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EMIL BULLATY
Erkenntnistheorie und Psychologie

"Die Erforschung und Feststellung von Voraussetzungen, unter welchen sich das menschliche Denken philosophische Aufgaben zu stellen und Probleme zu lösen für berechtigt halten darf, bildete bald die einzige Sorge der Philosophie. Die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis beherrschte von nun an die öffentliche Diskussion."

So wenig wir uns der Einsicht verschließen, daß unserem Erkennen Grenzen gesteckt sind, über die wir nicht hinauskommen und uns schon allein deshalb versucht fühlen, dort, wo wir die Erkenntnis selbst als Problem aufrollen, uns mit bloßen Voraussetzungen abzufinden, werden wir jenen Bestrebungen, welche den Motiven der Erkenntnis nachgehen, den von ihnen erhobenen Anspruch auf Voraussetzungslosigkeit vorenthalten. Dann dürfen wir es uns aber auch nicht verdrießen lassen, die Motive, welche zu einem mit bloßen Voraussetzungen abschließenden erkenntnistheoretischen Standpunkt führen, einer Kritik zu unterziehen, wenn wir den Widerspruch, zu welchem eine mit bloßen Voraussetzungen einsetzende, dennoch aber mit den Ansprüchen einer voraussetzungslosen Forschung auftretende Denkrichtung herausfordert, zum Schweigen bringen sollen. Diesem Verlangen nachzukommen, werden wir uns umso mehr angelegen sein lassen müssen, als wir die schroffsten Gegensätze und einander direkt widerstrebende Standpunkte im Lager voraussetzungsloser Forschung vereinigt finden. Voraussetzungslos ist das Dogma, weil es keine Voraussetzungen macht und nur Behauptungen aufstellt, voraussetzungslos sind aber auch die Naturwissenschaften, weil sie für ihre Fortbildung keiner Voraussetzung bedürfen, trotzdem aber der Versuchung nicht widerstehen können, Voraussetzungen zu machen, um auch unsere erkenntnistheoretischen Ansprüche, die wir an ihre jeden Zweifel ausschließenden und mit apodiktischer [logisch zwingender, demonstrierbarer - wp]Gewißheit auftretenden Ergebnisse stellen, zu befriedigen, voraussetzungslos war die Philosophie, als sie blind die steilen Höhenzüge metaphysischer, transzendenter Begriffe im Sturm nehmen zu können glaubte. Aber schon die ersten Lichtstrahlen kritischen Denkens erwiese sich als stark genug, um dieses dunkle Gewölke metaphysischer Begriffsbildung zu zerreißen; dann war es auch hier, in der Philosophie, um die Voraussetzungslosigkeit geschehen, mit welcher man auf unbekannten Wegen unbekannten Zielen zueilte. Die Erforschung und Feststellung von Voraussetzungen, unter welchen sich das menschliche Denken philosophische Aufgaben zu stellen und Probleme zu lösen für berechtigt halten darf, bildete bald die einzige Sorge der Philosophie. Die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis beherrschte von nun an die öffentliche Diskussion.

Diese Frage bildet den Angelpunkt der Kantischen Philosophie, welche von der Intention geleitet, dem erkenntnistheoretischen Zweifel eines HUME eine positive erkenntnistheoretische Tat entgegenzustellen die Erkenntnis auf ihre Voraussetzungen zu prüfen versucht. KANT und HUME waren von der gleichen erkenntnistheoretischen Überzeugung durchdrungen. Der Gedanke, wie eine uns fremd gegenüberstehende Gegenstandswelt erkannt werden könne, schien beiden unfaßbar. Und fremd stehen uns die Gegenstände gegenüber, weil sie außerhalb des Bewußtsein, in einer Außenwelt, gegeben waren und weil wir sie nur aus ihren Wirkungen auf unsere Sinne erkennen. Diese Annahme brachte HUME auf den Standpunkt, daß wir in unserer Erkenntnis der Gegenstandswelt uns damit begnügen müssen, was wir von dieser erfahren, unsere Erfahrung der Gegenstandswelt schon deshalb, weil sie uns keine Bürgschaften für ihre objektive reale Gültigkeit zu geben vermag, dem Zweifel unterworfen sei. Den Beweggründen des HUMEschen Empirismus vermochte sich auch KANT nicht zu verschließen, ja er fand, daß sie den Empirismus über den Skeptizismus hinausführen und deshalb noch um einen Schritt weitergegangen werden müsse. Diesen Schritt hat KANT auch getan mit seiner Ansicht, daß die Gegenstände, um erkannt zu werden, uns nicht ganz fremd gegenüberstehen können und dürfen, daß von der Gegenstandswelt schon a priori etwas in uns liegen müsse, zumindest die allgemeine, für jede mögliche Erfahrung gültige Form der Gegenstände. Diesen Gegenstand jeder möglichen Erfahrung können wir jedoch nur denken. Die Gegenstände zu denken sei aber Aufgabe des Verstandes, welcher somit in seinen Grundbegriffen in den Kategorien, die allgemeine Form der Erkenntnis liefert, welcher erst die Sinnlichkeit Inhalt gibt, damit den nur gedachten Gegenstand jeder möglichen Erfahrung zu einem wirklichen Erfahrungsgegenstand umgestaltet, die allgemeine nur mögliche Erfahrung in wirkliche Einzelerfahrung auflöst. Verstand und Sinnlichkeit, durch deren Zusammenwirken die Erfahrung zustande kommt, bilden somit die gemeinsamen Quellen der Erkenntnis, welche daher mit der Erfahrung anhebt, jedoch nicht erst in ihr, sondern schon in ihren Elementen entspringt.

Der skeptische Empirismus HUMEs wurde durch einen kritischen Empirismus ausgelöst, welcher schlechtweg auch als Kritizismus bezeichnet wird, in der Tat aber nur eine aus bloßen Voraussetzungen der Erkenntnis geschöpfte Kritik der Erfahrung uns bietet. Mit diesen Voraussetzungen der Erkenntnis steht und fällt KANTs Erfahrungskritik und das ganze Gebäude einer Erkenntnistheorie läge dann unter den Trümmern dieser Voraussetzungen begraben.

Die erwachte Einsicht von der Unmöglichkeit, für die Gültigkeit unserer Erkenntnisse Garantien zu erlangen, brachte HUME auf den Standpunkt des Skeptizismus; diesen vermag KANTs Philosophie, trotzdem sie über ihn hinausgegangen war und durch ihre Erfahrungskritik ihn auch überwunden zu haben glaubte, nicht zu bannen, weil sie außerstande ist für die Gültigkeit der Voraussetzungen, aus welchen KANT seinen Erkenntnisbegriff konstruiert und die Motive seiner Erfahrungskritik sich geholt hatte, Bürgschaften zu verschaffen. Eine erst an apriorische formale Bedingungen geknüpfte Erfahrung erschien ja in der Tat unerläßlich, wenn auch die Motive, welche die Notwendigkeit von Voraussetzungen für die Erkenntnis der Erscheinungswelt ergeben, ihre Zuverlässigkeit verbürgen würden. Die apriorischen formalen Bedingungen der Erfahrung gelten nicht ihr selbst, sondern nur ihrer Möglichkeit. Nicht die Erfahrung, sondern nur ihre Möglichkeit soll erklärt werden. Aber ebensowenig als in der Erfahrung selbst, sondern nur in ihrer Möglichkeit KANT das erkenntnistheoretische Problem entdeckt hatte, so würde uns auch die Erscheinungswelt keine Handhabe bieten, ihre Erfahrung erst an formale, rationalistische, apriorische Bedingungen zu knüpfen, wenn die als Voraussetzung der Erkenntnis dienende Annahme einer empirischen objektiven Außenwelt uns dazu nicht zwingen würde.

Fremd stehen uns die Erscheinungen nur durch ihre Voraussetzungen eines empirischen Objektes und einer empirischen Außenwelt gegenüber, weil wir dann gezwungen sind, mit unserem Bewußtsein auf die Voraussetzung einer der objektiven Außenwelt gegenüberstehenden subjektiven Innenwelt uns zurückzuziehen und alle Brücken, welche das Bewußtsein und die Erscheinungswelt miteinander verbinden, abzubrechen. Alle erkenntnistheoretischen Motive laufen darauf hinaus, die Erscheinungswelt ihrer Fremdartigkeit zu entäußern. Da stehen uns zwei Wege offen. Entweder halten wir an der Annahme einer empirischen objektiven Außenwelt fest und nehmen sie als Voraussetzung der Erkenntnis für die Erscheinungen in Anspruch, um in diesen ihre Erfahrungsgegenstände zu entdecken oder wir entkleiden die Erscheinungen ihrer Voraussetzung einer objektiven Außenwelt, indem wir die Tatbestände eines empirischen Objekts und einer empirischen Außenwelt für Hypothesen erklären. Im ersteren Fall müssen wir die Fremdartigkeit der an die Voraussetzung einer objektiven Außenwelt geknüpften Erscheinungen durch die Annahme a priori in uns liegender, die Erfahrung einer fremd uns gegenüberstehenden Erscheinungswelt erst möglich machender Kategorien aufheben, im letzteren Fall entschlagen wir uns jeder Veranlassung für die Annahme formaler apriorischer Erfahrungsbedingungen in Gestalt von Kategorien, weil die der Voraussetzung einer objektiven Außenwelt entkleideten Erscheinungen unserem Bewußtsein nicht fremd gegenüberstehen und uns dann auch keine Handhabe bieten, die Frage der Möglichkeit der Erfahrung einer Erscheinungswelt aufzurollen, geschweige denn über diese Möglichkeit der Erfahrung uns Rechenschaft zu geben. Die erstere Eventualität drückt der Kantischen Philosophie ihre Signatur auf; ich selbst finde mich dagegen bestimmt, mich für die letztere Eventualität zu entscheiden.

Diesen Standpunkt werden wir nun nach jener Richtung vertreten müssen, in welcher die Gegenstandslosigkeit der Annahme von Erfahrungsbedingungen sich überhaupt ergeben wird. Dann dürfen wir uns aber nicht der Forderung entziehen, zu jenen Voraussetzungen kritisch Stellung zu nehmen, aus welchen KANT die Motive seiner Erfahrungskritik geschöpft hatte; wir müssen uns dazu verstehen, vorbehaltlos darüber Bescheid zu geben, ob es ein wirkliches empirisches Objekt, ob es auch eine wirkliche empirische Außenwelt gibt und auf welche Motive die Annahme einer empirischen objektiven Außenwelt zurückzuführen ist. Damit erscheint aber die Berechtigung apriorischer formaler Erfahrungsbedingungen nicht allein in Frage gestellt sondern auch von Annahmen abhängig gemacht, über deren Zulässigkeit oder Unzulässigkeit erst entschieden werden muß.

Den Motiven selbst, welche KANT für seine Erfahrungskritik und für seine auf diese aufgebaute Erkenntnistheorie geltend macht, können wir allerdings nichts anhaben, weil sie sich als eine unabweisbare Folge von Voraussetzungen erweist, deren Nichtvereinbarkeit mit dem empirischen Tatbestand unserer Erscheinungswelt klar zutage liegt und ohne welche wir uns die Erscheinungswelt doch nicht denken können. Und wir  denken uns die Erscheinungen als Objekte oder Gegenstände, wir  denken;  sie als eine Außenwelt. Als bloße Postulate unseres Denkens müssen wir dann die Tatbestände einer Außenwelt und des Objektes oder Gegenstandes einschätzen. Und wenn KANT die Motive seiner Erfahrungskritik aus bloßen Voraussetzungen unserer Erscheinungswelt schöpft, welche auf die Bedeutung bloßer Denkpostulate Anspruch haben, so hat er damit, ohne es zu wollen, den eklatantesten Beweis dafür erbracht, daß seine ganze Erkenntnistheorie darauf hinausläuft, die Ansprüche unseres Denkens an die Erfahrung zu befriedigen. Diese Tendenz beherrscht die ganze Erfahrungskritik; auf diese, nicht aber auf das Denken und auch nicht auf die Erfahrung, gründet KANT seinen Erkenntnisbegriff; in diesem sollen vielmehr Anschauung und Denken zu einer Einheit verbunden und die zwischen Rationalismus und Empirismus bestehende Kluft überbrückt werden.

Nun müssen wir uns die Frage vorlegen, in welchem Maße KANT mit seiner Erfahrungskritik den Aufgaben einer Erkenntnistheorie gerecht wird. Um mit dem Anspruch einer Erkenntnistheorie aufzutreten, müßte KANTs Erfahrungskritik über den Tatbestand und Gegenstand der Erkenntnis Aufschluß zu geben in der Lage sein. Aber schon ihre Motive verweisen sie auf die Feststellung apriorischer formaler Bedingungen unsere Erfahrung der Erscheinungswelt.  Nicht in der Erkenntnis und auch nicht in ihrem Gegenstand, sondern in der Erfahrung einer für die Erscheinungen vorausgesetzten objektiven empirischen Außenwelt entdeckt;  KANT  das erkenntnistheoretische Problem.;  In den Motiven seiner Erfahrungskritik erblickt KANT nur eine willkommene Handhabe in die Behandlung des Erkenntnisproblems einzutreten und eine ihren Motiven entsprechende Theorie der Erkenntnis aufzubauen, in ihr aber nicht weiter zu gehen, als es ihrem Motiv, sich über die Notwendigkeit apriorischer formaler rationalistischer Bedingungen für die Erfahrung einer objektiven Außenwelt Rechenschaft zu geben, förderlich ist. Uns über den Tatbestand und Gegenstand der Erkenntnis aufzuklären, hat KANT in der Tat auch unterlassen. Der Gegenstand der Erkenntnis ist ihm eben transzendent, weil die Erkenntnis nur auf den Erfahrungsgegenstand beschränkt bleibt, in Bezug auf den Tatbestand der Erkenntnis selbst begnügt sich KANT mit der Unterscheidung der Elemente, die er in ihm a priori von jenen, die er in ihm a posteriori gefunden zu haben glaubt. Was uns die Erkenntnis selbst bietet, worin sie besteht, welchen Tatbestand sie ausdrückt, davon erfahren wir durch KANT ebensowenig wie vom Erkenntnisgegenstand. Und doch sollte man meinen, daß es die vornehmste und vielleicht auch ausschließliche Aufgabe einer wirklichen Erkenntnistheorie wäre, den Begriff der Erkenntnis und ihres Gegenstandes klarzulegen und über sie Bescheid zu geben. Wir würden aber KANT Unrecht tun, wenn wir ihm aus diesen Unterlassungen einen Vorwurf machen wollten. KANT hat nie die Absicht gehabt, eine Erkenntnistheorie zu liefern; ihm war es vielmehr nur darum zu tun, Voraussetzungen namhaft zu machen, unter welchen eine Erkenntnis a priori von Dingen möglich ist. Über das Maß dieser Voraussetzungen ist KANT nicht hinausgegangen; es bestand für ihn hierzu auch keine Veranlassung, sobald er gefunden zu haben glaubte, daß es wohl apriorische Erkenntnise gibt, welche jedoch nur die allgemeine für jeden möglichen Erfahrungsgegenstand gültige Form darstellen, in der Erfahrung somit ihre Bestätigung finden und deshalb auch nur auf sie allein beschränkt werden müssen und die Grenzen der Erfahrung nicht überschreiten dürfen. Nur der Zurückweisung transzendenter Ansprüche der Erkenntnis, nicht aber der Lösung des Erkenntnisproblems, galten KANTs erkenntnistheoretische Bestrebungen. Diese treten mit der einzigen und ausschließlichen Tendenz auf anstelle einer Transzendenzphilosophie eine Transzendentalphilosophie zu befürworten, die es sich zur Aufgabe macht, über den transzendentalen Gebrauch der apriorischen Bedingungen der Erfahrung zu unterweisen, sie selbst aber weit davon entfernt ist, als eine Erkenntnistheorie anerkannt werden zu wollen, weil ihr dort, wo sie sich als Erkenntnistheorie zu betätigen hätte, Grenzen gezogen sind durch die Voraussetzungen der Erkenntnis und durch die Motive, welche zu diesen Voraussetzungen führen.

Die Argumente, mit welchen KANT seine Erfahrungskritik begründet hatte, bilden die Stärke aber auch die Schwäche derselben. In ihnen hat KANT alle Mängel eines dem Rationalismus gegenübergestellten und nur von antagonistischen Motiven zu diesem geleiteten Empirismus bloßgelegt und aus den Voraussetzungen desselben die Mitwirkung derselben apriorischen rationalistischen Elemente für die Erfahrung für unerläßlich erklärt, zu welchen diese bisher im schroffsten Gegensatz standen. Die Voraussetzungen unserer Erscheinungen, der Tatbestand einer Außenwelt und des Objekts sind es, aus welchen Kant die Motive seiner Erfahrungskritik geschöpft hatte, dieselben Voraussetzungen hinderten ihn aber auch, eine Theorie der Erfahrung zu konstatieren, weil sie eine vollständige Sonderung des Bewußtseins von der Erscheinungswelt zur unabweisbaren Folge haben und somit gerade das Gegenteil von dem bewirken, dessen wir für die Erfahrung einer Erscheinungswelt bedürfen, - der Herstellung einer scheidewandlosen Beziehung der Erscheinungswelt zum Bewußtsein. Die Kreierung eines selbständigen, von der Erscheinungswelt unabhängigen, Erfahrungsprinzips für das Bewußtsein erwies sich als unvermeidlich. Diese Forderung schien sich auch rascher und leichter erfüllen zu wollen, als man nach den für die Erfahrbarkeit der Erscheinungswelt für notwendig erachteten erkenntnistheoretischen Dispositionen hätte erwarten sollen.

Die Schwierigkeiten und Hindernisse, welche die Außenwelt und das Objekt als Voraussetzungen der Erscheinungswelt ihrer Erfahrbarkeit bereiteten, die in dieser Richtung unternommenen Versuche zu einem vorzeitigen Abschluß brachten, indem sie die angestrebte Feststellung eines Erfahrungsprinzips entweder im Skeptizismus oder in einer Erfahrungskritik stecken ließen, schienen tatsächlich für die Erfahrung des Bewußtseins gar nicht zu bestehen. Für die Erfahrung des Bewußtseins bedurfte es nicht erst besonderer ihr vorausgehender rationalistischer apriorischer Bedingungen. Demnach würde die Psychologie dasjenige, was die rationalistische Erkenntnistheorie in ihren Motiven anstrebt, schon von Haus aus besitzen, weil sie mit einer voraussetzungslosen Erfahrung des Bewußtseins einsetzt, die Erkenntnistheorie dagegen eben nur aus der Notwendigkeit apriorischer, formaler Bedingungen für die Erfahrung der Erscheinungswelt ihre Existenzberechtigung schöpft, ihre Existenzbedingungen es ihr somit schon verwehren würden, über die Motive einer bloßen Erfahrungskritik hinauszugehen, den Tatbestand der Erfahrung festzustellen, geschweige denn einer Theorie der Erfahrung zu liefern. Eine auf dem Prinzp der voraussetzungslosen Erfahrung des Bewußtseins aufgebaute Psychologie würde dann in der Tat nach jenen Grundsätzen vorgehen, welche ihr die Kantische Erfahrungskritik diktiert. Aber auch nur die von KANT uns vorgeführten, aus bloßen Voraussetzungen unserer Erkenntnis hergeleiteten Motive einer Erfahrungskritik sind es, welche die Psychologie auf den Standpunkt eines voraussetzungslosen Empirismus bringen und sie mit allen Befugnissen ausstatten, deren sie bedarf, um als eine selbständige, rein empirische wissenschaftliche Disziplin aufzutreten. Dann werden wir uns durch die schroffe Ablehnung, welche die Erkenntnistheorie seitens der Psychologie und diese seitens jener erfährt, nicht beirren und durch die entgegengesetzte Tendenz, mit welcher diese beiden Disziplinen einander gegenübertreten, uns nicht nicht verleiten lassen für das Verhältnis der Erkenntnis zum Bewußtsein Konsequenzen zu ziehen, welche in der Erkenntnistheorie zu einem abstrakten, leeren Formalismus, in der Psychologie zu einem ebenso einseitigen wie tendenziösen Psychologismus führen.

Die Psychologie bedarf keiner Erkenntnistheorie; denn das, was die Psychologie von der Erkenntnistheorie beanspruchen würde, über den Tatbestand und Gegenstand der Erkenntnis selbst Aufschluß zu geben, bleibt ihr seitens einer formalen rationalistischen Erkenntnistheorie versagt, weil diese außerstande ist über bloße Voraussetzungen der Erkenntnis, an welche sie die Erfahrbarkeit einer empirischen objektiven Außenwelt knüpft und aus welchen sie ihre Existenzberechtigung schöpft, hinauszukommen. Wohl aber bedarf die Psychologie der  Motive;  einer formalen, rationalistischen Erkenntnistheorie, denn aus ihnen allein leitet sie ihre Ansprüche auf eine voraussetzungslose Erfahrung des Bewußtseins her. Die Motive einer formalen, rationalistischen Erkenntnistheorie und einer empirischen Psychologie bilden das Band, welches sich um sie schlingt und sie miteinander verbindet, auf ihre Motive müssen wir die formale rationalistische Erkenntnistheorie und die Psychologie zurückführen, wenn wir uns über ihre Beziehungen zueinander Rechenschaft geben und einen Zusammenhang zwischen ihnen herstellen wollen. Die formale rationalistische Erkenntnistheorie erschöpft sich schon in den Motiven einer Erfahrungskritik; diese spricht aber Forderungen aus, die zu erfüllen sie sich versagen muß, wenn sie sich zu den Existenzbedingungen einer auf sie gegründeten Erkenntnistheorie nicht in Widerspruch setzen soll. Diese Existenzbedingung der rationalistischen Erkenntnistheorie bilden die apriorischen rationalistischen, formalen Bedingungen der Erfahrung einer Erscheinungswelt, in der Einsicht von der Unerläßlichkeit ihrer Mitwirkung an der Erfahrung einer aus unseren Sinnen abgeleiteten Erscheinungswelt erschöpft sich auch die Kantische Erfahrungskritik. Umso schroffer und wirksamer bringt sich der Gegensatz dieser Erkenntnistheorie zur Psychologie zur Geltung, als diese ein von der Erscheinungswelt losgelöstes Bewußtsein zum Gegenstand ihrer Forschung hat und die durch die Motive der rationalistischen Erkenntnistheorie befürworteten Garantien einer voraussetzungslosen Erfahrung des Bewußtseins sich zunutze macht, um selbständig mit eigenen erkenntnistheoretischen Ansprüchen, zu welchen die voraussetzungslose Erfahrung des Bewußtseins berechtigt, aufzutreten.

Je tiefer man in das Problem der Erkenntnis und des Bewußtseins eingedrungen zu sein glaubt, desto größer zeigt sich der Abstand, den man zwischen ihnen entdeckt haben will. Das Erkenntnis- und das Bewußtseinsproblem haben jede Fühlung miteinander verloren, ihre Geschicke wurden sowohl in Bezug auf ihre Methode als auch in Bezug auf die sie leitenden Prinzipien voneinander gesonderten und in ihrer Wirkungssphäre gegenseitig sich streng abschließenden philosophischen Einzeldisziplinen, das Erkenntnisproblem einer Erkenntnistheorie, das Bewußtseinsproblem einer Psychologie überantwortet. Aber ausschließlich erkenntnistheoretische Motive machten sich in der Behandlung des Bewußtseinsproblem geltend; den ein erkenntnistheoretisches Motiv ist und bleibt das Prinzip einer voraussetzungslosen Erfahrung des Bewußtseins. Auf dieses erkenntnistheoretische Motiv gestützt wußte sich die Psychologie in den entschiedensten Gegensatz zur Erkenntnistheorie zu bringen, weil sie sich jeder Veranlassung entbunden sah, die Erfahrung des Bewußtseins an apriorische rationalistische Bedingungen zu knüpfen, deren man für die Erfahrbarkeit einer empirischen objektiven Außenwelt bedurfte. Käme aber jemals die Psychologie in die Lage mit dem Anspruch auf eine voraussetzungslose Erfahrung des Bewußtseins aufzutreten, wenn sie dieses Recht aus der Annahme, daß nur die für die Erscheinungen vorausgesetzte objektive Außenwelt für die Erfahrung apriorische Bedingunen fordert, nicht herleiten würde. Dann wird aber das Prinzip der voraussetzungslosen Erfahrung des Bewußtseins zur bloßen Fiktion, weil es seine Motive nicht aus dem Bewußtsein selbst, sondern aus denselben Voraussetzungen schöpft, welche die Motive zu einer auf bloße apriorische Bedingungen der Erfahrung gegründeten Erkenntnistheorie liefern. Das für die empirische Psychologie reklamierte Prinzip einer voraussetzungslosen Erfahrung des Bewußtseins vermag sich daher auch nur einer aus rationalistischen, formalen Bedingungen der Erfahrung unserer Erscheinungswelt geschöpften, daher auch nur auf diese Bezug habenden Erfahrungskritik gegenüber zu rechtfertigen.
LITERATUR - Emil Bullaty, Erkenntnistheorie und Psychologie, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 1, Neue Folge Bd. XII, Berlin 1907