p-4 C. u. W. SternE. Meumannvon Rozwando    
 
HERMANN PAUL
Prinzipien der Sprachgeschichte

"Die Gesetzeswissenschaften vergleichen die einzelnen Vorgänge unbekümmert um ihr zeitliches Verhältnis zueinander lediglich aus diesem Gesichtspunkt die Übereinstimmungen und Abweichungen aufzudecken und mit Hilfe davon das in allem Wechsel der Erscheinungen ewig sich gleich Bleibende zu finden. Der Begriff der Entwicklung ist ihnen völlig fremd, ja er scheint mit ihren Prinzipien unvereinbar, und sie stehen daher in einem schroffen Gegensatz zu den Geschichtswissenschaften. Diesen Gegensatz zu vermitteln ist eine Betrachtungsweise erforderlich, die mit mehr Recht den Namen einer Geschichtsphilosophie verdienen würde, als das, was man gewöhnlich damit bezeichnet. Wir wollen aber auch hier das Wort  Philosophie lieber vermeiden und uns der Bezeichnung  Prinzipienwissenschaft bedienen. Ihr ist das schwierige Problem gestellt: wie ist unter der Voraussetzung konstanter Kräfte und Verhältnisse doch eine geschichtliche Entwicklung möglich, ein Fortgang von den einfachsten und primitivsten zu den kompliziertesten Gebilden?"

Einleitung

§ 1. Die Sprache ist wie jedes Erzeugnis menschlicher Kultur ein Gegenstand der geschichtlichen Betrachtung; aber wie jedem Zweig der Geschichtswissenschaft so muß auch der Sprachgeschichte eine  Wissenschaft  zur Seite stehen,  welche sich mit den allgemeinen Lebensbedingungen des geschichtlich sich entwickelnden Objektes beschäftigt, welche die in allem Wechsel gleichmäßig vorhandenen Faktoren nach ihrer Natur und Wirksamkeit untersucht.  Es fehlt für diese Wissenschaft eine allgemein gültige und passende Bezeichnung. Unter Sprachphilosophie versteht man in der Regel doch etwas anderes. Und außerdem dürfte es vielleicht aus einem Grund geraten sein diesen Ausdruck lieber zu vermeiden. Unser unphilosophisches Zeitalter wittert darunter leicht metaphysische Spekulationen, von denen die historische Sprachforschung keine Notiz zu nehmen braucht. In Wahrheit aber ist das, was wir im Sinn haben, nicht mehr und nicht minder Philosophie als etwa die Physik oder die Physiologie. Am allerwenigsten darf man diesem allgemeinen Teil der Sprachwissenschaft den historischen als den empirischen gegenüberstellen. Der eine ist gerade so empirisch wie der andere.

Nur selten genügt es zum Verständnis der geschichtlichen Entwicklung eines Gegenstandes die Gesetze einer einzelnen einfachen Experimentalwissenschaft zu kennen; vielmehr liegt es in der Natur aller geschichtlichen Bewegung, zumal wo es sich um irgendeinen Zweig menschlicher Kultur handelt, daß dabei sehr verschiedenartige Kräfte, deren Wesen zu ergründen die Aufgabe sehr verschiedener Wissenschaften ist, gleichzeitig in stetiger Wechselwirkung ihr Spiel treiben. Es ist somit natürlich, daß eine solche allgemeine Wissenschaft, wie sie iner jeder historischen Wissenschaft als genaues Pendant gegenübersteht, nicht ein derartig abgeschlossenes Ganzes darstellen kann, wie die sogenannten exakten Naturwissenschaften, die Mathematik oder die Psychologie. Vielmehr bildet sie ein Konglomerat, das aus verschiedenen reinen Gesetzeswissenschaften oder in der Regel aus Segmenten solcher Wissenschaften zusammengesetzt ist. Man wird vielleicht Bedenken tragen, einer solchen Zusammenstellung, die immer den Charakter des Zufälligen an sich trägt, den Namen einer Wissenschaft beizulegen. Aber mag man darüber denken, wie man will, das geschichtliche Studium verlangt nun einmal die vereinigte Beschäftigung mit so disparaten Elementen als notwendiges Hilfsmittel, wo nicht selbständige Forschung, so doch Aneignung der von anderen gewonnenen Resultate. man würde aber auch sehr irren, wenn man meinte, daß mit der einfachen Zusammensetzung von Stücken verschiedener Wissenschaften schon diejenige Art der Wissenschaft gegeben sei, die wir hier im Auge haben. Nein, es bleiben ihr noch Aufgaben, um welche sich die Gesetzeswissenschaften, die sie als Hilfsmittel, wo nicht selbständige Forschung, so doch Aneignung der von andern gewonnenen Resultate. Man würde aber auch sehr irren, wenn man meinte, daß mit der einfachen Zusammensetzung von Stücken verschiedener Wissenschaften schon diejenige Art der Wissenschaft gegeben sei, die wir hier im Auge haben. Nein, es bleiben ihr noch Aufgaben, um welche sich die Gesetzeswissenschaften, die sie als Hilfsmittel benutzt, nicht bekümmern. Diese vergleichen ja die einzelnen Vorgänge unbekümmert um ihr zeitliches Verhältnis zueinander lediglich aus diesem Gesichtspunkt die Übereinstimmungen und Abweichungen aufzudecken und mit Hilfe davon das in allem Wechsel der Erscheinungen ewig sich gleich Bleibende zu finden. Der Begriff der Entwicklung ist ihnen völlig fremd, ja er scheint mit ihren Prinzipien unvereinbar, und sie stehen daher in einem schroffen Gegensatz zu den Geschichtswissenschaften. Diesen Gegensatz zu vermitteln ist eine Betrachtungsweise erforderlich, die mit mehr Recht den Namen einer Geschichtsphilosophie verdienen würde, als das, was man gewöhnlich damit bezeichnet. Wir wollen aber auch hier das Wort  Philosophie  lieber vermeiden und uns der Bezeichnung  Prinzipienwissenschaft  bedienen. Ihr ist das schwierige Problem gestellt: wie ist unter der Voraussetzung konstanter Kräfte und Verhältnisse doch eine geschichtliche Entwicklung möglich, ein Fortgang von den einfachsten und primitivsten zu den kompliziertesten Gebilden? Ihr Verfahren unterscheidet sich noch in einer anderen Hinsicht von dem der Gesetzeswissenschaften, worauf ich schon oben hindeutete. Während diese naturgemäß immer die Wirkung jeder einzelnen Kraft aus dem allgemeinen Getriebe zu isolieren streben, um sie für sich in ihrer reinen Natur zu erkennen, und dann durch Aneinanderreihen des Gleichartigen ein System aufbauen, so hat im Gegenteil die geschichtliche Prinzipienlehre gerade das Ineinandergreifen der einzelnen Kräfte ins Auge zu fassen, zu untersuchen, wie auch die verschiedenartigsten, um deren Verhältnis zueinander sich die Gesetzeswissenschaften so wenig als möglich kümmern, durch stetige Wechselwirkung einem gemeinsamen Ziel zusteuern können. Selbstverständlich muß man, um das Ineinandergreifen des Mannigfaltigen zu verstehen, möglichst klar darüber sein, welche einzelnen Kräfte dabeit tätig sind, und welches die Natur ihrer Wirkungen ist. Dem Zusammenfassen muß das Isolieren vorausgegangen sein. Denn solange man noch mit unaufgelösten Komplikationen rechnet, ist man noch nicht zu einer wissenschaftlichen Verarbeitung des Stoffs durchgedrungen. Es ist somit klar, daß die Prinzipienwissenschaft in unserem Sinne zwar auf der Basis der experimentellen Gesetzeswissenschaften (wozu ich natürlich auch die Psychologie rechne) ruht, aber doch auch ein gewichtiges Mehr enthält, was uns eben berechtigt ihr eine selbständige Stellung neben jenen anzuweisen.

Diese große Wissenschaft teilt sich in so viele Zweige, als es Zweige der speziellen Geschichte gibt, Geschichte hier im weitesten Sinn genommen und nicht auf die Entwicklung des Menschengeschlechts beschränkt. Es ist von vornherein zu vermuten, daß es gewisse allgemeine Grundbedingungen geben wird, welche für jede Art der geschichtlichen Entfaltung die notwendige Unterlage bilden; noch sicherer aber ist, daß durch die besondere Natur eines jeden Objektes seine Entwicklung in besonderer Weise bedingt sein muß. Wer es unternimmt die Prinzipien irgendeiner einzelnen geschichtlichen Disziplin aufzustellen, der muß auf die übrigen, zumal die nächstverwandten Zweige der Geschichtswissenschaft eine beständige Rücksicht nehmen, um so die allgemeinsten leitenden Gesichtspunkte zu erfassen und nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Aber er muß sich auf der anderen Seite davor hüten sich in bloße Allgemeinheiten zu verirren und darüber die genaue Anpassung den speziellen Fall zu versäumen, oder die auf anderen Gebieten gewonnenen Resultate in bildlicher Anwendung zu übertragen, wodurch die eigentlich zu ergründenden reellen Verhältnisse nur verdeckt werden.

Erst durch die Begründung einer solchen Prinzipienwissenschaft erhält die spezielle Geschichtsforschung ihren rechten Wert. Erst dadurch erhebt sie sich über die Aneinanderreihung scheinbar zufälliger Daten und nähert sich in Bezug auf die allgemeingültige Bedeutung ihrer Resultate den Gesetzeswissenschaften, die ihr gar zu gern die Ebenbürtigkeit streitig machen möchten. Wenn so die Prinzipienwissenschaft als das höchste Ziel erscheint, auf welches alle Anstrengungen der Spezialwissenschaft gerichtet sind, so ist auf der anderen Seite wieder die ersteredie unentbehrliche Leiterin der letzteren, ohne welche sie mit Sicherheit keinen Schritt tun kann, der über das einfach Gegebene hinausgeht, welches doch niemals anders vorliegt als einerseits fragmentarisch, andererseits in verwickelten Komplikationen, die erst gelöst werden müssen.  Die Aufhellung der Bedingungen des geschichtlichen Werdens liefert neben der allgemeinen Logik zugleich die Grundlage für die Methodenlehre, welche bei der Feststellung jedes einzelnen Faktums zu befolgen ist. 

§ 2. Man hat sich bisher keineswegs auf allen Gebieten der historischen Forschung mit gleichem Ernst und gleicher Gründlichkeit um die Prinzipienfragen bemüht. Für die historischen Zweige der Naturwissenschaft ist dies in viel höherem Maße geschehen als für die  Kulturgeschichte.  Ursache ist einerseits, daß sich bei der letzteren viel größere Schwierigkeiten in den Weg stellen. Sie hat es im allgemeinen mit viel komplizierteren Faktoren zu tun, deren Gewirr, solange es nicht aufgelöst ist, eine exakte Erkenntnis des Kausalzusammenhangs unmöglich macht. Dazu kommt, daß ihre wichtigste Unterlage, die experimentelle Psychologie eine Wissenschaft von sehr jungem Datum ist, die man nur eben angefangen hat in Bezug zur Geschichte zu setzen. Andererseits aber ist in demselben Maß, wie die Schwierigkeit eine größere, das Bedürfnis ein geringeres oder mindestens weniger fühlbares gewesen. Für die Geschichte des Menschengeschlechts haben immer von gleichzeitigen Zeugen herstammende, wenn auch vielleicht erst mannigfach vermittelte Berichte über die Tatsachen als eigentliche Quelle gegolten und erst in zweiter Linie Denkmäler. Produkte der menschlichen Kultur, die annähernd die Gestalt bewahrt haben, welche ihnen diese gegeben hat. Ja man spricht von einer historischen und einer prähistorischen Zeit, und bestimmt die Grenze durch den Beginn der historischen Überlieferung. Für die erstere ist daher das Bild einer geschichtlichen Entwicklung bereits gegeben, so entstellt es auch sein mag, und es ist leicht begreiflich, wenn sich die Wissenschaft mit einer kritischen Reinigung dieses Bildes genug getan zu haben glaubt und sogar geflissentlich alle darüber hinaus gehende Spekulation von sich abweist. Ganz anders verhält es sich mit der prähistorischen Periode der organischen und anorganischen Natur, die in unendlich viel ferner liegende Zeiten zurückgreift. Hier ist auch kaum das geringste geschichtliche Element als solches gegeben. Alle Versuche einer geschichtlichen Erfassung bauen sich, abgesehen von dem Wenigen, was von den Beobachtungen früherer Zeiten überliefert ist, lediglich aus Rückschlüssen auf. Und es ist überhaupt gar kein Resultat zu gewinnen ohne Erledigung der prinzipiellen Fragen, ohne Feststellung der allgemeinen Bedingungen des geschichtlichen Werdens. Diese prinzipiellen Fragen haben daher immer im Mittelpunkt der Untersuchung gestanden, um sie hat sich immer der Kampf der Meinungen gedreht. Gegenwärtig ist es das Gebiet der organischen Natur, auf welchem er am lebhaftesten geführt wird, und es muß anerkannt werden, daß hier die für das Verständnis aller geschichtlichen Entwicklung, auch der des Menschengeschlechts fruchtbarsten Gedanken zuerst zu einer gewissen Klarheit gediehen sind.

Die Tendenz der Wissenschaft geht jetzt augenscheinlich dahin diese spekulative Betrachtungsweise auch auf die Kulturgeschichte auszudehnen, und wir sind überzeugt, daß diese Tendenz mehr und mehr durchdringen wird trotz allem aktiven und passivem Widerstand, der dagegen geleistet wird. Daß eine solche Behandlungsweise für die Kulturwissenschaft nicht gleich ein unentbehrliches Bedürfnis ist wie für die Naturwissenschaft, und daß man von ihr für die erstere nicht gleich weitgehende Erfolge erwarten darf wie für die letztere, haben wir ja bereitwillig zugegeben. Aber damit sind wir nicht der Verpflichtung enthoben genau zu prüfen, wie weit wir gelangen können, und selbst das eventuelle negative Resultat dieser Prüfung, die genaue Fixierung der Schranken unserer Erkenntnis ist unter Umständen von großem Wert. Wir haben aber auch noch gar keine Ursache daran zu verzweifeln, daß sich nicht wenigstens für gewisse Gebiete auch bedeutende positive Resultate gewinnen ließen. Am wenigsten aber darf man den  methodologischen Gewinn  geringschätzen, der aus einer Klarlegung der Prinzipienfragen erwächst. Man befindet sich in einer Selbsttäuschung, wenn man meint das einfachste historische Faktum ohne eine Zutat von Spekulation konstatieren zu können. Man spekuliert eben nur unbewußt, und es ist einem glücklichen Instinkt zu verdanken, wenn das Richtige getroffen wird. Wir dürfen wohl behaupten, daß bisher auch die gangbaren Methoden der historischen Forschung mehr durch Instinkt gefunden sind als durch eine auf das innerste Wesen der Dinge eingehende allseitige Reflexion. Und die natürliche Folge davon ist, daß eine Menge Willkürlichkeiten mit unterlaufen, woraus ein endloser Streit der Meinungen und Schulen entsteht. Hieraus gibt es nur einen Ausweg: man muß mit allem Ernst die Zurückführung dieser Methoden auf die ersten Grundprinzipien in Angriff nehmen und alles daraus beseitigen, was sich nicht aus diesen ableiten läßt. Diese Prinzipien aber ergeben sich, soweit sie nicht rein logischer Natur sind, eben aus der Untersuchung des Wesens der historischen Entwicklung.

§ 3. Es gibt keinen Zweig der Kultur, bei dem sich die Bedingungen der Entwicklung mit einer solchen Exaktheit erkennen lassen wie bei der Sprache, und daher keine Kulturwissenschaft, deren Methode zu einem solchen Grad der Vollkommenheit gebracht werden kann wie die der Sprachwissenschaft. Keine andere hat bisher so weit über die Grenzen der Überlieferung hinausgreifen können, keine andere ist in dem Maße spekulativ und konstruktiv verfahren. Diese Eigentümlichkeit ist es hauptsächlich, wodurch sie als nähere Verwandte der historischen Naturwissenschaften erscheint, was zu der Verkehrtheit verleitet hat sie aus dem Kreis der Kulturwissenschaften ausschließen zu wollen. Trotz dieser Stellung, welche die Sprachwissenschaft schon seit ihrer Begründung einnahm, gehörte noch viel dazu ihre Methode allmählich bis zu demjenigen Grad der Vollkommenheit auszubilden, dessen sie fähig ist. Besonders seit dem Ende der siebziger Jahre suchte sich eine Richtung Bahn zu brechen, die auf eine tiefgreifende Umgestaltung der Methode hindrängte. Bei dem Streit, der sich darüber entspann, trat deutlich zutage, wie große noch bei vielen Sprachforschern die Unklarheit über die Elemente ihrer Wissenschaft war. Eben dieser Streit hat auch die nächste Veranlassung zur Entstehung dieser Abhandlung gegeben. Sie wollte ihr möglichstes dazu beitragen eine Klärung der Anschauungen herbeizuführen und eine Verständigung wenigstens unter all denjenigen zu erzielen, welche einen offenen Sinn für die Wahrheit mitbringen. Es war zu diesem Zweck erforderlich möglichst allseitig die Bedingungen des Sprachlebens darzulegen und somit überhaupt die Grundlinien für eine Theorie der Sprachentwicklung zu ziehen.

§ 4. Wir scheiden die historischen Wissenschaften im weiteren Sinn in die beiden Hauptgruppen:  historische Naturwissenschaften  und  Kulturwissenschaften.  Als das charakteristische Kennzeichen der Kultur müssen wir die Betätigung psychischer Faktoren bezeichnen. Dies scheint mir die einzig mögliche exakte Abgrenzung des Gebiets gegen die Objekte der reinen Naturwissenschaft zu sein. Demnach müssen wir allerdings auch eine tierische Kultur anerkennen, die Entwicklungsgeschichte der Kunsttriebe und der gesellschaftlichen Organisation bei den Tieren zu den Kulturwissenschaften rechnen. Für die richtige Beurteilung dieser Verhältnisse dürfte das nur förderlich sein.

Das psychische Element ist der wesentlichste Faktor in aller Kulturbewegung, um den sich alles dreht, und die Psychologie ist daher die vornehmste Basis aller in einem höheren Sinn gefaßten Kulturwissenschaft. Das Psychische ist darum aber nicht der einzige Faktor; es gibt keine Kultur auf rein psychischer Unterlage,  und es ist daher mindestens sehr ungenau die Kulturwissenschaften als Geisteswissenschaften zu bezeichnen. In Wahrheit gibt es nur eine reine Geisteswissenschaft, das ist die Psychologie als Gesetzeswissenschaft. Sowie wir das Gebiet der historischen Entwicklung betreten, haben wir es neben den psychischen mit  physischen  Kräften zu tun. Der menschliche Geist muß immer mit dem menschlichen Leibt und der umgebenden Natur zusammenwirken um irgendein Kulturprodukt hervorzubringen, und die Beschaffenheit desselben, die Art, wie es zustande kommt, hängt ebensowohl von physischen als von psychischen Bedingungen ab; die einen wie die anderen zu kennen ist notwendig für ein vollkommenes Verständnis des geschichtlichen Werdens. Es bedarf daher neben der Psychologie auch einer Kenntnis der Gesetze, nach denen sich die physischen Faktoren der Kultur bewegen. Auch die Naturwissenschaften und die Mathematik sind eine notwendige Basis der Kulturwissenschaften. Wenn uns das im allgemeinen nicht zu Bewußtsein kommt, so liegt das daran, daß wir uns gemeinhin mit der unwissenschaftlichen Beobachtung des täglichen Lebens begnügen und damit auch bei dem, was man gewöhnlich unter Geschichte versteht, leidlich auskommen. Ist es doch dabei mit dem Psychischen auch nicht anders und namentlich bis auf die neueste Zeit nicht anders gewesen. Aber undenkbar ist es, daß man ohne eine Summe von Erfahrungen über die physische Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vorgangs irgendein Ereignis der Geschichte zu verstehen oder irgendeine Art von historischer Kritik zu üben imstande wäre. Es ergibt sich demnach als eine  Hauptaufgabe für die Prinzipienlehre der Kulturwissenschaft, die allgemeinen Bedingungen darzulegen, unter denen die psychischen und physischen Faktoren, ihren eigenartigen Gesetzen folgend, dazu gelangen, zu einem gemeinsamen Zweck zusammenzuwirken. 

§ 5. Etwas anders stellt sich die Aufgabe der Prinzipienlehre von folgendem Gesichtspunkt aus dar.  Die Kulturwissenschaft ist immer Gesellschaftswissenschaft.  Erst Gesellschaft ermöglicht die Kultur, erst Gesellschaft macht den Menschen zu einem geschichtlichen Wesen. Gewiß hat auch ein ganz isolierte Menschenseele ihre Entwicklungsgeschichte, auch hinsichtlich des Verhältnisses zu ihrem Leib und ihrer Umgebung, aber selbst die begabteste vermöchte es nur zu einer sehr primitiven Ausbildung zu bringen, die mit dem Tod abgeschnitten wäre. Erst durch die Übertragung dessen, was ein Individuum gewonnen hat, auf andere Individuen zu dem gleichen Zweck wird ein Wachstum über diese engen Schranken hinaus ermöglicht. Auf das Prinzip der Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung ist nicht nur die wirtschaftliche, sondern jede Art von Kultur basiert. Die eigentümlichste Aufgabe, welche der kulturwissenschaftlichen Prinzipienlehre zufällt und wodurch sie ihre Selbständigkeit gegenüber den grundlegenden Gesetzeswissenschaften behauptet, dürfte demnach darin bestehen, daß sie zu zeigen hat, wie die Wechselwirkung der Individuen aufeinander vor sich geht, wie sich der einzelne zur Gesamtheit verhält, empfangend und gebend, bestimmt und bestimmend, wie die jüngere Generation die Erbschaft der älteren antritt.

Nach dieser Seite hin kommt übrigens der Kulturgeschichte schon die Entwicklungsgeschichte der organischen Natur sehr nahe. Jeder höhere Organismus kommt durch Assoziation einer Menge von Zellen zustande, die nach dem Prinzip der Arbeitsteilung zusammenwirken und diesem Prinzip gemäß in ihrer Konfiguration differenziert sind. Auch schon innerhalb der Einzelzelle, des elementarsten organischen Gebildes, ist dieses Prinzip wirksam, und durch dasselbe eine Erhaltung der Form im Wechsel des Stoffes möglich. Jeder Organismus geht früher oder später zugrunde, kann aber Ablösungen aus seinem eigenen Wesen hinterlassen, in denen das formative Prinzip, nach welchem er selbst gebildet war, lebendig fortwirkt, und dem jeder Fortschritt, welcher ihm in seiner eigenen Bildung gelungen ist, zugute kommt, falls nicht störende Einflüsse von außen dazwischen treten.

§ 6. Es dürfte scheinen, als ob unsere Prinzipienlehre der Gesellschaftswissenschaft ungefähr das gleiche sei wie das, was LAZARUS und STEINTHAL  Völkerpsychologie  nennen, und was sie in ihrer Zeitschrift zu vertreten suchen. Indessen fehlt viel, daß sich beides deckt. Aus unseren bisherigen Erörterungen geht schon hervor, daß unsere Wissenschaft sich sehr viel mit Nichtpsychologischem zu befassen hat. Wir können die Einwirkungen, welche der einzelne von der Gesellschaft erfährt, und die er seinerseits in Verbindung mit den anderen ausübt, unter vier Hauptkategorien bringen.
     Erstens:  es werden in ihm psychische Gebilde, Vorstellungskomplexe erzeugt, zu denen er, ohne daß ihm von den anderen vorgearbeitet wäre, niemals oder nur sehr viel langsamer gelangt wäre.

     Zweitens:  er lernt mit den verschiedenen Teilen seines Leibes gewisse zweckmäßige Bewegungen ausführen, die eventuell zur Bewegung von fremden Körpern, Werzeugen dienen: auch von diesen gilt, daß er sie ohne das Vorbild anderer vielleicht gar nicht, vielleicht langsamer gelernt hätte. Wir befinden uns hier auf physiologischem Gebiet, aber immer zugleich auf psychologischem. Die Bewegung ansich ist physiologisch, aber die Erlangung des Vermögens zu einer willkürlichen Regelung der Bewegung, worauf es hier eben ankommt, beruth auf der Mitwirkung psychischer Faktoren.

     Drittens:  es werden mit Hilfe des menschlichen Leibes bearbeitete oder auch nur vom Ort ihrer Entstehung zu irgendeinem Dienst verrückte Naturgegenstände, die dadurch zu Werkzeugen oder Kapitalien werden, von einem Individuum auf das andere, von der älteren Generation auf die jüngere übertragen, und es findet eine gemeinsame Beteiligung verschiedener Individuen bei der Bearbeitung oder Verrückung dieser Gegenstände statt.

     Viertens:  die Individuen üben aufeinander einen physischen Zwang aus, der allerdings ebensowohl zum Nachteil, wie zum Vorteil des Fortschritts sein kann, aber vom Wesen der Kultur nicht zu trennen ist.
Von diesen vier Kategorien ist es jedenfalls nur die erste, mit welcher sich die Völkerpsychologie im Sinne von LAZARUS-STEINTHAL beschäftigt. Es könnte sich also damit auch nur ungefähr derjenige Teil unserer Prinzipienlehre decken, der sich auf die erste Kategorie bezieht. Aber abgesehen davon, daß dieselbe nicht bloß isoliert von den übrigen betrachtet werden darf, so bleibt auch außerdem das, was ich im Sinne habe, sehr verschieden von dem, was LAZARUS und STEINTHAL in der Einleitung zu ihrer Zeitschrift (Bd. 1, Seite 1 - 73) als die Aufgabe der Völkerpsychologie bezeichnen.

So sehr ich das Verdienst beider Männer um die Psychologie und speziell um die psychologische Betrachtungsweise der Geschichte anerkennen muß, so scheinen mir doch die in dieser Einleitung aufgestellten Begriffsbestimmungen nicht haltbar, zum Teil verwirrend und die realen Verhältnisse verdeckend. Der Grundgedanke, welcher sich durch das Ganze hindurchzieht, ist der, daß die Völkerpsychologie sich gerade so teils zu den einzelnen Völkern, teils zur Menschheit als Ganzes verhalte wie das, was man schlechthin Psychologie nennt, zum einzelnen Menschen. Eben dieser Grundgedanke beruht meiner Überzeugung nach auf mehrfacher logischer Unterschiebung. Und die Ursache dieser Unterschiebung glaube ich darin sehen zu müssen, daß der fundamentale Unterschied zwischen Gesetzeswissenschaft und Geschichtswissenschaft nicht festgehalten (1) wird, sondern beides immer unsicher ineinander überschwankt.

Der Begriff der Völkerpsychologie selbst schwankt zwischen zwei wesentlich verschiedenen Auffassungen. Einerseits wird sie als die Lehre von den allgemeinen Bedingungen des geistigen Lebens in der Gesellschaft aufgefaßt, andererseits als Charakteristik der geistigen Eigentümlichkeit der verschiedenen Völker und Untersuchung der Ursachen, aus denen diese Eigentümlichkeit entsprngen ist. Seite 25f werden diese beiden verschiedenen Auffassungen der Wissenschaft als zwei Teile der Gesamtwissenschaft hingestellt, von denen der erste die synthetische Grundlage des zweiten bildet. Nach keiner von beiden Auffassungen steht die Völkerpsychologie in dem angenommenen Verhältnis zur Individualpsychologie.

Halten wir uns zunächst an die zweite, so kann der Charakteristik der verschiedenen Völker doch nur die Charakteristik verschiedener Individuen entsprechen. Das nennt man aber nicht Psychologie. Die Psychologie hat es niemals mit der konkreten Gestaltung einer einzelnen Menschenseele, sondern nur mit dem allgemeinen Wesen der seelischen Vorgänge zu tun. Was berechtigt uns daher den Namen dieser Wissenschaft für die Beschreibung einer konkreten Gestaltung der geistigen Eigentümlichkeit eines Volkes zu gebrauchen? Was die Verfasser im Sinn haben, ist nichts anderes als ein Teil dessen, was man sonst Kulturgeschichte oder Philologie genannt hat, nur auf eine psychologische Grundlage gestellt, wie sie heutzutage für alle kulturgeschichtliche Forschung verlangt werden muß. Es ist aber keine Gesetzeswissenschaft wie die Psychologie und keine Prinzipienlehre oder, um den Ausdruck der Verfasser zu gebrauchen keine synthetische Grundlage der Kulturgeschichte.

Die unrichtige Parallelisierung hat noch zu weiteren bedenklichen Konsequenzen geführt. Es handelt sich nach den Verfassern in der Völkerpsychologie "um den Geist der Gesamtheit, der noch verschieden ist von allen zu derselben gehörenden einzelnen Geistern, und der sie alle beherrscht" (Seite 5). Weiter heißt es (Seite 11): "Die Verhältnisse, welche die Völkerpsychologie betrachtet, liegen teils im Volksgeist, als einer Einheit gedacht, zwischen den Elementen desselben (wie z. B. das Verhältnis zwischen Religion und Kunst, zwischen Staat und Sittlichkeit, Sprache und Intelligenz und dgl. mehr), teils zwischen den Einzelgeistern, die das Volk bilden." Es treten also hier dieselben Grundprozesse hervor, wie in der individuellen Psychologie, nur komplizierter oder ausgedehnter. Das heißt durch Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] einer Reihe von Abstraktionen das wahre Wesen der Vorgänge verdecken. Alle psychischen Prozesse vollziehen sich in den Einzelgeistern und nirgends sonst. Weder Volksgeist noch Elemente des Volksgeistes wie Kunst, Religion etc. haben eine konkrete Existenz und folglich kann auch nichts in ihnen und zwischen ihnen vorgehen. Daher weg mit diesen Abstraktionen. Denn  weg mit allen Abstraktionen  muß für uns das Losungswort sein, wenn wir irgendwo die Faktoren des wirklichen Geschehens zu bestimmen versuchen wollen. (2) Ich will den Verfassern keinen großen Vorwurf machen wegen eines Fehlers, dem man in der Wissenschaft noch auf Schritt und Tritt begegnet, und vor dem sich der umsichtigste und am tiefsten eindringende nicht immer bewahrt. Mancher Forscher, der sich auf der Höhe des 19. Jahrhunderts fühlt, lächelt wohl vornehm über den Streit der mittelalterlichen Nominalisten und Realisten, und begreift nicht, wie man hat dazu kommen können, die Abstraktionen des menschlichen Verstandes für realiter existierende Dinge zu erklären. Aber die unbewußten Realisten sind bei uns noch lange nicht ausgestorben, nicht einmal unter den Naturforschern. Und vollends unter den Kulturforschern treiben sie ihr Wesen recht munter fort, und darunter namentlich diejenige Klasse, welche es allen übrigen zuvorzutun wähnt, wenn sie nur in Darwinistischen Gleichnissen redet. Doch ganz abgesehen von diesem Unfug, die Zeiten der Scholastik, ja sogar die der Mythologie liegen noch lange nicht soweit hinter uns, als man wohl meint, unser Sinn ist noch gar zu sehr in den Banden dieser beiden befangen, weil sie unsere Sprache beherrschen, die gar nicht von ihnen loskommen kann. Wer nicht die nötige Gedankenanstrengung anwendet ums sich von der Herrschaft des Wortes zu befreien, wird sich niemals zu einer unbefangenen Anschauung der Dinge aufschwingen. Die Psychologie wurde in dem Augenblick zur Wissenschaft, wo sie die Abstraktionen der Seelenvermögen nicht mehr als etwas Reelles anerkannte. So wird es vielleicht noch auf manchen Gebieten gelingen, Bedeutendes zu gewinnen, lediglich durch die Beseitigung der zu Realitäten gestempelten Abstraktionen, die sich störend zwischen das Auge des Beobachters und die konkreten Erscheinungen stellen.

§ 7. Diese Bemerkungen bitte ich nicht als eine bloße Abschweifung zu betrachten. (3) Sie deuten auf das, was wir selbst im folgenden hinsichtlich der Sprachentwicklung zu beobachten haben, was dagegen die Darstellung von LAZARUS-STEINTHAL gar nicht als etwas zu Leistendes erkennen läßt. Wir gelangen von hier aus auch zur Kritik der ersten Auffassung des Begriffs "Völkerpsychologie".

Da wir natürlich auch hier nicht mit einem Gesamtgeist und Elementen dieses Gesamtgeistes rechnen dürfen, so kann es sich in der  Völkerpsychologie  jedenfalls nur um Verhältnisse zwischen den Einzelgeistern handeln. Aber auch für die Wechselwirkung dieser ist die Behauptung, daß dabei dieselben Grundprozesse hervortreten wie in der individuellen Psychologie, nur in einem ganz bestimmten Verständnis zulässig, worüber es einer näheren Erklärung bedürfte. Jedenfalls verhält es sich nicht so, daß die Vorstellungen, wie sie innerhalb einer Seele aufeinander wirken, so auch über die Schranken der Einzelseele hinaus auf die Vorstellungen anderer Seelen wirkten. Ebensowenig wirken etwa die gesamten Vorstellungskomplexe der einzelnen Seelen in einer analogen Weise aufeinander wie innerhalb der Seele des Individuums die einzelnen Vorstellungen. Vielmehr ist es eine  Tatsachevon fundamentaler Bedeutung, die wir niemals aus dem Auge verlieren dürfen, daß alle rein psychische Wechselwirkung sich nur innerhalb der Einzelseele vollzieht. Aller Verkehr der Seelen untereinander ist nur ein indirekter, auf physischem Weg vermittelter.  Fassen wir daher die Psychologie im HERBARTschen Sinn als die Wissenschaft vom Verhalten der Vorstellungen zueinander, so kann es nur eine individuelle Psychologie geben, der man keine Völkerpsychologie oder wie man es auch nennen mag gegenüber stellen darf.

Man fügt nun aber wohl in der Darstellung der individuellen Psychologie diesem allgemeinen einen zweiten speziellen Teil hinzu, welcher die Entwicklungsgeschichte der komplizierteren Vorstellungsmassen behandelt, die wir erfahrungsgemäß in uns selbst und den von uns zu beobachtenden Individuen in wesentlich übereinstimmender Weise finden. Dagegen ist nichts einzuwenden, so lange man sich nur des fundamentalen Gegensatzes bewußt bleibt, der zwischen beiden Teilen besteht. Der zweite ist nicht mehr Gesetzeswissenschaft, sondern Geschichte. Es ist leicht zu sehen, daß diese komplizierteren Gebilde nur dadurch haben entstehen können, daß das Individuum mit einer Reihe von anderen Individuen in Gesellschaft lebt. Und um tiefer in das Geheimnis ihrer Entstehung einzudringen, muß man sich die verschiedenen Stadien, welche sie nach und nach in den früheren Individuen durchlaufen haben, zu veranschaulichen suchen. Von hier aus sind offenbar LAZARUS und STEINTHAL zum Begriff der Völkerpsychologie gelangt. Aber ebensowenig wie eine historische Darstellung, welche schildert, wie diese Entwicklung wirklich vor sich gegangen ist, mit Recht "Psychologie" genannt wird, ebensowenig wird es die Prinzipienwissenschaft, welche zeigt, wie im allgemeinen eine derartige Entwicklung zustande kommen kann. Was an dieser Entwicklung psychisch ist, vollzieht sich innerhalb der Einzelseele nach den allgemeinen Gesetzen der individuellen Psychologie. Alles das aber, wodurch die Wirkung des einen Individuums auf das andere ermöglicht wird, ist nicht psychisch (4).

Wenn ich von den verschiedenen Stadien in der Entwicklung der psychischen Gebilde gesprochen habe, so habe ich mich der gewöhnlichen bildlichen Ausdrucksweise bedient. Nach unseren bisherigen Auseinandersetzungen ist nicht daran zu denken, daß ein Gebilde, wie es sich in der einen Seele gestaltet hat, wirklich die reale Unterlage sein kann, aus der ein Gebilde der anderen entspringt. Vielmehr muß jede Seele ganz von vorn anfangen. Man kann nichts schon Gebildetes in sie hineinleigen, sondern alles muß in ihr von den ersten Anfängen an neu geschaffen werden, die primitiven Vorstellungen durch physiologische Erregungen, die Vorstellungskomplexe durch Verhältnisse, in welche die primitiven Vorstellungen innerhalb der Seele selbst zueinander getreten sind. Um die einer in ihr selbst entsprungenen entsprechende Vorstellungsverbindung in einer anderen Seele hervorzurufen kann die Seele nichts anderes tun, als mittels der motorischen Nerven ein physisches Produkt zu erzeugen, welches seinerseits wieder mittels Erregung der sensitiven Nerven des andern Individuums in der Seele desselben die entsprechenden Vorstellungen hervorruft, und zwar entsprechend assoziiert. Die wichtigsten unter diesem Zweck dienenden physischen Produkte sind eben die Sprachlaute. Andere sind die sonstigen Töne, ferner Mienen, Gebärden, Bilder etc.

Was diese physischen Produkte befähigt als Mittel zur Übertragung von Vorstellungen auf ein anderes Individuum zu dienen ist entweder eine  innere, direkte Beziehung  zu den betreffenden Vorstellungen (man denke z. B. an einen Schmerzensschrei, eine Gebärde der Wut) oder eine durch  Ideenassoziation vermittelte Verbindung,  wobei also die in direkter Beziehung zum physischen Werkzeug stehende Vorstellung das Bindeglied zwischen diesem und der mitgeteilten Vorstellung bildet; das ist der Fall bei der Sprache.

§ 8. Durch diese Art der Mitteilung kann kein Vorstellungsinhalt in der Seele neu geschaffen werden. Der Inhalt, um den es sich handelt, muß vielmehr schon vorher darin sein, durch physiologische Erregungen hervorgerufen. Die Wirkung der Mitteilung kann nur die sein, daß gewisse in der Seele ruhende Vorstellungsmassen dadurch erregt, eventuell auf die Schwelle des Bewußtseins gehoben werden, wodurch unter Umständen neue Verbindungen zwischen denselben geschaffen oder alte befestigt werden.

Der Vorstellungsinhalt selbst ist also unübertragbar. Alles, was wir von dem eines anderen Individuums zu wissen glauben, beruth nur auf Schlüssen aus unserem eigenen.  Wir setzen dabei voraus, daß die fremde Seele in demselben Verhältnis zur Außenwelt steht wie die unsrige, daß die nämlichen physhischen Eindrücke in ihr die gleichen Vorstellungen erzeugen wie in der unsrigen, und daß diese Vorstellungen sich in der gleichen Weise verbinden. Ein gewisser Grad von Übereinstimmung in der geistigen und körperlichen Organisation, in der umgebenden Natur und den Erlebnissen ist demnach die Vorbedingung für die Möglichkeit einer Verständigung zwischen verschiedenen Individuen. Je größer die Übereinstimmung, desto leichter die Verständigung. Umgekehrt bedingt jede Verschiedenheit in dieser Beziehung nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit des Nichtverstehens, des unvollkommenen Verständnisses oder des Mißverständnisses.

Am weitesten reicht die Verständigung durch diejenigen physischen Mittel, welche in direkter Beziehung zu den mitgeteilten Vorstellungen stehen; denn diese fließt häufig schon aus dem allgemein Übereinstimmenden in der menschlichen Natur. Dagegen, wo die Beziehung eine indirekte ist, wird vorausgesetzt, daß in den verschiedenen Seelen, die gleiche Assoziation geknüpft ist, was eine übereinstimmende Erfahrung voraussetzt. Man muß es demnach als selbstverständlich voraussetzen, daß alle Mitteilung unter den Menschen mit der ersteren Art begonnen hat und erst von da zur letzteren übergegangen ist. Zugleich muß hervorgehoben werden, daß die Mittel der ersten Art bestimmt beschränkte sind, während sich in Bezug auf die der zweiten ein unbegrenzter Spielraum darbietet, weil bei willkürlicher Assoziation unendlich viele Kombinationen möglich sind.

Fragen wir nun, worauf es denn eigentlich beruth, daß das Individuum, trotzdem es sich seinen Vorstellungskreis selbst schaffen muß, doch durch die Gesellschaft eine bestimmte Richtung seiner geistigen Entwicklung erhält und eine weit höhere Ausbildung, als es im Sonderleben zu erwerben vermöchte, so müssen wir als den wesentlichen Punkt die  Verwandlung indirekter Assoziationen in direkte  bezeichnen. Diese Verwandlung vollzieht sich innerhalb der Einzelseele, das gewonnene Resultat aber wird auf andere Seelen übertragen, natürlich durch physische Vermittlung in der geschilderten Weise. Der Gewinn besteht also darin daß in diesen anderen Seelen die Vorstellungsmassen nicht wieder den gleichen Umweg zu machen brauchen um aneinander zu kommen wie in der ersten Seele. Ein Gewinn ist das also namentlich dann, wenn die vermittelnden Verbindungen im Vergleich zu der schließlich resultierenden Verbindung von untergeordnetem Wert sind. Durch eine solche Ersparnis an Arbeit und Zeit, zu welcher ein Individuum dem anderen verholfen hat, ist dieses wiederum imstande, das Ersparte zur Herstellung einer weiteren Verbindung zu verwenden, zu der das erste Individuum die Zeit nicht mehr übrig hatte.

Mit der Überlieferung einer aus einer indirekten in eine direkte verwandelten Verbindung ist nicht auch die Ideenbewegung überliefert, welche zuerst zur Entstehung dieser Verbindung geführt hat. Wenn z. B. jemandem der Pythagoräische Lehrsatz überliefert wird, so weiß er dadurch nicht, auf welche Weise derselbe zuerst gefunden wurde. Er kann dann einfach bei der ihm gegebenen direkten Verbindung stehen bleiben, er kann auch durch eine eigene schöpferisce Kombination den Satz mit anderen ihm schon bekannten mathematischen Sätzen vermitteln, wobei er allerdings ein sehr viel leichteres Spielt hat als der erste Finder. Sind aber, wie es hier der Fall ist, verschiedene Vermittlungen möglich, so braucht er nicht gerade auf dieselbe zu verfallen wie dieser.

Es erhellt sich also, daß bei diesem wichtigen Prozeß, indem der Anfangs- und Endpunkt einer Vorstellungsreihe in direkter Verknüpfung überliefert werden, die Mittelglieder, welche ursprünglich diese Verknüpfung herstellen halfen, zu einem großen Teil für die folgende Generation verloren gehen müssen. Das ist in vielen Fällen eine heilsame Entlastung von unnützem Ballast, wodurch der für eine höhere Entwicklung notwendige Raum geschaffen wird. Aber die Erkenntnis der Genesis wird dadurch natürlich außerordentlich erschwert.

§ 9. Nach diesen für alle Kulturentwicklung geltenden Bemerkungen, deren spezielle Anwendung auf die Sprachgeschichte uns weiter unten zu beschäftigen hat, wollen wir jetzt versuchen, die wichtigsten Eigentümlichkeiten hervorzuheben, wodurch sich die Sprachwissenschaft unter allen historischen Wissenschaften die sichersten und exaktesten Resultate zu liefern imstande ist.

Jede Erfahrungswissenschaft erhebt sich zu umso größerer Exaktheit, je mehr es ihr gelingt in den Erscheinungen, mit denen sie zu schaffen hat,  die Wirksamkeit der einzlenen Faktoren isoliert zu betrachten.  Hierin liegt ja eigentlich der spezifische Unterschied der wissenschaftlichen Betrachtungsweise von der populären. Die Isolierung gelingt natürlich umso schwerer, je verschlungener die Komplikationen, in denen die Erscheinungen ansich gegeben sind. Nach dieser Seite hin sind wir bei der Sprache besonders günstig gestellt. Das gilt allerdings nicht, wenn man den ganzen materiellen Inhalt ins Auge faßt, der in ihr niedergelegt ist. Da findet man allerdings, daß alles, was irgendwie die menschliche Seele berührt hat, die leibliche Organisation, die umgebende Natur, die gesamte Kultur, alle Erfahrungen und Erlebnisse Wirkungen in der Sprache hinterlassen haben, daß sie daher von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, von den allermannigfachsten, von allen irgendwie denkbaren Faktoren abhängig ist. Aber diesen materiellen Inhalt zu betrachten ist nicht die eigentümliche Aufgabe der Sprachwissenschaft. Dazu kann sie nur in Verbindung mit allen übrigen Kulturwissenschaften beitragen. Sie hat für sich nur die Verhältnisse zu betrachten, in welche dieser Vorstellungsinhalt zu bestimmten Lautgruppen tritt. So kommen von den oben angegebenen vier Kategorien der gesellschaftlichen Einwirkung für die Sprache nur die ersten beiden in Betracht. Man braucht auch vornehmlich nur zwei Gesetzeswissenschaften als Unterlage von der letzteren nur gewisse Teile. Was man gewöhnlich unter Lautphysiologie oder Phonetik versteht, begreift allerdings nicht alle physiologischen Vorgänge in sich, die zur Sprechtätigkeit gehören, nämlich nicht die Erregung der motorischen Nerven, wodurch die Sprachorgane in Bewegung gesetzt werden. Es würde ferner auch die Akustik, sowohl als Teil der Physik wie als Teil der Pysiologie in Betracht kommen. Die akustischen Vorgänge aber sind nicht unmittelbar von den psychischen beeinflußt, sondern nur mittelbar, durch die lautphysiologischen. Durch diese sind sie derartig bestimmt, daß nach dem einmal gegebenen Anstoß ihr Verlauf im allgemeinen keine Ablenkungen mehr erfährt, wenigstens keine solchen, die für das Wesen der Sprache von Belang sind. Unter diesen Umständen ist ein tieferes Eindringen in diese Vorgänge für das Verständnis der Sprachentwicklung jedenfalls nicht in dem Maß erforderlich wie die Erkenntnis der Bewegung der Sprechorgane. Damit soll nicht behauptet werden, daß nicht vielleicht auch einmal aus der Akustik manche Aufschlüsse zu holen sein werden.

Die verhältnismäßige Einfahheit der sprachlichen Vorgänge tritt deutlich hervor, wenn wir etwa die wirtschaftlichen damit vergleichen. Hier handelt es sich um eine Wechselwirkung sämtlicher physischen und psychischen Faktoren, zu denen der Mensch in irgendeine Beziehung tritt. Auch den ernstesten Bemühungen wird es niemals gelingen, die Rolle, welche jeder einzelne unter diesen Faktoren dabei spielt, vollständig klar zu legen.

Ein weiterer Punkt von Belang ist folgender. Jede sprachliche Schöpfung ist stets nur das Werk eines Individuums. Es können mehrere das gleiche schaffen. Aber der Akt des Schaffens ist darum kein anderer und das Produkt kein anderes. Niemals schaffen mehrere Individuen etwas zusammen, mit vereinten Kräften, mit verteilten Rollen. Ganz anders ist das wieder auf wirtschaftlichem oder politischem Gebiet. Wie es innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung selbst immer schwieriger wird, die Verhältnisse zu durchschauen, je mehr Vereinigung der Kräfte, je mehr Verteilung der Rollen sich herausbildet, umso weniger durchsichtig sind auch die einfachsten Verhältnisse auf diesen Gebieten gegenüber den sprachlichen. Allerdings insofern, als eine sprachliche Schöpfung auf ein anderes Individuum übertragen und von diesem umgeschaffen wird, als dieser Prozeß sich immer von neuem wiederholt, findet auch hier eine Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung statt, ohne die ja, wie wir gesehen haben, überhaupt keine Kultur zu denken ist. Und wo in unserer Überlieferung eine Anzahl von Zwischenstufen fehlen, da ist auch der Sprachforscher in der Lage, verwickelte Komplikationen auflösen zu müssen, die aber nicht sowohl durch das Zusammenwirken als durch das Nacheinanderwirken verschiedener Individuen entstanden sind.

Es ist ferner auch nach dieser Seite hin von großer Wichtigkeit, daß die sprachlichen Gebilde im allgemeinen ohne bewußte Absicht geschaffen werden. Die Absicht der Mitteilung ist zwar, abgesehen von den allerfrühesten Stadien, vorhanden, aber nicht die Absicht etwas Bleibendes festzusetzen, und das Individuum wird sich seiner schöpferischen Tätigkeit nicht bewußt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Sprachbildung namentlich von aller künstlerischen Produktion. Die Unbewußtheit, wie wir sie hier als Charakteristikum hinstellen, ist freilich nicht so allgemein anerkannt und ist noch im einzelnen zu erweisen. Man muß dabei unterscheiden zwischen der natürliche Entwicklung der Sprache und der künstlichen, die allerdings durch ein absichtlich regelndes Eingreifen zustande kommt. Solche bewußten Bemühungen beziehen sich fast ausschließlich auf die Herstellung einer Gemeinsprache in einem dialektisch gespaltenen Gebiet oder einer technischen Sprache für bestimmte Berufsklassen. Wir müssen im folgenden zunächst gänzlich von denselben abstrahieren, um das reine Walten der natürlichen Entwicklung kennen zu lernen, und erst dann ihre Wirksamkeit in einem besonderen Abschnitt behandeln. Zu diesem Verfahren sind wir nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Wir würden sonst ebenso handeln wie der Zoologe oder der Botaniker, der um die Entstehung der heutigen Tier- und Pflanzenwelt zu erklären, über all mit der Annahme einer künstlichen Züchtung und Veredelung operierte. Der Vergleich ist in der Tat in einem hohen Grad zutreffend. Wie der Viehzüchter oder der Gärtner niemals etwas rein willkürlich aus nichts erschaffen können, sondern mit allen ihren Versuchen auf eine nur innerhalb bestimmter Schranken mögliche Umbildung des natürlich Erwachsenen angewiesen sind, so entsteht auch eine künstliche Sprache nur auf der Grundlage einer natürlichen. So wenig durch irgendwelche Veredlung die Wirksamkeit derjenigen Faktoren aufgehoben werden kann, welche die natürliche Entwicklung bestimmen, so wenig kann das auf sprachlichem Gebiet durch eine absichtliche Regelung geschehen. Sie wirken trotz allen Eingreifens ungestört weiter fort, und alles, was auf künstlichem Weg gebildet und in die Sprache aufgenommen ist, verfällt dem Spiel ihrer Kräfte.

Es wäre nun zu zeigen, inwiefern die Absichtslosigkeit der sprachlichen Vorgänge es erleichtert, ihr Wesen zu durchschauen. Zunächst folgt daraus wieder, daß dieselben verhältnismäßig einfach sein müssen. Bei jeder Veränderung kann nur ein kurzer Schritt getan werden. Wie wäre das anders möglich, wenn sie ohne Berechnung erfolgt und, wie es meistens der Fall ist, ohne daß der Sprechende eine Ahnung davon hat, daß er etwas nicht schon vorher Dagewesenes hervorbringt? Freilich kommt es dann aber auch darauf an, die Indizien, durch welche sich diese Vorgänge dokumentieren, möglichst Schritt für Schritt zu verfolgen. Aus der Einfachheit der sprachlichen Vorgänge folgt nun aber auch, daß sich dabei die individuelle Eigentümlichkeit nicht stark geltend machen kann. Die einfachsten psychischen Prozesse sind ja bei allen Individuen die gleichen, ihre Besonderheiten beruhen nur auf einer verschiedenartigen Kombination dieser einfachen Prozesse.  Die große Gleichmäßigkeit aller sprachlichen Vorgänge in den verschiedensten Individuen ist die wesentlichste Basis für eine exakt wissenschaftliche Erkenntnis derselben. 

So fällt dann auch die Erlernung der Sprache in eine frühe Entwicklungsperiode, in welcher überhaupt bei allen psychischen Prozessen noch wenig Absichtlichkeit und Bewußtsein, noch wenig Individualität vorhanden ist. Und ebenso verhält es sich mit derjenigen Periode in der Entwicklung des Menschengeschlechts, welche die Sprache zuerst geschaffen hat.

Wäre die Sprache nicht so sehr auf Grundlage des Gemeinsamen in der menschlichen Natur aufgebaut, so wäre sie auch nicht das geeignete Werkzeug für den allgemeinen Verkehr. Umgekehrt, daß sie als solches dient, hat zu notwendigen Konsequenz, daß sie alles rein Individuelle, was sich ihr doch etwa aufzudrängen versucht, zurückstößt, daß sie nichts aufnimmt und bewahrt, als was durch die Übereinstimmung einer Anzahl miteinander in Verbindung befindlicher Individuen sanktioniert wird.

Unser Satz, daß die Unabsichtlichkeit der Vorgänge eine exakte wissenschaftliche Erkenntnis begünstigte, ist leicht aus der Geschichte der übrigen Kulturzweige zu bestätigen. Die Entwicklung der sozialen Verhältnisse, des Rechts, der Religion, der Poesie und aller übrigen Künste zeigt umso mehr Gleichförmigkeit, macht umso mehr den Eindruck der Naturnotwendigkeit, je primitiver die Stufe ist, auf der man sich befindet. Während sich auf diesen Gebieten immer mehr Absichtlichkeit, immer mehr Individualismus geltend gemacht hat, ist die Sprache nach dieser Seite hin viel mehr beim ursprünglichen Zustand stehen geblieben. Sie erweist sich auch dadurch als der Urgrund aller höheren geistigen Entwicklung im einzelnen Menschen wie im ganzen Geschlecht.

§ 10. Ich habe es noch kurz zu rechtfertigen, daß ich den Titel  Prinzipien der Sprach"geschichte"  gewählt habe. Es ist eingewendet, daß es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe, als die geschichtliche (5). Ich muß das in Abrede stellen. Was man für eine nichtgeschichtliche und doch wissenschaftliche Betrachtung der Sprache erklärt, ist im Grunde nichts als eine unvollkommen geschichtliche, unvollkommen teils durch die Schuld des Betrachters, teils durch die Schuld des Beobachtungsmaterials. Sobald man über das bloße Konstatieren von Einzelheiten hinausgeht, sobald man versucht, den Zusammenhang zu erfassen, die Erscheinungen zu begreifen, so betritt man auch den geschichtlichen Boden, wenn auch vielleicht ohne sich klar darüber zu sein. Allerdings ist eine wissenschaftliche Behandlung der Sprache nicht bloß möglich, wo uns verschiedene Entwicklungsstufen der gleichen Sprache vorliegen, sondern auch bei einem Nebeneinanderliegen des zu Gebote stehenden Materials. Am günstigsten liegt dann die Sache, wenn uns mehrere verwandte Sprachen oder Mundarten bekannt sind. Dann ist es Aufgabe der Wissenschaft, nicht bloß zu konstatieren, was sich in den verschiedenen Sprachen oder Mundarten gegenseitig entspricht, sondern aus dem Überlieferten die nicht überlieferten Grundformen und Grundbedeutungen nach Möglichkeit zu rekonstruieren. Damit aber verwandelt sich augenscheinlich die vergleichende Betrachtung in eine geschichtliche. Aber auch, wo uns nur eine bestimmte Entwicklungsstufe einer einzelnen Mundart vorliegt, ist noch eine wissenschaftliche Betrachtung bis zu einem gewissen Grad möglich. Jedoch wie? Vergleicht man z. B. die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes untereinander, so sucht man festzusetzen, welche davon die Grundbedeutung ist, oder auf welche untergegangene Grundbedeutung sie hinweisen. Bestimmt man aber eine Grundbedeutung, aus der andere abgeleitet sind, so konstatiert man ein historisches Faktum. Oder man vergleicht die verwandten Formen untereinander und leitet sie aus einer gemeinsamen Grundform ab. Dann konstatiert man wiederum ein historisches Faktum. Ja, man darf überhaupt nicht behaupten, daß verwandte Formen aus eienr gemeinsamen Grundlage abgeleitet sind, wenn man nicht historisch werden will. Oder man konstatiert zwischen verwandten Formen und Wörtern einen Lautwechsel. Will man sich denselben erklären, so wird man notwendig darauf geführt, daß derselbe die Nachwirkung eines Lautwandels, also eines historischen Prozesses ist. Versucht man die sogenannte innere Sprachform im Sinne HUMBOLDTs und STEINTHALs zu charakterisieren, so kann man das nur, indem man auf den Ursprung der Ausdrucksformen und ihre Grundbedeutung zurückgeht. Und so wüßte ich überhaupt nicht, wie man mit Erfolg über eine Sprache reflektieren könnte, ohne daß man etwas darüber ermittelt, wie sie geschichtlich geworden ist. Das einzige, was nun etwa noch von nichtgeschichtlicher Betrachtung übrig bliebe, wären allgemeine Reflexionen über die individuelle Anwendung der Sprache, über das Verhalten des Einzelnen zum allgemeinen Sprachusus. Daß aber gerade diese Reflexionen aufs engste mit der Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung zu verbinden sind, wird sich im folgenden zeigen.
LITERATUR: Hermann Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, Halle/Saale 1898
    Anmerkungen
    1) Angedeutet ist dieser Unterschied allerdings, Seite 25f, wo zwischen den  synthetischen, rationalen  und den  beschreibenden  Disziplinen der Naturwissenschaft unterschieden wird. Aber völlige Verwirrung herrscht z. B. Seite 15f. Aus der Tatsache, daß es nur zwei Formen allen Seins und Werdens gibt, Natur und Geist, folgern die Verfasser, daß es nur zwei Klassen von realen Wissenschaften geben könne, eine, deren Gegenstand die Natur, und eine, deren Gegenstand der Geist sei. Dabei wird also nicht berücksichtig, daß es auch Wissenschaften geben könne, die das Ineinanderwirken von Natur und Geist zu betrachten haben. Noch bedenklicher ist es, wenn sie dann fortfahren: "Demnach stehen sich gegenüber Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit." Hier muß zunächst die Geschichte in einem ganz anderen Sinn gefaßt sein, als den man gewöhnlich mit dem Wort verbindet, als Wissenschaft vom Geschehen, von den Vorgängen. Wie kommt aber mit einem Mal  Mensch  an die Stelle von  Geist.  Beides ist doch weit entfernt sich zu decken. Weiter wird zwischen Natur und Geist der Unterschied aufgestellt, daß sich die Natur in einem ewigen Kreislauf ihrer gesetzmäßigen Prozesse bewege, wobei die verschiedenen Läufe vereinzelt, jeder für sich bleiben, wobei immer nur das schon Dagewesene wiedererzeugt würde und nichts Neues entstünde, während der Geist in einer Reihe zusammenhängender Schöpfungen lebe, einen Fortschritt zeige. Diese Unterscheidung, in dieser Allgemeinheit hingestellt, ist zweifellos unzutreffend. Auch die Natur, die organische zumindest sicher, bewegt sich in einer Reihe zusammenhängender Schöpfungen, auch in ihr gibt es einen Fortschritt. Andererseits bewegt sich auch der Geist (das ist auch die Anschauung der Verfasser) in einem gesetzmäßigen Ablauf, in einer ewigen Widerholung der gleichen Grundprozesse. Es sind hier zwei Gegensätze konfundiert, die völlig auseinander gehalten werden müssen, der zwischen Natur und Geist einerseits und der zwischen gesetzmäßigem Prozeß und geschichtlicher Entwicklung andererseits. Nur von dieser Konfusion aus ist es zu begreifen, daß es die Verfasser überhaupt in Frage stellen können, ob die Psychologie zu den Natur- oder zu den Geisteswissenschaften gehört, und daß sie schließlich dazu kommen ihr eine Mittelstellung zwischen beiden anzuweisen. Diese Konfusion ist freilich die hergebrachte, von der man sich aber endlich losreissen sollte nach den Fortschritten, welche die Psychologie einerseits, die Wissenschaft von der organischen Natur andererseits gemacht hat.
    2) MISTELLI, Zeitschrift für Völkerpsychologie, Bd. XIII, Seite 385, hat mich merkwürdigerweise so mißverstanden, daß er meint, ich wolle überhaupt keine Abstraktionen gemacht wissen, während ich natürlich nur meine, daß sich keine Abstraktionen störend zwischen das Auge des Beobachters und die wirklichen Dinge stellen sollen, die ihn hindern, den Kausalzusammenhang unter den letzteren zu erfassen. Die Belehrung, die er mir über den Wert des Abstrahierens erteilt, ist daher ebenso überflüssig wie seine kritische Bemerkung darüber, daß ja noch weiter gehendere Abstraktionen mache als andere.
    3) Trotz dieser ausdrücklichen Bitte bemerkt L. TOBLER, Literaturblatt für germanische und römische Philologie, 1881, Spalte 122 über meine Einleitung: "Alle diese einleitenden Begriffsbestimmungen fallen mehr in den Bereich einer philosophischen Zeitschrift und üben auf den weiteren Verlauf der Darstellung keinen Einfluß aus." Und MISTELI, a. a. O. Seite 400, tritt ihm bei und meint, er hätte nur noch hinzufügen können: glücklicherweise. Ich muß gestehen, es ist niederschlagend für mich, daß zwei Gelehrte, die doch gerade ein Interesse für allgemeine Fragen bekunden, so wenig erkannt haben, was der eigentliche Angelpunkt meines ganzen Werkes ist. Alles dreht sich mir darum die Sprachentwicklung aus der Wechselwirkung abzuleiten, welche die Individuen aufeinander ausüben. Eine Kritik der LAZARUS-STEINTHALschen Anschauungen, deren Fehler eben in der Nichtberücksichtigung dieser Wechselwirkung besteht, hängt daher auf das engste mit der Gesamttendenz meines Buches zusammen. MISTELI ist überhaupt der Ansicht, daß meine allgemeinen theoretischen Erörterungen vom Sprachforscher nicht berücksichtigt zu werden brauchten, und daß dieser mit den herkömmlichen grammatischen Kategorien auskommen könnte. Damit wird der alte Dualismus zwischen Philosophie und Wissenschaft sanktioniert, den zu überwinden wir heutzutage mit aller Macht streben sollten.
    4) In einer Abhandlung, die in der Zeitschrift für Völkerpsychologie, Bd. 17, Seite 333, erschienen ist, setzt sich STEINTHAL auch mit meiner Kritik auseinander. Leider hat er sich nicht davon überzeugen können, daß die von mir gemachten Unterscheidungen von Belang sind, wofür doch mein ganzes Buch den Beweis liefert.
    5) Vgl. MISTELI, a. a. O. Seite 382f.