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RUDOLF WEINMANN
Wundt über naiven und
kritischen Realismus


"Das naive Bewußtsein kennt die Dinge nur als ihm  unabhängig gegenüberstehende Objekte,  nicht als Bewußtseinsinhalte. Und zur Reflexion angeregt wird es zugeben, daß die Dinge lediglich  für  das Denken, nicht aber, daß sie  durch  das Denken existieren. Die gemeine Erfahrung kennt den Gegenstand nur  einmal,  als wirklichen; ebenso die beginnende Reflexion, als gedachten."

Der einzig gangbare Weg für die Erkenntnistheorie führt vom naiven zum kritischen Realismus. Die  positive Wissenschaft  ist ihn instinktiv gegangen - ihre Geschichte zeigt es. An ihrer Hand soll die abstrakte Erkenntnistheorie an die  Auffindung  der Erkenntnisprinzipien herantreten. Nicht aber soll sie dieselben in selbstherrlicher Begriffskonstruktion  er finden.

Von diesem allgemeinen Standpunkt aus unternimmt WUNDT in einer bedeutenden Kundgebung ("Philosophische Studien", Bd. XII, Seite 307-408; Bd. XIII, 1-105 und 323-433) die Kritik der beiden bemerkenswertesten Gestaltungen der modernen positivistischen Erkenntnistheorie:  der "immanenten Philosophie und des  "Empiriokritizismus".  Diese WUNDT'sche Aufsatzserie enthält naturgemäß auch vieles, was für die Kantprobleme von Wichtigkeit ist, und so darf eine Besprechung der WUNDT'schen Ausführungen in den "Kantstudien" nicht fehlen. Es folgt daher hier zunächst (unter I. und II.) eine rein referierende Wiedergabe der grundsätzlichen Äußerungen WUNDTs über den Wert jener beiden Standpunkte, und daran schließt sich sodann (unter Nr. III.) eine kritische Würdigung der WUNDTschen Position, speziell unter dem Gesichtspunkt ihres Verhältnisses zu KANTs Erkenntnistheorie.


I.

Die  immanente Philosophie  (Hauptvertreter: SCHUPPE und SCHUBERT-SOLDERN). Die beherrschende These dieser Richtung lautet: "alle Erkenntnis ist Bewußtseinsinhalt". Und ihre entscheidende Opposition gilt der Anerkennung eines außerhalb des Bewußtseins existierenden, von ihm unabhängigen,  transzendenten "Dinges ansich".  Wirklich ist nur das, was KANT die "Erscheinung" nannte. Für diesen  "immanenten"  Standpunkt berufen sich seine Vertreter vor allem auf das Zeugnis des  naiven Realismus".  Sie begehen damit ihren ersten großen Irrtum, denn das naive Bewußtsein kennt die Dinge nur als ihm "unabhängig gegenüberstehende Objekte", nicht als Bewußtseinsinhalte. Und zur Reflexion angeregt wird es zugeben, daß die Dinge lediglich  für  das Denken, nicht aber, daß sie  durch  das Denken existieren. Vom naiven Realismus führt somit kein Weg zur Leugnung der vom Denken unabhängigen Existenz des Objekts. Die  "Verdoppelung"  des Objekts - als gedachtes Ding und Ding außerhalb des Bewußtseins - soll nun aber als logischer Widerspruch zum  monistischen  Standpunkt der immanenten Philosophie nötigen. Es ist richtig: die gemeine Erfahrung kennt den Gegenstand nur  einmal,  als wirklichen; ebenso die beginnende Reflexion, als gedachten. Daher die  Subjektivierung  der Objekte fast seit den Anfängen der Philosophie. Die Erfahrungswissenschaften aber haben in allmählicher, vorsichtiger Arbeit eine andere Lösung gezeitigt: der Gegenstand bleibt in seiner Unabhängigkeit bestehen und stellt sich als das  begriffliche Endresultat  dar, der am unmittelbaren Wahrnehmungsinhalt vollzogenen, die subjektiven Elemente eliminierenden Kritik; und total verschieden hiervon ist die anschaulich gegebene Vorstellung, die auf den Gegenstand als sein  Zeichen  hinweist. Von einer Verdoppelung ist also gar keine Rede. Wohl aber kommt hierin der von der positiven Wissenschaft geübte Wahrheitsbegriff zur Geltung, wonach die Wissenschaft die Wirklichkeit durch den Begriff  nachzubilden,  nicht hervorzubringen habe. - Die immanente Philosophie, als Vertreterin der "natürlichen Weltansicht", erklärt die Empfindungsqualitäten für ebenso "objektiv" wie Raum und Zeit. Sie stellt sich damit beiläufig auf den Standpunkt der alten Naturphilosophie und glaubt die ganze neuere Naturwissenschaft ignorieren zu dürfen. Ohne Recht und Grund. Denn die Naturwissenschaft ist, gleichfalls von der "natürlichen Weltansicht" ausgehend, in  positiver  Denkarbeit zu ihrem gänzlich verschiedenen, bekannten Standpunkt gelangt, für den schon der ungeheure tatsächliche Erfolg spricht. Oder sollte beispielsweise die physikalische Optik ihre Arbeit umsonst getan haben? - Wenn "die Auffassung der Außenwelt nicht von der Außenwelt selbst" unterschieden wird, wenn Sein und Bewußtsein identisch sind, kurz: wenn es nur Bewußtseinsvorgänge als wahre Realität gibt, wie können wir dann doch eine Außenwelt von rein subjektiven Bewußtseinsvorgängen unterscheiden, wie sind Naturwissenschaft und Psychologie überhaupt gegeneinander abzugrenzen ?? ... Die immanente Philosophie meint durch eine  Teilung  des Bewußtseinsinhaltes zwischen Psychologie und Naturwissenschaft: letztere soll "das Gattungsmäßige des Bewußtseins", erstere das individuelle Ich zum Gegenstand haben. Was des näheren noch dahin ergänzt wird, daß die Sinneswahrnehmungen der Naturwissenschaft, die reproduzierten Vorstellungen der Psychologie zugehören. Jedoch - es wäre "eine allgemeine Umkehrung der Wissenschaften gefordert", hätte die immanente Philosophie recht. Denn einstweilen gehören die Sinneswahrnehmungen zur Psychologie; und für die Naturwissenschaft kommen sie nur in Betracht, insofern sich in ihnen die vom wahrnehmenden Subjekt unabhängige Wirklichkeit darstellt. Die notwendige Konsequenz der immanenten Philosophie wäre, "die gesamte Naturwissenschaft der Psychologie einzuverleiben." Der prinzipielle Fehler bei alledem ist, daß man übersieht, daß nicht "verschiedene Erfahrungsinhalte, sondern verschiedene  Gesichtspunkte  der Betrachtung" der Scheidung in Naturwissenschaft und Psychologie zugrunde liegen. Jene betrachtet das Objekt nach Abstraktion vom Subjekt, diese das Subjekt selbst samt seinem Einfluß auf die unmittelbare Erfahrung. Dies ist nun freilich für die immanente Philosophie nicht annehmbar, da nach ihr vom Subjekt niemals abstrahiert werden kann. Aufs Neue offenbart sich damit das "proton pseudos" [erster Irrtum, erste Lüge - wp] allen Subjektivismus, daß "keine Erfahrung anders als eine im Bewußtsein gegebene aufgefaßt werden kann." - "Die immanente Philosophie legt im allgemeinen großen Wert darauf, daß sie nicht mit dem reinen Subjektivismus oder Solipsismus verwechselt wird." Trotzdem ist sie ihm unrettbar verfallen. Weder empirisch - durch die Gemeinsamkeit der Wahrnehmungsinhalte - noch logisch - aus dem Begriff des "gattungsmäßigen Bewußtseins" heraus - vermag die immanente Philosophie eine haltbare "objektive Wirklichkeit" zu konstruieren. Das empirische Merkmal ist gegen alle Empirie, und das "gattungsmäßige Bewußtsein" oder "abstrakte Ich" - dessen ganze Theorie stark an einen platonischen Apriorismus, BERKELEYs transzendente Metaphysik, die "wunderbare Zeugungskraft des Fichte'schen Ich" erinnert - führt eine "leere Scheinexistenz", als deren "einzig realer Rest das subjektive und individuelle Ich zurückbleibt". - Die immanente Philosophie zeigt sich in jeder Hinsicht außer Fühlung mit dem wirklichen wissenschaftlichen Denken. A priori will sie ihm - wie einst die Wissenschaftslehre FICHTEs - seine Gesetze und Prinzipien vorschreiben. Während umgekehrt die abstrakte Erkenntnistheorie aus der Arbeit der einzelnen Wissenschaften ihre wichtigsten Anregungen wie ihre maßgebenden Gesichtspunkte zu empfangen hat, um ihrerseits wieder fördernd auf jene zurückwirken zu können.


II.

Der  Empiriokritizismus  (AVENARIUS' "Kritik der reinen Erfahrung"). Gemeinsam mit der immanenten Philosophie ist dem Empiriokritizismus der Anspruch, die "natürliche Weltansicht", die "reine", "unverfälschte" Erfahrung wiederhergestellt zu haben, und die monistische Tendenz, die jede "Verdoppelung" als Grundirrtum anderer Erkenntnistheorien verurteilt. Innig berührt er sich mit ihr vor allem auch in seiner obersten Voraussetzung oder dem "empiriokritischen Befund", der sogenannten  "Prinzipialkoordination",  welche die unaufhebbare Zusammengehörigkeit von Ich und Umgebung, "Zentralglied" und "Gegenglied" ausspricht. Gegen diese "Prinzipialkoordination" nun erheben sich die gleichen Bedenken wie gegen den Satz: "kein Objekt ohne Subjekt". Sie vermehren sich angesichts der näheren Interpretation der Prinzipialkoordination: vermöge der "empiriokritischen Substitution" tritt an die Stelle des Ich als eigentliches Zentralglied das Zentralnervensystem oder das System  C.  Aus den "Schwankungen" des Systems  C  sind alle Erfahrungsinhalte abzuleiten. - Diese Forderung wird ohne genügenden Beweis geführt. Ihre Basis ist keine festere als die des üblichen  Materialismus.  Der Zusammenhang mit der psychologischen Empirie ist ein äußerst loser. Denn nicht von konkreten Gehirnprozessen ist bei der Durchführung dieser Forderung die Rede, sondern an ihrer Stelle erscheint ein rein formaler abstrakt-begrifflicher Schematismus, aufgebaut auf Generalbezeichnungen für komplexe Vorgänge (wie "Ernährung", "Übung" etc.) Die Ähnlichkeit mit der HERBARTschen Seele und ihren Störungen und Selbsterhaltungen beweist, daß das System  C  im Grunde eine  metaphysische  Substanz, nicht das konkrete Gehirn ist. Die absolute Vernachlässigung der unmittelbar gegebenen psychologischen Werte zeugt wenig von "reiner Erfahrung". Bei dem durchaus hypothetischen Charakter der "Schwankungen" des Systems  C  kann von einer Zurückführung des "Unbekannten" (?!) - Psychischen - auf das "Bekannte" nicht die Rede sein. Umsoweniger als im Grunde ja doch von den  Bewußtseins vorgängen als dem allgemein Geläufigen und Bekannten ausgegangen wird. Schließlich ist nicht einmal die so sehr verdammte "Verdoppelung" vermieden, indem der "abhängigen Vitalreihe" - den unmittelbaren Erfahrungsaussagen - die "unabhängige Vitalreihe" - eben die Schwankungen des System  C - gegenübertreten. - Charakteristisch für den Empiriokritizismus ist ferner seine  dialektische Methode:  es fehlt nicht die rein logische Ableitung der Begriffe aus einem Urbegriff (dem System C), die Selbstbewegung der Begriffe durch die Macht der Verneinung verbunden mit der beliebten Dreiteilung ("Selbsterhaltung des Systems C" - "Vitaldifferenz" - "Aufhebung der Vitaldifferenz"); selbst der HEGELsche "Kreislauf der Idee" und der Abschluß der Weltanschauungen durch eine "absolute Philosophie" findet sich wieder in Gestalt des "natürlichen Weltbegriffs", in welchem Anfang und Ende der Philosophie zur Deckung kommen. - Eine große Rolle spielen in der "Kritik der reinen Erfahrung" die  Prinzipien "der Ökonomie des Denkens"  und  "der reinen Beschreibung".  Das erstere, didaktisch und methodologisch gewiß berechtigt, wird von AVENARIUS vorzugsweise in seiner  metaphysischen,  unhaltbaren Bedeutung angewendet. Daß der einfachste "Weltbegriff" auch der wahre sei, ist eine willkürliche, unbewiesene Annahme und macht die Philosophie zur Begriffsdichtung, für die nicht logisch-wissenschaftliche, sondern ästhetisch-teleologische Interessen ausschlaggebend sind. Die Folge ist, daß unbequeme Tatsachen zugunsten der Einfachheit des Ganzen unterdrückt werden. Wogegen das Hauptprinzip und Ideal der exakten wissenschaftlichen Forschung,  alle  Tatsachen zu berücksichtigen und in einen widerspruchslosen begrifflichen Zusammenhang zu ordnen, unberücksichtigt bleibt. Das "Prinzip der reinen Beschreibung" - auch seitens der Naturwissenschaft neuerdings vielfach gefordert - tritt in skeptischer Opposition der "erklärenden" Wissenschaft entgegen. Aber man versäumt hierbei, festzustellen und sich darüber klar zu werden, was "Erklärung", "Beschreibung" im Grunde sei. Man opponiert - mit Recht natürlich - gegen den  Mißbrauch  der Erklärung (Einführung von "Kräften" etc.). Die Erklärung als solche aber, welche die Dinge begrifflich nach Grund und Folge ordnet, wird davon nicht betroffen; - und übrigens von ihren Bekämpfern selbst geübt. Am weitesten von "reiner Beschreibung" (Wiedergabe konkreter Dinge in ihrer Existenz und Aufeinanderfolge) entfernt zeigt sich jedenfalls AVENARIUS selbst. Daß er vielmehr durchaus ein  metaphysischer  Welterklärer ist, illustrieren schlagend die  Verwandtschaftsbeziehungen  der "Kritik der reinen Erfahrung"  zu anderen philosophischen Systemen.  Von der Verwandtschaft mit HEGELs Dialektik und den Beziehungen zu HERBARTs "Seele" war schon die Rede. Der Zug zur mathematischen Methode und die ganze ontologische Denkweise verbindet AVENARIUS zugleich mit HERBART und SPINOZA. Die Behandlung von "Bewußtsein", "Wissen", "Wille" als gänzlich fragwürdiger Bestand, die Ableitung aller geistigen Werte aus den Schwankungen des Systems  C  stempelt den Empiriokritizismus unwiderleglich zu einer Entwicklungsform des  Materialismus. Scholastisch  ist er schließlich auf die verschiedensten Probleme gleichförmig angewandte Begriffsschematismus und die Tendenz zu eigenartigen Begriffs- und Wortbildungen; worin der Empiriokritizismus alle Scholastizismen neuerer Philosophen weit hinter sich läßt. -

Der Empiriokritizismus steht in einem unüberbrückbaren  Gegensatz zum Standpunkt der Naturwissenschaft.  Für die Naturwissenschaft gibt es keine räumliche oder zeitliche Einschränkung der Erkenntnis auf eine  tatsächliche  Erfahrung. Die Konsequenz der "Prinzipialkoordination" - keine Umgebung ohne Zentralglied - wäre eine solche Einschränkung und demzufolge die Streichung ganzer Wissenschaftsgebiete (Geologie, Astronomie). RUDOLF WILLY zieht diese abenteuerliche Konsequenz; AVENARIUS glaubt die Schwierigkeit durch die Einführung eines "potentiellen" Zentralgliedes zu lösen. Aber das "potentielle Zentralglied" ist ein reich logisch-scholastisches Scheingebilde ohne alle konkrete Wirklichkeit - und die ganze Schwierigkeit ist lediglich durch die unhaltbare, empirisch nicht begründete Prinzipialkoordination heraufbeschworen. - Ebenso widerspruchsvoll ist der  psychologische Standpunkt  des Empirokritizismus. Die Definition der Psychologie als Wissenschaft, welche "die Erfahrungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Abhängigkeit vom Individuum (vom System  C)  betrachtet", läßt die Psychologie einerseits mit der Erkenntnistheorie und Philosophie im Sinne der "Kritik der reinen Erfahrung", andererseits mit der  Gehirnphysiologie  zusammenfallen. Statt die Psychologie der Naturwissenschaft zu koordinieren, entsprechend der Eigentümlichkeit der Betrachtungsweise, wird sie so, durchaus  materialistisch,  zu einem Zweig der Physiologie gemacht. Mit der Selbständigkeit der Psychologie als Wissenschaft muß natürlich auch jede selbständige "psychische Kausalität" und weiterhin der "psychophysische Parallelismus" fallen. An ihre Stelle tritt der Begriff der "logischen Abhängigkeit" der geistigen Werte von der "unabhängigen Vitalreihe", der Begriff der  "Funktion".  Da aber eine Ableitung des Geistigen aus dem Körperlichen unter allen Umständen aussichtslos bleibt, so kann ihr auch durch die Einführung des Funktionsbegriffs nicht aufgeholfen werden. Dieser mathematische Begriff erscheint vielmehr in einem sehr uneigentlichen Sinn angewandt. Noch dazu gibt er Anlaß zu einem argen Widerspruch: indem nämlich AVENARIUS den als "unhaltbar und widersinnig" bekämpften Parallelismus alsbald als "empirischen" Parallelismus wieder anerkennt (nur als "metaphysischen" verwirft), Funktion und Parallelität sich aber ausschließen. Da die neuere Psychologie gleichfalls nur von einem "empirischen" Parallelismus weiß, wird überdies der ganze Kampf gegen den Parallelismus hinfällig. -

Ähnlich wie die immanente Philosophie erweist sich der Empiriokritizismus als weitabliegend von wirklicher wahrer Wissenschaft. Diese erkennt als ihre erste Pflicht eine Achtung von den Tatsachen - dem Empiriokritizismus ist alles die Durchführung seines einfachen Schemas; die Wissenschaft ist Entwicklung, Leben und Bewegung - der Empiriokritizismus ein abgeschlossenes System; die Wissenschaft setzt Metaphysik an den Schluß - der Empiriokritizismus an den Anfang.

Immanente Philosophie und Empiriokritizismus haben den mittelbaren Wert konsequent und scharfsinnig durchgeführter Gedankensysteme. Positiv betrachtet sind beide philosophische Irrwege. -


III.

Dies sind die Hauptresultate der WUNDTschen Kritik und aus der reichen Fülle seiner Argumente die markantesten. Das Angeführte spricht für sich selbst und es bedarf kaum der Hinzufügung, daß dieser erste gewichtige Streich, der gegen die Verirrungen der neuesten positivistischen Erkenntnistheorie geführt wird, die WUNDTsche Abhandlung zu einer  hochbedeutsamen  literarischen Erscheinung stempelt. Die Unhaltbarkeit, die Widersprüche, der durchaus metaphysische Charakter der gegnerischen Standpunkte, ihre völlige Unvereinbarkeit mit Sinn und Wesen der positiven Wissenschaft (speziell der Naturwissenschaft) wird ebenso vornehm wie vernichtend nachgewiesen. Ungemein sympathisch und von einem Geist echter, besonnener Wissenschaftlichkeit getragen ist der allgemeine Grundsatz, zu dem sich WUNDT bekennt: Achtung und Beachtung der  Tatsachen  und der  positiven  Wissenschaft beim Aufbau von Erkenntnistheorie und Philosophie. - Nicht ganz festgefügt dagegen erscheint die Kritik WUNDTs da, wo es gilt, der immanenten Philosophie und dem Empiriokritizismus eine  positive erkenntnistheoretische Anschauung  entgegenzusetzen. Gewiß zeigt sich WUNDT durchaus als Vertreter des  Realismus  (1); aber eben mehr negativ als positiv. Das heißt, er verteidigt mit Entschiedenheit gegen diejenigen, die über ihn hinwegschreiten zu können vermeinen - (ganz besonders überzeugend Seite 396f in Bd. XII) -, aber er wird unentschieden und unbestimmt, wenn es darauf ankommt, das letzte Wort im Sinne einer realistischen Grundanschauung auszusprechen. Dazu gehört die unbedingte Anerkennung der "Verdoppelung", des  "Dualismus als für die erkenntnistheoretische Betrachtungsweise unvermeidbar.  (2) WUNDT weist zwar die Ansicht zurück, es sei jeglicher Dualismus ein philosophisches Verbrechen - aber doch sucht er ihn selbst zu überwinden; er erkennt das unabhängig existierende Objekt an - aber er definiert es als den aus der unmittelbaren Wahrnehmung abgezogenen "Begriff". Außerdem gilt seine Opposition mehr der  psychologischen  Falschheit des "immanenten" Standpunktes, der "Prinzipialkoordination", etc., als ihrer  logischen  Unhaltbarkeit. Ja, er gibt mehrmals direkt zu, daß die Behauptungen des Gegners - "kein Objekt ohne Subjekt", u. dgl. - als Resultat einer "erkenntnistheoretischen Reflexion" richtig sind. Mit all dem - es sei insbesondere auf Seite 335, 336, 343, 384 in Bd. XII verwiesen - bietet WUNDT nicht ganz unbedenkliche Angriffsflächen. Denn in erkenntnistheoretischen Dingen geben eben gerade logisch-erkenntnistheoretische Erwägungen den Ausschlag, nicht psychologische. Und das unabhängige Ding = Begriff setzen - heißßt das nicht selbst "subjektivistisch" und "immanent" philosophieren? ... Doch diese Schwächen neben der meisterhaften, überlegenen negativen Kritik dürfen wir WUNDT nicht allein aufs Konto setzen. Unsere ganze Philosophie ist im monistischen Vorurteil, im Subjektivismus und Psychologismus befangen. Das zeigt sich weit über die extremen Richtungen der immanenten Philosophie und des Empiriokritizismus hinaus auch im realistischen Lager. - Dazu kommt als verhängnisvolle Schranke speziell für den Realismus das bedingungslose Festhalten am  Kantianismus  und seiner  Lehre vom "Ding-ansich"  als dem unerkennbaren und unbestimmbaren  X An dieser Schranke macht auch WUNDT halt. Nicht ausgesprochenermaßen; aber indem er es vermeidet, sich über das unabhängig Existierende nur irgendwie näher auszulassen, hindert er uns zumindest nicht, daß die positivistische Skepsis zum großen Teil durch die Schwächen und Widersprüche des Kantianismus hervorgerufen wurde, deren Korrektur sie darstellt; und daß sie dem Realismus gegenüber solange relativ existenzberechtigt bleibt, als sich derselbe mit diesen Schwächen und Widersprüchen, die in der problematischen und darüber tausendfach diskutierten Natur des  kantischen Dings-ansich  gipfeln, solidarisch erklärt. Die - allzu radikale - Korrektur dieses Begriffs durch den Positivismus bestand darin, daß er ihn einfach - strich. Aber es gibt einen anderen Weg, wodurch der Realismus sich selbst und zugleich den unsterblichen Teil der kantischen Philosophie (von welcher der Positivismus nichts übrig zu lassen droht) retten kann. Dieser Weg ist: Festhalten an der unabhängigen Existenz des Dings, ein Einräumen seiner  relativen  "Unerkennbarkeit", insofern wir es nicht  unmittelbar  erfassen können, zugleich aber - über KANT hinausgehend! - eine  positive Bestimmung  desselben, wozu uns zahlreiche und gewichtigste Gründe berechtigen und zwingen, woran uns keiner hindert. (3) Erst wenn der Realismus sein transzendentes  X  in eine  reale Größe  auflöst, wird er den endgültigen Sieg über die konkurrierenden erkenntnistheoretischen Hypothesen davontragen. Denn erst dann ist er ein wahrer, konsequenter, widerspruchsloser  Realismus. 
LITERATUR - Rudolf Weinmann, Wundt über naiven und kritischen Realismus, Kantstudien, Bd. 3, Hamburg und Leipzig 1899
    1) Im Sinne des bekannten erkenntnistheoretischen Typus; in einem  weiteren - zu weiten - Sinne führt WUNDT auch immanente Philosophie und Empiriokritizismus als "Gestaltungen des neueren philosophischen Realismus" ein (Seite 317, Bd. XII).
    2) Siehe meine Abhandlung "Die erkenntnistheoretische Stellung des Psychologen", Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinneswahrnehmungen, Bd. 17, Seite 215f.
    3) siehe WEINMANN, "Wirklichkeitsstandpunkt", Leipzig 1896