ra-2Franz CuhelHegelA. DöringO. Kraus    
 
LUJO BRENTANO
(1844-1931)
Versuch einer
Theorie der Bedürfnisse

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"Zu der Zeit, als noch Land im Überfluß vorhanden war und das Kapital noch keine Rolle spielte, war es die Arbeit allein, wovon der Ertrag abhing. Daher damals das Streben, durch Gewalt möglichst viel Arbeitskräfte in Abhängigkeit von sich zu bringen. Je größer die Anzahl Menschen, über die jemand verfügte, desto größer sein Ansehen und seine Macht über andere. Dann, als zwar das Land noch gemein, aber Viehbesitz nötig war, um es zu nutzen, war das Streben nach Viehbesitz das Allbeherrschende. Schließlich richtet sich das Streben nach Reichtum auf unbegrenzten Erwerb von Geld, weil es in der kapitalistischen Epoche der Besitz von Geld ist, der die Herrschaft über andere verleiht."

"Während das Bedürfen nach Macht und Herrschaft grenzenlos ist, daher nie seine Befriedigung findet und eben deshalb auch nie eine Übersättigung eintritt, begegnet jede Zuwachseinheit an Macht einer abnehmenden Reizempfindung; und eben weil das Machtbedürfnis grenzenlos ist, wächst, je mehr Widerstände besiegt worden sind, umso mehr die Unlustempfindung, welche durch die Existenz eines noch nicht Unterworfenen, mag dieser noch so unscheinbar sein, ausgelöst wird."

"Wir können heute den merkwürdigen Kontrast erleben, daß beim Nachtisch eines Mahles von einer Üppigkeit, die vor einem Jahrhundert als unerhört gegolten hätte, die Schmausenden darüber klagen, wie die Lebensansprüche der unteren Klasen in die Höhe gehen, daß sie Fleisch essen wollen und dgl.; oder die Gutsbesitzer im Nordosten klagen, daß die zurückkehrenden Sachsengänger nicht mehr barfuß laufen wollen; in einer Broschüre des preußischen Landesverbands städtischer Haus- und Grundbesitzervereine, finde ich die Denunziation der Forderung, daß jede Mietpartei einen eigenen Abort habe, als eines Ausflusses des Strebens nach größerem Luxus."


IV.

Wodurch wird nun das Maß des Wohlgefühls bedingt, welches die Befriedigung dieser Bedürfnisse bringt? Augenscheinlich ist diese Größe von zwei Faktoren abhängig: von der Stärke, mit der das Wohlgefühl empfunden wird, und von seiner Dauer. Die Intensität der Lustempfindung multipliziert mit ihrer Dauer ergibt die Größe des Wohlgefühls. (64)

Die erstere wird beeinflußt:

a) Durch  die zeitliche Nähe des Genusses.  Für die Intensität der Lustempfindungen ist von Bedeutung, ob sie in der Gegenwart stattfinden oder erst in Zukunft zu erwarten sind. Der Gefangene, der heute die Freiheit erlangt, empfindet darüber größere Lust, als wenn sie ihm erst nach zehn Jahren in Aussicht gestellt wird. Wer hungert, empfindet größere Lust durch die Speise, die ihm gereicht, als durch die, die ihm versprochen wird. Im allgemeinen pflegt die Lustempfindung umso größer zu sein, je mehr wir uns dem wirklichen Eintritt des Genusses nähern. Davon macht auch die Tatsache keine Ausnahme, daß man nach reichlichem Mahl größere Freude empfindet, wenn die gleiche Mahlzeit für den folgenden Tag in Aussicht gestellt, als wenn sie zu sofortigem Genuß nochmals geboten wird. Denn in diesem Fall handelt es sich um zwei verschiedene Bedürfnisse, die befriedigt werden soll; das eine ist das, heute, das andere das, morgen Nahrung zu erhalten, und da das erstere nach genossenem Mahl befriedigt ist, wird in der Gegenwart die Fürsorge für die Nahrung in der Zukunft als größeres Bedürfnis empfunden als die für Nahrung in der Gegenwart. Der Fall bildet also keine Ausnahme von dem Satz, daß die Größe der Lustempfindung mit der Annäherung an den Augenblick des Genusses wächst. Denn auch hier nimmt die Freude, welche die Erwartung des bevorstehenden Genusses erweckt, in dem Maß zu, in dem sich der Augenblick der Wiederholung der Mahlzeit am folgenden Tag nähert.

b) Durch  die Gewißheit des Genusses.  Je gewisser es ist, daß ein erwartetes Glück eintritt, desto intensiver das Wohlgefühl; je gewisser, daß ein erwartetes Unglück eintritt, desto intensiver die Befriedigung, gegen die Nachteile, die es bringt, eine Vorkehrung getroffen zu haben. Daher die Intensität des Bedürfnisses, Maßnahmen gegen diese Nachteile zu ergreifen, je nach der Gewißheit, daß die Gefahr eintritt, verschieden ist, und daher die verschiedene Intensität der Befriedigung, wenn man solche Maßnahmen ergriffen hat. Weit mehr Menschen empfinden das Bedürfnis, sich für den Fall des Todes überhaupt zu versichern, als für den Fall ihres Todes während einer bestimmten Zeit oder auf einer bestimmten Reise. Daher ferner die bekannten Schwierigkeiten der Hagelversicherung: Landwirte, deren Felder erfahrungsgemäß niemals verhageln, halten sich von ihr fern, während diejenigen, welche regelmäßig verhageln, zwar bereit sind, sich zu versichern, aber es schwer finden, die wegen des Fernbleibens der ersteren hohen Prämien aufzubringen. Desgleichen: je gewisser es ist, daß eine zukünftige Freude uns wirklich zuteil wird, desto größer die Befriedigung, sie sich gesichert zu haben, desto größer auch die Bereitwilligkeit, für ihre Sicherung Opfer zu bringen. Die Gewißheit des Gläubigen, die Freuden des Himmels zu erlangen, machen ihm die Qualen des Märtyrertodes willkommen; in dem Maße, in dem mit zunehmendem Skeptizismus der Glaube an Schmerzen und Lust im Jenseits abnimmt, schwindet auch das Wohlgefühl, welches das Bewußtsein, für das Jenseits Vorsorge getroffen zu haben, in der Gegenwart verleiht, und damit die Bereitwilligkeit, dafür Opfer zu bringen; dem, der an Strafe und Lohn in einem Jenseits nicht glaubt, verursachen solche Opfer statt Wohlgefühl lediglich Schmerz in der Gegenwart.

c) Durch  die Reinheit des Genusses,  d. h. die Abwesenheit von Unlustempfindungen, die ihn begleiten (65) Das Wohlgefühl, welches durch die Befriedigung eines Bedürfnisses verursacht wird, wird beeinträchtigt, wenn und in dem Maß wie diese neue Unlustempfindungen veranlaßt; in diesem Maß wird der Überschup der Lust- über die Unlustempfindungen gemindert.

Dieser Satz ist unwidersprechbar; trotzdem wird er von vielen und darunter sehr ausgezeichneten Nationalökonomen nicht beachtet; sonst könnten sie nicht, wie z. B. von BÖHM-BAWERK, bei ihren Untersuchungen vom isolierten Menschen statt vom Menschen im gesellschaftlichen Zustand ausgehen. (66) Infolge dieser fehlerhaften Methode fallen nämlich nicht nur alle Bedürfnisse, denen wir, wie schon MERCIER de la RIVIÉRE beredt ausgedrückt hat (siehe oben), nicht selten die Befriedigung der Bedürfnisse der baren Lebenserhaltung zum Opfer bringen, nämlich alle Schmerz- und Lustgefühle, welche in unseren Beziehungen zu anderen Menschen wurzeln, aus dem Bereich ihrer Betrachtung, sondern es werden damit auch all die Unlustempfindungen vernachlässigt, welche als Folge der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung mit bestimmten Arten der Befriedigung unserer Bedürfnisse verbunden sind. So erklärt es sich dann, wenn BÖHM-BAWERK sagt (67), es genüge für die wirtschaftlichen Zwecke der Menschen das  natürliche  Haben der Güter. Für seinen isolierten Menschen trifft dies gewiß zu. Allein ganz gleichgültig, ob dieser je existiert hat, in historischen Zeiten kennen wir den Menschen jedenfalls nur als  zoon politikon,  d. h. im gesellschaftlichen Zustand, und jede gesellschaftliche Ordnung, selbst die primitivste, betrachtet gewisse Arten der Bedürfnisbefriedigung als unerlaubt und bedroht den, der sich ihrer bedient, mit Nachteilen. Dadurch wird bewirkt, daß ein bloß tatsächliches Innehaben für die wirtschaftlichen Zwecke des Menschen mitnichten genügt. Denn die Folge ist, daß, wenn das zur Befriedigung eines Bedürfnisses führende Gut im Widerspruch mit der geltenden Ordnung beschafft wird, sich mit der Lustempfindung, welche durch die tatsächliche Behebung des Bedürfnisses hervorgerufen wird, eine Unlustempfindung mischt, und diese ist umso größer, je geringer die Aussicht ist, den wegen der Rechtswidrigkeit der Art der Befriedigung drohenden Nachteilen zu entrinnen. Das natürliche haben der Güter führt also, wenn es nicht gleichzeitig ein rechtliches ist, statt zur Befriedigung der Bedürfnisse zur Entstehung von neuen und größeren. So schafft dem Einbrecher der Besitz des geraubten Gutes zwar Befriedigung, aber mit dieser mischt sich Unbehagen in dem Maße, in dem er damit rechnen muß, ins Zuchthaus zu kommen. Die Aussicht auf Strafe ruft eine Unlustempfindung hervor, welche die Intensität seines Wohlgefühls verringert, aufhebt, ja in ein Schmerzgefühl verwandelt.

Die Abhängigkeit des von den Menschen erstrebten größtmöglichen Wohlgefühls von der Reinheit des Genusses ist also von der größten volkswirtschaftlichen Bedeutung. Sie führt die Menschen dahin, ihr Begehren nicht auf die bloß tatsächliche, sondern auf die rechtmäßige Befriedigung der Bedürfnisse zu richten. Wo diese ein Innehaben von Gütern erfordert, geht es nicht auf ein bloß tatsächliches Innehaben, sondern auf ein Recht, sie innezuhaben. Statt nach bloßem Innehaben von physischen Gütern verlangen die Menschen nach Rechten.

d) Zur Steigerung der Intensität des Wohlgefühls dient weiter  die Fruchtbarkeit in der Erzeugung weiterer Lustempfindungen  durch die Befriedigung eines Bedürfnisses. So wird die Freude am Besitz eines Landguts erhöht, wenn dieses außer einem Reinertrag noch landschaftliche Genüsse gewährt.

e) Besteht die Wirtschaftseinheit, deren Bedürfnisse befriedigt werden sollen, aus mehreren Personen, wie z. B. einem Staat, einer Gemeinde, einer großen Familie, so ist die Intensität des Wohlgefüls umso größer, je nachdem sich der Genuß  auf eine größere oder geringere Zahl  der zur Wirtschaftseinheit gehörigen Personen ausdehnt. Je größer die Zahl ihrer Angehörigen, die an einem Genuß teilnehmen, umso größer ist die Zahl der Bedürfnisse, die ihr befriedigt werden, desto größer ihre Genugtuung.

f) Vor allem aber wird die Intensität der Lustempfindung beeinflußt durch die  Empfänglichkeit für Lust und Schmerz.  Sie ist von zweierlei abhängig: Einmal von der  individuellen Reizempfindlichkeit  des Empfindenden. Ein und dieselbe Ursache von Lust schafft nicht jedem dieselbe Lust, gleichwei ein und dieselbe Ursache von Schmerz nicht in jedem denselben Schmerz hervorruft; die Menschen sin in verschiedenem Maß für Schmerz und Freude empfindlich.

Die individuelle Reizempfindlichkeit wird durch natürliche und erworbene Eigenschaften bedingt, und die Wirksamkeit beider wird durch die Verhältnisse, in denen die Menschen leben, beeinflußt. (68) Zu den natürlichen gehören die angeborenen körperlichen und geistigen Anlagen, Geschlecht, Alter, zu den erworbenen die Gewohnheiten, Kenntnisse, Fertigkeiten. Von den häuslichen und gesellschaftlichen Verhältnissen, dem Klima, der Regierungsform hängt es ab, in welchem Maße die aufgrund der genannten natürlichen und erworbenen Eigenschaften vorhandenen Organe der Reizempfindlichkeit verkümmern, sich entwickeln oder abgestumpft werden. Eine andauernde Untätigkeit der Organe, auf deren Erregung Unlust- wie Lustempfindung beruhen, mindert die Erregbarkeit bis zur völligen Vernichtung. Eine übertriebene Anspannung führt zu ihrer Abstumpfung und Erschöpfung.

Es ist daher ein Irrum, den schon F. A. LANGE in seiner "Arbeiterfrage" vortrefflich widerlegt hat (69), wenn manche meinen, "die Grundlage der ganzen Theorie des Glücks beruhe im Gesetz der Kontrastwirkungen, vermöge dessen unsere Nerven für eine bestimmte Erregungsweise umso empfänglicher sind, je mehr sie vorher der entgegengesetzten ausgesetzt waren"; die Lustempfindung sei also umso größer, je größer vorher der Schmerz; der unter starker Not und Bedrückung Leidende finde Entschädigung im gesteigerten Genuß, dem ihm die kleinste Verbesserung bereitet. Nicht selten sind die Fälle,
    "wo ein großes und namentlich lange andauerndes Unglück den Menschen keineswegs genußfähiger macht, sondern im Gegenteil seine Genußfähigkeit auf lange Zeit hinaus abstumpft, wo nicht für immer ertötet. Auch bei der einfachen Sinnesempfindung hat die Kontrastwirkung ihre Grenzen. Ein zu starker Eindrück lähmt die Nerven und macht sie nicht nur unempfindlich für den Eindruck, welchem er zu stark ausgesetzt war, sondern ebenso für die entgegengesetzten. So geht es auch mit dem menschlichen Gemüt ... Von FRITZ REUTER haben wir eine vortreffliche Schilderung des trostlosen Gemütszustandes, in welchem er nach seinem siebenjährigen Festungsarrest, der Freiheit wiedergegeben, noch jahrelang verharrte, bevor die Frische des Geistes und die Empfänglichkeit des Gemüts für den willkommenen Wechsel von Arbeit und Genuß in ihm wiederkehrte."
Aber noch bedeutsamer, weil für alle Menschen und alle Genüsse gleichmäßig gültig, ist die Abhängigkeit der Empfänglichkeit für Lust und Schmerz vom  Sättigungsgrad.  Der Genuß, den die Verwendung einer bestimmten Größe von Bedürfnisbefriedigungsmitteln schafft, wird durch das Maß bedingt, in dem das Bedürfnis, dem es dient, bereits Befriedigung gefunden hat.

Es handelt sich hier um die Äußerung eines für alle Lebewesen gültigen Gesetzes speziell auf dem Gebiet des Bedürfnislebens des Menschen. Die Existenz aller Lebewesen ist vom Vorhandensein gewisser Bedingungen abhängig; sie ändern sich in dem Maße, in dem sich diese Bedingungen ändern. Damit sie aber überhaupt existieren können, ist nötig, daß diese Bedingungen in einem Mindestmaß gegeben sind und ein Maximalmaß nicht überschreiten. Unterhalb wie oberhalb dieser Grenze ist der Tod; sie leben nur innerhalb dieser beiden Grenzpunkte. Dabei sind aber nicht alle Punkte zwischen den beiden für das Leben gleich günstig. Der Lebensvorgang nimmt an Intensität ab, je mehr sich die Lebensbedingung dem Minimum oder Maximum nähert; seine Intensität ist am größten bei einem Maß der Lebensbedingung, welches sich zwischen den beiden befindet, beim Optimum. Dabei ist aber nicht gesagt, daß dieses Optimum gerade in der Mitte zwischen Minimum und Maximum liegt; in vielen Fällen liegt es näher dem Minimum, in anderen näher dem Maximum. (70)

Die Betrachtung des Wachstums einer Art von Lebewesen, der Pflanzen, wird dies anschaulich machen. Jede Pflanze braucht zu ihrem Gedeihen die entsprechenden Pflanzennährstoffe, ein gewisses Maß an Wärme, Bodenfeuchtigkeit, Feuchtigkeit der Luft, Licht, elektrischen Einwirkungen usw. Für jede dieser Bedingungen gilt das eben dargelegte Gesetz. Zuerst wurde für die erforderliche Wärme von JULIUS SACHS festgestellt (71), daß jede Funktioni der Pflanze, das Keimen, die Schossen-, Blüten- und Fruchtbildung, in bestimmten Temperaturgrenzen eingeschlossen ist, innerhalb deren sie stattfindet. Jede Funktion der Pflanze beginnt erst, wenn die Temperatur eine bestimmte untere Grenze, eine Minimum, die Schwelle, erreicht hat; von da an wird sie mit steigender Temperatur beschleunigt bis zu einer gewissen Grenze, bei welcher die größte Leistung der Funktion eintritt; bei noch weiterer Steigerung der Temperatur nimmt diese Leistung stetig ab, bis bei einer oberen Temperaturgrenze der Stillstand eintritt; steigt die Temperatur noch über diese Grenze, so geht das Pflanzenwachstumg zurück bis zum Tod der Pflanze. WOLLNY (72) hat dann durch Experimente nachgewiesen, daß dasselbe Gesetz für die Bodenfeuchtigkeit gilt. Ebenso gilt es für das Licht, für die elektrischen Einwirkungen auf das Pflanzenwachstum, hinsichtich des Sauerstoffzutritts und der Luftfeuchtigkeit. Vor allem gitl das Gesetz auch für die Pflanzennährstoffe. Eine Zufuhr derselben wird erst wirksam, wenn sie eine gewisse, für die verschiedenen Pflanzenarten verschiedene Grenze, ein Minimum, die Schwelle, erreicht. Fährt man mit der Zufuhr fort, so steigt das Erträgnis progressiv, mindestens aber proportional der Zufuhr, bis zu einem Punkt. Werden noch weitere Nährstoffe in leicht löslicher Form zugeführt, so tritt eine allmähliche Abnahme im weiteren Zuwachs der Pflanze ein, bis das Optimum des Zuwachses erreicht ist. Findet noch eine weitere Zufuhr statt, so geht das Pflanzenwachstum zurück, bis beim Maximum die Pflanze abstirbt.

Genau so ist das Empfindungsleben des Menschen innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen, und innerhalb dieser Grenzen steigt die Größe des Empfindens nicht parallel mit dem Zuwachs an Genußeinheiten, die zur Verwendung gelangen.

Um eine Empfindung überhaupt wachzurufen, ist ein Reiz von einer bestimmten Größe erforderlich, die aber bei den verschiedenen Personen je nach dem Grad ihrer Empfindlichkeit verschieden ist. Diese Größe hat FECHNER die  Schwelle  genannt. Reize, die zu schwach sind, um bis zur Schwelle zu führen, sind zunächst noch unwirksam. Erst wenn die Schwelle erreicht ist, hebt die erste Spur von Empfindung an. Jeder weitere Reizzuwachs von gleicher Größe steigert die Empfindung mindestens proportional zum Reizzuwachs, bis eine gewisse Größe des Reizes, die abermals je nach der Reizempfindlichkeit der einzelnen Personen verschieden ist, die Proportionalitätsgrenze, erreicht ist. Gelangen dann noch weitere Reizmengen zur Verwendung, so nimmt die Größe der Empfindung zwar noch absolut zu, allein sie nimmt im Verhältnis zum Reizzuwachs ab, mit anderen Worten, jeder weitere Zuwachs von Reiz hat einen geringeren Zuwachs von Empfindung zur Folge. Dieses Zunahmeverhältnis dauert an, bis ein Optimum an Empfindung erreicht ist. Gelangen darüber hinaus noch weitere Reizmengen zur Verwendung, so nimmt die Empfindung auch absolut ab; die Erregbarkeit der Nerven wird durch übermäßige Erregung erschöpft; an die Stelle des Wohlgefühls tritt ein Unlustgefühl, das sich mit noch weiterer Zunahme der Reizmittel zum Schmerz steigert, bis bei einer Anwendung des Maximums von Reizmitteln der empfindende Nerv völlig abgestumpft und ertötet ist und jede weitere Empfindung aufhört.

Diese Beobachtung ist wohl so alt wie die Menschen. Von Anbeginn muß man die Erfahrung gemacht haben, daß die Menge der Nahrungsmittel, die der Hungernde in sich aufnimmt, erst eine gewisse Größe erreicht haben muß, bevor dieser irgendeinen Genuß verspürt; daß mit der Erreichung dieser Schwelle jeder gleich große Zuwachs an Nahrungsmitteln ein steigendes Wohlgefühl herrvorruft, bis auch hier eine Grenze erreicht ist; daß bei noch weiterer Aufnahme von Nahrungsmitteln das Behagen nicht im Verhältnis zum Mehrverzehrten zunimmt und an die Stelle der Sättigung, Überdruß, Ekel, an die Stelle der Lustempfindung eine der ursprünglichen entgegengesetzte Unlustempfindung tritt. Schon ARISTOTELES hat gesagt (73): "Es liegt in der Natur einer jeden nützlichen Sache, daß ein Übermaß derselben ihrem Besitzer entweder schaden muß oder ihm wenigstens keinen Nutzen gewährt." Es soll an dieser Stelle nicht verfolgt werden, wie sich dann die Lehre von der abnehmenden Reizempfindung von ARISTOTELES über THOMAS von AQUIN, BARBON,GREGORY KING bis zu DANIEL BERNOULLI, EULER, BUFFON, GALIANI, GRASLIN, BRIGANTI, CONDILLAC, LAPLACE, BENTHAM, CRAIG, THOMPSON, F. B. W. HERMANN, LLOYD, COURNOT, ERNST HEINRICH WEBER, STEINHEIL, BANFIELD, DUPUIT, HILDEBRAND, GOSSEN, JENNINGS, SENIOR, FECHNER, JEVONS, PIDERIT, MARSHALL, F. A. LANGE, MENGER, WALRAS entwickelt hat (74). Die umfassendste Begründung hat ihr GUSTAV THEODOR FECHNER gegeben (75). Die für die wirtschaftliche Betrachtung wichtigsten Sätze hat aber schon vorher 1853 HERMANN HEINRICH GOSSEN folgendermaßen formuliert (76):
    1. Die Größe des Genusses nimmt, wenn wir mit der Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis Sättigung eintritt, und

    2. eine ähnliche Abnahme des Genusses tritt ein, wenn wir den früher bereiteten Genuß wiederholen, und zwar vermindern sich sowohl anfängliche Größe als auch die Dauer desselben umso mehr, je rascher die Wiederholung erfolgt.
Dementsprechend wäre auch, wie dies schon DANIEL BERNOULLI 1731 getan hat (77), zu sagen, daß, je größer das Vermögen einer Person, umso geringer die Lust ist, welche ihr ein weiterer Vermögenszuwachs bereitet. Ist dies aber richtig? Wenn wir eine bestimmte, gleichbleibende Größe des Vermögenszuwachses setzen, unzweifelhaft. Ich habe arme Kinder gesehen, die über ein Zehnpfennigstück in Jubel ausbrachen, als sei ihnen damit das Tor des Paradieses eröffnet worden; den Wohlhabenden wird der Gewinn eines Zehnpfennigsstückes gleichgültig lassen; und Millionen oder Milliarden dürften nötig sein, um in einem Mann von Reichtum ROCKEFELLERs ähnliche Lustempfindungen wie die jener Bettelkinder hervorzurufen. Es ist klar, das Gesetz der abnehmenden Reizempfindung gilt ebenso wie für den Zuwachs anderer Genußeinheiten auch für den Vermögenszuwachs.

Aber besteht nicht doch eine Verschiedenheit? Wir haben gesehen, daß bei physischen Bedürfnissen durch fortgesetztes Hinzukommen weiterer Genußeinheiten nach erreichter Sättigung Übersättigung, Überdruß, Ekel sich einstellen. Nun nimmt zwar die Freude ,welche der Gewinn eines Zehnpfennigstückes bereitet, ab, je größer das Stammvermögen ist, zu dem es hinzukommt, aber es unterliegt keinem Zweifel, daß etwas Ähnliches wie Übersättigung, Überdruß, Ekel durch noch so großes Hinzukommen weiterer Zehnpfennigstücke niemals niemals erregt wird; kommen sogar statt zehn Pfennige Hunderttausende oder Millionen von Mark zum Vermögen eines Reichen hinzu, so kann selbst dieser eine ebenso große Freude wie der Arme beim Empfang von zehn Pfennigen empfinden. Könnte der Reiche seinen größeren Reichtum nur auf die Befriedigung physischer Bedürfnisse verwenden, so würden sich auch bei ihm bei fortgesetzter Mehrung der diesen begrenzten Bedürfnissen dienenden Gelder dieselben Unlustempfindungen geltend machen, die etwa ein Satter empfindet, wenn ihm fortwährend weitere Speisen zum Verzehren vorgesetzt werden. Allein was zur fortwährenden Anhäufung von Geldern führt, ist bei manchen die Lust am Anhäufen selbst (78) ähnlich der Sammelwut der Sammler, gleichviel worauf sie sich richtet, ob auf Naturalien, Kunstwerke oder Briefmarken, bei Anderen der Wunsch, die Mittel zur Erweiterung und Verfeinerung ihrer Bedürfnisse zu erlangen, und da, wie ARISTOTELES sagt, die Lebenslust keine Grenze hat, so begehrt man auch die Mittel zu ihrer Befriedigung in grenzenloser Menge (Politik I, 9), bei wieder Anderen - und dies ist die Ursache, die am meisten zu immer fortschreitender Anhäufung treibt - das Streben nach steigendem Ansehen und zunehmender Macht. All dies sind Bedürfnisse psychischer Art, und indem das Bedürfnis, Geld zu Geld zu häufen, um dieser Bedürfnisse willen empfunden wird, nimmt es, wie schon ARISTOTELES ausgeführt hat (79), teil am Charakteristischen des geistigen Bedürfens: seiner Schrankenlosigkeit.


V.

Damit kommen wir zu der wichtigen Frage, ob das Gesetz der abnehmenden Reizempfindung auch für die geistigen Bedürfnisse gilt.

Einige sind der Meinung, die Frage sei zu verneinen. Wenn sie sich aber dabei auf die Tatsache berufen, daß das geistige Bedürfen ansich zunimmt, je mehr geistige Bedürfnisse im Einzelnen Befriedigung finden, so übersehen sie  eines,  nämlich eben die Schrankenlosigkeit des geistigen Bedürfens. Das Gesetz der abnehmenden Reizempfindung besagt doch nur, daß, nachdem eine Bedürfnis Befriedigung gefunden hat, jede weitere auf dieses Bedürfnis verwendete Genußeinheit einer Abnahme der Lustempfindung begegnet, bis schließlich Unlust eintritt; es besagt aber nicht, daß, wo keine Befriedigung stattfindet, Sättigung, Übersättigung, Überdruß und Ekel eintreten werden. Wo ein Bedürfnis unbegrenzt ist, tritt niemals Befriedigung ein; daher kann auch niemals die auf die Befriedigung folgende Abnahme der Lustempfindung sich einstellen. Wohl aber findet sich auch bei allen Bedürfnissen geistiger Art eine Abnahme der Reizempfindungen für die einzelnen Genußeinheiten, welche uns der Befriedigung der geistigen Bedürfnisse wenigstens näher bringen. Je mehr wir in der Bereitung derselben Genüsse fortfahren und je häufiger sie sich wiederholen, desto geringer ist die Lustempfindung, die sie hervorrufen, und, da mit der Betätigung unseres Empfindungsvermögens sich dieses steigert, umso größer die Unlust über das, was uns noch von der vollen Befriedigung unseres Bedürfens trennt. Das ist auch der Sinn der Stelle bei ARISTOTELES, auf die ich soeben verwiesen habe. Sie sagt, daß jede Kunst, da ihr Ziel ein Ideal ist, ins Unendliche strebt, daß sie dagegen jedes einzelne Mittel, das diesem Ideal näher bringt, nur endlich begehrt. Und wohin wir im Leben blicken, finden wir den Beweis, daß dem so ist.

Nehmen wir z. B. den Fall des begeisterten Kunstfreundes, den schon GOSSEN angeführt hat. Da ist ein Kunstwerk von auserlesener Schönheit. Schon beim ersten Betrachten erweckt es sein größtes Entzücken, und dieses wächst, je mehr er sich in die Betrachtung aller Einzelheiten versenkt. Hat er aber alle seine Schönheit entdeckt und diese im Ganzen wie in ihren Einzelheiten in sich aufgenommen, so empfindet er bei fortwährender Betrachtung ein Sinken des Genusses. Es tritt Sättigung ein, auch wenn der Betrachter noch aufgelegt bleibt, si an anderen Kunstwerken ähnlicher Art zu erfreuen. Bei einer Wiederholung der Betrachtung nimmt die Intensität der Lustempfindung ab, je häufiger die Wiederholung und je rascher sie stattfindet. Auch der größte Kunstenthusiast im Besitz eines Kunstwerks wird, wenn er alle Nebenrücksichten beseitigt, nach und nach immer mehr beim Genißen desselben Kunstwerks erkalten; schließlich vergehen Tage, Wochen, wo er das Kunstwerk gar nicht ansieht. Dagegen wird er, je schöner das Kunstwerk war, an dem er sich erfreut hat, und je häufiger er sich daran erfreut hat, immer größere Ansprüche an Kunstwerke stellen. Mit dem Genuß ist sein Verständnis gewachsen, mit seinem Verständnis der Anspruch, den er an die Schönheit eines Kunstwerkes stellt; um den gleichen Genuß wie bei seiner anfänglichen Bekanntschaft mit dem bisher bewunderten Kunstwerk zu empfinden, muß ihm immer Besseres geboten werden; in dem Maße, in dem er mit Kunstgenüssen gesättigt ist, sind stärkere Reizmittel nötig, um ihm weitere gleich große Kunstgenüsse zu schaffen.

Also: der Genuß, den ein bestimmtes einzelnes Kunstwerk gewährt, sinkt, je länger und häufiger seine Betrachtung ist; aber der Kunstfreund wird immer empfindlicher für ästhetisch Verletzendes; sein Geschmack wird immer anspruchsvoller; es wird immer schwieriger, ihn zu befriedigen, je mehr künstlerische Genüsse er bereits empfunden hat. Mit der Befriedigung seines bisherigen Bedürfnisses macht sich das Gesetz der abnehmenden Reizempfindung geltend, aber es entsteht in ihm ein neues Bedürfnis nach mehr.

Nicht anders verhält es sich mit dem Hören von Musik. Gewiß: je mehr jemand Musik hört, destö stärker pflegt sein Bedürfnis nach Musik zu werden. Aber auch das größte Entzücken, mit dem ihn ein Musikstück bei anfänglichem Hören erfüllt, hindert nicht, daß er es, je häufiger und rascher seine Wiedergabe wiederholt wird, schließlich gar nicht mehr hören kann, und in dem Verhältnis, in dem er mehr Musik hört und als Folge die Lustempfindung an der Musik, die er bisher gehört hat, abnimmt, verlangt er nach besserer Musik.

Und genau so ist es auf dem Gebiet der Wissenschaft. Das Interesse an einer Wahrheit nimmt solange zu, bis man sie ganz erfaßt hat; eine wirkliche oder vermeintliche Entdeckung schafft den höchsten Genuß. "Weiter macht es dann auch noch Vergnügen, eine Zeitlang bei einem Gegenstand zu verweilen; aber dieses Vergnügen nimmt immer mehr ab, bis es zuletzt langweilt, den Gegenstand noch länger festzuhalten. Das wiederholte Behandeln von ein und demselben Gegenstand erregt dann bei jeder neuen Wiederholung einen umso geringeren Genuß, je öfter und in je kürzeren Zeiträumen die Wiederholung stattfindet." (80) "Ein gelehrter Arithmetiker z. B. wird sehr gleichgültig dabei bleiben, wenn er eine Gleichung ersten Grades gelöst hat, ein Tertianer aber, der dieselbe Aufgabe nicht ohne schweres Kopfzerbrechen fertig gebracht hat, wird mit einem Gefühl hoher Befriedigung auf das gewonnene Resultat blicken." (81) Aber je mehr Wahrheiten für jemanden etwas Selbstverständliches werden, umso größer werden seine wissenschaftlichen Ansprüche.

Daher pflegen dann auch große Forscher größere Unlust zu empfinden über das, was ihnen zu erreichen versagt blieb, als Lust über das, was sie erreichten. In der Bankettrede, die der so erfolgreiche Naturforscher Lord KELVIN bei seinem 50-jährigen Professorenjubiläum (1889) hielt, sagte er: "Ein Wort bezeichnet meine angestrengtesten, während 55 Jahren mit zäher Ausdauer fortgesetzten Bemühungen, die Wissenschaft zu fördern; dieses Wort heißt  Mißlingen.  Ich weiß nicht mehr von elektrischer und magnetischer Kraft oder den Beziehungen zwischen Äther, Elektrizität und wägbarem Stoff oder von chemischer Verwandtschaft, als ich im ersten Jahr, da ich Professor war, von 50 Jahren gewußt und meinen Zuhörern in meinen Vorlesungen über Naturwissenschaft zu lehren versucht habe;" - ein Bekenntnis wie das, mit dem der GOETHEsche  Faust  anfängt.

Aber auch mit unseren ethischen Anforderungen ist es nicht anders. Ich habe gegen die Allgemeinheit des Gesetzes der abnehmenden Reizempfindung einwenden hören, wenn man sie zugäbe, müsse man auch sagen, daß bei einem Volk, wo niemand stiehlt oder wo alle Frauen keusch sind, die Ehrlichkeit oder Keuschheit gering geschätzt würden, während das Gegenteil doch der Fall ist. Nun ist es ganz richtig, daß, wo ein ganzes Volk unehrlich ist, schon der als tugendhaft gilt, der nicht stiehlt, während, wo ein Volk die Ehrlichkeit besonders schätzt, jemanden, bloß weil er nicht stiehlt, noch nicht das Lob besonderer Ehrlichkeit zuteil wird; gerade weil Nichtstehlen hier als selbstverständlich gilt, wird nur der als ehrlich gerühmt, der unter ungewöhnlichen Verhältnissen ein zartes Gewissen betätigt, und ebenso mag da, wo alle Mädchen sich jedem x-beliebigen hingeben, schon das Mädchen als keusch angesehen wird, das sich nicht mit allen, sondern nur mit einem abgibt, während da, wo die Keuschheit der Frauen die allgemeine Regel bildet, nur Mädchen, welche sich nicht nur jedweden außerehelichen Umgangs enthalten, sondern auch durch ihr ganzes Benehmen die Reinheit ihrer Gedanken beweisen, das Lob der Keuschheit ernten. (82) Aber daraus ein Versagen des Gesetzes der abnehmenden Reizempfindung folgern, zeigt ein völliges Verkennen des ethischen Ziels, das von tugendhaften Menschen angestrebt wird. Das Ziel der Ethik ist dasselbe wie das, was ARISTOTELES als das Ziel jedweder Kunst bezeichnet; es ist nicht, daß jemand nicht stiehlt oder daß ein Mädchen nicht mit jedem x-beliebigen geschlechtlich verkehrt, sondern ein Unbegrenztes, das unendlich Vollkommene. Eben deshalb kann es nie erreicht werden, und eben deshalb kann auch nie Sättigung, Übersättigung, Überdruß oder Ekel in der Verfolgung dieses Ziels eintreten. Allein wir können uns diesem in unendlicher Ferne liegenden Ziel nähern; eine Stufe der Annäherung nach der anderen kann erklommen werden, und je mehr Stufen der Vollkommenheit zu den bereits zurückgelegten hinzukommen, desto geringer ist der Reiz, den diese ausüben, desto unerheblicher das Maß dessen, was sie zur Befriedigung des Strebens nach Vollkommenheit beitragen, desto größer das Verlangen nach mehr.

Dasselbe gilt für das Bedürfnis des Ehrgeizigen nach äußeren Ehren. Sein Verlangen ist, als der Erste zu gelten. Je mehr er sich durch Ehren, die er empfangen hat, vor Anderen hervorgetan hat, desto geringer der Genuß, den ihm die bereits empfangenen Ehren bereiten, desto größer seine Unlustempfindung, wenn es noch Andere gibt, hinter denen er in dieser oder jener äußeren Ehre zurücksteht. Vor allem aber gilt das Dargelegte auch für das Bedürfnis der Menschen nach Freiheit, Macht, Herrschaft.

Das Bedürfnis des Menschen, seinen Willen frei betätigen zu können, ist unbegrenzt; Jede Beschränkung dieser Möglichkeit empfindet er als eine Beeinträchtigung seiner Gleichberechtigung mit Allen. Allein wie alle Reize, so wirkt auch der durch eine solche Beschränkung ausgeübte Druck nicht auf alle Menschen im gleichen Maß. Nicht nur, daß sich wie bei allen Reizen, je nach ihren individuellen Verhältnissen, ein verschiedenes Maß der Reizempfindlichkeit findet, es macht sich auch hier das Gesetz der abnehmenden Reizempfindung geltend. Die in der Unterwerfung unter den Willen eines Anderen liegende Minderung der Anerkennung durch Andere wird umso schmerzlicher empfunden, je unbeschränkter die Freiheit bis dahin gewesen ist; daher die erbitterten Kämpfe bisher freier Völker oder gleichberechtigter Gesellschaftsklassen gegen jedwede Beeinträchtigung ihrer Freiheit. In dem Maße dagegen, in dem sie an dieser Freiheit bereits eine Einbuße erlitten haben, nimmt ihre Empfindlichkeit für eine Steigerung des Drucks des politischen Regiments oder der sozialen Mißstände ab; sie steigt nicht proportional der absoluten Größe des Druckzuwachses, sondern mti dem Verhältnis dieses Zuwachses zur Größe des gesamten auf ihnen lastenden Drucks (83), bis schließlich Stumpfsinn und Vertierung eintreten und die Reizempfindlichkeit völlig ertötet wird. Dies ist der Grund, warum geknechtete Völker einem Zuwachs an Übelständen fast gleichgültig ertragen, der bei freieren Völkern eine Revolution hervorrufen würde, und warum Arbeiter auf der tiefsten Stufe des Elends sich nie zu einem selbständigen, auf die Besserung ihrer Lage gerichteten Vorgehen aufraffen. Ein Volk muß erst ein gewisses Mindestmaß an Freiheit erlangt haben, eine Arbeiterklasse erst auf einer gewissen Stufe des Wohlergehens angelangt sein, ehe sich Bestrebungen und Organisationen zu einer weiteren Besserung ihrer Lage finden. (84) Und in dem Maße, in dem dann Freiheit und Wohlergehen fortschreiten, in dem Maße steigert sich das Verlangen nach weiteren Fortschritten. Dann schallt den nach noch mehr verlangenden Völkern und Klassen häufig das Wort entgegen: "Ihr klagt, folglich ist es besser geworden." Dieses Wort ist vollkommen zutreffend, nur daß es nicht gegen, sondern für die Berechtigung ihres Verlangens spricht. Denn mit der Verbesserung ihrer Lage ist ihre Reizempfindlichkeit für noch bestehende Übelstände gewachsen und damit die Unlustempfindung. Erst mit der völligen Beseitigung der Übelstände wird sie beseitigt.

Dasselbe Streben, den eigenen Willen zur Geltung zu bringen, welches bei jeder Beschränkung der freien Willensbetätigung eine Unlustempfindung zur Folge hat, führt aber auch zum Streben, durch die Gewinnung von Macht über Andere, die Sphäre des eigenen Willens auszudehnen; eine solche Ausdehnung führt zu gesteigerter Lustempfindung. Dieses Bedürfnis nach Herrschaft über Andere liegt tief in der inneren Natur des Menschen; es findet sich unter den ärmlichsten Verhältnissen wie auch in jedem Alter und bei jedem Geschlecht, und auch dieses Bedürfnis ist schrankenlos. Je größer der Einfluß, die Macht, die Herrschaft, die erreicht ist, desto geringer die Befriedigung, die das Erreichte im Vergleich zu dem noch nicht Erreichten gewährt, desto heißer das Verlangen nach mehr; und, da die Herrschaft über materielle Güter das Hauptmittel ist, um Andere zur Unterwerfung zu bringen, und je größer die Menge des Erworbenen desto größer die Macht über Andere, auch das schrankenlose Streben nach Mehrung des Reichtums.

Die Schrankenlosigkeit dieses Strebens tritt uns schon auf den primitivsten Kulturstufen mit derselben Intensität entgegen wie auf den entwickeltsten, und ich kann daher SOMBART (85) nicht zustimmen, wenn er nach dem Vorbild von MARX (86) und in falscher Anwendung gewisser Ausführungen der aristotelischen  Politik  (87) behauptet, das Bedürfnis nach unbegrenztem Erwerb sei eine der kapitalistischen Wirtschaftsperiode eigentümliche Erscheinung; vorher habe sich das Streben bloß auf die Deckung des herkömmelichen persönlichen Bedarfs gerichtet. Es steht dies mit der Wirklichkeit in einem argen Widerspruch. Das Bedürfnis nach Macht und Herrschaft ist allen Kulturstufen und allen Wirtschaftsperioden gemein, desgleichen das schrankenlose Streben nach Erwerb, da Reichtum das Hauptmittel ist, um diesem Bedürfnis zu dienen. Es äußert sich nur auf den verschiedenen Kulturstufen je nach den jeweiligen Wirtschaftsverhältnissen verschieden in der Art der Güter, auf welche es sich als auf die Mittel zur Macht richtet.

Zu der Zeit, als noch Land im Überfluß vorhanden war und das Kapital noch keine Rolle spielte, war es die Arbeit allein, wovon der Ertrag abhing. Daher damals das Streben, durch Gewalt möglichst viel Arbeitskräfte in Abhängigkeit von sich zu bringen. Je größer die Anzahl Menschen, über die jemand verfügte, desto größer sein Ansehen und seine Macht über andere.

Dann, als zwar das Land noch gemein, aber Viehbesitz nötig war, um es zu nutzen, war das Streben nach Viehbesitz das Allbeherrschende. Wer es besaß, lieh es an andere aus gegen Abgaben und Dienste, und je größer seine Viehzahl, desto größer die Zahl der von ihm Abhängigen, desto größer sein Ansehen und seine Macht. Derartige Zustände zeigen uns die  Brehon Laws  für die Kelten in Irland, und nach dem, was wir dort finden, können wir schließen, daß die Zustände der Kelten in Gallien die gleichen waren, als CÄSAR da hinkam. (88)

Dann, als das Land ins Sondereigentum übergegangen war, richtete sich das Verlangen der Mächtigen nach immer mehr Landbesitz. Denn, wer es besaß, hatte das Mittel, um Andere in Abhängigkeit von sich zu bringen, und je größer sein Landbesitz, desto größer die Zahl seiner Anhänger, desto größer sein Ansehen und seine Macht. Dies gilt nicht nur für die weltlichen Großen, welche den kleinen Freien in Abhängigkeit von sich brachten; als KARL der Große im Jahre 811 am Abend seines Lebens die Sitzungen der Synode von Aachen leitete, brach er gegenüber dem versammelten Klerus in die Worte aus: "Heißt das der Welt entsagen, wenn man nichts anderes tut und denkt, als wie man seine Güter vermehre? Wenn man die Leute bald mit dem höllischen Feuer bedroht, bald mit den Freuden des Paradieses lockt, bis die schwachen Gemüter ihre Kinder enterben, ihr Gut an die Kirche schenken und dann ohne Besitz umherirren, nichts haben, wovon sie leben können und in ihrer Verzweiflung auf Raub ausgehen?" Das zeigt uns doch sicher die Unbegrenztheit des Verlangens nach Reichtum lange vor Anbruch der kapitalistischen Epoche.

Als diese dann anbricht, so ist es nicht das Streben nach unbegrenztem Reichtum, was damit erst ins Leben tritt; für alle Zeiten gilt der von ARISTOTELES angeführte Vers des SOLON:
    "Reichtum hat kein Ziel,
    das kennbar den Menschen gesteckt ist;"
dieses Streben nimmt dann nur eine andere Richtung. Es richtet sich auf unbegrenzten Erwerb von Geld, weil es in der kapitalistischen Epoche der Besitz von Geld ist, der die Herrschaft über Andere verleiht. (89)

Somit unterscheiden sich die Wirtschaftsstufen und Wirtschaftsformen nicht psychologisch durch die Begrenztheit oder Unbegrenztheit des Bedürfens. Es ist nicht, wie MARX, und nach ihm SOMBART gesagt haben, daß es das charakteristische Merkmal der kapitalistischen Periode sei, daß sich in ihr das Erwerben auf mehr als das Maß des persönlichen Bedürfens richtet, während es in früherer Zeit an dieser Grenze Halt gemacht hat. Das Verlangen nach Gütern über das Maß des persönlichen Bedarfs ist nicht etwas Unpersönliches, das aus dem Wesen des Kapitals fließt. Es ist etwas höchst Persönliches, denn es ist der Ausfluß des Bedürfnisses nach Anerkennung durch Andere, nach Ansehen und Macht. Es tritt nicht erst in der kapitalistischen Wirtschaftsperiode hervor; es ist dieser mit allen vorausgegangenen Perioden gemein. Die Wirtschaftsperioden unterscheiden sich nicht psychologisch durch eine Begrenztheit und Grenzenlosigkeit des Bedürfens, sondern durch das Produktionselement, das in ihnen die Führung hat, und nach welchem sich daher das Verlangen in unbegrenztem Maß richtet.

Aber auch hier dieselbe Erscheinung. Während das Bedürfen nach Macht und Herrschaft grenzenlos ist, daher nie seine Befriedigung findet und eben deshalb auch nie eine Übersättigung eintritt, begegnet jede Zuwachseinheit an Macht einer abnehmenden Reizempfindung; und eben weil das Machtbedürfnis grenzenlos ist, wächst, je mehr Widerstände besiegt worden sind, umso mehr die Unlustempfindung, welche durch die Existenz eines noch nicht Unterworfenen, mag dieser noch so unscheinbar sein, ausgelöst wird.

Die Unendlichkeit des geistigen Bedürfens und das Gesetz der abnehmenden Reizempfindung schließen sich also keineswegs aus. Vielmehr macht sich die Unbegrenztheit des geistigen Bedürfens geltend, eben weil mit der Wiederholung auch derselben psychischen Genüsse eine Übersättigung eintritt. Auch für die psychischen Bedürfnisse gilt der Satz, daß es kein Gut gibt, das wir mit der gleichen Stärke zu begehren fortfahren, gleichviel wie groß die Menge ist, die wir bereits besitzen. Allein das seelische Bedürfen ansich ist unbegrenzt, und jede Befriedigung eines einzelnen Bedürfnisses ruft sofort ein neues, sei es ein weitergehendes, sei es ein höheres, sei es ein qualitative intensiveres Bedürfnis hervor. (90)


VI.

Dabei findet sich dieses Nebeneinanderbestehen von Unbegrenztheit des Bedürfens und abnehmender Reizempfindung beim Fortfahren in der Bereitung von ein und demselben Genuß nicht bloß bei rein psychischen Bedürfnissen, wie z. B. beim Bedürfnis nach einer Erkenntnis der Wahrheit; es wurde schon oben ausgeführt, daß auch jedes physische Bedürfnis des Menschen gleichzeitig ein geistiges ist, daß auch beim physischen Bedürfen des Menschen seine Seele in Schwingung gerät und auch die physische Lust und Unlust gleichzeitig von ihr empfunden werden. Die Menschen unterscheiden sich also nicht bloß dadurch von anderen Lebewesen, daß diese bloß physische, jene auch psychische Bedürfnisse empfinden, sondern beim Menschen sind physische Schmerz- und Lustempfindungen von seelischen Reflexempfindungen gleicher Art begleitet, und, noch mehr, es fließen, wie wir gesehen haben, beim Menschen Ansprüche geistiger Art mit dem Verlangen nach Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse in Eins zusammen; der Mensch verlangt die Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse in einer Weise, die seinen gleichzeitigen seelischen, seinen ethischen, ästhetischen, geistigen und gesellschaftlichen Anforderungen entspricht. Die Folgen sind:

1. Das Gesetz der abnehmenden Reizempfindung wirkt beim Menschen in verstärktem Maße. Neben die verschiedenen Entwicklungsstadien in der Befriedigung des physischen stellen sich noch entsprechende Stadien in der Befriedigung des seelischen Bedürfnisses. Gewiß, auch Tier und Pflanze empfinden Bedürfnis, wachsende Sättigung, Übersättigung; allein die entsprechenden seelischen Affektionen sind ihnen fremd. Die Folge ist: Bei ihnen kann die Befriedigung von ein und demselben Bedürfnis, so oft es auftritt, in ewig sich wiederholender Gleichförmigkeit vor sich gehen. Anders beim Menschen. Bei ihm tritt, wie zum physischen Wohlbehagen bei der Befriedigung eines Bedürfnisses das psychische, so zum physischen Überdruß die Langeweile. Die anderen Lebewesen unterscheiden sich auch dadurch vom Menschen, daß dieser allein sich langweilen kann (91). So konnte HELVETIUS schreiben: "Wenn die Affen sich langweilen könnten, würden sie Menschen werden." Und wenn dieser Satz in seiner epigrammatischen Kürze den Unterschied zwischen Mensch und anderen Lebewesen auch nicht erschöpft, so ist doch so viel richtig, daß der Mensch allein unter allen organischen Wesen das Bedürfnis nach Abwechslung empfindet, und zwar empfindet er es umso mehr, als er sich über den rein animalischen Zustand erhebt, je mehr die Kultur fortschreitet (92). Daher der Wechsel der Mode, des Geschmacks, der Stilarten, den wir mit zunehmender Kultur in steigendem Maße beobachten können. Alles eifern dagegen, sei es vom Standpunkt eines absoluten Schönheitsideals oder des Festhaltens am Historischen, sei es vom Standpunkt der größeren Solidität oder der Sparsamkeit, ist vergeblich. Das Bedürfnis nach Abwechslung liegt tief in der Natur des Menschen. Sobald und wo immer es die Mittel erlauben, ihm zu genügen, erlangt es den Sieg. So ist auf niederen Kulturstufen die Mode sehr gleichbleibend, teils weil die Reizempfindlichkeit gegenüber der Einförmigkeit noch wenig entwickelt ist, teils weil die Kleidungsstücke verhältnismäßig viel teurer sind, als auf höheren Kulturstufen; in dem Maße, in dem die Kultur zunimmt, nimmt nicht bloß das Bedürfnis nach Abwechslung zu, sondern es werden auch die Kleider billiger, und mit elementarer Gewalt verdrängt es dann selbst die glänzendsten Trachten. (93)

2. Die zweite Folge der Verbindung von psychischem Bedürfen mit den physischen Bedürfnissen des Menschen ist das fortschreitende Verlangen nach einer Besserung ihrer Lage und insbesondere die fortschreitende Verfeinerung ihrer Bedürfnisse. Denn infolge dieses psychischen Einschlags gesellt sich beim Menschen zur Abnahme des Genusses, wenn die Bedürfnisse fortdauern in der gleichen Weise befriedigt werden, die Unbegrenztheit des menschlichen Bedürfens. Wie schon oben bei der Erörterung des Bedürfnisses nach Anerkennung durch Andere gesagt worden ist, entstehen die neuen, feineren, höheren Bedürfnisse zunächst bei den Höchststehenden; bei diesen zuerst der Überdruß und die Mittel, ihm durch die Befriedigung neuer Bedürfnisse zu begegnen. Von da an verbreiten sich diese dann auf immer breitere Schichten, bis sie schließlich als selbstverständliche Bedürfnisse Aller gelten. Darüber dann auch die Klagen über zunehmenden Luxus. Sie sind so alt wie die Welt oder wenigstens wie die Kultur.

Die Zunahme solchen Luxus liegt eben tief im Wesen des Menschen. Nicht als ob mit diesen Worten jeder Art von Luxus das Wort geredet werden sollte. Er ist wirtschaftlich verderblich, wo die Luxusausgaben zur Vernachlässigung unentbehrlicher oder höher stehender Bedürfnisse oder gar zum Bankrott führen; er ist verwerflich, wenn die Genüsse Weniger durch das Elend Vieler erkauft werden; er ist schamlos, wenn es sich um Bedürfnisse handelt, deren Befriedigung die Moral verletzt; er ist krankhaft, wo die Kostspieligkeit in der Befriedigung der Genüsse Selbstzweck ist, und er ist widerwärtig, wenn mit dem Steigen der Bedürfnisse nach äußerer Verfeinerung die innere nicht Schritt hält. (94) Allein es sind nicht bloß solche Ausartungen, welche die Leidenschaft der Eiferer gegen den Luxus in Flammen setzen. Wir können heute den merkwürdigen Kontrast erleben, daß beim Nachtisch eines Mahles von einer Üppigkeit, die vor einem Jahrhundert als unerhört gegolten hätte, die Schmausenden darüber klagen, wie die Lebensansprüche der unteren Klasen in die Höhe gehen, daß sie Fleisch essen wollen und dgl.; oder die Gutsbesitzer im Nordosten klagen, daß die zurückkehrenden Sachsengänger nicht mehr barfuß laufen wollen; in einer Broschüre des Justizrats Dr. BAUMERT (95), des Vorsitzenden des preußischen Landesverbands städtischer Haus- und Grundbesitzervereine, finde ich die Denunziation der Forderung, daß jede Mietpartei einen eigenen Abort habe, als eines Ausflusses des Strebens nach größerem Luxus.

Allein, wie der feinsinnige neapolitanische Nationalökonom BRIGANTI schon 1780 geschrieben hat (96): "Ein Mensch ohne jedweden Wunsch, seine eigene Lage zu verbessern, ist ein wandelnder Leichnam"; und andere Schriftsteller seiner Zeit (97) betonen, daß gerade in dieser Steigerung und Verfeinerung der Bedürfnisse der charakteristische Unterschied des Menschen vor allen niedrigeren Lebewesen beruth. Übrigens lohnt sich eine sorgfältigere Pflege bekanntlich selbst bei den Tieren durch eine Steigerung der Eigenschaften, um derentwillen sie geschätzt werden; kein Wunder, daß da, wie JUSTUS MÖSER schon 1772 humoristisch bemerkt hat (98), "ein hübscher weißer Strumpf allemal den größten Einfluß auf die moralische Bildung des Menschen" übt. In der Tat ist es ein Widerspruch, einerseits über den tiefen Kulturstand der unteren Klassen zu klagen, andererseits über die Zunahme ihrer Bedürfnisse. In dem Maße, in dem sich der Mensch über die niedrigen Lebewesen erhebt, macht sich in ihm das Bedürfnis nach Verfeinerung geltend. "Nichts ist unpassender", schrieb schon 1843 WILHELM ROSCHER (99), "als wenn man heutzutage so viel klagen hört über den Luxus der niederen Stände, daß man die Magd von der Frau, den Schreiber vom Beamten kaum unterscheiden kann. Freuen sollte man sich, daß auch die Ärmeren anfangen, an einem feineren Leben, welches sich über die rohesten Genüsse erhebt, Geschmack zu finden. So hat namentlich MALTHUS darauf hingewiesen, daß nichts auf der Welt besser gegen Überbevölkerung schützt, als ein großer Bedürfnisreichtum der Mehrzahl." Abgesehen aber von der Bedeutung der zunehmenden Konkurrenz anderer Genüsse mit den geschlechtlichen für die Bevölkerungszunahme ist die Steigerung der physischen wie der psychischen Bedürfnisse das Einzige, was freie Menschen zur Steigerung ihrer Leistungen veranlaßt; ohne sie würden sie sich mit den Anstrengungen zufrieden gaben, die zur Bestreitung der einmal erreichten Lebenshaltung ausreichen. Es ist daher ein weiterer Widerspruch, gleichzeitig über gesteigerte Ansprüche der arbeitenden Klassen und ein Zurückbleiben ihrer Leistungen hinter den gesteigerten, an sie gestellten Forderungen zu klagen, denn nur vermöge des Steigens ihrer Ansprüche an das Leben können sie zu gesteigerten Leistungen gebracht werden. (100) Schließlich: Gerade insofern die Steigerung der Dringlichkeit an sich relativer Bedürfnisse nach dem Vorbild der höheren Klassen zur Erweiterung der Bedürfnisse der Masse des ganzen Volkes und zur Hebung ihrer Lage führt, wird auch der Luxus der höheren Klassen selbst gerechtfertigt. "Soviel ist gewiß," schrieb ROSCHER 1843 (101), "nur derjenige, welcher die Emanzipation der niederen Stände aus den Banden des Mittelalters für ein Unglück hält, kann im allgemeinen gegen den Luxus derselben eifern."

Somit ergibt sich, daß das Gesetz der abnehmenden Reizempfindung nur für eine Art von Genüssen keine Geltung hat, für die Genüsse der Phantasie. Je lebhafter diese die Befriedigung eines Bedürfnisses voraussieht und je größer die Gewißheit ist, mit der sie den Bedürfenden beseelt, daß die Befriedigung eintreten werde, desto größer das Glück, das die Vorfreude bereitet. Voraussetzung ist allerdings, daß das Begehren und die seine Erfüllung vorausschauende Gewißheit bis zum Tod fortdauern. Dagegen unterliegt jede bei Lebzeiten eingetretene Befriedigung eines Bedürfnisses dem Gesetz des abnehmenden Reizes, und die Schrankenlosigkeit des geistigen Bedürfens der Menschen führt, sobald ein einzelnes Bedürfnis befriedigt ist, daher zu neuem Begehren.


VII.

Wann also ist nach dem Dargelegten das größtmögliche Wohlgefühl der Menschen verwirklicht? Wir sind davon ausgegangen, daß dies das Ziel ist, worauf sich das Streben der Menschen richtet. Unter welchen Bedingungen wird es erreicht?

Betrachten wir zunächst die übrigen Lebewesen. Wann sind die besten Bedingungen für ihr Gedeihen gegeben? Die Frage ist einfach zu beantworten; denn da sie keine psychischen Bedürfnisse empfinden, ist bei ihnen nicht bloß das einzelne Bedürfnis, sondern auch das Bedürfen ansich begrenzt. Nehmen wir z. B. die Pflanzen. Wann sind die besten Bedingungen für ihr Wachstum und ihr größtmöglicher Ertrag gegeben?

Nach LIEBIGs Gesetz des Minimus, ist das Wachstum der Pflanzen von derjenigen Wachstumsbedingung abhängig, welche ihr in geringster Menge zur Verfügung steht. Damit ist gesagt: Die Pflanze gedeiht dann am besten, wenn sich sämtliche Faktoren des Pflanzenwachstums in ihrem Optimum befinden; dann geben sie auch den größten Ertrag. Da aber die Zahl der Pflanzenwachstumsfaktoren begrenzt ist, ist es möglich zu sagen, wann die Bedingungen für das größte Wachstum und die größten Erträge einer Pflanze gegeben sind.

Anders beim Menschen. Zwar gilt auch für ihn das Gesetz des Minimums. Die Größe seines Wohlbefindens wird von demjenigen seiner Bedürfnisse bedingt, das am unvollkommensten befriedigt ist. Doch nun zum Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen: Sein Bedürfen ist unbegrenzt; denn er empfindet außer seinen physischen auch psychische Bedürfnisse, und selbst seine physischen Bedürfnisse treten in Verbindung mit psychischen auf, werden durch sie umgestaltet, verlangen Befriedigung nicht nach Maßgabe dessen war rein physiologisch dazu ausreichen würde, sondern entsprechend der Gesittungsstufe des Volks, der Lebenshaltung der Klasse und den besonderen Ansprüchen des Einzelnen, und sind in der Art und Weise, wie sie ihre Befriedigung verlangen, in fortwährendem Steigen begriffen. Mit dem Unbegrenztsein des menschlichen Begehrens ist aber ausgesprochen, daß es unmöglich ist, daß alle zum größten Wohlgefühl des Menschen nötigen Bedingungen jemals in ihrem Optimum gegeben seien; denn die Befriedigung eines jeden Bedürfnisses ruft stets ein neues hervor, das, solange es nicht befriedigt ist, ein Unlustgefühl mit sich bringt, welches die Erreichung der absoluten Befriedigung, des größten Wohlgefühls, ausschließt.

Wie muß sich nun die Befriedigung der Bedürfnisse gestalten, um wenigstens die größt mögliche  Summe des Wohlgefühls herbeizuführen? Es ist selbstverständlich, daß vor allem die Bedürfnisse der baren Lebenserhaltung befriedigt werden müssen, und zwar in einer Weise, wie sie der jeweilgen Lebenshaltung des Volkes und der Klasse, denen der Bedürfende angehört, entspricht. Allein damit wird noch keine besondere Größe von Wohlgefühl hervorgerufen; es bleiben danach noch unendlich viele dringliche Bedürfnisse. Die Frage bezieht sich nur auf den Fall, daß mehr Mittel, als zur Deckung dieser elementarsten Bedürfnisse nötig ist, vorhanden sind.

Die erste Voraussetzung dafür, daß damit das größtmögliche Wohlgefühl erreicht wird, ist, daß der Mensch mit der Befriedigung eines jeden Bedürfnisses da abbricht, wo ein Mehraufwand von einer Abnahme des Genusses begleitet sein würde (102). Je beschränkter die Menge der ihm verfügbaren Mittel ist, desto mehr wird er sogar bedacht sein, mit der Mehrverwendung schon da aufzuhören, wo diese zwar noch Zuwachs, aber nur abnehmenden Zuwachs an Genuß bringen würde, um durch eine Verwendung der verbleibenden Mittel auf die Befriedigung des nächstdringlichen Bedürfnisses einen größeren Gesamtgenuß zu erzielen.

Die zweite Voraussetzung ist, daß dem Einzelnen neue Genüsse zugänglich sind, sobald sich in der Befriedigung seiner bisherigen Bedürfnisse oder in der bisherigen Art ihrer Befriedigung das Gesetz der abnehmenden Reizempfindung fühlbar macht. Mit jedem neuen Genuß, der ihm zugänglich wird, steigert sich dann die Summe seines Lebensgenusses (103), allerdings um alsbald einem neuen Begehren Platz zu machen, sobald auch der neue Genuß wieder abzunehmen beginnt.

Welche Bedürfnisse so, das eine nach dem anderen, zur Befriedigung gelangen, wird durch subjektive und objektive Bedingungen bestimmt; es ist die je nach Individualität des Bedürfenden und nach den Genüssen, welche den Menschen auf den verschiedenen Kulturstufen verfügbar sind, verschieden.

Wie ARISTOTELES betont, gehen beim Menschen die Arten der Lust weit auseinander: Was dem einen angenehm ist, ist dem anderen unangenehm, und ein und derselbe Gegenstand ruft bei dem einen Unlust und Abscheu, bei dem anderen Lust und Sehnsucht hervor (104); und schon oben wurde bemerkt, daß Geschlecht, Alter, Gewohnheiten, Kenntnisse, Fertigkeiten die Reizempfindlichkeit für Lust und Schmerz beeinflussen. Sie beeinflussen die Fähigkeiten des Menschen. Wenn aber, wie ARISTOTELES sagt (105), jedem diejenige Tätigkeit am schätzbarsten und wünschenswertesten ist, welche mit der ihm eigenen Fähigkeit zusammenhängt, so erhellt sich dadurch, daß die Glückseligkeit nicht für alle gleich ist, und daß dementsprechend je nach den angeborenen und erworbenen Fähigkeiten der Einzelnen auch die Bedürfnisse, nach deren Befriedigung sie verlangen, sehr verschiedene sein werden.

Damit ist aber auch gesagt, daß die Summe des Wohlgefühls, welche den Einzelnen zuteil wird, nur eine sehr verschiedene sein kann; denn die Bedürfnisse sind sehr verschieden im Maß des Glücksgefühls, das ihre Befriedigung hervorzurufen vermag. Es hängt somit die Summe des den Einzelnen zuteil werdenden Wohlgefühls davon ab, welche Art von Genüssen ihnen nach ihren Fähigkeiten zugänglich ist.

Sind dies bloß leibliche Genüsse, so ist der Größe des Wohlgefühls, das deren Verwirklichung mit sich zu bringen vermag, eine nahe Grenze gesetzt. Denn hier folgt, wie wir gesehen haben, auf die Sättigung bald eine Übersättigung, Überdruß und Ekel. Und auch die geistige Veredelung dieser Genüsse kann die Grenze des Glücks, das ihre Befriedigung schafft, nicht allzuweit hinausschieben. Da es sich bei ihnen immer nur um Bedürfnisse handelt, deren Befriedigung in einem passivem Lustempfinden besteht, tritt hier der Höhepunkt der Lustempfindung stets mit der erlangten Sättigung ein, und jede Mehrverwendung auf sie führt zu einer abnehmenden Lustempfindung. Und dasselbe gilt auch für jene geistigen Bedürfnisse, deren Befriedigung bei passivem Verhalten stattfindet. Wo sich der Mensch in Ruhe den süßen Empfindungen der Lust hingibt, wird die Seele abgestumpft durch das träge Gefühl, das sie berauscht. Darauf das Verlangen nach gesteigerten Reizmitteln. Allein auch wenn alle Mittel eines untätigen Überflusses erschöpft werden, verbleibt dem satten Besitzer von Reichtum, der nur passivem Genießen dient, immer nur Unbefriedigtsein als schließliche Wirkung. Dieses Gefühl wächst in dem Maße, in dem sich infolge der täglichen Gewohnheit des Genusses die Empfindlichkeit abstumpft, und die Seele wird von Langeweile verzehrt, der unerbittlichen Geißel solcher Reichen. Wo sie aber Macht über Andere haben, bleibt es nicht bei ihrem eigenen Unglück; da führt das Verlangen nach stärkeren Reizmitteln zu einer immer größeren Bedrückung der von ihnen Abhängigen, und durch die Erpressung der Mittel neuer Genüsse werden diese unglücklicher gemacht, nur um die Nichtbefriedigung ihrer Machthaber weiter zu steigern.

Das größtmögliche Wohlgefühl kann also nicht durch eine noch so große Häufung stagnierender Lustempfindungen erreicht werden. Ganz anders, wo die Menschen Lustempfindungen zugänglich sind, die durch ihre eigene Tätigkeit hervorgerufen werden. Zu diesen gehören diejenigen, welche die Befriedigung der Mehrzahl der psychischen Bedürfnisse bringt. Allerdings stehen auch diese, wie wir gesehen haben, unter dem Gesetz der abnehmenden Reizempfindung; aber das Begehren der Seele ist unbegrenzt; sein Endziel ist ein Ideal, dem, wenn es auch nie erreicht wird, näher zu kommen wohl möglich ist, und jede Stufe der Annäherung, die erreicht wird, bringt Genuß. Freilich bedeutet auch dies nur einen Augenblick des Entzückens. Es dauert nur so lange, als das einstige Begehren, dem der Genuß entspricht, und schon mit dessen Vollendung entsteht ein Sehnen nach mehr. Aber dieses Sehnen treibt zu neuer Tätigkeit, und indem der Mensch dem Ziel derselben zustrebt, sieht er es bereits erreicht, je mehr er sich ihm nähert, und Hoffnung und Phantasie verschönern und vergrößern den Genuß, den er sich von der Erreichung verspricht. In diesem Vorgefühl empfindet er größere Lust über die bevorstehende Verwirklichung des erstrebten als über den bereits erreichten Genuß. Im Jahre 1780 hat BRIGANTI (106) für alle Bedürfnisse behauptet, daß die dem Erreichen des Ersehnten unmittelbar vorausgehende Tätigkeit der glücklichste Zustand des Menschen sei. Wo es sich um die Befriedigung rein physischer Bedürfnisse handelt, ist dies entschieden nicht richtig. Aber für die geistigen Bedürfnisse ist es wohl zutreffend, daß der Mensch das größte Wohlgefühl empfindet, nicht, wenn er den Augenblick des Erreichthaben schon hinter sich hat, sondern wenn der Augenblick des Erreichens unmittelbar bevorsteht.

Wie oben schon ausgesprochen wurde, daß die Genüsse der vorausschauenden Phantasie die einzigen sind, die dem Gesetz der abnehmenden Reizempfindung nicht unterworfen sind, so hängt die Größe des Wohlgefühls, das der Einzelne erreichen kann, somit ab von dem Maß, in dem er nach seinen Fähigkeiten und den Verhältnissen, in denen er lebt, solchen Genüssen zugänglich ist. Dabei wird sich die Verschiedenheit der individuellen Fähigkeiten und Verhältnisse auch in der Art der Bedürfnisse zeigen, in deren erwarteter Befriedigung die vorausschauende Phantasie das Glück erblickt. Der Hauptunterschied, um den es sich dabei handelt, ist der alte, von ARISTOTELES betonte, zwischen Menschen, welche die Glückseligkeit in der Tätigkeit des betrachtenden Verstandes, und denen, die sie im Handeln suchen. Der wissenschaftliche Forscher empfindet den höchsten Genuß in dem Augenblick, wo er eine Wahrheit, nach der er gesucht hat, unmittelbar zu greifen vermag; der, welcher sich einer religiösen Betrachtung hingibt in dem Augenblick, da er das Himmelreich offen sieht. Dabei ist bei beiden das Bedürfnis, in dessen Befriedigung sie das höchste Glück empfinden, kein lediglich egoistisches. Die Seligkeit über die eigene Erkenntnis der Wahrheit wird noch bei Beiden gesteigert durch den Gedanken, daß diese nunmehr ausströmen wird auf Alle und Aller Glück fördern wird. Diejenigen aber, welche die Glückseligkeit im Handeln sehen, genießen ebenso die höchste Glückseligkeit in dem Augenblick, in dem sie das Erstrebte mit Sicherheit als erreicht voraussehen, und auch hier derselbe Übergang vom egoistischen zum altruistischen Fühlen. Das Gefühl der Glückseligkeit wird noch gesteigert in dem Gedanken, daß die Wirkungen der Handlungen Anderen zu gute kommen, mögen diese Anderen das Vaterland sein oder die breiten Massen des Volkes, deren materielles Wohlbefinden, Sittlichkeit, Bildung oder Freiheit der Handelnde als Folge seiner Handlung voraussieht. Dies ist der mächstigste Sporn des Wirkens großer Staatsmänner wie der Stiftungen der Millionäre.

Außer von subjektiven hängen die Bedürfnisse, welche infolge des Strebens nach der größtmöglichen Summe von Wohlgefühl zur Befriedigung gelangen ab, von den Genüssen, welche den Menschen je nach der Kulturstufe, auf der sie sich befinden, verfügbar sind.

WILHELM ROSCHER hat in der Abhandlung "Über den Luxus", auf die hier schon öfters Bezug genommen wurde, drei Entwicklungsstufen desselben unterschieden, den Luxus eines jugendlichen, unausgebildeten Volkes, den blühender und reifer Zeitalter und den verfallender Nationen. Ich zweifle, ob diese Unterscheidung stichhaltig ist, wenn wir sie auch nur anhand der von ROSCHER selbst beigebrachten Tatsachen prüfen; denn gar manches Kuriose, was zur Charakteristik des Luxus verfallender Nationen angeführt wird, gehört Zeiten an, in denen die Nationen, deren Leben es entnommen ist, noch am Anfang einer der Welt sich unterwerfenden Siegeslaufbahn gestanden haben. Allein der Aufsatz enthält so viele weise Urteile und treffliche Gedanken, daß sich anhand desselben und des großen von ROSCHER beigebrachten Materials vielleicht versuchen läßt, den Zusammenhang zwischen Blüte und Verfall eines Volkes und den Bedürfnissen, die sie empfinden, darzulegen. Nur müssen wir erst feststellen, wann wir von einem Verfall der Völker zu reden haben. Mir scheint dies nicht dann schon der Fall zu sein, wenn das Begehren sich auf mehr oder minder extravagante Genüsse richtet. Derartiges kommt in allen Zeitaltern vor, wenn auch selbstverständlich in denen mehr, in denen sich mehr Mittel zu ihrer Beschaffung bieten. Nach dem, was wir kennen gelernt haben, kommt es vielmehr darauf an, ob ein Volk seine Genüsse mehr in stagnierenden Lustempfindungen sucht oder in solchen, die ein aktives Nutzbarmachen der Fähigkeiten voraussetzen. Das erstere kann auch in rohen Zeitaltern vorkommen, das letztere, so extravagant das Angestrebte sein mag, auch in höchst kultivierten Nationen. Je nachdem die Menschen aber Genüsse der einen oder anderen Art erstreben, erlangen sie, wie wir gesehen haben, eine größere oder geringere Summe von Wohlgefühl, und zwar wird eben davon auch ihre Leistungsfähigkeit bedingt, von der ihre Blüte oder ihr Verfall abhängt.

Auf niederer Kulturstufe sind, wie ROSCHER darlegt, Gewerbe und Handel gering. Zur Bedürfnisbefriedigun sind in der Hauptsache nur die Erzeugnisse des eigenen Bodens verfügbar. Die Aufnahmefähigkeit des Magens derjenigen, die mehr davon haben, als sie brauchen, ist aber beschränkt. Der Reichtum kann daher nicht anders nutzbar gemacht werden als durch die Erhaltung Anderer. Er dient somit teils zur Erhaltung von Personen, deren Mangel an Mitteln sie nötigt, sich um ihres Lebens willen in Abhängigkeit von Anderen zu begeben, teils zur roher Gastfreiheit. Durch beides wird das Bedürfnis nach Anerkennung durch Andere befriedigt, im ersteren Fall durch eine Erweiterung der Macht, im zweiten durch eine Mehrung des Ruhms. Bei den Saufgelagen der Großen verkündet der Sänger den zahlreichen Gästen die Gewalttaten und die Freigiebigkeit des Wirts. Daneben noch als Hauptgegenstand des Begehrens das Weib; wo es nicht lediglich als Arbeitskraft geschätzt wird, wird es nur um der sinnlichen Lust willen begehrt.

Dagegen scheint mir ROSCHERs Meinung zweifelhaft, als ob der Gegensatz zwischen Armut und Reichtum auf dieser Kulturstufe nicht empfunden worden wäre, da der Reichtum eben keine andere Verwendung als die Erhaltung Abhängiger zugelassen hat. Finden wir doch, daß die, welche nichts haben, um nur die Mittel zum Emporsteigen zu erlangen, selbst den verwerflichsten Lüsten der Reichen dienen; ein solches Buhlen der Armen um die Gunst der Reichen zeigt, daß der Gegensatz sehr lebhaft empfunden wurde. Die ganze Kulturstufe bietet aber keine anderen als eine beschränkte Menge grob sinnlicher Genüsse und eine Erweiterung der Macht; um ihre eigene Macht zu erweitern, umgeben die Abhängigen die Mächtigen in einem solchen Maß mit sinnlichen Genüssen, daß in den stagnierenden Lustempfindungen, die sie hervorrufen, deren Tatkraft verloren geht; immer größere Reizmittel werden nötig, um dem steigenden Unbefriedigtsein abzuhelfen; die Mittel, die dazu nötig wären, schwinden aber dahin an die Abhängigen, welche die ursprünglich Mächtigen umschmeicheln, bis diese völlig verdrängt werden. So ist das starke Geschlecht des Frankenkönig CHLODWIG zu Fall gekommen. Der Ausgang der Merowingerherrschaft war ein rohes Zeitalter, aber dabei eine Zeit des Verfalls. Nur die rohesten Bedürfnisse kamen bei Reich und Arm zur Befriedigung, und bei beiden war die Summe des unbefriedigten Begehrens größer als die des Wohlgefühls. Dabei kommen edle Naturen vor, welche im Ekel über die Gräuel der handelnden Welt dieser den Rücken kehren, um in einem beschaulichen Leben das Glück zu finden, das jene nicht zu bieten vermochte.

Mit dem aufblühenden Städtewesen beginnt, wie ROSCHER ausgeführt hat, die Roheit zu schwinden. Gewerbe und Handel blühen auf, und damit treten feinere Bedürfnisse hervor, die mit den bisherigen in Konkurrenz treten. Um sie befriedigen zu können, müssen die Reichen ihre Lebensweise ändern. Die Gefolgschaft und Dienerschaft werden verringert; man verwendet jetzt zum Ankauf der Produkte die Mittel, welche diejenigen, die bisher nur als abhängiger Troß ernährt worden waren, herstellen. Es werden also jetzt ebensoviele Menschen wie vorher von den Reichen erhalten, nur geschieht es indirekt, indem sie dafür arbeiten müssen, dafür aber zu Freiheit und selbständigem Wohlstand gelangen. Der Reichtum erlangt ein breitere Basis. Der Luxus erfüllt das ganze Leben und alle Klassen des Volkes. Er hat etwas Sozialgleichheitliches. Damit wächst die Summe des Wohlgefühls im Ganzen wie auch die des Wohlgefühls aller Einzelnen. Die breiten Massen sind nicht mehr auf die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse beschränkt; sie führen ein gesitteteres und gesünderes Leben; aber sie leben nicht in solchem Überfluß, daß die stagnierenden Lustempfindungen die Tatkraft abzuschwächen imstande wären; jeder Tag muß sich sein Wohlgefühl neu erobern. Und infolge der Zugänglichkeit einer größeren Menge leiblicher und geistiger Genüsse ebenso bei den Reichen weniger Langeweile, weniger Überdruß. Aber, wie ROSCHER treffende bemerkt (107), "eine solche Art von Luxus ist nur da möglich, wo die wirtschaftlichen Tugenden der Ordnung und Sparsamkeit und die politischen Tugenden der Freiheit und Aufklärung allgemein verbreitet sind".

Die Entartung des Luxus beginnt erst, wo infolge der politischen Entwicklung das Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten der Verdrossenheit Platz macht, oder die Ungleichheit des Vermögens so groß wird, daß die Einen tatsächlich zu schrankenlosen Beherrschern Anderer werden. Das Erstere kann eintreten, sowohl wenn die politische Freiheit durch die absolute Macht eines Einzelnen unterdrückt wird, als auch wo eine Partei in solchem Maß die Macht hat, daß eine Beeinflussung des öffentlichen Lebens durch Andersdenkende völlig aussichtslos ist.

Je despotischer ein Staat wird, umso mehr pflegt die augenblickliche Genußsucht zu wachsen", schreibt ROSCHER (108). Sehr begreiflich. Damit schwindet das Interesse, sich am öffentlichen Leben aktiv zu beteiligen und damit der wichtigste Teil jener Genüsse, die nur infolge einer aktiven Betätigung der Fähigkeiten empfunden werden. Es bleiben außer denen, welche die wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit bietet, fast nur mehr diejenigen, welche die Erwerbstätigkeit schafft. Die Folge ist, daß deren Ergebnisse von der großen Anzahl der Wohlhabenden mehr und mehr auf solche Bedürfnisse verwendet werden, deren Befriedigung bei passivem Verhalten stattfindet. Um dem rasch sich einstellenden Überdruß zu begegnen, dann eine fortwährende Steigerung der Reizmittel. Auf unbedeutende Genüsse werden enorme Kosten verwendet. Die Kostspieligkeit der Konsumtion wird Selbstzweck. Die fortschreitende Abstumpfung führt zu steigender Unnatur und Verweichlichung. Eben wegen der verweichlichenden Wirkung wird diese Entwicklung seitens der Herrschenden gern gesehen, denn sie sichert die Fortdauer ihrer Herrschaft. Zu allen Zeiten und unter den verschiedensten Verfassungen wurde von denen, welche um ihre Herrschaft zu fürchten hatten, der tugendhafte Patriot verfolgt, während man nichts dagegen hatte, wenn der Jüngling seine beste Kraft in einem üppigen Lebenswandel, beim Wein und mit Frauen verpraßte oder sich in kostspieligen Extravaganzen ruinierte; in der Lizenz des Vergnügens, des Spiels und der Narretei boten sie Entschädigung für den Mangel an Freiheit. Als Endergebnis aber bei den Reichen kein Wohlgefühl, sondern Überdruß und Ekel, und bei den Armen tiefste Verworfenheit; um ihr Leben zu fristen, lassen sie sich bereit finden, auch den schändlichsten Gelüsten der Reichen zu dienen, wie sie deren Streben, ihren abgestumpften Sinnen noch einen Genuß zu verschaffen, hervorruft.

Dabei leiden die Herrscher, um derentwillen die übrigen in ihrer Freiheit beschränkt werden, selbst unter dem allgemeinen Unbehagen, das damit erzeugt wird. In treffenden Worten hat schon GOSSEN diese Wirkungen an LUDWIG XV. von Frankreich illustriert. "Seinen Höflingen und Maitressen", schreibt GOSSEN (109), "gelang es durch eine Verschwendung der Kräfte eines ganzen Volkes, seine Hofhaltung so einzurichten, daß ihm alles, was dem Menschen auf der Stufe der körperlichen und geistigen Ausbildung, auf welcher er sich befand, Genuß zu gewähren imstande ist, fast ununterbrochen geboten wurde. Je mehr dieses Ziel erreicht wurde, umso mehr mußte die Summe des Lebensgenusses des beklagenswerten LUDWIG sinken, denn der Punkt der größten Summe des Genusses war bei ihm bei allen Genüssen längst überschritten. Folge davon war, daß es zuletzt selbst einer POMPADOUR, die doch vor nichts noch so Unnatürlichem zurückschreckte, wenn es für LUDWIG Genuß versprach, nicht mehr gelingen wollte, die tödlichste Langeweile zu verscheuchen. Und so wurde lediglich das erreicht, ein ganzes Volk unglücklich zu machen, um LUDWIG selbst unglücklicher werden zu lassen, als der gedrückteste aller Leibeigenen seines weiten Reichs." Dasselbe gilt für jene deutschen Herrscher des 18. Jahrhunderts, welche in dem französischen König das Ideal sahen, dem sie nachstrebten, und für ihre Völker.

Wo kräftige Naturen den absoluten Herrscherthron innehaben, wie die Vorgänger LUDWIGs XV. oder andere deutsche Fürsten des 17. oder 18. Jahrhunderts, verfolgen sie dagegen Interessen, deren Befriedigung nur durch eine sehr aktive Betätigung der Fähigkeiten stattfinden kann. Hier daher trotz fehlender Freiheit kein entarteter Luxus. Allein auch hier kein Befriedigtsein weder bei Herrschern noch bei Beherrschten. Bei jenen steigt das Begehren nach Macht, je mehr es befriedigt wird; jeder Zuwachs an Macht verliert seinen Reiz, sobald er gewonnen ist, und je erfolgreicher das Streben nach Machterweiterung ist, umso größer ist die Unlustempfindung über jedeweden noch sich bietenden Widerstand. Dieses Streben nach Macht führt dann den aufgeklärten Despotismus dazu, sich um das Los auch des Beherrscten zu kümmern, da durch dieses deren Leistungsfäigkeit und durch diese die Machterweiterung der Herrscher bedingt wird. Diese Politik wird sogar philosophisch verklärt. Nicht erst durch BENTHAM, sondern schon vor ihm wird das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl als das zu erstrebende Ziel hingestellt (110). Aber die Maßnahmen, die von den absoluten Herrschern zu seiner Verwirklichung ergriffen werden, erweisen sich als wenig geeignet, ihren Zweck zu erreichen. Denn alles, wodurch das Glück der Beherrschten herbeigeführt werden soll, wird ihnen von oben befohlen. Die besten Maßnahmen begegnen daher oft der äußersten Haßempfindung statt Dank. Je mer die Lage der Beherrschten gehoben wird, desto intensiver ihr Begehren nach Freiheit, desto größer die Unlustempfidnung über den Zwang, und der Tod der verdientesten Herrscher wird wie eine Erlösung von einem Unglück begrüßt.

Aber auch wo politische Freiheit herrscht, zeigen sich die gleichen Erscheinungen dann, wenn die wirtschaftliche Entwicklung zu so großer Ungleichheit der Vermögen führt, daß die Freiheit nur zu einem Mittel in der Hand der wirtschaftlich Starken wird, um die Freiheit der Schwachen aufzuheben. Auch hier sind die Weichlichen und Ungebildeten unter den Reihen von den kräftigen Naturen zu unterscheiden. Den ersteren dient ihr Reichtum nur zur Vergrößerung des Spielraums passiver Lustempfindung. Sie werden die Träger jener Entartungen des Luxus, von denen unsere Zeitungen in ihren Berichten über die Extravaganzen amerikanischer Millionäre so voll sind, und die Ursache der Depravation [Verschlechterung - wp] jener Angehörigen der unteren Klassen, die sich der Befriedigung ihrer Bedürfnisse bieten. (111) Ihnen gegenüber stehen die Kräftigen, deren höchstes Bedürfnis die Macht ist, und die unersättlich Reichtum auf Reichtum häufen, um ihrem unerreichbaren Ideal wenigstens näher zu kommen. Auch hier, eben im Interesse dieses Machtbedürfnisses, großer Aufwand auf Abhängige; durch Wohlfahrtseinrichtungen, welche durch die Art, wie sie für gewisse Bedürfnisse derselben sorgen, ihnen die Möglichkeit nehmen, ohne große Opfer von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen, wird deren Abhängigkeit verstärkt (112). Und bei beiden Arten von Reichen das gleiche Unbefriedigtsein als Ergebnis. Bei jenen Langeweile, Überdruß, Ekel, bei diesen Unlustempfindung über jede sich noch entgegenstellende "Unbotmäßigkeit", und bei den von ihnen Ausgebeuteten die gleiche Unlustempfindung, bei den einen wegen Mangels und Entwürdigung ihrer Person, bei den anderen wegen fehlender Freiheit.

Ganz anders, wo Reichtum und Macht nicht als Mittel für selbstische, sondern für altruistische Zwecke erstrebt werden, nicht um Andere zu unterjochen, sondern sie zur Freiheit und Entfaltung ihrer Kräfte zu erziehen. Es gibt auch amerikanische Millionäre, welche ausgeben, ohne für sich dabei etwas zu suchen, lediglich um Andere besser und glücklicher zu machen. Allerdings hat sich bei ihnen diese Art des Ausgebens erst eingestellt, nachdem sie die Nichtbefriedigung, welche das bloße Ausgeben für sich mit sich bringt, gekostet hatten. Einen anderen Charakteren trug das Vorgehen ABBEs (113). Von Anfang an hat er altruistische Ziele verfolgt, und seine Wohlfahrtseinrichtungen wurden von ihm getroffen, nicht um die Machtstellung des Herrn über den Abhängigen zu steigern, sondern um einen edleren gesellschaftlichen Zustand herbeizuführen, in dem statt Übermacht Gerechtigkeit herrschen würde; und im Streben nach diesem Ideal und in der Voraussicht des Zustandes, in dem es erreicht sein würde, empfinden Naturen, wie er, jene größtmögliche Summe von Wohlgefühl, die allen, die nur ein erreichbares Ziel erstreben, auch nach dessen Erreichung versagt bleibt.

Allein wozu überhaupt diese Darlegungen; hat doch GOETHE ihren Grundgedanken in seinem  Faust  in unvergänglicher Gestaltung längst zum Ausdruck gebracht!

Unbefriedigt von allem Wissen tritt FAUST aus seiner Doktorzelle ins Leben.
    "Ich fühl's vergebens hab' ich alle Schätze,
    Des Menschengeists auf mich herbeigerafft."
Das handelnde Leben soll ihm die Glückseligkeit geben, die ihm das der Tätigkeit der Vernunft gewidmete Leben nicht gebracht hat. Aber jeder Genuß erzeugt ihm nur Überdruß und neue Pein und die Erfüllung des Versprechens, den Augenblick zu schaffen, von dem FAUST sagen wird:
    "Verweile doch! Du bist so schön!"
bringt selbst den Teufel der Verzweiflung nahe. Zuerst bietet er FAUST sinnliche Genüsse. Allein sie vermögen nicht das Verlangen zu stillen.
    "So tauml' ich von Begierde zu Genuß,
    Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde."
Nichts, was MEPHISTO bieten kann, schafft den versprochenen Augenblick. FAUST weist schließlich jedes weitere Anerbieten sinnlicher Genüsse zurück. Genießen macht gemein. Herrschaft ist es, was er verlangt. Im Befehlen will er Seligkeit empfinden. Allein auch hier wird das Glück nicht erreicht, solange es noch Einen, wenn auch noch so Geringen gibt, der sich nicht unterworfen hat.
    "Die wenigen Bäume nicht mein eigen,
    Verderben mit den Weltbesitz"
sagt FAUST von dem kleinen Besitztum von PHILEMON und BAUCIS, und gleich darauf:
    "So sind am härtesten wir gequält:
    Im Reichtum fühlend, was uns fehlt."
Und nachdem er auch dieses erlangt hat, aber auch damit nicht die erhoffte Befriedigung, bietet ihm schließlich die Phantasie, was kein Genuß ihm gewähren konnte, in der Vorstellung von den freien Menschen, deren schaffensfreudiges Leben er mit seinen Machtmitteln ermöglicht hat.
    "Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn,
    Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn."
An die Stelle des egoistischen sind altruistische Bedürfnisse getreten, und von der Befriedigung, die sie schaffen, sagt FAUST
    "Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
    Genieß ich jetzt den schönsten Augenblick",
und damit erst hat er vollendet.

Und nun das Gegenstück! GOETHE hat uns im  Faust  einen Menschen vorgeführt, der sich unbefriedigt vom Wissen dem Leben zuwendet; schon LOEPER hat in der Vorbemerkung zu seiner Faust-Ausgabe gesagt (114), daß ein anderes Drama mit ebensoviel, vielleicht sogar mit größerer Wahrheit die Entwicklung vom Leben, vom Überdruß an der Empirie zum Wissen und reinen Denken darstellen könnte. KARL V., in dessen Reich die Sonne nicht unterging, hat sich am Abend seines Lebens in ein Kloster zurückgezogen, als wollte er für ARISTOTELES Zeugnis ablegen, der die Tätigkeit des Verstandes in der Betrachtung der Dinge für die oberste erklärt hat, und dieses Beispiel eines Abwendens vom praktischen Handeln zur beschaulichen oder betrachtenden Tätigkeit ist nicht das einzige.

Ist KARL V. im Kloster glücklicher geworden, als FAUST bei all dem, was MEPHISTO ihm vergeblich geboten hat? Wenn ja, so doch nicht durch das, was das Kloster selbst ihm bot, sondern durch die Vorausahnung künftiger Freuden, denen er sich dort hingeben wollte. Also insofern dasselbe wie bei FAUST. Bei beiden gewährt die Phantasie das höchste Glück durch die Vorfreude von etwas, was in der Wirklichkeit nicht erreicht wird, also auch von abnehmender Reizempfindung nicht begleitet sein kann.

Bei beiden ferner, bei KARL V. wie bei FAUST, macht sich das Bedürfnis nach Abwechslung geltend. Denjenigen, der den größten Teil seines Lebens in der Tätigkeit des betrachtenden Verstandes zugebracht hat, führt der Überdruß an dem, was die Wissenschaft bot, zum Handeln. Wessen Lebensaufgabe das Handeln war und dem kein Genuß, den das handelnde Leben bot, auch nicht die Seligkeit des Befehlens, das erstrebt Glück gebracht hat, gelangt zu einem dem Erkennen gewidmeten Leben. Dies wohl die Entwicklung der Mehrzahl. Beide Richtungen, soweit sie überhaupt Befriedigung gewähren, bieten sie nur in der Einbildung, in der Vorfreude über den erwarteten Erfolg.
LITERATUR Lujo Brentano, Versuch einer Theorie der Bedürfnisse, Sitzungsberichte der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften Philosophisch-philologische und historische Klasse, Jahrgang 1908, München 1909
    Anmerkungen
    64) BENTHAM hat der Intensität und Dauer der Lustempfindung noch andere Momente als koordinierte Faktoren des Wohlgefühls an die Seite gestellt. (Vgl. Benthams Werke, hg. von BOWRING, Edinburg 1843, Bd. 3, Seite 286f; ferner J. BENTHAMs "Prinzipien der Gesetzgebung", hg. von ETIENNE DUMONT, Köln 1833, Seite 43f. "Deontologie oder die Wissenschaft der Moral", Bd. 1, Leipzig 1834, Seite 81) Sie sind ihnen aber nicht koordiniert, sondern selbst nur Faktoren, welche die Intensität der Lustempfindung, durch die das Wohlgefühl verursacht wird, beeinflussen. - Über das Verhältnis von Intensität und Dauer vgl. auch JEVONS, The theory of political economy, 3. Ausgabe, London 1888, Seite 29 und PANTALEONI, Principii di economia pura, Florenz 1889, Seite 36.
    65) BENTHAM bemerkt hierzu (Deontologie, Seite 101): "In der Schätzung unseres Wohlergehens verhält sich Reinheit und Unreinheit zueinander wie Gewinn und Verlust im Rechnungsbuch des Kaufmanns. Reinheit ist Vorteil, Unreinheit Verlust. Ein vorherrschend unreines Vergnügen gleicht einer Kassenrechnung, wobei sich manches Defizit vorfindet, dagegen in einem vorherrschend unreinen Schmerz öfters ein plus als ein minus vorhanden ist." Schon vor BENTHAM hat VERRI, "Discorso sull' indole del piacere e del dolore" geschrieben: "Jede unserer Handlungen gleicht einem Kauf; geben wir Geld, um eine Sache zu erlangen; Geld fortzugeben ist selbst ein Übel; aber wenn wir kaufen, denken wir, daß das Ding, das wir wünschen, ein größeres Gut ist als dieses Übel. Gleichviel, welches die Lage eines Menschen ist, auch auf dem Thron, muß er eine Anzahl beschwerlicher, unangenehmer und mühseliger Handlungen vornehmen, um sich Lustempfindungen zu verschaffen."
    66) Vgl. EUGEN von BÖHM-BAWERK, Rechte und Verhältnisse vom Standpunkt der volkswirtschaftlichen Güterlehre, Innsbruck 1887.
    67) Vgl. BÖHM-BAWERK, Rechte etc. Seite 38
    68) Vgl. DUMONT, Benthams Prinzipien der Gesetzgebung, Kapitel 9, Seite 45f.
    69) Vgl. F. A. LANGE, Arbeiterfrage, Seite 116f und 120f
    70) Vgl. VERWORN, Allgemeine Physiologie, 4. Auflage, Jena 1903, Seite 371
    71) JULIUS SACHS, Jahrbücher für wissenschaftliche Botanik, Bd. 2, 1860, Seite 338. - Lehrbuch der Botanik, Leipzig 1870, Seite 611 und 613.
    72) Untersuchungen über den Einfluß der Wachstumsfaktoren auf das Produktionsvermögen der Kulturpflanzen, in EWALD WOLLNYs Forschungen auf dem Gebiet der Agrikulturphysik, Bd. XX.
    73) ARISTOTELES, Politik VII, 1. Vgl. auch Nikomachische Ethik X, 4 über die Ursachen der abnehmenden Lustempfindung.
    74) Vgl. auch meine Abhandlung über "Die Entwicklung der Wertlehre", Nr. 3 der Sitzungsberichte, Jahrgang 1908, wo ich diese Entwicklung schon berührt habe.
    75) FECHNER, Elemente der Psychophysik, Leipzig 1860
    76) GOSSEN, Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1853, Seite 4 und 5. (Neue Ausgabe, Berlin 1889)
    77) Siehe: Die Grundlage der modernen Wertlehre: Daniel Bernoulli, Versuch einer neuen Theorie der Wertbestimmung von Glücksfällen, hg. von A. PRINGSHEIM, Leipzig 1896. Vgl. dazu auch LAPLACE, Essai philosophique sur les probabilitiés, 5. éd. Paris 1825, Seite 27f. Über die diesbezügliche Lehre BENTHAMs vgl. O. KRAUS, Zur Theorie des Wertes - eine Bentham-Studie, Halle/Saale 1902
    78) Vgl. z. B. die Schilderung "The Astor fortune" in H. G. WELLS, The future in America, Tauchnitz-Edition, Leipzi 1907, Seite 105f
    79) Vgl. ARISTOTELES, Politik (ins Deutsche übertragen von JAKOB BERNAYS) Berlin 1872, Seite 33 (Politik I, 9): "Wie nämlich von der Arzneikunde die Gesundheit und von allen Kunstfertigkeiten ihr Zweck bis ins Unbegrenzte verfolgt wird, - denn sie wollen ihn ja so sehr als möglich hervorrufen - dagegen das Zweckdienliche nicht bis ins Unbegrenzte, denn für dieses bildet der Zweck die Grenze: so hat auch die krämerhafte Finanzkunde (andere übersetzen: die Bereicherungskunst, die Kunst des Geldererwerbs) keine Grenze für ihren Zweck." Vgl. auch ARISTOTELES, Politik VII, 1.
    80) GOSSEN, a. a. O. Seite 5 und 6
    81) PIDERIT, zitiert von F. A. LANGE, Die Arbeiterfrage", Kapitel III, 3. Auflage, Winterthur 1875, Seite 118
    82) So hat ja schon MONTAIGNE (Des récompenses d'honneur, Essais, Buch I, Kap. VII) geschrieben: "Ich glaube nicht, daß sich in Sparta irgendein Bürger seiner Tapferkeit gerühmt hat, denn das war dort eine allgemeine Tugend, noch auch seiner Treue, noch auch seiner Verachtung des Reichtums. Einer Tugend, die herkömmlich geworden ist, wird keine Anerkennung zuteil, wie groß sie auch sein mag; ja ich weiß nicht, ob wir sie überhaupt als groß bezeichnen würden, wo sie allgemein ist."
    83) Vgl. auch F. A. LANGE, Die Arbeiterfrage, Kapitel 3, Seite 115
    84) Mit Recht schreibt SCHMOLLER, "Die ländliche Arbeiterfrage mit besonderer Rücksicht auf die norddeutschen Verhältnisse", Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1866, Seite 171: "Jede Bewegung wird zuerst von einer aristokratischen Elite getragen; die Buchdrucker und Eisenbahnarbeiter, verschwindend an Zahl, aber am höchsten stehend an Lohn und Bildung, haben in England zu einer Zeit Arbeitseinstellungen, Koalitionen, Lohnerhöhungsforderungen gemacht, als die anderen Arbeiter noch an nichts dachten. Daß die landwirtschaftlichen Arbeiter zuletzt aus der Stagnation heraustreten, kommt nich von ihrer numerischen Unbdeutendheit her, sondern hängt im Gegenteil gerade damit zusammen, daß sie die zahlreichste, aber zugleich die am tiefsten stehende Arbeiterklasse sind."
    85) WERNER SOMBART, Der moderne Kapitalismus, Bd. 1, Leipzig 1902, Seite 195f
    86) KARL MARX, Das Kapital, Bd. 1, Hamburg 1867, Seite 113f
    87) ARISTOTELES, Politik I, 3. ARISTOTELES unterscheidet zwischen Haushaltskunst und Erwerbskunst. Jene beschränke sich auf die Beschaffung der zum Leben notwendigen und für das Haus oder den Staat nützlichen Güter; diese sei unbegrenzt. Diese Unbegrenztheit folgt für ihn aus dem Wesen der Erwerbskunst, nur daß er dieses Streben nicht, wie SOMBART, von der leiblichen individuellen Persönlichkeit loslöst, sondern als Ausfluß der Unendlichkeit ihres Begehrens hinstellt (vgl. auch Politik I, 9). Eigentlich ist dieses Streben auch bei KARL MARX nicht vom persönlichen Bedürfen des Menschen losgelöst, indem er sich gleich auf der ersten Seite des ersten Bandes des "Kapitals" auf BARBON beruft, der da sagt: the greatest number (of things) have their value from supplying the wants of the mind; [Die meisten Dinge gewinnen ihren Wert aus der Befriedigung geistiger Bedürfnisse. - wp] die letzteren nämlich sind unbegrenzt.
    88) Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen in meiner Schrift "Über Anerbenrecht und Grundeigentum", Berlin 1895, Seite 17 und 18; jetzt auch MICHAEL HAINISCH, Die Entstehung des Kapitalzinses, Leipzig und Wien 1907, Seite 50.
    89) Der Wandel hat sich in einigen Ländern in einem sehr kurzen Zeitraum zusammengedrängt. In WALTER SCOTTs anschaulichem Aufsatz über das schottische Clansystem (The Culloden Papers im  Quaterly Review,  Januar 1816) findet sich folgende für den Wandel in den Gütern, worin in den verschiedenen Perioden der Schwerpunkt der Wirtschaft lag, charakteristische Stelle: "Folgendes war die Art und Weise, wie im Hochland in alten Zeiten ein Besitz verwertet wurde. "Ich bin alt geworden, um traurige Tage zu sehen", sagte zu mir im Jahre 1788 ein Klanhäuptling aus Argyleshire. "Als ich jung war, war die einzige, den Rang eines Manns betreffende Frage, wieviel Mann auf seinem Besitz lebten; dann frug man, wie viel Stück schwarzes Vieh er zu halten vermag; aber jetzt fragen sie nur, wieviele Schafe das Land zu ernähren vermag." Denn die Schafzucht war das, was damals das meiste Geld brachte.
    90) Das haben die im vorstehenden gepflogenen Erörterungen gezeigt und damit fallen auch die von MARSHALL, Handbuch der Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, Seite 136 gegen BANFIELD, Four lectures on the organization of industry, London 1845, Seite 11, gerichteten Bemerkungen. Das von BANFIELD Behauptete haben übrigens namentlich die frühen italienischen Nationalökonomen lange vor ihm betont, so LOTTINI, Avvedimenti civili, in der Sammlung italienischer Ökonomisten, Bd. 6, Mailand 1839, Seite 570; GALIANI, "Della moneta", Bd. 3 der Custodischen Sammlung, Seite 59; BRIGANTI, aber auch ältere Nationalökonomen anderer Nationalität, wie STORCH.
    91) STORCH, Cours d'économie politique, Bd. 1, Seite 51. Ich habe das Buch von G. JOHN ROMANES, Die geistige Entwicklung im Tierreich, Leipzig 1885, daraufhin durchstudiert, ob etwa die Darwinianer eine dieser Aufstellung STORCHs widersprechende Tatsache beibrächten. Es ist dies nicht der Fall. Vielmehr beruth alles von ihnen erörterte Handeln der Tiere auf Erfahrung und Gewohnheit, also auf dem Gegenteil des Bedürfnisses nach Abwechslung.
    92) Vgl. auch W. N. SENIOR, Political economy, 5. ed. London 1863, Seite 11
    93) Eine unterhaltende Jllustration hierzu findet sich bei ELIAS REGNAULT, Histoire politique et sociale des principautés danubiennes, Paris 1855, Seite 272, über das Eindringen der Mode und ihres Wechsels bei den rumänischen Bojarenfrauen. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts trug eine jede ein ganzes Vermögen auf dem Leib. Die Haare waren durchsät mit Goldmünzen, der Hals strahlend von Edelgestein, der Körper bedeckt mit dem ererbten Staatskleid, das mit allen Diamanten besetzt war, welche eine Familiengeneration der anderen überlieferte. Da kam 1805 der französische Gesandte in Konstantinopel, General SEBASTIANI, mit seiner jungen Gemahlin nach Bukarest. Der Hospodar gab ihm einen Ball. Alle Bojarenfrauen waren da in ihrem ererbten Staat, voll ungeduldiger Neugier, wie die Toilette der Gesandtin der ersten Großmacht aussehen wird. Sie waren fassungslos, als sie diese am Arm des Hospodars eintreten sahen, in ein einfaches Kleid von weißem Krepp gekleidet, ohne anderen Schmukc im Haar als einem Schildpattkamm, aber strahlend in Jugendschöne und natürlicher Würde. Ihr weiblicher Instinkt erkannte alsbald die wahre Größe und Schönheit; sie bekannten, es habe ihnen geschienen, daß eine Königin eintrete. Einige freilich meinten zuerst, der Schildplattkamm müsse wohl einen fabelhaften Wert haben; bald aber drang die Meinung durch, daß eine Frau schön sein kann ohne Erbstaat. Seitdem verzichteten die Frauen auf ihre Erbkleidung rascher als die Bojaren auf ihre Pelze und Kolpaks. Die französische Mode hielt ihren Einzug in Bukarest mit ihrer Einfachheit, aber - auch mit ihrem Wechsel.
    94) Vgl. ROSCHER, Ansichten a. a. O., Seite 410 und 450.
    95) Vgl. BAUMERT, Zum preußischen Wohungsgesetzentwurf, Berlin 1905, Seite 38f. Um eine Vorstellung von den Verhältnissen zu ermöglichen, in deren Beseitigung ein verwerfliches "Streben nach größerem Luxus" sich kundgeben soll, seien aus der "Erhebung der Wohnverhältnisse in der Stadt München von 1904 - 1907, III. Teil: Das Ostend". (Mitteilungen des Statistischen Amts der Stadt München, Nr. 20, Heft 1, Teil III, Seite 11) folgende Angaben angeführt: "Von 31503 Wohnungen haben eigenen Abort, entsprechen also der Normalforderung, 11 891 (37,7%), - gemeinsame Abortbenützung findet sich bei 18346 (58,4 %) und ohne Abort benützen insbesondere Kübel 666. In 21 Fällen benützen sogar zwei Wohnungen und in einem Fall gar drei Wohnungen gemeinsam einen Kübel. Die Bewohner der anderen 510 Wohnungen ohne Abort sind auf die von der Gemeinde errichteten Aborte angewiesen oder sie erwirken sich, wie es vielfach vorkommt, in einer in der Nähe liegende Wirtschaft das Recht auf die Benützung des Wirtschaftsaborts gegen die Verpflichtung, ihren Bierbedarf bei dem betreffenden Wirt zu decken".
    96) Vgl. BRIGANTI, a. a. O. Bd. 1, Seite 28
    97) Vgl. Élements de la politique (par le Comte de Buat), London 1773, Bd. 1, Seite 80f; STORCH, Cours d'économie politique, Bd. 1, Seite 50f
    98) JUSTUS MÖSER, Patriotische Phantasien, Ausgabe von ABEKEN, Berlin 1858, Bd. 2, Seite 45
    99) WILHELM ROSCHER, In seinem in RAU-HANSSENs "Archiv der politischen Ökonomie und Polizeiwissenschaft", Neue Folge, Nr. 1, zuerst erschienenen Aufsatz" Über den Luxus", Seite 60, wieder abgedruckt in den "Ansichten", Seite 446.
    100) Vgl. schon Éléments de la politique (par le Comte de Buat), Bd. 1, Seite 138f und 142f; ferner "Benjamin Franklins Leben und Schriften", bearbeitet von BINZER, Kiel 1829, Bd. 4, Seite 57; "Über den Charakter des Bauern" in CHRISTIAN GARVE, Vermischte Aufsätze, Breslau 1796, Seite 25; WERNER von SIEMENS, Lebenserinnerungen, 2. Auflage, Berlin 1893, Seite 216.
    101) ROSCHER, Rau-Hanssens Archiv, a. a. O. Seite 61
    102) Vgl. GOSSEN, a. a. O., Seite 12 und 33. Auch PANTALEONI, a. a. O., Seite 48
    103) Vgl. GOSSEN, a. a. O., Seite 21
    104) ARISTOTELES, Nikomachische Ethik, Buch 10, 5.
    105) ARISTOTELES, Nikomachische Ethik, Buch 10, 6.
    106) BRIGANTI, Esame economico del sistema civile, in CUSTODIs "Scrittori classici, tomo XXVIII, Seite 17f. Vgl. auch BAIN, The Emotions and the Will, Seite 74 und STANLEY JEVONS, a. a. O. Seite 33f
    107) ROSCHER, Über den Luxus, RAU-HANSSENs Archiv a. a. O., Seite 61
    108) ROSCHER, Ansichten, a. a. O. 2. Auflage, Seite 456
    109) GOSSEN, a. a. O., Seite 11 und 12
    110) Vgl. ÉlÉments de la politique, a. a. O. Seite 67. - BRIGANTI, a. a. O.
    111) Der Prozeß THAW im Jahre 1907 hat ein erschreckendes Bild von beidem entrollt. Aber auch wo subjektive Unempfänglichkeit für qualitative Genußsteigerung nicht zu einer solchen Perversität führt, zeigen sich die lächerlichsten Entartungen des Luxus als Folge derselben. Vgl. H. G. WELLS, The Future in America, Chapter VI: Some Aspects of American Wealth, Tauchnitz-Edition, Leipzig 1907, Seite 98f
    112) Vgl. Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 114: Die Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber in Deutschland und Frankreich.
    113) Vgl. ERNST ABBE, Sozialpolitische Schriften, Jena 1906
    114) GUSTAV von LOEPER, Hg., Goethes Werke (Ausgabe von HEMPEL, XII. Teil.