p-4tb-2W. WundtF. ÜberwegW. WundtR. Weinmann     
 
RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN
Erwiderung auf Prof. Wundts Aufsatz
"Über naiven und kritischen Realismus"


"Die Auffassung des gemeinen Mannes, des gesunden Menschenverstandes, verwirft nicht alle Reflexionen, sondern nimmt nur die gewöhnlichsten und allgemeinsten ohne weiteres als wahr an. Wir aber, wenigstens ich für meine Person, stellen uns nicht auf den Standpunkt des gemeinen Mannes, sondern wir wollen, indem wir von allem Gewordenen abstrahieren, den ursprünglichen Bestand (das unmittelbar Gegebene) des menschlichen Denkens feststellen, um dann von diesem Standpunkt aus das Gewordene (die Erfahrung) einer Prüfung zu unterziehen."

"Die Elemente und elementaren Verhältnisse unseres Denkens und Vorstellens sowohl wie jene alles äußeren Geschehens müssen als überall gleich angenommen werden, soweit irgendwie und irgendwo Zukunft oder Vergangenheit zu praktischen Zwecken erschlossen wird; ohne Voraussetzung der Gleichheit der elementaren Beschaffenheit und Gesetzmäßigkeit ist überhaupt keine Erkenntnis, die irgendeine praktische Tragweite für die einzelnen Wissenschaften hätte, möglich."

"Erkenntnistheoretisch ist der Solipsismus unleugbar, praktisch dagegen wäre er Wahnsinn."

"Die objektive Wirklichkeit ist für mich kein erkenntnistheoretischer, sondern ein praktischer Begriff."

Im XII. Band der "Philosophischen Studien" hat Prof. WUNDT sich in dem genannten Aufsatz mit den Anhängern der sogenannten "Immanenten Philosophie" auseinanderzusetzen gesucht. Allerdings hat er dabei vorzugsweise SCHUPPE im Auge gehabt, scheint aber der Ansicht zu sein, damit in allem Wesentlichen auch die übrigen Anhänger dieser Richtung mit getroffen zu haben. Das ist aber keineswegs der Fall. Denn wenn man unter dem etwas unglücklichen Ausdruck "Immanente Philosophie" (der aber nicht auf WUNDTs Rechnung kommt) überhaupt alle Bestrebungen, die Erkenntnistheorie von metaphysischen Voraussetzungen zu befreien, zusammenfaßt, so gehören nicht nur die Denker, die WUNDT berücksichtigt hat, sondern noch eine größere Anzahl anderer dazu, so z. B. die Neukantianer, von allen anderen abgesehen. (1) Will man aber einen engeren Kreis ziehen, wie das WUNDT getan hat, so dürfte es heute schwer sein, eine Gruppe von Denkern mit ausgeprägtem gemeinsamen philosophischen Charakter von allen anderen auszusondern. Teilweise Übereinstimmungen, scharfe Verschiedenheiten andrerseits, aber auch allmähliche Übergänge trennen und verbinden alle Anhänger dieser Richtung im weitesten Sinn. Es ist deshalb auch WUNDT mit Erlaub nicht gelungen, den gemeinsamen Grundzug dieser Richtung zu finden und zu charakterisieren; er scheint in dem Irrtum befangen gewesen zu sein, in SCHUPPE auch alle übrigen Anhänger dieser Richtung (so viele er ihrer kannte) getroffen zu haben. Obgleich nun ein so hervorragender Denker wie SCHUPPE auf alle, die seine Arbeiten kennen, eine bedeutende Wirkung ausgeübt hat, so ist er doch keineswegs der gemeinsame Ausgangspunkt dieser Richtung, viel eher wäre noch KANT als solcher zu bezeichnen, aber auch er war für viele mehr ein wichtiger Durchgangs- als Ausgangspunkt.

Es ist eine jedenfalls höchst erfreuliche Erscheinung, wenn ein Mann vom wissenschaftlichen Ruf WUNDTs sich mit unserer Richtung auseinanderzusetzen sucht; ich fühle mich jedoch durch seine Kritik, wie gesagt, teils nicht getroffen, teils aber auch mißverstanden.

Zunächst verwechselt, wie mir scheint, WUNDT unseren Standpunkt mit dem des  naiven Realismus  (Seite 313). Dieser ist die Auffassung des gemeinen Mannes, des gesunden Menschenverstandes; er verwirft nicht alle Reflexionen, sondern nimmt nur die gewöhnlichsten und allgemeinsten ohne weiteres als wahr an. Wir aber, wenigstens ich für meine Person, stellen uns nicht auf den Standpunkt des gemeinen Mannes, sondern wir wollen, indem wir von allem Gewordenen abstrahieren, den ursprünglichen Bestand (das unmittelbar Gegebene) des menschlichen Denkens feststellen, um dann von diesem Standpunkt aus das Gewordene (die Erfahrung) einer Prüfung zu unterziehen. Dieser Standpunkt ist der Standpunkt der höchsten und schwierigsten Abstraktionen und gänzlich verschieden vom naiven naiven Realismus, der sich gerade dadurch von unserer Richtung unterscheidet, daß er dogmatisch gewisse Voraussetzungen macht. Er ist daher in keiner Beziehung unser Ausgangspunkt; in den Resultaten stehen wir ihm freilich oft näher, als der naturwissenschaftlichen Ansicht und das mag auch WUNDT dazu verleitet haben, ihne als unseren Ausgangspunkt zu betrachten.

Wenn aber WUNDT meint, daß die Erkenntnistheorie nicht beim eigenen Bewußtsein beginnen soll (wundt_naiv0.htmlSeite 317), sondern bei den wissenschaftlichen Resultaten, so muß ich fragen, wo diese Resultate zu finden sind, wenn nicht im eigenen Bewußtsein? Auch müßte WUNDT, soll seine Forderung gerecht sein, vorher nachgewiesen haben, daß die einzelnen Wissenschaften tatsächlich voraussetzungslos verfahren. Darum handelt es sich ja doch, ob dasjenige, was alle Wissenschaften zu einem Ganzen verbindet, aus ihren gemeinsamen Voraussetzungen besteht oder ein Resultat aller Einzelforschungen ist - oder vielleicht auch beides. Aber alles das muß eben geprüft werden und man darf nicht, wie das die Naturwissenschaft noch vielfach tut, gewisse Begriffe voraussetzen, die weder experimentell noch logisch (analytisch) einer Prüfung unterworfen wurden. Selbst wenn diese Begriffe den Naturwissenschaften genügen sollten, für einen Zusammenhang aller Wissenschaften genügen sie nicht. Man nähert sich heute in gefährlicher Weise dem Standpunkt x-facher Wahrheit je nach dem Standpunkt der einzelnen Wissenschaften.

Was aber WUNDT (Seite 318f) als unseren allgemeinen Standpunkt hinstellt, kann ich zum größeren Teil gar nicht als  meinen  Standpunkt anerkennen, gerade oft das mich von SCHUPPE Unterscheidende ist hier als die von uns allen gemeinsame Grundlage betrachtet. Ich kenne weder ein "denkendes Ich" noch ein "gattungsmäßiges Ich", noch ist für mich allgemeingültig, was dem "gattungsmäßigen Ich" angehört. Ich kenne kein "Ich" als eigenen Bewußtseinsinhalt, deswegen kann ich auch keine Gattung "Ich" anerkennen. Vielmehr ist erkenntnistheoretisch "mein Ich" für mich die Grundlage der Erkenntnis aller anderen Ich und jedes Ich nur ein Zusammenhang von erschlossenen oder unmittelbar gegebenen Bewußtseinsinhalten. Ich kenne auch kein "unpersönliches Bewußtsein" im Sinne RICKERTs (2), weil mein Leib und meine individuelle Innenwelt räumlich, zeitlich und dem Gefühl nach stets den Mittelpunkt des Bewußtseins einnehmen, das stets seinem Standpunkt nach durch sie charakterisiert ist; jeder andere Standpunkt ist Abstraktion. Mein individuelles Ich ist in meinem Bewußtsein, aber es gibt kein allen Ich gemeinsam angehörendes transzendentes Bewußtsein, das sogenannte "gattungsmäßige Ich". Es gibt nicht zwei Bewußtseine, sondern nur eines und wenn dieses nicht meines sein soll, dann kann ich gar keines haben.

 Allgemeingültig  im strengsten Sinn ist aber nur, was den elementaren Zusammenhang meines Ich ausmacht, denn ich kann erkenntnistheoretisch die Welt nur aus den Elementen meines Ich zusammensetzen, weil mir gar nichts anderes gegeben ist. Die allen Ich gemeinsame Erfahrungswelt ist aber dann allgemeingültig im weiteren Sinn, sie hat keine unmittelbare, sondern eine induktive Allgemeingültigkeit.

Die Ansicht endlich, daß die Beziehungen, in die das denkende Subjekt alle seine Bewußtseinsinhalte bringt, sich den Gesetzen der  Identität  und  Kausalität  unterordnen, ist ebenfalls SCHUPPEs Ansicht allein. Gerade ich bin entschieden gegen den logischen Grundsatz der sogenannten  Identität  aufgetreten (3), der mit Erlaub vom Standpunkt der erkenntnistheoretischen Logik falsch ist und nur eine teils sprachliche, teils kausale Bedeutung besitzt, in diesem Sinn aber kein einfacher und ursprünglicher logischer Grundsatz ist. Die kausale Identität des Dinges habe ich in meiner Erkenntnistheorie (4) behandelt, über die sprachliche Bedeutung des Identitätssatzes will ich hier einige Worte hinzufügen. Der Satz  A = A  hat inhaltlich gar keinen angebbaren Sinn, denn zwei Inhalte sind nicht identisch und einer ist es noch weniger.  A = A  kann daher nur den Sinn haben, daß beide  A  dasselbe in der Anschauung bezeichnen und in Bezug auf diese ihre Bedeutung einander gleichgesetzt werden können; der Satz der Identität hat daher für mich nur eine sprachliche, d. h. formallogische Bedeutung.

Was das Kausalitätsgesetz anbelangt, so leite ich es keineswegs aus der Notwendigkeit einer Verbindung des Gleichzeitigen und Aufeinanderfolgenden im Bewußtsein her (Seite 320), sondern von der Notwendigkeit, die Zukunft analog der Vergangenheit zu denken; würde sich diese Analogie nicht bestätigen, so gäbe es kein Kausalgesetz; könnten wir die Zukunft nicht analog der Vergangenheit denken und vorstellen, so wäre uns das Kausalgesetz nichts nütze.

Wie weit WUNDT in seinen Ausführungen mit SCHUPPEs Ansichten tatsächlich übereinstimmt, das zu erörtern ist nicht meine, sondern SCHUPPEs Angelegenheit; mir kann es genügen, jene Ansichten von mir gewiesen zu haben; ich habe jetzt nur noch auf jene Teile der WUNDTschen Kritik zu erwidern, die auch mich betreffen.

Zunächst ist hier die doppelte Bedeutung der Transzendenz, deren Vernachlässigung uns WUNDT zum Vorwurf macht, zu erörtern. Er sagt: "Wenn wir aber auf das, was jenseits unseres Erkennens überhaupt liegt und auf das, was jenseits unseres Ich liegt, gleichzeitig den Begriff des Transzendenten anwenden, so ist hier das "transcendere" beidemal in einem ganz verschiedenen Sinn genommen." WUNDT hat mit Erlaub nicht ganz unrecht, wenn er diese beiden Arten der Transzendenz voneinander unterschieden wissen will, aber in einem ganz anderen, als seinem Sinn. Es ist unerfindlich, wie jemand etwas erfahren soll, was  nicht  seinem Bewußtsein angehört. Bewußtsein ist der Denkbarkeit nach der weitere Begriff, Erfahrung der engere; ich kann keine Erfahrung machen, die nicht meinem Bewußtsein angehören würde, wohl kann ich mir aber einen Inhalt denken, der jenseits aller Erfahrung liegt. Die Betrachtung der Sonne in unmittelbarer Nähe liegt jenseits aller Erfahrung, dennoch kann ich aus anderen Erfahrungen ihre Beschaffenheit erschließen; sowohl jene Erfahrungen, wie auch meine Schlüsse, sind aber mein Bewußtseinsinhalt. So verhält es sich m. E. gerade umgekehrt, wie WUNDT zu denken scheint, nicht die Erfahrung ist der weitere Begriff, sondern das Bewußtsein.

Das muß aber auch denjenigen gegenüber in Erinnerung gebracht werden, welche an der  absoluten Wahrheit  und damit gleichsam an einer absoluten Erfahrung festhalten zu müssen meinen, wie z. B. RICKERT. Seine Ausführungen sind mit Schärfe, Klarheit und auch einer gewissen Vorurteilslosigkeit geschrieben und stimmen vielfach mit dem schon früher von mir geäußerten Ansichten überein; sein Begriff der absoluten Wahrheit aber ist m. E. unrichtig und beruth auf einer falschen Auffassung des  Relativismus,  wenigstens wie ich ihn vertrete. RICKERT scheint von der Ansicht auszugehen, daß der Relativismus gleichbedeutend sei mit dem Skeptizismus, was wenigstens für meinen Relativismus nicht gilt. Der Relativismus braucht nicht nur icht jede Wahrheit zu leugnen, er muß m. E. sogar alles Gedachte für wahr anerkennen, aber nur für eine gewisse Zeit und oft auch nur für einen bestimmten Ort. Ein falsches Denken ist bloßes Wortdenken, d. h. ein Gebrauchen von Worten, ohne etwas wirklich dabei zu denken, wie z. B. wenn ich von einem viereckigen Kreis spreche. Das einzige Kriterium der Wahrheit ist eben, daß ich sie denken kann; gäbe es ein wahres und falsches Denken, dann müßte es auch allgemeine Kriterien des wahren und falschen Denkens geben; wo sind diese? Freilich gibt es noch einen anderen Irrtum, die falsche Erwartung, aber sie besteht nicht in einem falschen Denken. Wenn ich für die Zukunft etwas erwarte, so denke ich die Zukunft nach Analogie der mir zu Gebote stehenden vergangenen Erfahrungen. Denke ich die Zukunft wirklich und nicht bloß in Worten nach solchen Analogien, so denke ich sie so gut (wahr), als ich kann. Ich besitze die für mich im Augenblick mögliche Erkenntnis der Wahrheit; was ich denke, ist nicht falsch, sondern nur unvollständig; unsere exaktesten Wissenschaften befinden sich der Wahrheit gegenüber in dieser Lage, ihre Wahrheit ist unvollständig und wird immerfort durch neue Erfahrungen ergänzt. Man wird nun freilich sagen, daß in dieser unvollständigen Wahrheit immer ein Stück absolute Wahrheit stecken muß; auch ich bin dieser Ansicht vom rein praktischen Standpunkt aus und habe diese praktische Ansicht auch durchaus manchen meiner Arbeiten zugrunde gelegt. Die Elemente und elementaren Verhältnisse unseres Denkens und Vorstellens sowohl wie jene alles äußeren Geschehens müssen als überall gleich angenommen werden, soweit irgendwie und irgendwo Zukunft oder Vergangenheit zu praktischen Zwecken erschlossen wird; ohne Voraussetzung der Gleichheit der elementaren Beschaffenheit und Gesetzmäßigkeit ist überhaupt keine Erkenntnis, die irgendeine praktische Tragweite für die einzelnen Wissenschaften hätte, möglich. Für die reine Erkenntnistheorie (und für eine nicht transzendente Metaphysik, die ich hier beiseite lassen will) steht die Sache jedoch anders. Mein jetziges Wissen besteht aus meinen Erfahrungen und der erschlossenen fremden unter Voraussetzung und auf Grundlage der Gleichheit elementarer Beschaffenheit aller Erfahrungen. Nehmen wir an, in der Zukunft würde das Menschengeschlecht ganz andere Erfahrungen machen, es würden die elementare Beschaffenheit seiner Erfahrungen sowohl als auch die herrschenden Naturgesetze ganz andere sein, natürlich müßten auch der den Mittelpunkt des Bewußtseins bildende Leib und das Ich ganz andere geworden sein. Dann würde auch die ganze Wahrheit vollständig umgeändert und was heute für wahr gilt, wäre in jener Zukunft falsch. Die absolute Wahrheit wäre dann verloren gegangen, die relative aber doch geblieben; denn vorausgesetzt, daß die Kenntnis unserer Vergangenheit erhalten geblieben wäre, so würde man dann sagen, vor einer Million Jahren etwa war es wahr, daß auf  a b  folgen mußte, heute ist das Umgekehrte der Fall. Unsere jetzige Wahrheit wäre dann falsche, aber nicht absolut falsch, sondern nur für die Zeit nach einer Million Jahren; und sie wäre richtig, aber nicht absolut richtig, sondern nur für unsere Zeit. Absolute Bedingung jeder Erkenntnis und Wahrheit bleibt nur, daß zu irgendwelcher Zeit Gleichheit der Elemente des Erkennens und ein gesetzmäßigers Geschehen vorhanden ist. Absoluter Zufall und wechselnde Beschaffenheit der Elemente der Erkenntnis würden diese selbst ausschließen. Für diejenigen, welche in einem nach Millionen Jahren bestehenden Menschengeschlecht eine Transzendenz erblicken möchten, kann ich ein bequemeres Beispiel auswählen. Ich brauche bloß anzunehmen, daß sich mein Denken nach dem Tode völlig verändert hat und mit ihm natürlich die Welt, in der ich lebe, dann könnte, was wahr für das Diesseits ist, falsch für das Jenseits sein und umgekehrt. Die Ansicht dieses Relativismus ist ja nichts Neues, sie ist, möchte ich sagen, nur verloren gegangen, hatte aber früher in der Form geherrscht, daß nur Gott die volle (adäquate) Erkenntnis zugeschrieben wurde, uns Menschen aber nur eine beschränkte relative. Die absolute Wahrheit ist eine Folge des naturwissenschaftlichen Materialismus, wonach die Naturgesetze ewige sein sollen, obgleich eine solche Ewigkeit unerfahrbar und ein Dogma ist. Allerdings für den jetzt für uns einzig wissenschaftlich möglichen Standpunkt sind derartige Erörterungen unfruchtbar, sie könnten nur eine Tragweite haben für eine menschliche Weiterentwicklung nach dem Tod oder überhaupt für eine für uns jetzt unvorstellbare Zukunft.

Im Abschnitte "Die Transzendenz des Objekts und der naive Realismus" behauptet WUNDT, daß daraus, daß das Ding  für  mein Denken existiere, es nicht  durch  mein Denken existiere (Seite 325) oder mit anderen Worten, daß die Dinge unabhängig von meinem Bewußtsein existieren. Ich ergreife hier gern die Gelegenheit, meine Lösung des Transzendenzproblems auseinander zu setzen, sowohl deswegen, weil WUNDT, als auch, weil andere (z. B. RICKERT) sie gar nicht beachten und vielleicht nicht kennen. Ich leugne nämlich gar nicht, daß die Dinge unabhängig vom Bewußtsein existieren, wenn man unter "unabhängig" die kausale Unabhängigkeit versteht. Auch diese muß aber noch näher bestimmt werden. Die Gesetze, nach denen Wahrnehmungen aufeinander folgen und gleichzeitig miteinander zusammenhängen, sind nämlich ganz unabhängig von meinem Bewußtsein; noch mehr auch von meinem Wollen, Fühlen, Vorstellen; ich kann mittels des Willens auf meinen Leib und dadurch auf die Außenwelt einwirken, aber die Gesetzlichkeit des äußeren Geschehens bleibt davon unberührt und ich kann nur mit ihrer Hilfe das äußere Geschehen (die Außenwelt) beeinflußen. Durch mein Wollen und durch Veränderungen meiner Innenwelt überhaupt kann an der Gesetzmäßigkeit der Außenwelt nicht das Geringste geändert werden. Umgekehrt, Veränderungen der Außenwelt können die Gesetzlichkeit meines inneren Geschehens (der Innenwelt) nicht verändern, sie können sie nur durch Veränderung ihres Inhalts beeinflußen: die Assoziationsgesetze, jene des Denkens, Fühlens und Wollens können sie aber nicht verändern. Trotzdem vollzieht sich die ganze innere und äußere Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen im Bewußtsein; kein einziger dieser gesetzmäßigen Vorgänge führt über das Bewußtsein hinaus. Ich habe das so ausgedrückt, daß erkenntnistheoretisch der Solipsismus unleugbar ist, praktisch (kausal) dagegen Wahnsinn wäre. (5) Populärer, aber ungenauer kann man es so ausdrücken: ich kann mittels meiner Erkenntnis nicht hinter meine Erkenntnis gelangen, aber das Erkannte ist in seiner Gesetzmäßigkeit (in seinem kausalen Verhalten) ganz unabhängig vom Erkennen. Man darf nicht glauben, daß damit sehr wenig gesagt sei. Mit dem erkenntnistheoretischen Solipsismus steht vielmehr fest, daß eine Erklärung aller Bewußtseinsvorgänge als solcher für alle Zeit unmöglich ist. Die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens vollzieht sich unabhängig vom Bewußtsein, aber im Bewußtsein. Das ist m. E. die einfachste Lösung des Transzendenzproblems. Deswegen ist auch der Gegenstand der Naturwissenschaft, das "wirkliche Objekt" (Seite 329), eine Abstraktion aus dem unmittelbar (subjektiv) Gegebenen und deswegen nicht Ursache des Bewußtseinsgegenstandes, sondern selbst Bewußtseinsgegenstand. Gibt WUNDT zu, daß der "Gegenstand naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung" ein "begriffliches Erzeugnis" ist (Seite 328), so muß er zugeben, daß er nicht Ursache des Bewußtseinsgegenstandes sein kann, sondern selbst Bewußtseinsgegenstand sein muß.

Wenn WUNDT weiter meint, daß der Satz, daß "Objekte immer nur einem Objekt gegeben sein können", nicht eine "unmittelbare und nine aufzuhebende Erfahrung" sei (Seite 342), so hat er dabei vergessen, daß der Begriff des Subjekts nicht eindeutig ist. Ich habe in meinen Arbeiten darauf hingewiesen, daß der Begriff des Ich ein sehr schwankender ist, bald alles und bald wieder fast nichts umfaßt, je nachdem man darunter das überhaupt im Bewußtsein Befindliche oder den Gegensatz zur äußeren Natur (Nicht-Ich) oder den Gegensatz zum fremden (erschlossenen) Ich usw. versteht. (6) Niemals bleibt aber vom Ich nichts übrig, ein Minimum des zum Ich gerechneten muß immer da sein, soll später die Möglichkeit vorhanden sein, "zur Reflexion auf das Subjekt zurückzukehren", d. h. das Vorherdagewesene wieder in Beziehung zum Ich zu setzen. Dieses Minimum ist oft nur eine räumliche Beziehung zum meinem Leib und eine zeitliche zu irgendeinem dem Ich zurechenbaren Datum der Innenwelt. Spricht man übrigens von einem "Objekt", so ist es selbstverständlich, daß man ein "Subjekt" schon mitdenkt, denn Objekt und Subjekt sind korrelate Begriffe; deswegen ist es auch unrichtig zu sagen, "Objekte sind gegeben" (Seite 343); es ist vielmehr nur die Möglichkeit gegeben, als in der Beziehung von Objekt und Subjekt aufzufassen; sobald ich aber etwas als Objekt denke, muß ich ein Subjekt hinzudenken, und ich kann mich nicht als Subjekt denken ohne ein mir gegebenes Objekt.

Übrigens trifft mich auch dieser Einwand WUNDTs nicht, denn ich kenne keinen eigenen Ichinhalt und jener von WUNDT angegriffene Satz hat daher für mich auch einen ganz anderen Sinn, als ihm WUNDT unterlegt. Das individuelle Ich oder Subjekt sind für mich nur die jeweiligen Inhalte, welche den räumlichen, zeitlichen Unterscheidungs- und Gefühlsmittelpunkt des Bewußtseins bilden; oft umfassen sie fast den ganzen Inhalt des Bewußtseins, oft schwinden sie wieder zum fast inhaltlosen Zentralpunkt desselben zusammen. Es ist also ein Bewußtsein fast ohne Subjekt und Objekt denkbar, doch ist ein Rest jener Einheitsbeziehungen immer vorhanden.

WUNDT behauptet weiter, die "immanente Philosophie" stütze ihren Beweis für eine objektive Wirklichkeit auf zwei Momente:
    1) auf Analogieschlüsse aus fremden Leibern und

    2) auf die Übereinstimmung der so erschlossenen und der unmittelbar gegebenen Wahrnehmungen (Seite 358f).
Auch hier erscheint, was meine eigenen Ansichten anbelangt, Wahrheit und Irrtum seltsam vermischt. Das nämlich, was ich objektive Wirklichkeit nenne und was WUNDT so nennt, ist etwas ganz Verschiedenes. Indem er beide Begriffe verwechselt, frägt er, wie ich seinen Begriff der objektiven Wirklichkeit mit meinen Argumenten nachgewiesen haben will? Er frägt, ob die fremden Leiber nicht auch subjektive Erlebnisse sind? Ganz gewiß, weil das, was ich objektive Wirklichkeit nenne, erkenntnistheoretisch aus subjektiven Erlebnissen gar nicht herausführt. Die objektive Wirklichkeit ist für mich kein erkenntnistheoretischer, sondern ein praktischer (oder kausaler) Begriff, wie ich schon dargelegt habe.

Wenn WUNDT aber meint, daß die Übereinstimmung der Wahrnehmungen der verschiedenen Individuen nicht die objektive Realität der Welt zu begründen vermag, so hat er wieder Recht und Unrecht. Er hat Recht, daß sie sie nicht allein zu begründen vermag; das habe ich aber auch nirgends behauptet, vielmehr immer darauf hingewiesen, daß die gesetzliche Wiederkehr meiner und der erschlossenen Wahrnehmungen die Objektivität der Welt mitbegründet. Deswegen sage ich an der von WUNDT zitierten Stelle meiner Erkenntnistheorie (Seite 27): "Dadurch erwächst aber 3) die Notwendigkeit, die von verschiedenen Personen wahrgenommenen Dinge wegen ihres kontinuierlichen, wenn auch indirekten, kausalen Zusammenhangs als identisch zu setzen."

Er hat aber Unrecht, wenn er glaubt, daß die Übereinstimmung in den individuellen Wahrnehmungen zur Begründung der objektiven Wirklichkeit nicht notwendig sei. Jedes Experiment muß von jedem Fachmann nachgemacht werden können (wenn ihm die nötigen Mittel dazu geboten sind). Ein Experiment, das nur mir allein möglich wäre und keine Bestätigung durch andere erfahren könnte, wäre wissenschaftlich absolut bedeutungslos. Bei dem Beispiel mit dem Quadrat, das als Rechteck gesehen wird, schreibt uns WUNDT offenbar die Vermengung zweierlei Standpunkte zu, nämlich jenes der  gemeinsamen  und der  objektiven  Welt. Auch das trifft mich nicht. Ich erkenne vollkommen an, daß nicht jede Gemeinsamkeit der Wahrnehmungen ihre wissenschaftliche Objektivität begründet, behaupte aber, daß jede objektive Tatsache zum gemeinsam Wahrnehmbaren gehören muß. Etwas, was nur ich allein wahrnehmen kann, kann niemals objektive Gültigkeit besitzen, weder ich kann davon überzeugt sein noch die anderen. Wenn WUNDT sagt (Seite 362): "Wie hätten das Kopernikanische System, die neuere Akustik und Optik, ja die ganze heutige Astronomie und Physik jemals entstehen können, wenn dem Kriterium der Übereinstimmung der wahrnehmbaren Subjekte die ausschließliche oder überhaupt nur die entscheidende Rolle in der Entwicklung unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse zukäme?", so muß ich meinerseits fragen, wie könnte das Kopernikanische System objektive Geltung besitzen, wenn es uns unmöglich wäre, KOPERNIKUS' Beobachtungen nachzuprüfen, d. h. doch die Übereinstimmung seiner und unserer Beobachtungen zu konstatieren?

Was WUNDT über "die logische Begründung der objektiven Wirklichkeit" sagt, trifft mich wieder nicht im geringsten, trotzdem daß WUNDT meine Habilitationsschrift zitiert. Ich habe die Stelle nachgelesen, aber nichts gefunden, was sich als Annahme eines "Gattungsmäßigen des Bewußtseins" oder eines abstrakten Ichmoments deuten ließe; doch will ich zugestehen, daß in dieser meiner Erstlingsschrift die Ausdrücke nicht immer richtig und eindeutig gewählt sind, ich kann aber versichern, daß mir der Gedanke eines allgemeinen, unpersönlichen oder gattungsmäßigen Bewußtseins stets ganz fremd war, daß ich diese Lösung des Transzendenzproblems stets von mir gewiesen habe. Auch die Behauptung der notwendigen Annahme einer Präexistenz und Postexistenz meines Ichzusammenhanges begründe ich nicht auf einem überindividuellen Bewußtsein, sondern auf dem Verhältnis meines individuelle Ich (des Zentralpunktes) zu meinem Bewußtsein. Und nun gar eine zeit- und raumlose, übersinnliche Realität des Ich (Seite 372) ist mir gänzlich fremd. Ich erkenne vollständig an, daß, wenn das Subjekt einmal transzendent geworden ist, der Transzendenz des Objekts kein Hindernis mehr entgegenstehen kann. (7)

Was die "Apriorität des Ich" anbelangt (Seite 382), so ist auch diese Ansicht, gegen welche WUNDTs Angriffe sich richten, nicht die meinige. Übrigens habe ich schon darauf hingewiesen, daß der Begriff des Subjekts kein eindeutiger ist und daß man daher nicht ohne weiteres Sätze über das "Subjekt" leugnen oder ihnen beistimmen kann, ohne vorher den Begriff des Subjekts selbst bestimmt zu haben. Ich kenne, wie gesagt, keinen eigenen Inhalt des Ich, sondern nur verschiedene Inhalte (von welchen einige freilich eine gewisse Ständigkeit und Kontinuität besitzen), welche das räumliche, zeitliche, das Unterscheidungs- und Gefühlszentrum des Bewußtseins bilden. Diese Zentralbeziehungen, wenn auch in ihren einfachsten Formen, sind immer da, nicht aber ein ständiger besonderer Ich-Inhalt. Auch in dem Moment, wo unser Bewußtsein ganz in der Anschauung der Objekte aufgeht, müssen die Objekte in irgendwelchen räumlichen, zeitlichen Aufmerksamkeits- und Gefühlsbeziehungen zum Zentrum des Bewußtseins gegeben sein; das ist der minimale Rest des an Umfang so wechselvollen Ichinhaltes. Daß aber Ich im Gegensatz zum fremden Ich oder auch nur im Gegensatz zum Nicht-Ich (der Außenwelt) ein Objekt betrachte, das ist freilich eine Reflexion, die oft nicht vorhanden ist, worauf ich übrigens in meinen Arbeiten hingewiesen habe. Ich stimme daher vollständig mit WUNDT überein, wenn er sagt (Seite 385): "Ohne den Zusammenhang unserer Bewußtseinsvorgänge wäre es nicht denkbar, daß der Begriff des reinen Ich entstünde. Denn dieser Begriff ist in Wahrheit nichts anderes, als eben jener Zusammenhang in abstracto und losgelöst gedacht von allen wirklichen Verbindungen psychischer Vorgänge und Zustände." Nur, worin dieser Zusammenhang besteht, darin werden wir vielleicht nicht übereinstimmen.

Der Abschnitt über "Identität und Kausalität" streift meine Ansichten über diesen Gegenstand kaum, ich finde daher keinen Anlaß, mich dagegen zu verteidigen. Doch auch hier kann ich manchem zustimmen, wenn ich mich auch in anderem fundamental von WUNDT unterscheide.

Der 7. Abschnitt "Die Außenwelt als Bewußtseinsinhalt" kommt noch einmal auf die Gemeinsamkeit der Wahrnehmungswelt als einziges Kriterium der Objektivität (auch ein mehrdeutiger Ausdruck) unserer Erkenntnis zurück, eine Ansicht, die auch ich verwerfe. Dagegen behauptet WUNDT, daß die "primitive Erfahrung" "nicht das im, sondern das  außer  dem Bewußtsein erfahren soll, um dann mittels Reflexion nachträglich zu erkennen, daß dieses Objekt doch im Bewußtsein vorgestellt wird, ist mir unerfindlich. WUNDT muß, wie mir scheint, eine ursprüngliche Wahrnehmung des Objekts außer dem Bewußtsein stattfinden lassen, sollen die Bewußtseinsvorgänge nur Zeichen für ein objektives Sein sein (Seite 396). Denn gäbe er, wie die meisten anderen Philosophen, zu, daß die Objekte "zunächst" im Bewußtsein erfaßt werden, dann käme er ohne logischen Sprung aus diesem "zunächst" nicht heraus; er macht diesen Sprung gleich im Anfang, um sich ihn für späterhin zu ersparen.

Was den 8. und letzten Abschnitt anbelangt, so stimme ich hier wieder vielfach mit WUNDT überein und kann gar nicht begreifen, daß er in diesen Punkten auch mich angegriffen zu haben meint. So vor allem darin, daß der Standpunkt der Naturwissenschaft und jener der Psychologie dasselbe von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten, der erst vom Subjekt abstrahiert, der zweite nicht (Seite 400). Dafür muß ich entschieden dagegen protestieren, daß mir Psychologie bloß Untersuchung reproduzierter Vorstellungen ist (Seite 401). Denn es ist ganz etwas anderes, wenn ich sage, daß der Standpunkt der Psychologie "die Welt nur auffaßt in ihrem unmittelbaren, d. h. in ihrem durch Reproduktion bedingten Zusammenhang." Denn damit spreche ich aus, daß auch die Wahrnehmungen und daher die Außenwelt zum Reproduktionszusammenhang gehören und nicht bloß die "reproduzierten Vorstellungen". Die Psychologie ist der Standpunkt des Reproduktionszusammenhangs, in dem alles gegeben ist.
LITERATUR, Richard von Schubert-Soldern, Erwiderung auf Prof. Wundts Aufsatz "Über naiven und kritischen Realismus", Philosophische Studien 13, Leipzig 1898
    Anmerkungen
    1) Vgl. meine Einleitung zum "Das menschliche Glück und die soziale Frage", wo ich die betreffende mir bekannte Literatur dieser Richtung angegeben habe. Nachzuholen habe ich hier noch HEINRICH RICKERT, "Der Gegenstand der Erkenntnis", 1892.
    2) HEINRICH RICKERT, Gegenstand der Erkenntnis, Seite 14
    3) Vgl. meine "Grundlagen einer Erkenntnistheorie", Seite 169
    4) Siehe RICKERT, a. a. O. Seite 126f
    5) SCHUBERT-SOLDERN, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Band X, Seite 471
    6) SCHUBERT-SOLDERN, Erkenntnistheorie, Seite 63f und "Der Gegenstand der Psychologie und des Bewußtseins, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. VIII, Leipzig 1884, Seite 435
    7) Nur eine psychologische Unpersönlichkeit des Bewußtseins habe ich seiner Zeit (Erkenntnistheorie Seite 83) ähnlich wie RICKERT behauptet, dagegen auch diese später ("Der Kampf der Transzendenz", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. X., Heft IV) zurückgenommen.