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JONAS COHN
(1869-1947)
Voraussetzungen und
Ziele des Erkennens

[Untersuchungen über die Grundlagen der Logik]
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"Einst suchte man ein Wesen hinter den Dingen, heute begnügt man sich, wenn man die Dinge selbst kennt. Gerade aus dieser anti-metaphysischen Stimmung heraus haben auch Logiker sich diese Ansicht zu eigen gemacht. Richtig ist eine Erkenntnis, so hört man wohl, wenn sie die Dinge wiedergibt, wie sie sind."

"Ein allseitig auffassendes Subjekt würde an jedem Ding und jedem Vorgang Unzähliges konstatieren; man würde auf diese Weise niemals mit der Erkenntnis irgendeines Stücks dieser Welt zu Ende kommen können."


Erster Teil
Die Voraussetzungen des Erkennens

Es ist hier meine Absicht, die entscheidenden Grundsätze zu gewinnen, die meine weitere Arbeit leiten sollen. Ich werde dabei, ohne mich an irgendein vorliegendes System anzuschließen, überall von einer möglichst einfachen und unmittelbaren Auffassung der Probleme selbst ausgehen, damit der Wert und Sinn dieser Sätze völlig klar wird. Das bedeutet natürlich nicht, daß ich die Hilfe der großen Arbeit älterer und neuerer Denker verschmähen, sondern nur, daß ich auch das von ihnen Gefundene selbständig neu zu erzeugen suche. Bei einem solchen Mangel an Einheit auch und gerade über die ersten Voraussetzungen führt dieser Weg rascher zum Ziel als eine Auseinandersetzung mit den Vorgängern. Wo sich mir im Laufe meiner Untersuchung eine Hilfe darbietet, werde ich sie natürlich dankbar benutzen.

Meine Methode ist in diesem ersten Teil analytisch oder regressiv. Vom Erkennen im Allgemeinen und seiner Stellung zum erkennenden Ich gehen ich aus, da die Auffassung dieses Grundverhältnisses entscheidend für alles andere ist. Die eigentlich logischen Grundsätze aber lassen sich nicht vom Erkenntnisganzen, sondern nur von der einfachsten vollständigen Erkenntnis, d. h. von einem Urteil her gewinnen. Die Analyse des Urteils ist daher Aufgabe des zweiten Kapitels. Endlich bedarf unter den Bestandteilen des Urteils die Relation einer besonderen Behandlung, weil von ihr aus die Notwendigkeit eines Systems von Urteilen als Erkenntnisziel erweisbar und auch die Art eines solchen Systems verständlich ist. So verengt sich von Kapitel zu Kapitel das Untersuchungsgebiet. Dabei schließt aber jedes Kapitel mit Sätzen von vollständiger Bedeutung ab.



Kapitel I.
Das erkennende Ich

§1.Der Satz der Immanenz. Schon die Formulierung meiner Aufgabe faßt das Erkennen als Ziel und setzt somit ein Ich voraus, dem es Ziel ist. In diesem Sinn ist im Erkennen ein Ich unzweifelhaft mitgesetzt. Aber bleibt im Ziel selbst, im vollendeten Erkennen, noch dieses Ich wesentlich, oder ist es nicht vielmehr hier gleichsam ausgelöscht, um einem rein objektiven Zusammenhang Platz zu machen? Diese Frage ist keineswegs abzuweisen mit dem einfachen Hinweis darauf, daß "Objekt" ein Relationsbegriff und ohne zugehöriges Subjekt undenkbar ist. Denn man könnte dieser Folgerung durch eine einfache Änderung der Terminologie zu entgehen suchen und etwa statt von einem Objekt von "Sachen" als von Erkenntniszielen reden.

Also ist eine besondere Untersuchung nötig, um herauszufinden, ob und wie noch der Gegenstand des vollendeten Erkennens (nicht nur das Erkenntnisstreben) vom Ich abhängig ist. Diese Untersuchung geht vom Ziel aus, aber nur um die Voraussetzungen zu finden, die in diesem Ziel stecken. Da nun hier eine exakte Formulierung des Zieles natürlich noch nicht vorhanden ist, so müssen wir an irgendeine vorläufige anknüpfen, und wir wählen zu diesem Zweck eine besonders auch außerhalb der philosophisch interessierten Kreise weit verbreitete Ansicht, die einer sachlichen Abhängigkeit des Erkennens vom Ich möglichst feindlich gegenübersteht.

Fragt man heute den Vertreter irgendeiner Natur- oder Geschichtswissenschaft, was er mit seiner Arbeit eigentlich bezweckt, so wird die Antwort in den meisten Fällen etwa lauten: er wolle die Gegenstände seiner Wissenschaft erkennen, wie sie sind. Es liegt in dieser Antwort ein polemisches Moment. Einst suchte man ein "Wesen" "hinter" den Dingen, heute begnügt man sich, wenn man die Dinge selbst kennt. Gerade aus dieser anti-metaphysischen Stimmung heraus haben auch Logiker sich diese Ansicht zu eigen gemacht. Richtig ist eine Erkenntnis, so hört man wohl, wenn sie die Dinge wiedergibt, wie sie sind. Einfache Beispiele scheinen eine solche Auffassung zu unterstützen. Es ist eine Erkenntnis, wenn das Kind durch vergebliches Ausstrecken der Hände eingesehen hat, daß sich der Mond nicht greifen läßt, oder beim Fahren in einem Kahn, daß nicht das Ufer, sondern der Kahn sich bewegt. Das zweite Beispiel führt uns hinüber auf die wichtigste alle astronomischen Entdeckungen, auf die Überwindung des geozentrischen Weltsystems durch KOPERNIKUS, und wie hier, so scheint überall in der Naturwissenschaft all den mannigfaltigen Bemühungen der Forscher der Zweck vorzuschweben, die gewöhnlichen Kenntnisse von den Dingen vom Schein zu befreien und über die Grenzen des zufälligen subjektiven Erlebens hinaus zu bereichern. Auch der kritische Historike sucht durch alle Trübungen der Quellen hindurch zu blicken, damit sich seinem Geist die Ereignisse der Vergangenheit darstellen, "wie sie eigentlich gewesen sind".

Die Scheinbarkeit dieser Ansicht enthebt den Logiker nicht der Pflicht, sie näher zu prüfen. Eines stellt sich ja, so wie man sich diese erste Zielbestimmung des Erkennens ansieht, deutlich heraus: Sie ist nicht vollständig. Wenn ich sage, ich will die Dinge erkennen, wie sie sind, so schließt dies ein, daß ich ohne besondere Arbeit eine solche Erkenntnis nicht habe. Den Dingen, wie sie sind, treten also irgend welche unreine Spiegelungen, Abbilder, Erscheinungen oder wie man auch immer will der Dinge gegenüber, die erst von fremden Bestandteilen gereinigt werden müssen. Diese fremden Bestandteile können, da sie nicht den Dingen entstammen, nur irgendwelche Täuschungen unserer ersten Ansicht der Dinge sein, Idole im Sinne BACONs. Die Fehlerquellen, die beseitigt werden müssen, liegen also irgendwie in unserem Ich. Wenn man hinzufügt, daß auch der beschränkte Umfang unseres Wissens von der besonderen Stellung des Ich zu den Dingen herrührt, so wird leicht zugegeben werden, daß sich unserer ersten Formel die erweiterte Gestalt geben läßt: Die Dinge erkennen, wie sie sind, unabhängig von den Zutaten, Verschiebungen und Weglassungen, die unser Ich an ihnen verschuldet. Es wird auf diese Weise deutlich, daß hier zweierlei vorausgesetzt ist: erkennbare Dinge unabhängig vom Ich und ein Ich, das zunächst diese Dinge nur unte verfälschenden subjektiven Zutaten kennenlernt. Das Endziel der so erfaßten Erkenntnisarbeit wäre dann eine dem Umfang nach vollständige, dem Inhalt nach von subjektiven Zutaten gereinigte Welterkenntnis. Unter Welt ist dabei der Inbegriff all dessen verstanden, was vorher "Dinge" genannt wurde. Die Einführung dieses Inbegriffs rechtfertigt sich unter der weiteren Voraussetzung, daß die Dinge nicht isoliert voneinander bestehen, sondern nur in ihren gegenseitigen Beziehungen ein Dasein haben und erkannt werden können. Diese Voraussetzung wird von den Vertretern der erörterten Ansicht leicht zugegeben werden.

Um die Ansicht nachzuprüfen, daß Erkennen eine Erfassung des Wirklichen unter Ausschaltung der Zutaten des erlebenden Ich ist, wird es nötig sein, die einzelnen Fälle, die diese Formel zusammenfaß, nacheinander zu analysieren. Man wird sich dabei auf einige Hauptklassen beschränken dürfen, deren Untersuchung bereits die wichtigsten Gesichtspunkte der Kritik ergibt. Diese Hauptklassen verhalten sich zueinander wie verschiedene Stufen der Eliminierung des Subjektiven. Es bedeutet ja augenscheinlich wesentlich mehr, wenn die Naturforschung Farben und Töne als subjektiv bezeichnet, als wenn etwa ein Richter aus den von individuellen Affekten und Beobachtungsfehlern entstellten Zeugenaussagen eine objektive Erkenntnis des Tatbestandes herausschälen will. Ich beginne mit einem Fall dieser zweiten Art und nehme, um das Beispiel einfach und lehrreich zu gestalten, an, daß ich den wirklichen Sachverhalt eines Ereignisses feststellen will, dessen Zeuge ich selbst war. Ich nehme weiter an, daß dieses Ereignis außer mir noch andere Zeugen gehabt und irgendwelche zur Zeit der Feststellung noch vorhandene objektive Spuren zurückgelassen hat. Ausgehen will ich von der Prüfung dessen, was ich selbst erlebt habe. Ich bin z. B. vorübergegangen, während ein Wagen einen Fußgänger überfuhr und suche nun in der Erinnerung festzustellen, was ich eigentlich erlebt habe. Dabei steht meine kritische Prüfung im Gegensatz zum Verfahren dessen, der zu künstlerischen Zwecken oder um eine Unterhaltung zu beleben, eine möglichst anschauliche, eindrucksvolle Darstellung erstrebt. Ich schalte umgekehrt vor allem meine Gefühle möglichst aus und entferne gleich bei der ersten Prüfung der eigenen Erinnerung alles, was die nachträgliche Verarbeitung und der Affekt dem Erlebten hinzugetan haben, suche aber dann möglichst vollständig all die Züge aufzufinden, die bei größter Anstrenung noch irgendwie festgehalten werden können. Ohne auf all die Schwierigkeiten einzugehen, die die neuere Psychologie in diesem Vorgang erkannt hat, nehme ich an, daß es gelungen ist, das eigene Erlebnis in seinen Hauptzügen wieder herzustellen. Nun zeigt aber diese Darstellung Lücken, sie zeigt auch Widersprüche den objektiven Spuren des Ereignisses gegenüber oder gegen die Darstellung der anderen Zeugen, von der ich einmal annehme, daß sie demselben Reinigungsprozeß wie meine eigene Aussage unterworfen worden ist. Die Fehler erklären sich aus dem Standpunkt meiner Beobachtung, aus Sinnestäuschungen, Einseitigkeiten der Auffassung oder ähnlichen Gründen. Sie werden als wirklich aufgeklärt nur dann angesehen werden können, wenn die Ursache des Zustandekommens erkannt ist. Die Lücken erklären sich vor allem aus der Unmöglichkeit, alle Seinten eines Vorgangs gleichzeitig aufmerksam aufzufassen und alles Aufgefaßte im Gedächtnis zu behalten. Nehmen wir nun an, es sei mit Hilfe der noch vorhandenen Spuren der verschiedenen Zeugenaussagen gelungen, eine vollständige, objektive Darstellung des Ereignisses zu geben. Wie kann man das Ziel dieser Bemühungen im Vergleich zu den Ausgangspunkten genau bestimmen? Was hier an Subjektivitäten beseitigt wurde, sind zum Teil Einflüsse der nicht erkennenden Interessen des erlebenden Individuums auf seine Erlebnisse, zum Teil Fehler und Lücken, die aus der Stellung zum Erlebnis, der Richtung der Aufmerksamkeit usw. hervorgehen. Was wir erhalten, ist eine Darstellung des Ereignisses, wie es unter ideal günstigen Bedingungen erlebt werden könnte. Da ist kein Zug, der sich von der sinnlichen Wirklichkeit entfernt. Ich kann also sagen: Das Ziel eines solchen Erkenntnisvorgangs ist, das Ereignis so darzustellen, wie es durch ein rein theoretisches menschliches Individuum, das zu jeder Phase die günstigste Stellung eingenommen und mit allseitiger Aufmerksamkeit erlebt hat, wahrgenommen wäre.

Auf der bisher erreichten Stufe des Erkennens ist also das individuelle, von seinen Gefühlen beeinflußte, nur ein wenig von einem beschränkten Standpunkt aus erlebende Ich ersetzt durch ein normales, menschliches Ich, das vollständig und rein intellektuell erlebt. Der Zusatz "menschlich" ist keineswegs überflüssig, wie eine vorgreifende Vergleichung mit der Erkenntnisart der Naturwissenschaften lehrt. Dort wird eine objektive Welt konstruiert, in der es weder Farben noch Töne gibt, die also, man mag sie sonst denken, wie man will, jedenfalls so, wie sie ist, von einem menschlichen Individuum nicht mehr erlebt werden könnte. Hier ist davon noch nicht die Rede. Die objektiv erkannten Ereignisse dieser Erkenntnisstufe sind mögliche, menschliche Erlebnisse. Fragen wir nun, was als gültig vorausgesetzt werden muß, damit eine Erkenntnis dieser Art möglich ist, so erscheint es leichter, mit der Aufzählung dieser Voraussetzungen anzufangen, als aufzuhören. Es handelt sich an dieser Stelle auch keineswegs um eine vollständige Aufzählung all dessen, was in dem eben abgeleiteten Erkenntnisziel implizit mitbehauptet ist, sondern lediglich um die Heraushebung einiger Hauptgruppen dieser Voraussetzungen. Augenscheinlich muß es mehrere menschliche Individuen in einer ihnen gemeinsamen Welt geben, damit es überhaupt Sinn hat, sich auf den Standpunkt eines vollständig und rein theoretisch erlebenden Menschen zu stellen. Weiter aber wird vorausgesetzt, daß ungeachtet ihrer Verschiedenheit die verschiedenen Menschen eine gemeinsame Art des Erlebens haben. Analysiert man diese letzte Behauptung näher, so ergibt sich, daß sie zweierlei einschließt. Einmal wird angenommen, daß die sinnliche Erregbarkeit gemeinsame Grundzüge aufweist. In der Empfindung ist der Mensch passiv. Hier fühlt er sich als abhängig von einer fremden Objektivität. Wenn es sich also um die Herausarbeitung der objektiven Ereignisse und Dinge handelt, so scheint überall an die Empfindung angeknüpft werden zu müssen. Aber die Gleichheit der Empfindungen verschiedener Menschen bei derselben objektiven Veranlassung ist höchst problematisch. Sie wird freilich bei jeder Demonstration, bei jedem "sieh da" oder "höre" vorausgesetzt. Aber mannigfaltige Erfahrungen beweisen, daß selbst nach der Beseitigung des verschiedenen Standpunktes der Erlebenden noch Verschiedenheiten der sinnlichen Auffassung übrig bleiben. Für viele praktische Zwecke genügt es, einen Menschen von normaler sinnlicher Empfänglichkeit, der also nicht schwerhörig, farbenblind usw. ist, vorauszusetzen. Der Erfolg beweist, daß damit eine, für die meisten Aufgaben des gewöhnlichen Lebens ausreichende Gleichheit erzielt ist. Aber es bleibt dabei augenscheinlich ein Problem zurück, das bei der Ausbildung der naturwissenschaftlichen Weltauffassung als Anreiz mitgewirkt hat.

Die Gemeinsamkeit der sinnlichen Organisation genügt aber nicht. Bei der Beschreibung des Vorgehens auf dieser Erkenntnisstufe hat sich gezeigt, daß mit den Erlebnissen und ihren Erinnerungen eine kritische Sichtung vorgenommen wird. Soll das Ergebnis dieser Kritik für alle bindend sein, so müssen ihre Grundsätze für alle gemeinsam gelten. Wenn zwei Zeugen von demselben Ding zwei einander ausschließende Eigenschaften, z. B. zwei verschiedene gleichzeitige Farben an derselben räumlichen Stellen behaupten, so muß eine von beiden Behauptungen falsch sein. Grundsätze dieser Form werden fortwährend angewendet: ihre Gültigkeit ist also Voraussetzung. Gewisse Grundsätze dieser kritischen Erkenntnisarbeit sind eigentlich nie im Ernst von einem Menschen angezweifelt worden, während allerdings über ihre besonderen Anwendungen Streit möglich ist. Aber auch dieser Streit kann immer nur mit Hilfe der letzten Gesetze des Erkennens entschieden werden, setzt diese also voraus. Die Gemeinsamkeit, die auf dem Gebiet der Empfindung so problematisch ist, scheint also hier sichergestellt zu sein. Aber diese Gemeinsamkeit betrifft nun gerade nicht das, was passiv vom erkennenden Ich hingenommen wird, sondern die Grundsätze der Arbeit dieses erkennenden Ich selbst. Von den beiden geforderten Eigenschaften des Erkennens, der Objektivität und der Gemeinsamkeit, scheint also die erste den sinnlichen Empfindungen, die zweite der kritischen Arbeit des Denkens zuzukommen. Dieses Verhältnis ist einer der Gründe für das Aufkommen entgegengesetzter Erkenntnistheorie. Die volle Bedeutung dieses Verhältnisses wird uns erst klar, wenn wir beachten, daß die Gültigkeit der Denkgrundsätze nicht nur im Denken, sondern in der gemeinsamen Welt vorausgesetzt wird. Wenn z. B. das Kausalgesetz nicht gelten würde, wäre von keinem auch noch so einfachen Ereignis eine objektive Erkenntnis zu gewinnen. Es gehen die Grundsätze des Erkennens in die gemeinsame Welt ein. Diese gemeinsame Welt gewinnt dabei eine eigentümliche Doppelstellung zur Erkenntnisarbeit. Sie ist einerseits Voraussetzung, sofern ohne ihre Existenz das Absehen vom Individuellen des einzelnen Subjekts keinen Sinn hätte, andererseits ist sie Ziel, d. h. für uns nirgends vor der Erkenntnisarbeit vorhanden, sondern überall erst durch diese Arbeit zu gewinnen. Geht man diesen Verhältnissen weiter nach, so zeigt sich, daß meine erste Erkenntnisstufe überall über sich selbst hinausweist. Die Grundsätze der Prüfung, wie sie gewöhnlich verwendet werden, vertragen keine strenge Formulierung. Wir nehmen Dinge an, die sich gleich bleiben; aber der Baum verliert seine Blätter, das Holz wird morsch, der Fels zerbröckelt. Wir nehmen an, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, aber unter welchen Bedingungen dürfen wir zwei Ursachen gleich nennen? Augenscheinlich arbeiten wir gewöhnlich mit unexakten, ungenau festgestellten Erkenntnismitteln, deren Genauigkeit für viele Fälle genügt, oft aber schon für die Zwecke des praktischen Lebens nicht mehr ausreicht.

Daß die Erkenntnis dieser Stufe nichts Endgültiges ist, läßt sich aus der Formulierung ihres Erkenntniszieles noch auf andere Weise ableiten. Es war hier ein allseitig auffassendes Subjekt vorausgesetzt. Eine solche allseitige Auffassung aber würde an jedem Ding und jedem Vorgang Unzähliges konstatieren; man würde auf diese Weise niemals mit der Erkenntnis irgendeines Stücks dieser Welt zu Ende kommen können. Praktisch verhält es sich hier so, daß anstelle der zufälligen Beschränktheit des auffassenden Individuums der besondere Zweck des Erkennens die Auswahl übernimmt. Wenn es sich z. B. um einen Fall von Überfahren handelt, sucht man jeden Zug im Verhalten des Kutschers, der für die Beurteilung seiner Sorgsamkeit oder Achtlosigkeit wichtig ist, festzustellen. Welche Lichtstrahlen aber im entscheidenden Moment auf sein Beinkleid fielen, erscheint gleichgültig. Ebenso werden dem Erkennen fremde Zwecke festgestellt, welche Grenzen das jeweils zu erkennende Ereignis hat. Denn bei der Verbindung aller Dinge miteinander würde man sonst jedesmal ins Endlose fortschreiten müssen. Wird also hier überall Auswahl und Abgrenzung durch erkenntnisfremde Motive bewirkt, so muß, falls es ein reines Erkennen gibt, in diesem ein neues Auswahlprinzip eintreten. In der Tat ist in den Wissenschaften, die, was die Ausschaltung des Subjektiven betrifft, auf dieser Stufe stehen bleiben, in den historischen Disziplinen, das Auswahlprinzip das eigentliche methodologische Problem. Da ich es hier noch nicht mit den einzelnen Wissenschaften als solchen, sondern mit der Stellung des Erkennens zur objektiven Welt zu tun haben, muß ich diese Fragen beiseite lassen. Erst später kann gezeigt werden, daß das Stehenbleiben auf der Stufe des gewöhnlichen Lebens durchaus nicht nur Verlust, sondern gleichzeitig reichen Gewinn bringt.

Dagegen muß ein Blick auf das Verfahren der Naturwissenschaften geworfen werden, sofern diese in der Ausschaltung des Subjektiven eine prinzipiell fortgeschrittenere Stellung einnehmen als das bisher betrachtete gewöhnliche Erkennen eines einzelnen Ereignisses. Unter Weglassung aller Zwischenstufen, die in biologischen, chemischen und anderen speziellen Naturwissenschaften, sei es dauernd, sei es bei einem bestimmten Stand der Forschung eingenommen werden müssen, stelle ich mich hier sogleich auf den Standpunkt der theoretisch fortgeschrittensten Wissenschaft, der allgemeinen Physik. Ihre Konstruktion der Welt weiß nichts mehr von den Verschiedenheiten der sinnlichen Qualitäten. Die Ausschaltung mag im frühesten Entwurf einer solchen Theorie von dem Motiv geleitet gewesen sein, die Verschiedenheit der menschlichen Auffassungen radikal zu beseitigen. In späteren Stadien der Wissenschaft ist die Hauptabsicht eine andere. Es handelt sich dann wesentlich darum, alle Änderungen der Welt durch das Denken zu beherrschen, alle Verschiedenheiten also auf solche zurückzuführen, die nicht einfach hingenommen zu werden brauchen, sondern die aneinander gemessen werden können und dadurch die Möglichkeit haben, zueinander in berechenbare Verhältnisse zu treten. Diese Quantifizierung der Welt behält an sinnlichen Elementen höchstens das Minimum bei, das ihren Quantitäten einen Inhalt gibt und ihre Zahlen zu benannten Zahlen macht. Es ist dabei für meine Betrachtung gleichgültig, ob die letzte Naturwissenschaft als Mechanik oder ob sie als allgemeine Energetik gedacht wird; denn die genannten, für mich alleich wichtigen Züge sind beiden gemeinsam. Beide verzichten in ihren Resultaten auf Erlebbarkeit. Wenn man glaubt, sich die Welt der letzten Naturwissenschaft erlebbar machen zu können, so täuscht man sich. Man setzt dabei etwa anstelle der Atome, die durch lauter quantitative Beziehungen charakterisiert sind, kleine graue Steinchen, die wie die Sonnenstäubchen im Raum herumtanzen, oder man ersetzt die Energie, diesen streng quantitativ definierten Allgemeinbegriff durch Vorstellungen des eigenen Wirkens und des erlittenen Widerstrebens (1). Die Frage, welche Reste der Empfindungen sich auch in diesen letzten Abstraktionen notwendig noch finden, wird mich an einer späteren Stelle noch zu beschäftigen haben. In diesem Zusammenhang genügt es, zu konstatieren, daß diese Reste, welches immer auch ihre Bedeutung sein mag, nicht dazu genügen, noch überhaupt die Bestimmung haben, die Konstruktionen dieser letzten Theorie erlebbar zu machen. Wenn hier also ein Verzicht geleistet wird, so steht dieser im Dienst einer anderen Aufgabe: die Welt soll durch das Denken beherrschbar gemacht werden. Jene Formen des Erkennens, die mir schon bei der kritischen Arbeit der gewöhnlichen Erkenntnis entgegengetreten sind, haben sich hier von fremden Zutaten gereinigt und zu Alleinherrschern gemacht. Damit ist aber auch diese Stufe der Erkenntnis in Abhängigkeit geblieben vom aktiven Kern des Ich, dem diese Erkenntnisfunktionen angehören. Vielleicht kann das durch nichts deutlicher gemacht werden als durch den Nachweis, daß in verschiedenen philosophischen Systemen der Erkenntniswert der letzten naturwissenschaftlichen Konstruktion von der Leistung abhängt, die man den rationalen Formen zutraut. Der alte ontologische Rationalismus nach dessen Überzeugung klare und deutliche Erkennbarkeit für die Realität des Erkannten ein gültiges Zeugnis ablegt, glaubt in der mechanischen Physik eine Erkenntnis des wahrhaft Wirklichen an der Körperwelt zu besitzen (2). Bei KANT, dem alle Notwendigkeit von den Kategorien des Denkens abhängt, und der den Kategorien eine Bedeutung außerhalb der Erscheinungswelt bestreitet, wird die Natur der Naturwissenschaft die notwendige Erkenntnis dieser Erscheinungswelt. Der Sensualismus, der eine besondere Erkenntnisbedeutung der Vernunftformen überhaupt bestreitet, kann in der naturwissenschaftlichen Umformung der Welt nur noch eine Abreviatur [Abkürzung - wp] für die Verhältnisse der Sinnesempfindungen sehen, ein Zeichensystem, das uns eine bequeme Übersicht über die Zusammenhänge der Empfindungen gestattet und so die Ökonomie des Denkens fördert.

Ich habe also erkannt, daß eine wirklich vollständigere Ausschaltung des Ich auf keiner Stufe des Erkennens möglich ist. Denn was von den extremen Formen gilt, muß auch für die zwischen ihnen vorhandenen Übergänge richtig sein. Zugleich aber habe ich gesehen, daß die Elemente des Ich, die in die Erkenntnis eingehen, sehr verschieden sein können, und daß diese Verschiedenheit für die Feststellung der Erkenntnisaufgabe auf den verschiedenen Stufen des Erkennens von entscheidender Bedeutung sist. Hier hat die weitere Untersuchung einzusetzen.

Man hat die oben abgeleitete Einsicht als Satz der Immanenz bezeichnet und sie für etwas ganz Selbstverständliches, aus den bloßen Worten Erkennbares ausgegeben. Man gibt dem Satz dann etwa die Form: Kein Objekt ohne Subjekt. Es liegt, das will man mit dieser Fassung andeuten, im Begriff des Objekts, Objekt eines Subjekts zu sein; aber dieser Satz würde für sich in der Tat keine größere Tragweite haben, als der ihm von SIGWART parodistisch entgegengestellte: ein Reiter kann nicht zu Fuß gehen (3). Wie das in seinem Verhältnis zum Pferd als Reiter bezeichnete Wesen ohne Rücksicht auf das Pferd zwar nicht als Reiter, aber doch als Mensch zu Fuß gehen kann, so könnte, was in Relation zu einem Subjekt Objekt ist, doch abgesehen von dieser Relation (als Ding-ansich) existieren und erkannt werden. Es ist auch genügend, zu sagen: Erkennen ist unmöglich, ohne daß ein erkennendes Subjekt da ist. Das ist selbstverständlich - deshalb aber könnte doch der Erkenntnisinhalt unabhängig vom Subjekt sein. Eben auf die Abhängigkeit des Inhalts kommt es aber an. In Wahrheit richtet sich dieser Einwurf nur gegen eine äußerliche Fassung und Beweisführung des Satzes der Immanenz. Dieser Satz, richtig ausgesprochen, besagt, daß alles, was erkannt werden soll, unter den Bedingungen der Erkenntnisformen stehen muß. Sofern diese Formen als Betätigungen des erkennenden Ich gefaßt werden, kann man stattdessen auch sagen: Alles zu Erkennende und alles Erkannte steht unter den Bedingungen des erkennenden Ich. Man sieht, daß es nicht überflüssig war, durch eine Art von indirekter Beweisführung den Satz der Immanenz abzuleiten. Es ist auf diese Weise von vornherein klar geworden, daß wir es hier nicht mit leeren Spielereien einer tautologischen Worterklärung, sondern mit einem inhaltvollen und folgenreichen Satz zu tun haben. Seine ganze Tragweite wird sich uns freilich erst offenbaren, wenn wir durch die Analyse der einzelnen Erkenntnis (des Urteils) ihm einen strengeren Beweis und genaueren Sinn gegeben haben. (4)

Hier sind jedoch sogleich noch einige Mißverständnisse fernzuhalten, die schon oft die Denker vom richtigen Ausgangspunkt aus auf falsche Fährten gelockt haben. Wenn man sagt, alles Erkannte steht unter den Bedingungen des Erkennens, so ist damit nicht gemeint, daß es vom Erkennen hervorgebracht, Erzeugnis eines schöpferischen Ich ist. Durch die Verwechslung dieser beiden Sätze hat man wohl von der kantischen Philosophie her einen Zugang zu einem neuen Rationalismus gewinnen wollen; mit der Abweisung der falschen Gleichsetzung ist dieser Rationalismus noch nicht widerlegt, sondern ihm nur ein Scheinbeweis abgeschnitten. Einen anderen Irrtum begeht man zuweilen, wenn man dem Satz der Immanenz die Auslegung gibt, es müsse bei jedem Gedanken das "Ich denke" tatsächlich mitgedacht werden. Man macht auf diese Weise Gegnern die Widerlegung außerordentlich leicht. Es gehört nicht viel psychologische Weisheit dazu, um diese psychologistische Form dieses Satzes zurückzuweisen. Je mehr ich mit allen meinen Interessen auf das Gedachte gerichtet bind, umso weniger denke ich an mich, den Denkenden. Wer beim Lösen einer mathematischen Aufgabe oder bei der Vorbereitung eines Experiments sich seines Denkens immer bewußt wäre, würde nicht viele erreichen. Nur ist mit all dem nicht der Satz der Immanenz zurückgewiesen, sondern gegen einen falschen psychologischen Satz gekämpft, der sich zu Unrecht für den Satz der Immanenz ausgibt. Dieser spricht in Wahrheit aus, daß die Formen des Erkennens notwendige Voraussetzungen alles Erkannten sind. Im Erkannten mögen sie latent bleiben oder sich irgendwie verstecken, eine Besinnung auf die Bedingungen der Gültigkeit einer Erkenntnis wird sie stets ans Licht ziehen.

Ich bin zu dem Resualtat gekomen, daß die erste Bestimmung des Erkenntnisziels unhaltbar ist. Aber bei der Betrachtung des Erkenntnisverfahrens haben wir gesehen, daß doch eine Ausschaltung des Subjektiven im Erkennen stattfindet. Indem dieser Satz mit dem Satz der Immanenz zusammengehalten wird, entsteht das Bedürfnis, beide zu vereinigen. Da sie sich widersprechen, wenn man ihnen die Form gibt: "Alles Erkannte bleibt vom Ich abhängig" und "Erkennen heißt, die Dinge denke, wie sie unabhängig vom Ich sind", so muß in diesen Formen ein Fehler liegen. Dieser Fehler kann nur den Begriff betreffen, der in beiden eine widersprechende Rolle spielt, den Begriff "Ich". Während wir bisher das Ich als Bedingung des Erkennens erweisen, aber den Inhalt des Ich ununtersucht gelassen haben, werden wir nun zur Analyse des erkennenden Ich mit Notwendigkeit getrieben.
LITERATUR Jonas Cohn, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens, Leipzig 1908
    Anmerkungen
    1) Die Nichterlebbarkeit der letzten Voraussetzungen der Naturwissenschaft, die also in diesem, wenn auch nicht in jedem Sinn des Wortes, "unanschaulich" sind, darf heute als anerkannt gelten. Denker verschiedenster Richtung sind in diesem Punkt einig. Man vergleiche beispielsweise: Wilhelm Wundt, Über die Definition der Psychologie, Philosophische Studien 12, Seite 24 (1896). Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1902, Seite 93f.
    2) Leibniz allerdings identifiziert die mechanisch erfaßte Körperwelt nicht mit der wahren Wirklichkeit - der Raum ist ihm ja nur phaenomenon bene fundatum - aber auch bei ihm steht sie der warhen Wirklichkeit näher als die "dunklen", "konfusen" Empfindungen.
    3) Sigwart: Logik I, zweite Auflage, Seite 44; vgl. dazu Rickert: Gegenstand der Erkenntnis, Seite 34. Die von Sigwart bekämpfte Form des Immanenz-Satzes ist durch Schopenhauer einflußreich geworden; vgl. den § 1 des ersten Buches seines Werkes (Werke Bd. 1, Ausgabe Grisebach, Seite 33f).
    4) Der Satz der Immanenz darf also nicht als bloße "Zuordnung" zweier Erfahrungsbestandteile aufgefaßt werden, wie Avenarius in seinem Begriff der empiriokritischen Prinzipialkoordination tut, vgl. z. B.: "Der menschliche Weltbegriff", Leipzig 1891, Seite 83, § 148. Treffende Kritik bei Oscar Ewald: Richard Avenarius als Begründer des Empiriokritizismus, Berlin 1905, Seite 55-69. Das richtige Verständnis des Immanenzsatzes liegt dagegen Bergmanns Beweis des Idealismus ("Reine Logik", 1879, Seite 89-95) zugrunde, nur daß er das "Ich" fälschlich mit dem individuellen gleichsetzt.