für Organhandlungen, noch nicht das für das staatliche Handeln selber festgestellt. Die Norm, aufgrund deren für bestimmte Tatbestände die Zurechnung zum  Subjekt des Staates  vorgenommen wird, ist das Gesetz, die Rechtsordnung selbst als Inbegriff der Gesetzesnormen. Staatliches Handeln liegt vor, wenn in Erfüllung der Normen der Rechtsordnung gehandelt wird. Wäre die Analogie zum individuellen Willen vollständig, so käme noch normwidriges Verhalten in Frage, was aber von KELSEN ausdrücklich zurückgewiesen wird. Die Rechtsordnung, das objektive Recht ist der Wille des Staates, so kann die Formulierung lauten. Hierbei ist nun aber sofort zu beachten, daß dieser Wille nicht psychologisch, sondern durch die juristische Konstruktion geschaffen ist, der psychologische Wille hat Inhalte, Zwecke und Ziele, der juristische in KELSENs Sinn ist der Wille eines Normsubjekts, mit diesem als Zurechnungspunkt zusammenfallend, er hat keine Ziele außer sich, kann sich nur selbst zum Inhalt haben. Von jedwedem soziologischen politischen Staatsbegriff aus, in dem etwa der Staat seinem "Wesen" nach als Macht gefaßt wäre, würde die Behauptung von der Rechtsordnung als dem Willensinhalt des Staates tatsächlich ein synthetisches Urteil bedeuten, in diesem Rahmen bedeutet sie das nicht. Hier ist sie ein analytisches Urteil; ein Wille, der nur konstruktiver Zurechnungspunkt für die Normen der Rechtsordnung ist, der gar keinen Willen im psychologischen Sinn darstellt, kann ja nichts anderes als eben jene Rechtsordnung zum Inhalt haben, er ist nicht ein Teilinhalt einer Lebensganzheit, er fällt mit dem  formalen  Begriff der Norm-Person restlos zusammen. Immerhin ist es angesichts der weiteren Entwicklung der Lehre KELSENs von großer Wichtigkeit, daß ohne diesen Begriff der "Staatsperson" KELSEN hier noch nicht auszukommen glaubt, ja daß er sie  gerade als Persönlichkeit der unpersönlichen Rechtsordnung entgegensetzt.  Aber freilich ist dieser Staat, der hier als Normsubjekt mit der Rechtsordnung als Willensinhalt konstruiert wird, vom gewöhnlichen Begriff der Staatspersönlichkeit sehr verschieden. Nicht nur soll ihr jede Analogie zum individuellen psychologischen Ich fehlen, an dessen Stelle eben das der Norm zugeordnete rein ideelle Subjekt tritt, die Staatsperson ist auch in keinem Sinn als Herrschaftssubjekt den anderen Rechtssubjekten übergeordnet. Da die juristische Sphäre bei KELSEN  keineswegs Ausdruck soziologischer Über- und Unterordnungsverhältnisse sein soll,  gibt es in ihr nur gleichgeordnete Rechtssubjekt (Normsubjekte, Zurechnungsendpunkte), infolgedessen wird auch die Staatsperson den übrigen Rechtssubjekten restlos koordiniert.

Freilich ist nun trotz der Koordination dieser Rechtssubjekte der sich aus der Rechtsordnung ergebende Inhalt der Pflichten der Subjekte verschieden, insbesondere zwischen Staatsperson und den anderen Rechtspersonen. Diese Pflichten erhalten nach KELSEN im Rechtssatz ihre Feststellung. Rechtssätze im weiteren Sinn verpflichten den Staat allein zur Vornahme einer Handlung (z. B. Verwaltung), in Rechtssätzen im engeren Sinne wird eine Pflicht des Staates, Strafe und Exekution beim Vorliegen bestimmter Tatbestände statuiert, der zugleich eine Pflicht der Untertanen zu sanktionsvermeidendem Verhalten korrespondiert. Dem Staat gegenüber tritt der Rechtssatz nicht als Imperativ auf, vielmehr ist ja der Inhalt des Rechtssatzes zugleich Inhalt des Staatswillens. Statt der Formulierung, daß der Staat verpflichtet ist, in besonderen Fällen zu exequieren [vollstrecken - wp] und zu strafen, kann auch die, daß er in diesen Fällen straen usw. will, gewählt werden. Beim nichtpsychologischen, der Norm zugeordneten Willen fehlt notwendigerweise die Spannung zwischen Sollen und Sein: ein Staatsunrecht kommt bei konstruierter Identität von Staatswillen und Rechtsordnung nicht in Frage.

An diesem Punkt läge eine Berührung der KELSEN'schen Theorien nahe mit der sogenannten Selbstverpflichtung des Staates: die Rechtsordnung Inhalt ethischer Selbstgesetzgebung des ansich unbeschränkt freien Staates. Diese Lehre hat jedoch einen ganz anderen Begrif der Staatspersönlichkeit als den KELSEN'schen zur Voraussetzung - eben jenen einer  real-vitalen Einheit  eines psychologischen kollektiven Willens, der sich entscheiden kann, sie arbeitet mit dem Staat als ursprünglicher sozialer, machtvoller Wirklichkeit und muß deshalb von KELSENs Standpunkt der nur im Bereich logischer Konstruktion geltenden nicht realen Staatsperson als metaphysisch abgelehnt werden. Wo die Verpflichtung mit dem Willen als Zurechnungspunkt identisch ist, kann nicht von Selbstverpflichtung die Rede sein.  Ja, vielmehr kann jene Staatsperson sich ihre Pflicht- wie ihre Willensinhalte, mit anderen Worten: die Rechtsordnung, überhaupt nicht selbst erzeugen,  da sie ja nur der zu vorhandenen Norminhalten hinzugedachte Zurechnungsendpunkt ist. Mithin muß der Staat, dessen Form der Subjektivität mit der Form der Rechtsnorm identisch ist, der deshalb nur stets sein eigenes Verhalten wollen und zu diesem auch verpflichtet werden kann, die Inhalte der Rechtsordnung von außen erhalten. Erst dem fertigen Rechtssatz kann die fixierte und ruhende Person des Staates zugeordnet werden, die faktische Erzeugung der Rechtsinhalte liegt außerhalb seiner Sphäre. Der geschilderte Sachverhalt verdichtet sich für KELSEN zu der These, daß der Staat  wohl der Träger, nicht aber der Schöpfer der Rechtsordnung ist.  Geschaffen werden ihre Inhalte vielmehr in einem realen psycho-soziologischen Prozeß der Willensbildung: geschaffen wird der staatliche Wille und der der Rechtsordnung durch  das gesellschaftliche Leben.  Die Gesellschaft erzeugt so bei KELSEN die Inhalte der Rechtsordnung, deren formaler Träger der Staat ist, sie erzeugt dem Staat den Inhalt seines der Form nach die Rechtsordnung stützenden Willens. Auch der rechtlich geregelte, also der Form nach in die Staatssphäre einbezogene Prozeß der Gesetzgebung wird von KELSEN als ein gesellschatlicher Prozeß aufgefaßt, seine Organie wie das Parlament als gesellschaftliche, nicht staatliche Organe bezeichnet! Ja es kann in diesem Zusammenhang sogar heißen, daß der Staat nicht sich selbst verpflichtet, sondern durch die Gesellschaft verpflichtet wird, es kann sich dieser Gedanke sogar - in der reinen Rechtslehre! - mit neoliberalen, der Gesellschaft den Primat gegen den Staat verleihenden Tendenzen verbinden.

Ein merkwürdiges Bild vom Staat stellt sich so als zusammenfassendes Ergebnis des KELSEN'schen Standpunktes der "Hauptprobleme" heraus. Nicht mehr "Leviathan" steht vor uns, der "Geist, wie er in der Welt steht", weder Riese noch Gott ist hier der Staat, sondern eine durch normlogische Reflexion künstlich erzeugte Person, die ihre Willensinhalte von außen gesetzt erhält, deren Handlungen zwar auf Zwangsvollzug gegenüber den anderen Rechtspersonen gerichtet sind, die ihnen aber in keiner Weise innerhalb des Rechts als mächtiger Herrscher, sondern nur als eine Person unter anderen gegenübersteht. Die Person, deren Wille die Rechtsordnung selber ist, steht in dieser Rechtsordnung den der Rechtsordnung Unterstellten gleichgeordnet gegenüber und erhält die Inhalte dieser ordnung, deren Träger sie ist, selbst in heteronomer abhängiger Weise. Eine Theorie also, deren Widersprüche handgreiflich wären, wenn der in Frage kommende Wille in psychologischem Sinne gefaßt würde, ja, wenn es sich hier überhaupt um eine politische oder philosophische Auffassung des Staates handelte. Daß aber auch immanente Widersprüche in dieser Form der reinen Rechtslehre vorhanden sind, in welcher der Tendenz nach die Verbindungslinien zu jedem Begriff des psychologischen Gesamtwillens abgeschnitten sind, d. h., daß zwischen dem normologischen Begriff des Willens und dem psychologischen doch noch gegen die eigentlichen Intentionen der Theorien Fäden hinüber- und herüberlaufen zeigt folgende Stelle der Hauptprobleme, die die Quintessenz ihrer Bemühungen um dieses Problem zu enthalten scheint (15):
    "Diese durch kein Unrecht erreichbare Rechtsordnung mag man sich  über  den Rechtssubjekten - daher auch über dem Staat gleich allen übrigen - denken. Doch ist dies nur eine bildliche Vorstellung, der kein konkretes Über- und Unterordnungsverhältnis entspricht. Daß es der Willes des Staates ist, der in der Rechtsordnung zum Ausdruck kommt, indem die Rechtssätze Urteile über dessen bedingte Existenz sind, darf nicht zu einer Identifizierung der Person des Staates oder deren Willen mit dem unpersönlichen Inbegriff von Urteilen führen, als was sich die Rechtsordnung darstellt. Eine solche Identifizierung steckt aber in der Vorstellung des Staates als des über den Subjekten thronenden Befehlshabers, als Subjektes der rechtlichen Imperative, als Träger der Rechtsordnung, eine Vorstellung, die mit Rücksicht darauf, daß man den Staat als Persönlichkeit erfassen wollte, zu der Unterscheidung zwischen dem Staat als Rechtsordnung und dem Staat als Subjekt von Rechten und Pflichten zwang. Nun ist der Staat Person (und daher den übrigen Personen gleichgestellt) nur seines Willens wegen, nur als Willenssubjekt ist er Rechts- und Pflichtensubjekt wie alle übrigen Rechtssubjekte. In der Rechtsordnung aber erscheint nichts anderes als der Wille des Staates, das ist der Staat als Person, der den übrigen Rechtssubjekten rechtlich gleichgestellt ist. Darum ist es ein Widerspruch, den Staat in der Rechtsordnung den übrigen Subjekten - und gar sich selbst! - überzuordnen. Dieser Widerspruch aber ist zu vermeiden, wenn man es unterläßt, die Rechtsordnung überflüssigerweise zu personifizieren, d. h. sie mit der Staatsperson zu identifizieren."
In diesen Formulierungen bleibt vieles unklar. Die Rechtsordnung soll als unpersönlicher Inbegriff von Urteilen von der Staatsperson und ihrem Willen getrennt werden, sie soll über den Rechtssubjekten, also auch über dem Staat als Rechtssubjekt (allerdings nur in einer bildlichen Formulierung) stehen. Gleichwohl aber erscheint in ihr nichts anderes als der Wille des Staates. Die Überordnung des Staates in der Rechtsordnung über sich selbst wird mit Recht als Widerspruch bezeichnet, aber ist es nicht ebenso widerspruchsvoll, die Rechtsordnung zugleich über dem Staat als Person stehend und als Inhalt seines Willens zu denken?

Sollen indessen diese Schwierigkeiten durch die Abschneidung jeglicher Beziehung zum psychologischen Willensbegrif vermieden werden, so wird es zweifelhaft, ob nicht damit auch der Begriff der Staatsperson, der ausdrücklich gegen die unpersönliche Rechtsordnung abgehoben worden war, hinfällig werden muß. Ob bei einer Ausschaltung aller Analogien zum Ich wirklich noch die Notwendigkeit besteht, die Rechtsordnung zu personifizieren und jenen merkwürdigen Träger einzuschieben, der nicht ihr Schöper ist, der sie zum Inhalt seines Willens hat, ohne sie selber wollen zu können, wird ein Problem. Tatsächlich nimmt auch die Entwicklung der KELSEN'schen Gedankengänge die Richtung auf eine Beseitigung des  capuut mortuum  [wertloses Überbleibsel - wp] dieser Staatsperson und auf eine schärfere Herausarbeitung ihrer eigenen objektivistischen Tendenzen.
LITERATUR Siegfried Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925
    Anmerkungen
    1) Der zusammenfassendste Ausdruck der STAMMLERschen Rechtsphilosophie ist seine "Theorie der Rechtswissenschaft" (1911), sowie sein "Lehrbuch der Rechtsphilosophie" (1922).
    2) JULIUS BINDER, "Rechtsbegriff und Rechtsidee", Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers (1915). "Der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft", Kantstudien Bd. 25, Seite 321f.
    3) HANS KELSEN, "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz (1911). In Bezug auf seine übrigen Schriften vgl. das folgende Kapitel.
    4) ALFRED LÖWENSTEIN, Der Rechtsbegriff als Relationsbegriff, München 1915
    5) ERICH KAUFMANN, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 1921
    6) REINACH, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts (Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 1, Teil 2, Halle 1913). Über die "Angst vor der Gegebenheit, die zu abenteuerlichen Konstruktionen treibt", Seite 741
    7) JONAS COHN, Theorie der Dialektik, Leipzig 1923, stellt den umfassendsten und fortgeschrittensten Versuch in dieser Richtung dar.
    8) RICHARD HÖNIGSWALD, Die Grundlagen der Denkpsychologie, München 1921
    9) KELSENs wichtigste Schriften: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911. Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, Tübingen 1920. Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1922 (Sie werden im Text abgekürzt zitiert: Hauptprobleme, Souveränität, Soz. und jur. Staatsbegr.)
    10) RUDOLF JHERING, Der Zweck im Recht, 4. Auflage, 1901
    11) Vgl. KELSEN, Hauptprobleme, Seite 12f
    12) PAUL LABAND, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1911
    13) Vgl. ERICH KAUFMANN, a. a. O. Seite 29: "Die positive Rechtswissenschaft fängt haarscharf an dem Punkt an, wo KELSEN aufhört."
    14) Vgl. HERMANN KANTOROWICZ, Der Aufbau der Soziologie ("Hauptprobleme der Soziologie") Erinnerungsgabe für Max Weber, München und Leipzig 1923, Seite 73 - 97.
    15) KELSEN, Hauptprobleme, Seite 232 und 233.