p-4LowtskyMaierStörringDöringChristiansen    
 
JONAS COHN
(1869-1947)
Voraussetzungen und
Ziele des Erkennens

[Untersuchungen über die Grundlagen der Logik]
[ 3 / 3 ]

"Ein Satz ist doch nur dann wahr, wenn er den Anspruch erheben darf, von jeder erkennenden Person, gleichviel was sie sonst ist, anerkannt zu werden. Nicht für Hinz ist zweimal zwei gleich vier, nicht für Kunz ist es wahr, daß schwere Körper mit gleichmäßiger Beschleunigung fallen, oder daß 490 v. Chr. die Schlacht bei Salamis stattfand, sondern diese Wahrheiten sind von aller Hinzheit des Hinz und von aller Kunzheit des Kunz unabhängig."

"Der Biologe wird je nach der Richtung seiner besonderen Aufgabe bald das ganze Tier, bald die einzelne Zelle als ein Ding betrachten. Der Chemiker zerstört nicht nur in seiner Retorte, sondern auch in seinen Begriffen die dingliche Einheit der Zelle; ihm ist sie ein komplexes Gebilde, dessen dinghafte Bestandteile, Moleküle und Atome, mehr oder weniger rasch wechseln. Erkannt man so, daß Dingheit und Einheit nur relativ zum besonderen Erkenntniszweck gefaßt werden können, so wird man die Dinge nicht mehr als fertige äußere Gebilde dem erkennenden Ich gegenüberstellen. Sie sind nicht unabhängig von diesem Ich irgendwo da, um sich in ihm abzubilden oder abzuspiegeln, sondern sie sind Dinge nur durch die Arbeit des formenden, erkennenden Ich."

"Auch die quantitativ gedachte Energie ist durch die Annahme, daß sie in allen Wandlungen der Energieform konstant bleibt, wieder verdinglicht. Wollen wir irgendeine Wirklichkeit zum Erkenntnisinhalt machen, so müssen wir sie selbst oder ihre Teile als Einheiten abgrenzen und irgendetwas in ihr als zumindest relativ dauernd, als substanziell bleibend, auffassen. Es ist also kein Erkenntnisinhalt ohne Formen auffaßbar, die doch ihrerseits der Erkenntnisarbeit angehören."


Kapitel I.
Das erkennende Ich
[Fortsetzung]

"Es ist der Ehrgeiz des Intellekts,
nicht mehr individuell zu erscheinen."

- Nietzsche


§2.Das überindividuelle Ich. Der neueren Psychologie ist der Gedanke geläufig, daß das Ich keine einheitliche, einfache Sache, sondern Einheit eines mannigfaltigen Komplexes ist. Dabei hängt es dann von der Entwicklung des Menschen oder vom Gesichtspunkt der Betrachtung ab, was jeweils zum Ich gehört. Gewohnheiten, Neigungen, Interessen ziehen fremde Personen und Dinge, gesellschaftliche Zusammenhänge und Ideale in mein Ich hinein. Man hat infolgedessen von einem sekundären Ich gesprochen (5), das sich als höhere Stufe des engen, auf die Erhaltung der körperlichen Existenz gerichteten, primären Ich entwickelt. Auch innerhalb des primären Ich gibt es verschiedene Grade der Zugehörigkeit. Die Vorstellung meiner Hand gehört näher zu mir, als die Vorstellung meines Haares. Die Muskel- und Gelenkempfindungen, die von meinen Handbewegungen ausgelöst werden, bilden in viel innigerer Weise einen Teil meines Ich, als das optische Bild derselben Hand. Ähnliches ließe sich von meinen Gefühlen und Interessen ausführen. Indessen liegt hier nichts daran, eine psychologische Theorie des Ich zu entwickeln; nur angeknüpft sollte an diese bekannten Ergebnisse der Psychologie werden, um einer erkenntnistheoretischen Analyse, die in ganz anderer Weise verschiedene Schichten im Ich unterscheiden muß, die Wege des Verständnisses zu ebnen; denn merkwürdigerweise beruft man sich dieser Analyse gegenüber hartnäckig auf die unlösliche Einfachheit des Ich, während man doch die psychologische Komplikation dessen, was eine vergangene Zeit als einfache Seele angesehen hat, längst allgemein zugibt.

Noch in anderer Weise läßt sich die schwierige Unterscheidung, auf die es mir ankommt, vorbereiten. Wenn der Mensch sich zuerst seine Umgebung für sein Verständnis gewinnen will, spiegelt er sich gleichsam in allen Dingen. Jede ursprüngliche Welterfassung ist anthropomorphisch. Der Bach, die Wolke, die Sonne, der Mond leben ein menschliches Leben. Auch wo, wie in manchen Mythen der Naturvölker, Tiere anstelle des Menschen treten, sind diese Tiere naiv als menschengleiche Personen gefaßt. Alle seine Triebe und Neigungen legt der Mensch auf dieser Stufe der Entwicklung in die Dinge hinein. Nur als durch und durch ihm selbst verwandt vermag er sie zu verstehen. Es ist oft ausgeführt worden, wie die Überwindung dieses Vermenschlichungsstrebens den Fortschritt des Erkennens begleitet. Aber nicht auf einmal setzt sie sich durch. Nicht mit einem Ruck zieht sich der Mensch aus den Dingen zurück. Daß im Kraftbegriff noch etwas Anthropomorphes steckt, ist von den neueren Kriterien dieses Begriffs oft genug hervorgehoben worden. Nur hat hier der Mensch nicht mehr seine ganze Persönlichkeit, sondern lediglich den formalen Charakter seines Fühlens und Handelns in die abstrakter gedachten Dinge hineingetragen. Kann nun - diese Frage erhebt sich - die Zurückziehung des in sie hineingelegten Ich aus den Dingen jemals ganz erfolgen, ohne daß dabei das Verständnis der Welt verloren geht, das mit jener ersten, naiven, mythologischen Spiegelung begann? Oder sollte nicht vielmehr dauernd unser Ich die Seiten seines vieleinigen Wesens in die Welt hineinlegen müssen, mit denen es die Welt ergreifen will? Was persönlich auf uns wirkt, wie ein Kunstwerk, ein Baum oder ein liebvertrautes Stück unserer nächsten Umgebung, dem leihen wir eine persönliche Eigenart, persönliche Erlebnisse und Entwicklung. Beschränken wir uns darauf, uns in allgemeine Verhältnisse der Zu- und Abneidung zu einem Ding zu setzen, so schreiben wir ihm auch nur allgemeine Eigenschaften der Liebens- und Hassenswürdigkeit zu. Wo endlich nur unser abstraktes Erkennen, das frei gemacht ist von Liebe und Haß, bei der Erfassung der Dinge mitwirkt, da sehen wir auch an den Dingen selbst nur noch die abstrakten und formalen Eigentümlichkeiten unseres Geistes. In der gesetzlichen Einheit der Welt spiegelt sich noch, spiegelt sich noch, wiewohl zum abstrakten Schema verblaßt, die persönliche Einheit des Geistes. Solche Betrachtungen sind nur vorbereitender, durchaus nicht beweisender Natur. Ihr Zweck ist, die eigentliche erkenntnistheoretische Analyse dem Verständnis näher zu bringen, nicht, sie zu ersetzen. Aber in dieser vorbereitenden Weise können sie uns noch etwas mehr leisten. Auf jeder Stufe der anthropomorphen Erfassung der Welt verdoppelt sich das Ich. Es ist einmal vorhanden als aktiv die Dinge zu sich in Beziehung setzend und dann noch einmal als gespiegelt in diesen Dingen selbst. Unsere Übersicht über die verschiedenen Stufen der Vermenschlichung hat, so flüchtig sie war, das eine ergeben, daß das Ich immer soviel von sich selbst in die Dinge hineinlegt, als es zu den Dingen in Beziehung setzt. In anderer und exakterer Form wird uns ein ähnliches Verhältnis bei der strengen erkenntnistheoretischen Analyse wieder begegnen.

Ehe ich diese erkenntnistheoretische Analyse beginne, wird es nötig sein, daß ich mir über ihr Wesen noch etwas genauer klar werde. In logischen Untersuchungen hängt alles davon ab, daß kein Schritt ungerechtfertigt bleibt. Insbesondere muß also über das eigene Verfahren hier volle Bewußtheit herrschen. Ich erreiche eine Orientierung vielleicht am Besten durch den Vergleich der erkenntnistheoretischen Analyse mit der psychologischen, von der ich ein Beispiel in Umrissen soeben entworfen habe. Eine Zerlegung wird wie jedes zielbewußte Tun in ihrer Richtung beherrscht durch ihren Zweck. Ganz anders zerlegt, um ein Beispiel aus einem anderen Gebiet zu nehmen, der Pflanzenanatom ein Stück Holz als der Chemiker. Der erste sucht die relativ beständigen, organischen Einheiten, die Zellen und Gefäße auf; innerhalb dieser Einheiten unterscheidet er ihre nach Gestalt und Funktion verschiedenen Teile usw. Der Chemiker kümmert sich nicht um die Gestalt, sondern zerfällt das Ganze in seine der stofflichen Zusammensetzung nach verschiedenen Bestandteile, wie Zellulose, Stärke, Eiweiß, Wasser usw. Freilich treten diese beiden Arten der Analyse insofern in Beziehungen zueinander, als die eine der anderen Aufgaben stellt. Insbesondere wird der Anatom wünschen, daß seine morphologischen Einheiten für sich vom Chemiker untersucht werden, während umgekehrt der Chemiker, der ein Stück Holz als Ganzes analysiert hat, den Anatomen nach der Verteilung der gefundenen Stoffe in den Zellen fragen wird. Eine Verschiedenheit des Zieles von weit prinzipiellerer Art als in der eben durchgeführten Analogie unterscheidet das Verfahren der Psychologie und der Erkenntnistheorie. Die Psychologie setzt ein seelisches Geschehen, etwa einen Erkenntnisakt, als ihr Material voraus, und fragt, aus welchen elementaren Bestandteilen er sich aufbaut, und welche Gesetze seinen Aufbau und Ablauf bestimmen. Der Erkenntnistheoretiker fragt, was muß gelten oder vorausgesetzt werden, damit, sei es Erkenntnis überhaupt, sei es eine bestimmte Art von Erkenntnis, möglich ist. Also nicht die Bedingungen des Zustandekommens der Erkenntnis, sondern die Bedingungen ihrer Wahrheit werden hier untersucht. In beiden Fällen weist die Zerlegung einer einzelnen Erkenntnis auf Zusammenhänge hin, die über ihre Vereinzelung hinausreichen. Aber diese Zusammenhänge sind in beiden Fällen prinzipiell verschieden. Der Psychologe erkennt in den Vorstellungen und ihren Verbindungen ein Resultat des ganzen seelischen Lebens der erkennenden Person. Der Erkenntnistheoretiker sieht, daß jeder wahre Satz, wenn die Bedingungen seiner Wahrheit vollständig ausgesprochen werden, auf ein System anderer wahrer Sätze hinweist. Dieser Verschiedenheit der Ziele und Zusammenhänge entspricht ein ganz verschiedenes Verfahren. Der Erkenntnistheoretiker fragt nach den allgemeinen logischen Bedingungen der Erkenntnis; sein Verfahren ist verwandt mit dem eines Mathematikers, der die Axiome einer mathematischen Wissenschaft aufsucht. Es ist ein logisches Aufsteigen von den Folgen zum Grund, wobei die Unmöglichkeit einer anderen Begründung natürlich noch nachgewiesen werden muß. Gegenüber dieser strengen Einheitlichkeit stehen dem Psychologen alle die mannigfaltigen Mittel der empirischen Forschung zu Gebote. Er bedient sich der Erinnerung, der systematischen Beobachtung, des Experiments, der Vergleichung verschiedener Individuen, er zieht frühe Entwicklungsstadien und pathologische Fälle heran. Nur gerade den Schluß von der logischen Folge auf die notwendige Bedingung darf er niemals benutzen. Nichts berechtigt ihn ja dazu anzunehmen, daß, was logisch notwendig verbunden ist, auch im Seelenleben einer bestimmten Person zusammen ist. Der Mensch hat lange praktische Geometrie betrieben, ehe er an die Axiome der Geometrie auch nur dachte, und bis heute herrscht bekanntlich über diese Axiome keine volle Einigkeit. Wenn man der Psychologie erkenntnistheoretische Aufgaben aufbürdet, so entsteht notwendig jene Intellektualisierung des Seelenlebens, deren Bekämpfung als ein Hauptverdienst der Psychologie WILHELM WUNDTs angesehen werden darf. Freilich schließt nun die Verschiedenheit der Ziele und Mittel in unserem Fall Beziehungen so wenig aus, wie bei der herangezogenen naturwissenschaftlichen Analogie. Diese Beziehungen werden im Allgemeinen die Form haben, daß die Resultate des einen Verfahrens dem anderen Aufgaben stellen. Ihre genauere Bestimmung wird mich erst später beschäftigen.

Um nun das Ich erkenntnistheoretisch zu analysieren, muß man die zweifache Rolle unterscheiden, die es, wie wir wiederholt sahen, im Erkennen spielt. Wir haben es erstens mit dem erkennenden Ich zu tun, dem Ich, sofern es im Erkennen tätig ist, oder besser, sofern die Wahrheit für ein Ich wahr ist, und zweitens mit dem, was im Erkannten von Ichbestandteilen liegt, mit dem Icherzeugten im Inhalt jeder Wahrheit. Ich gehe von der ersten Beziehung des Ich aus und frage zunächst nach dem Ich, für das etwas wahr ist, oder das die Wahrheit eines Satzes anerkennt. Nichts einfacher als die Antwort auf diese Frage, wird der gesunde Menschenverstand denken. Wer die Wahrheit anerkennt, bin ich, diese volle Persönlichkeit mit allen ihren Erlebnissen und Eigentümlichkeiten. Aber ein Satz ist doch nur dann wahr, wenn er den Anspruch erheben darf, von jeder erkennenden Person, gleichviel was sie sonst ist, anerkannt zu werden. Nicht für Hinz ist zweimal zwei gleich vier, nicht für Kunz ist es wahr, daß schwere Körper mit gleichmäßiger Beschleunigung fallen, oder daß 490 v. Chr. die Schlacht bei Salamis stattfand, sondern diese Wahrheiten sind von aller Hinzheit des Hinz und von aller Kunzheit des Kunz unabhängig. Man darf nur nicht die Geltung der Wahrheit mit der Kenntnis verwechseln, die ein Mensch von der Wahrheit hat. Wer nicht Rechnen, Physik, griechische Geschichte gelernt hat, kann auch von der Wahrheit der angeführten Sätze keine Einsicht haben; trotzdem gelten sie auch für ihn, wie sich zeigt, sobald er sich die Vorbedingungen ihres Verständnisses angeeignet hat. Der Sinn der Wahrheit schließt aus, daß etwas für diesen oder jenen wahr ist. Einwände hiergegen können nur erhoben werden, wenn man vergißt, daß nie ein Gegenstand, stets nur ein Zusammenhang wahr sein kann. Hund, Sphinx, blau oder angenehm sind weder wahr noch unwahr. Daß Hunde leben, ist wahr; daß Sphinxe leben, unwahr; daß blau mir jetzt angenehm ist, kann wahr oder unwahr sein. Das Grundaxiom der Logik, daß nur Urteile, die stets Relationen enthalten, wahr oder unwahr sein können, wird erst später in seiner vollen Tragweite entwickelt werden, hier ist es nur vorausgesetzt, um einen Einwand zurückzuweisen. Man könnte nämlich sagen: Wenn A behauptet, daß eine Zigarre widrig schmeckt, so wird der leidenschaftliche Raucher B ihm das Zugeständnis abverlangen können, daß dieser Satz nur für ihn wahr ist. Das Ich, für das eine Wahrheit gilt, ist also zumindest bei manchen Sätzen doch ein einzelnes menschliches Individuum mit allen seinen Eigentümlichkeiten. Jedoch handelt es sich hier nur um einen unexakten Ausdruck, der im gewöhnlichen Leben unschädlich ist, bei einer logischen Analyse aber verbessert werden muß. Der Satz des A, daß eine Zigarre widrig schmeckt, ist so ausgesprochen eben nicht wahr, weil er unvollständig ist. Vollständig würde er lauten: Eine Zigarre schmeckt für mich, den A, widrig, oder sogar, da A sich ja vielleicht später das Rauchen angewöhnen kann, sie schmeckt mit bis jetzt widrig. Diesem Satz aber könnte B oder irgendein anderes Individuum die Zustimmung nicht versagen, es sei denn, er erklärte den A für einen Lügner; und dann wäre der Satz auch für A falsch und würde nur aus irgendwelchen, nicht dem Gebiet der Erkenntnis zugehörigen Interessen, etwa pädagogischen, mit dem Bewußtsein seiner Falschheit als wahr behauptet (6).

Das Wesen des erkennenden Ich enthüllt sich uns vielleicht nirgends so augenscheinlich, wie im Fall der Selbsterkenntnis. Es hat schon manchem Denker Unbehagen bereitet, daß hier Erkennendes und Erkanntes gleichzeitig getrennt und identisch sein sollen, daß eins hier zwei wird und doch eins bleibt, oder wie man sonst diese Schwierigkeiten ausgedrückt hat. In Wahrheit zeigen sich alle diese Verlegenheiten als Folge derselben Verwechslung. Aus ihnen allen ist man gerettet, sobald man einmal ihre gemeinsame Voraussetzung als falsch erkannt hat. Es ist nicht wahr, daß in der Selbsterkenntnis der Erkennende und das Erkannte identisch sind. Ich fasse Selbsterkenntnis hier natürlich in einem rein theoretischen Sinn ohne den Nebenklang moralischer Selbstprüfung und Selbstbeurteilung. Dann besteht ihre Aufgabe darin, alles, was zum individuellen Ich gehört, in die Stellung des Objekts überzuführen. Seine Eigenschaften und seine Geschichte müssen so erkannt werden, daß alle Daten, die der Einzelne nur von sich selbst weiß, benutzt werden, daß aber der ganze Zusammenhang für das reine erkennende Subjekt wahr ist. Wo sich die herrschenden Interessen, wo sich Selbstliebe oder Selbstquälerei der eigenen Vergangenheit bemächtigen, da entsteht keine Selbsterkenntnis. Das Bild, das wir von uns selbst in uns tragen, ist entstellt durch Veränderungen, die aus der Natur unserer Person hervorgehen. Nur wenn diese als das erkannt werden, was sie sind, treten sie selbst als charakterisierende Züge in das berichtigte Bild unseres erkannten Ich hinein, während das erkennende Ich sich von ihnen reinigt.

Man darf also zusammenfassend sagen: im Erkennen strebt das individuelle Ich danach, sich von seiner Individualität zu befreien. Die Wahrheit in der Bestimmung, Erkennen heißt, die Dinge denken wie sie unabhängig vom Ich sind, liegt in dieser Beseitigung des nur Individuellen. Gleichzeitig zeigt sich uns das schwierige Verhältnis von Voraussetzung und Ziel zumindest in einer Beziehung etwas deutlicher. In einer vollendet gedachten Erkenntnis ist das überindividuelle Ich vorausgesetzt, aber für das einzelne erkennende Ich wird das überindividuelle Ich Ziel. Diese Doppelstellung birgt augenscheinlich ein neues Problem in sich, ihr Grund wird sich erst später einsehen lassen. (7)

Da das reine überindividuelle Ich immer Subjekt bleibt, so kann es niemals Objekt werden. Darin scheint eine doppelte Schwierigkeit zu stecken. Erstens nämlich wird es doch Objekt, wenn irgendein Urteil, z. B. eben, daß es in jedem Urteil mit vorausgesetzt ist, davon gefällt wird. Zweitens aber bezeichneten wir ja die Formen der Dingheit, Einheit usw. oder das, was in der vollendeten Erkenntnis an ihre Stelle zu treten hätte, als Formen des reinen Ich, so daß dieses dann in das Objekt hineingesetzt wird. Indessen bleibt in beiden Fällen das reine Ich zugleich auch als Subjekt, das nicht Objekt ist, vorausgesetzt, da doch eben alle Urteile vom reinen Ich anzuerkennen sind. Wir müssen also eine Formulierung suchen, die den beiden Einwänden gerecht wird, ohne die Wahrheit, die in der Objektivität alles Erkannten für das reine Ich liegt, zu verlieren. Dabei sind aber beide Einwände verschieden zu behandeln. Was den ersten betrifft, so genügt es, zu betonen, daß auch in Urteilen, die das reine Ich als Gegenstand enthalten, dieses zugleich als anerkennendes Ich vorausgesetzt ist. Man muß danach sagen: Das reine überindividuelle Ich kann in keinem Urteil nur als Objekt vorausgesetzt sein. Der zweite Einwand hängt innig mit der richtigen Auffassung des Immanenzsatzes zusammen. Das erkennende Ich ist nicht nur als die Wahrheit anerkennend, sondern auch als Einheit der Formen alles zu Erkennenden vorausgesetzt. Man kann diese beiden Teile des Satzes als passive und aktive Immanenz unterscheiden, darf aber dann diese Ausdrücke nicht für mehr als bloße Bilder halten. Was nun in die Erkenntnisgegenstände eingeht, ist nicht als das reine Ich selbst, sondern nur als eine Form, die von diesem Ich abhängt, anzusehen.

Die letzten Formulierungen haben deutlich etwas Unbefriedigendes. Sie enthalten eine ganze Reihe von Bestimmungen, die bisher ungeklärt sind. Wir befinden uns eben am Anfang unserer Untersuchungen und können daher noch keine Ergebnisse verwenden. Was Urteil und Gegenstand ist, bleibt hier unklar, wird aber in den folgenden Kapiteln untersucht werden. Ganz augenscheinlich können wir zu letzten Klärungen erst am Ende kommen, da ja die einzelnen logischen Begriffe so innig zusammenhängen, daß immer einer vom andern Licht erhält. Doch müssen und können wir das bisher Gewonnene noch etwas verdeutlichen, vor allem um eine Reihe möglicher Mißverständnisse sogleich zurückzuweisen.

Wir haben das reine überindividuelle Ich als in jeder Erkenntnis vorausgesetzt und als Ziel des individuellen Ich, sofern dieses erkennen will, bestimmt. Diese beiden Wege, zum Begriff "reines Ich" zu gelangen, vertreten bisher die Stelle einer Definition. Wir können mit einem der Mathematik entlehnten Ausdruck von "genetischer Definition" reden, wobei unter "Genese" nicht etwa eine biologisch-psychologische Entwicklung oder eine Geschichte der Entdeckung, sondern eine Angabe des Weges zu verstehen ist, auf dem man zur Begriffsbildung logisch fortschreitet. Die Urteile, die sich als Stationen dieses Weges bezeichnen lassen, bilden dauernd Bestandteile des Begriffs. Nun liegen augenscheinlich zwei Wege einer solchen genetischen Begriffsbildung vor: der eine geht vom reinen Erkennen, der andere von einem empirischen Ich aus. Wir können den ersten hier nicht weiter verfolgen, da wir die einzelne Erkenntnis noch nicht analysiert haben. Was aber den zweiten betrifft, so ist hier das individuelle Ich Ausgangspunkt nur, sofern es nach Erkenntnis strebt. Im reinen Ich bleibt dann nicht mehr das Streben, sondern nur noch das Ziel des Strebens erhalten. Aber in diesem Ziel liegt eben noch eine Einheit, die alle Anerkennungen verbindet und durch das Wort "Ich" festgehalten wird. Wohl wäre es möglich, dafür auch ein anderes Wort zu wählen, etwa von der anerkennenden und formenden Erkenntniseinheit zu reden. Ich kann erst später rechtfertigen, warum ich am Terminus "reines Ich" festhalte, trotzdem die Gefahr von Verwechslungen nahe liegt, muß aber schon hier diese Verwechslungen ausschließen.

Vom einzelnen individuellen Ich aus kann man nämlich in sehr verschiedener Weise zu übergeordneten Ichbegriffen aufsteigen. Man kann sich zunächst ein "durchschnittliches Ich" konstruieren, d. h. einen je nach der besonderen Art dieser Begriffsbildung psychischen oder psychophysischen Zusammenhang, der einen Mittelwert aus den Variationsbreiten jeder einzelnen Eigenschaft enthält, die beim Menschen vorkommt. Man redet in diesem Fall besser von einem durchschnittlichen Menschen oder von einer durchschnittlichen menschlichen Seele. Ein durchschnittlicher Mensch hätte einen durchschnittlichen Körper, ein durchschnittliches Maß an Leidenschaften usw. Man braucht das nur auszusprechen, um zu sehen, daß dieses Durchschnitts-Ich vom reinen erkennenden Ich ebensoweit absteht, wie im Durchschnitt jedes einzelne Ich; also weiter als der einzelne wissenschaftliche Mensch, der sich doch hoffentlich, soweit er erkennender Mensch ist, an Leidenschaftslosigkeit, Abstraktionsfähigkeit usw. über den Durchschnitt erhebt. -

Vom durchschnittlichen Menschen ist zu unterscheiden der Gattungsbegriff des Menschen, bzw. der menschlichen Seele. AUch dieser kann in verschiedener Weise aufgefaßt werden, entweder als abstrakter übergeordneter Begriff, der nur die allen Menschen gemeinsamen Merkmale enthält, oder als ein Begriff, der von jedem vorhandenen Merkmal den Spielraum enthält. Um das an einem körperlichen Merkmal zu erklären, kann man die Größe wählen. Der abstrakte Begriff Mensch enthält gar keine Größe, der Durchschnittsmensch die mittlere Größe (die durch verschiedene Methoden der Mitteilung gewonnen werden kann), der Totalbegriff Mensch aber den Größenspielraum, innerhalb dessen die Menschen variieren, eventuell zugleich mit der Häufigkeitsverteilung innerhalb dieses Spielraums. Daß keiner dieser Begriffe in Betracht kommen kann, ist klar. Eine Täuschung kann nur dadurch eintreten, daß ein praktisch viel verwendetes Näherungsverfahren falsch aufgefaßt und überdies mit dem erreichten Ziel verwechselt wird. Wenn wir mit vielleicht kurzsichtigem Auge, von Leidenschaft verblendet, einen Vorgang erlebt haben und uns dem Erlebten gegenüber nun zur Stellung des Erkennenden erheben wollen, so fragen wir uns zuerst: was hätte in diesem Fall ein leidenschaftsloer, mit guten Augen begabter Mensch gesehen. Ich darf hier an das erinnern, was ich im vorigen Abschnitt bei der Analyse der ersten Erkenntnisstufe ausgeführt habe. Danach könnte es scheinen, daß zumindest für eine gewisse Stufe der Erkenntnis das reine Ich mit dem durchschnittlichen Menschen zusammenfällt. Aber das ist nur Schein. Der Mensch, auf dessen Niveau wir uns hier erheben wollen, ist nicht der durchschnittliche Mensch, sondern der normale erkennende Mensch. Diese Normalität verlangt zunächst eine vollkommene Abwesenheit, also nicht etwa ein durchschnittliches Maß an Leidenschaften und Gefühlen. Hierin ist der normale Mensch des Erkennens bereits ein abstrakter Begriff. Nur deshalb entgeht uns seine abstrakte Natur leicht, weil wir uns im Erkennen zumindest zeitweise nahezu von Gefühlen und Leidenschaften befreien können. Aber es handelt sich schon bei diesem "normalen erkennenden Menschen" auch nicht um einige allen Menschen gemeinsame Eigenschaften, die für sich begrifflich zusammengefaßt werden. Zunächst ist überhaupt nicht jeder Mensch erkennender Mensch, d. h. der reine Erkenntniswille, der hier mit vorausgesetzt wird, ist gar kein Gattungsmerkmal. Aber auch die Gattungseigenschaften, die mitgesetzt werden: Gedächtnis, Sinnesschärfe usw. werden in maximaler, nicht in durchschnittlicher Güte angenommen. Vor allem aber ist dieses normale menschliche Ich lediglich eine Zwischenstufe, deren vielleicht gewisse Gebiete des Erkennens dauernd bedürfen, die aber nicht mit dem in jeder Erkenntnis vorauszusetzenden reinen Ich verwechselt werden darf. Dieses selbst hat man gar kein Recht mehr als "menschlich" zu bezeichnen, denn die spezifischen Gattungsmerkmale des Menschen sind in ihm in keiner Weise mitgesetzt.

Schließlich ist noch davor zu warnen, daß man im reinen Ich etwas anderes als einen für die Logik nötigen Begriff sieht, daß man ihm irgendeine Art metaphysischer Sonderexistenz zuerkennt. Selbst wenn man eine solche Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] für zulässig und vielleicht innerhalb der Metaphysik sogar für erforderlich halten sollte, müßte man sie aus der Logik fernhalten. Denn auch in diesem Fall müßte die Metaphysik zumindest teilweise durch die Logik begründet werden, könnte als keinesfalls ihrerseits die Logik begründen. Ich kann an dieser Stelle die Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit von Metaphysik noch nicht erörtern, erst viel später wird sie mich beschäftigen. Hier ist nur zu betonen, daß im reinen Ich nichts Metaphysisches steckt, daß also die Logik von allen metaphysischen Problemen und Lösungen ja sogar von der Stellungnahme zu der Frage, ob überhaupt Metaphysik möglich ist, unabhängig bleibt.

Die Analyse der ersten Stellung des erkennenden Ich oder des Ich, für das alles Wahre wahr ist, hat uns also zu folgenden Ergebnissen geführt. Erstens: das Ich des Satzes der Immanenz, das erkennende Ich, ohne das nichts Erkanntes oder Erkennbares gedacht werden kann, ist ein rein erkennendes, überindividuelles Ich. Zweitens: im Erkennen strebt das individuelle Ich danach, sich auf den Standpunkt des rein erkennenden, überindividuellen Ichs zu stellen.

Im ersten dieser Sätze ist das reine Ich nur negativ, im zweiten nur als Postulat bestimmt. Auch die logische Genese, durch die wir den Begriff rechtfertigten, gibt ihm keinen positiven Inhalt. Eine positive Bestimmung kann sich überhaupt aus der ersten Stellung des Ich nicht ergeben. Denn indem das reine erkennende Ich in jedem Satz der Erkenntnis logisch mit vorausgesetzt ist, wird es selbst niemals ein erkennbares Objekt. Nur auf einem Umweg kann es sich selbst erkennen. Seine Formen hat es ja in die Dinge gelegt; aus den Dingen kommen sie ihm, objektiv geworden, entgegen, in seinen Werken hat es sich den Spiegel geschaffen, in dem es sich selbst sieht.

Während gewöhnlich leicht zugestanden wird, daß jedes Objekt ein Subjekt voraussetzt, scheint die Einsicht viel schwerer erreichbar zu sein, daß in allen objektiven Zusammenhängen in Wahrheit die Formen des Subjekts stecken. Und doch gewinnt, wie oben gezeigt wurde, der Satz der Immanenz erst dadurch einen inhaltlichen Wert, läßt sich, wie wir eben sahen, nur so dem Ich ein Inhalt erteilen. Die Täuschung, der man hier wieder und wieder unterliegt, entspringt aus der Festigkeit der Dinge, aus der Unabänderlichkeit der Ereignisse. Hineingestellt in eine ungeheure Welt, deren Übermacht unserem Dasein jeden Augenblick ein Ende machen kann, empfinden wir es als eine Anmaßung, wenn dieses kleine Ich, das Bewußtsein eines winzigen Parasiten auf der Oberfläche eines kleinen Planeten, sich selbst zum Schöpfer der Dinge aufblasen will. Aber wir haben schon gesehen, daß es sich hier nicht um ein individuelles menschliches Ich handelt, sondern um jenen Kern des Ich, der bei jedem Gedanken über diese ungeheure Welt als notwendige, logische Voraussetzung mitgesetzt ist. Nun könnte man freilich meinen, daß es genügt, das Ich als passiven Beziehungspunkt vorauszusetzen, auf den jede Erkenntnis gleichmäßig bezogen werden muß, der aber auf den Inhalt der Erkenntnis ohne Einfluß bliebe und daher fortgelassen werden kann. Die Dinge bleiben danach, was sie sind, ob man nun ihre inhaltlich unwesentliche Beziehung zum erkennenden Ich der logischen Vollständigkeit wegen hinzudenkt oder als praktisch gleichgültig fortläßt. Gegen eine solche Auffassung genügt es, die Fragen zu erheben: Was ist ein Ding? und: was ist ein Ding? Für den ganz naiven Menschen ist ein Stein, ein Baum, ein Stock, ein Mensch ein Ding. Was sich fassen läßt, gesonderte Form und Bedeutung und eine gewisse Dauer des Bestandes hat, erscheint ihm dinghaft. Wie schwankend diese Bestimmung ist, kann schon aus der Verlegenheit ersehen werden, in die ihn die Frage bringt, ob eine Wolke ein Ding ist, ob Wasser und das aus diesem Wasser entstandene Eis dasselbe Ding ist, ober der Fluß bei einem fortwährenden Wechsel seines Wassers doch wegen der annähernd gleichen äußeren Form als ein Ding anzusehen ist. In diesen Bedenken haben wir die ersten Ansätze zu den wissenschaftlichen Umgestaltungen des Dingbegriffs, die von den Eleaten und HERAKLIT bis zu den atomistisch oder energetisch gefaßten Erhaltungsgrößen der neueren Naturwissenschaft reichen. So verliert die Dinghaftigkeit ihr scheinbar selbstverständliches Dasein, und als ihr Kern oder doch zumindest als wesentlicher Teil ihres Kerns enthüllt sich die Forderung des Erkennens, in allem Wechsel ein Gleichbleibendes zu finden. Die Abgrenzung des als Einheit erfaßten Dings zeigt sich noch viel deutlicher abhängig nicht nur vom reinen erkennenden Ich, sondern von einem Ich, das durch mannigfache Interessen näher bestimmt ist. Dem Landmann ist der Ochse ein einheitliches Ding, der Hausfrau das Stück Ochsenfleisch, das sie für ihre Küche einkauft. Was wir als ein Ding betrachten, ist im gewöhnlichen Leben von Gesichtspunkten abhängig, die außerhalb des Erkennens liegen. In der Wissenschaft treten an deren Stelle die besonderen wissenschaftlichen Interessen. Der Biologe wird je nach der Richtung seiner besonderen Aufgabe bald das ganze Tier, bald die einzelne Zelle als ein Ding betrachten. Der Chemiker zerstört nicht nur in seiner Retorte, sondern auch in seinen Begriffen die dingliche Einheit der Zelle; ihm ist sie ein komplexes Gebilde, dessen dinghafte Bestandteile, Moleküle und Atome, mehr oder weniger rasch wechseln. Erkannt man so, daß Dingheit und Einheit nur relativ zum besonderen Erkenntniszweck gefaßt werden können, so wird man die Dinge nicht mehr als fertige äußere Gebilde dem erkennenden Ich gegenüberstellen. Sie sind nicht unabhängig von diesem Ich irgendwo da, um sich in ihm abzubilden oder abzuspiegeln, sondern sie sind Dinge nur durch die Arbeit des formenden, erkennenden Ich.

Führen aber nicht diese Betrachtungen zu einem unseren früheren Ergebnissen entgegengesetzten Resultat? Ich hatte das Ich des Erkennens als überindividuelles Ich bestimmt und wollte den Inhalt dieses Ich aus seinen Erzeugnissen zurückgewinnen. Ich erkannte dann Dingheit und Einheit als solche Erzeugnisse, sah aber zugleich, daß die besondere Gestaltung und Erfüllung dieser Begriffe im wirklichen Denken von den individuellen Interessen des einzelnen erkennenden Menschen abhängig ist. So entsteht die Frage, ob diese Formen nicht vielmehr nur dem individuellen Ich angehören. Indessen das individuelle Ich ist ja selbst, wie ich in einem früheren Zusammenhang erinnerte, ein in Bezug auf Abgeschlossenheit und Einheitlichkeit schwankendes Gebilde. Es nimmt Teil an allen Schwierigkeiten des Dingbegriffs, so daß dieser hier jedenfals keine feste Stütze erhalten kann. In der Tat sind Viele heute geneigt, die Subjektivierung des Dings und der konkreten Einheit so fortzuführen, daß jedes absolute Recht diesen Begriffen entzogen wird. Es ist, meinen sie, ein Vorurteil, feste Dinge im Fluß des Geschehens zu suchen; es ist eine bloße Bequemlichkeit, daß wir die unerschöpflichen Vielheiten, um sie im Gedächtnis behalten und überblicken zu können, zu Einheiten zusammenfassen. Demgegenüber läßt sich leicht zeigen, daß ohne irgendwelche bleibend und damit dinglich gedachten Inhalte ein Erkennen überhaupt nicht möglich ist. Löst man, wie manche extreme Sensualisten wollen, das Ich und die Dinge in einzelne Sinnesempfindungen auf, so wandeln sich, mag man sich gegen diese Konsequenz sträuben, so sehr man will, die einzelnen Empfindungen zu letzten Dingen um (8). Dies wird nur dadurch verschleiert, daß sich in den Ausführungen der Sensualisten, sobald Dingbegriffe nötig werden, naturwissenschaftlich gedachte Substanzen an die Stelle der Empfindungen einschieben. Denn auch die quantitativ gedachte Energie ist durch die Annahme, daß sie in allen Wandlungen der Energieform konstant bleibt, wieder verdinglicht. Wollen wir irgendeine Wirklichkeit zum Erkenntnisinhalt machen, so müssen wir sie selbst oder ihre Teile als Einheiten abgrenzen und irgendetwas in ihr als zumindest relativ dauernd, als substanziell bleibend, auffassen. Es ist also kein Erkenntnisinhalt ohne Formen auffaßbar, die doch ihrerseits der Erkenntnisarbeit angehören. Dingheit und Einheit sind nur Beispiele solcher Formen, hier gewählt, weil sich an ihnen das Verhältnis besonders leicht darlegen läßt. Vielleicht hat diese Wahl aber noch nebenher den Nutzen, das Problematische des Dingbegriffs, der von vielen Logikern als einfachster Objektbegriff vorausgesetzt wird, dem Leser gleich hier vorläufig vor Augen zu führen.

Die Formen der Dingheit und Einheit also gehören dem erkennenden Ich an und sind zugleich in jeder Erkenntnis des Wirklichen notwendig vorhanden. Da ich nun das Ich, welches die Voraussetzung allen Erkennens ist, als überindividuelles Ich erwiesen hatte, so müssen diese Formen zu einem überindividuellen Ich gehören. Zumindest aber in der Art, wie gewöhnlich auftreten, sind sie mit einem individuellen Faktor behaftet. Wie es überall das Ziel der erkennenden Menschen ist, sich auf die Stufe des überindividuellen erkennenden Ich zu erheben, so entsteht auch hier die Aufgabe, jene notwendigen Formen von dem, was individuell an ihnen ist, zu befreien. An dieser Stelle kann noch nicht streng abgeleitet werden, wie das geschieht. Nur auf ein wichtiges Mittel sei hier noch hingewiesen, damit doch Möglichkeit und Sinn des Gesagten faßbar wird. Wenn es von den besonderen Gesichtspunkten des Erkenntniszusammenhangs abhängt, was als Ding und was als ein Ding gefaßt werden muß, so gehört eben die Einsicht in diesen Zusammenhang zur richtigen Abgrenzung des betreffenden Dings. Es gibt Pflanzen, wie z. B. die Wasserpest und gewisse Weidenarten, die in Europa nur in Exemplaren eines Geschlechts eingeschleppt sind, sich dann durch Knospen oder Stecklinge massenhaft vermehrt haben, ohne daß je ein Samen erzeugt worden wäre. In einer gewissen Hinsicht gehören diese unzähligen Pflanzen einem oder wenigen Individuen an; wenn man nämlich, wie die Lehre von der Vererbung das muß, ein neues Individuum nur dort sieht, wie die eigentümlichen Vorgänge der Bildung eines neuen Keims dazwischentreten. Unter dem Gesichtspunkt der Ernährungsphysiologie ist aber natürlich jedes Exemplar, das für sich besteht, auch ein eigenes Individuum. Kein moderner Naturforscher wird an dieser Verschiedenheit Anstoß nehmen oder hier eine schädliche Subjektivität wittern. Der Gesichtspunkt, unter dem die Abgrenzung so oder so erfolgt, ist ja völlig deutlich und jederzeit hinzuzudenken. Wie bei der Selbsterkenntnis die subjektiven Faktoren des Vorstellungslebens objektiviert werden, sobald ihre Stellung in einem subjektiven Zusammenhang erkannt ist, so verliert das Relative auch hier seine Schädlichkeit, sobald der Zusammenhang mitgedacht und klargestellt ist, zu dem es relativ ist. Wie gesagt, ist dies nur ein, nicht das einzige Mittel, die Erkenntnisformen von ihrem individuellen Erdenrest zu reinigen. Es ist aber hier noch nicht möglich, den Inhalt des überindividuellen Ich wirklich darzulegen; nur das mußte gezeigt werden, daß dieser Begriff einen Inhalt hat. Als diesen Inhalt, als den aktiven Kern des überindividuellen, erkennenden Ich zeigten sich mir die notwendigen Formen meiner eigenen Erkenntnis. Diese innige Beziehung des überindividuellen Ich zur Erkenntnisarbeit folgt aus der ganzen Betrachtung, der ich jenen Begriff verdanke. Ich ging ja davon aus, daß eine Wahrheit, sofern und soweit sie wahr ist, in ihrer Geltung und folglich auch in ihrem Inhalt von den individuellen Bedingungen des einzelnen, erkennenden Menschen unabhängig sein muß. Sofern und soweit ein jeder rein erkennt, erhebt er sich damit selbst auf den Standpunkt eines überindividuellen Ich. Das überindividuelle Ich ist sonach ein echter Zielbegriff; es ist stets soweit verwirklicht, wie wahres Erkennen vorliegt. Ohne daß ich hier schon imstande wäre, den Begriff der Wissenschaft wirklich klarzustellen, kann doch darauf hingewiesen werden, daß wissenschaftliche Arbeit überall den Weg vom individuellen zum überindividuellen Ich darstellt.

Ich fasse das Resultat meiner Untersuchungen über den Inhalt des überindividuellen, erkennenden Ich nochmals kurz zusammen. Diese Ich ist kein bloßer, toter Bezugspunkt der Erkenntnisse, vielmehr sind jene auch ihrem Inhalt nach von ihm abhängig. Dem überindividuellen Ich gehören alle Formen an, ohne die kein Erkenntnisinhalt bestehen kann, und als deren Beispiele ich Dingheit und Einheit betrachtet habe. Im gewöhnlichen Erkennen treten diese Formen durch Bestandteile des individuellen Ich verunreinigt auf. Ihre Befreiung von diesen Bestandteilen ist die Erkenntnisaufgabe. Soweit wir diese Aufgabe lösen, werden wir selbst ein überindividuelles Ich. Dies zeigt sich also als echtes, zumindest partiell erreichbares Ziel (9).
LITERATUR Jonas Cohn, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens, Leipzig 1908
    Anmerkungen
    5) Vgl. z. B. Meynert: "Das Zusammenwirken der Gehirnteile", Sonderabdruck aus den Verhandlungen des X. internat. med. Kongr., Berlin 1890, Seite 16. Es kommt hier nicht in Betracht, daß Meynert von physiologischen Erwägungen ausgeht; gerade die Unterscheidung, auf die hier angespielt wird, ist auch bei ihm psychologisch begründet. Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß die Unterscheidung von Schichten im Ich nichts zu tun hat mit der Auflösung des Ich in ein Bündel von Vorstellungen. Die Frage wie sich die einzelnen Schichten auf ein Zentrum beziehen, bleibt hier ganz unerörtert.
    6) Benno Erdmanns Ausdrucksweise (Logik I, Seite 11), daß die Urteile der Selbstwahrnehmung nur subjektive Geltung beanspruchen, ist danach zu beanstanden. Ein Urteil wie "mein stilles formuliertes Denken ist ein inneres Hören" schränkt seine Geltung auf ein Individuum ein, fordert aber durchaus, innerhalb dieses Geltungsbereiches von jedem Individuum anerkannt zu werden.
    7) Vgl. Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, zweite Auflage, besonders Seite 23f. Lipps: Inhalt und Gegenstand, Psychologie und Logik, Sitzungsberichte der philosophisch-philologischen und historischen Klasse der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1905, Seite 544
    8) So ist es z. B. bei Mach, wie Bernhard Hell: Ernst Machs Philosophie, Stuttgart 1907, Seite 26f nachweist.
    9) Zum Satz der Immanenz vgl. noch Max Frischeisen-Köhler: Über den Begriff und Satz des Bewußtseins, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 31, Seite 145-201, 1907.