L. SteinH. HöffdingF. Enriques | ||||
[1846-1925] Kurzgefaßte Logik und Psychologie [1/2]
Vorwort Es ist natürlich besonders die Psychologie, in welcher eine kritische Enthaltsamkeit wie die angedeutete mich mit mehreren der gewöhnlichen Anschauung in Widerspruch brachte. Wenn wir nicht die Gültigkeit des Kausalsatzes voraussetzen, wird uns das Forschen überhaupt offenbar unmöglich. Mit dieser Voraussetzung ist es uns - wie ich weiter unten zu zeigen versucht habe - aber auch unmöglich, bei der Welt der Bewußtseinszustände stehen zu bleiben; wir werden mit Notwendigkeit bewogen, ein Ich oder Subjekt und "wirkliche" Objekte anzunehmen. Insofern bin ich mit den allermeisten psychologischen Forschern darin einig, ein einheitliches Etwas, "das empfindet, fühlt und will", anzunehmen; über dieses dürftige Resultat auf wissenschaftlichem Weg hinaus zu kommen, scheint mir aber vorläufig ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Sowohl der Materialist als auch der Spiritualist geht offenbar aus Sympathie oder Antipathie weiter, und ebenso subjektiv erscheint mir die dritte, augenblicklich stark moderne Annahme, "der Duplizismus" - wie ich dieselbe nannte, um ihr einen scharfen und neutralen Namen zu verschaffen. Keiner, der auf dem Gebiet der Naturwissenschaft wirklich selbständig heimisch ist, wird sich wohl von den gebräuchlichen "naturwissenschaftlichen Beweisen" für die Wahrheit dieser Theorie imponieren lassen, und ohne diese "Beweise" scheint mir die ganze Annahme durchaus wehrlos dazustehen, als ein Glaube, der uns an keinem Punkt weiter forthilft, uns an mehreren Punkten dagegen zu willkürlichen Konsequenzen führt. Als eine ebenso willkürliche und mißlungene Annahme stellt sich mir die sogenannte "Assoziation mittels Ähnlichkeit" dar. Doch - der Leser selbst wird leicht die verschiedenen ketzerischen Anschauungen finden, zu deren Fürsprecher ich mich in meinem Buch gemacht habe. Dessen ganzen Bauplans wegen sind dieselben nur ziemlich kurzgefaßt habendelt. Es ist meine Hoffnung, Gegnern und Meinungsgenossen nächstens eine ausführlichere Untersuchung aller dieser modernen philosophischen Streitfragen vorlegen zu können. Schließlich werde ich noch an diejenigen, welche schon in der Vorrede einen möglichst großen Aufschluß über das Buch zu erhalten wünschen, die Bemerkung richten, daß ich, ebenso wie ich in der Einleitung und in der Logik absichtlich verschiedene Streifzüge in das Gebiet der Erkenntnislehre machte, ebenso in der Psychologie absichtlich eine ganz kurze Andeutung der Grundfragen der Ethik gegeben habe und außerdem durchweg die von den Philosophen mit Unrecht gar zu oft ganz vernachlässigte Disziplin berücksichtigte, die man die allgemeine Erziehungslehre nennen könnte, die Disziplin, die uns darüber belehrt, wie wir das rechte Handeln zum Erscheinen bringen sollen. Es ist die Benutzung des Buches bei der Ausbildung der Lehrer in unserem land, die diese Anordnung erwünscht machte. Möglicherweise möchte vielleicht auch hie und da in Deutschland ein Lehrererzieher das Buch zu dem genannten Zweck verwendbar finden. Einleitung 1. Unter den zahlreichen Behauptungen, welche die Menschen im Laufe der Zeiten aufgestellt und an welche sie geglaubt haben, findet sich eine verhältnismäßig kleine Anzahl, die sich durch gewisse Eigentümlichkeiten auszeichnen, welche ihnen den Namen wissenschaftliche Behauptungen verschafft haben. Die wissenschaftliche Behauptung ist erstens eine allgemeine Behauptung, d. h. sie gilt nicht einem einzelnen Gegenstand oder einer einzelnen Begebenheit, sondern einer größeren oder kleineren Klasse von Gegenständen oder Begebenheit. Daß XY ein Pferd hat, welches gestern stürzte, ist keine wissenschaftliche Behauptung. Eine solche ist es dagegen, daß das Pferd ein einhufiges Huftier ist, welches allgemein als Haustier benutzt wird. Die wissenschaftliche Behauptung muß ferner allgemeingültig sein, d. h.: sie muß jedem unbefangenen Zuhörer aufgezwungen werden können; ihre Richtigkeit muß sich ihm darlegen lassen; sie muß zu beweisen sein. Hieraus folgt, daß keine falsche Behauptung eine wissenschaftliche sein kann; denn die falsche Behauptung läßt sich nicht jedem Unbefangenen aufzwingen. Andererseits sieht man aber auch ein, daß nicht jede wahre oder mit der Wirklichkeit übereinstimmende Behauptung eine wissenschaftliche ist; denn daß sie wahr ist, heißt noch nicht sicher, daß sie sich auch beweisen läßt. Auch wenn es wahr ist, daß es Engel gibt, so ist diese Behauptung doch unwissenschaftlich; denn es fehlt uns an Mitteln, um jedem Unbefangenen diese Annahme aufzwingen zu können. 2. Den geordneten Inbegriff aller wissenschaftlichen Behauptungen nennen wir die Wissenschaft. Der Bereich derselben ist stets weit enger als der Inbegriff all derjenigen Behauptungen, welche der Mensch zu einer gegebenen Zeit für wahr ansieht. Denn auch auf rein individuellem Weg, durch "das Gefühl" und die persönliche Lebenserfahrung, erhalten wir die Überzeugung von der Wahrheit mancher Behauptung. Da nun die individuelle Überzeugung oft ebenso große Stärke hat wie die wissenschaftliche, ist es in der Regel dem Menschen schwer gefallen, zwischen den persönlichen und den wissenschaftlichen Resultaten zu sondern, und namentlich hat man gewöhnlich mehr für Wissenschaft ausgegeben, als wirklich eine solche war. Es ist zu einem nicht geringen Teil diese Unklarheit, die die häufigen bitteren Kämpfe zwischen "Glauben und Wissen" hervorgerufen hat. An das dem wissenschaftlichen Resultat Widerstreitende kann kein normaler Mensch glauben; denn das * Wissenschaftliche ist das Allgemeingültige, das Allgemeinmenschliche. Die Wirkliche Wissenschaft gibt aber dem Gläubigen einen großen Spielraum. 3. Die wissenschaftlichen Behauptungen betreffen teils Phantasiegegenstände oder selbstgeschaffene Objekte wie z. B. die mathematischen Formen: Zirkel, Kugeln usw., teils vorgefundene Objekte oder wirkliche Dinge wie z. B. Naturerscheinungen. Es gibt deshalb zwei Gattungen der Wissenschaft: die formelle und die reale Wissenschaft. Ist die Rede nur von Objekten, die wir selbst durch Definition geschaffen haben, oder von Objekten, von welchen wir angenommen haben, daß sie gerade so oder so sein sollen, so können wir auch von vornherein herleiten, wie dieselben in einem gegebenen Fall auftreten werden; denn wir kennen sie dann von Grund auf; sie enthalten nichts anderes, als was wir selbst in dieselben hineingelegt haben; wir brauchen also nur die Konsequenzen unserer eigenen Definitionen zu ziehen, und wie wir dies anfangen, wird das Folgende uns lehren. Die formelle Wissenschaft oder die Lehre von den selbstgeschaffenen Objekten kann aber auf diese Weise der Hilfe aller eigentlichen Erfahrung entbehren, kann sich von vornherein aussprechen und wird deshalb apriorische Wissenschaft genannt. Als Beispiel einer apriorischen Wissenschaft kann die Mathematik genannt werden. Ist mir gegeben, daß die Grundlinie eines Dreiecks 20 Zentimeter, dessen Höhe 10 Zentimeter ist, so kann ich von vornherein aussprechen, daß sein Flächeninhalt 100 Quadratzentimeter beträgt, und stelle ich nachher anhand der Erfahrung einen Versuch an, indem ich z. B. das Dreieck mit Papierscheiben von der Größe eines Quadratzentimeters oder ähnlichen Sachen belege, so werde ich in der Regel auch mein Resultat bestätigt finden. Geschieht dies jedoch nicht, so halte ich dennoch an meiner Behauptung fest und erkläre dagegen mein Experiment und mein Erfahrungsresultat für ungenau. Die Behauptungen der apriorischen Wissenschaft sind nämlich lauter Exaktheiten und Gewißheiten. Wir werden dies später verstehen lernen, wenn wir zur Behandlung einer anderen der apriorischen Wissenschaften: der Denklehre oder Logik kommen. 4. In der realen Wissenschaft oder in den realen Wissenschaften, wo wir stets vorgefundene Objekte, nicht von uns selbst erzeugte Dinge behandeln, können wir dagegen nicht apriorisch verfahren, uns nicht von vornherein aussprechen. Denn wir fangen hier mit der Unkenntnis des Inhalts der Objekte an und lernen diesen erst allmählich mittels der Erfahrung oder empirisch kennen. Alle Wirklichkeitswissenschaft ist daher empirische (oder aposteriorisch) Wisschenschaft, d. h. Erfahrungswissenschaft, und da wir streng genommen eine Sache nie durch Erfahrung erschöpfen können, vermögen wir in der Regel in der Wirklichkeitswissenschaft auch keine Exaktheiten und Gewißheiten auszusprechen, sondern nur allgemeingültige Annäherungen und Vermutungen, deren Gewißheitsgrad jedoch außerordentlich groß sein kann. So ist es außerordentlich wahrscheinlich, daß das Licht eine Wellenbewegung ist; dessen Geschwindigkeit ist außerordentlich nahe an 300 000 Kilometer in der Sekunde, usw. 5. Versuchen wir es, uns näher zu erklären, wie wir eigentlich mit Hilfe der Erfahrung eine Realwissenschaft aufbauen oder wissenschaftliche Behauptungen von der Wirklichkeit aussprechen können, so stößt uns jedoch eine Schwierigkeit auf. Denn die wissenschaftliche Behauptung sollte ja allgemein sein, sollte ja einer ganzen Reihe von Dingen oder Fällen gelten. Die Erfahrung oder die Beobachtung gibt mir aber jedesmal nur einen einzelnen Fall. In der Wissenschaft heißt es: das spezifische Gewicht von Eis ist neun Zehntel mal so groß als das des Wassers. Ich habe aber nur eine gewisse Menge von Eisstücken beobachtet, und selbst wenn wir alle Beobachtungen der Gelehrten und Laien zusammenlegen, so steht es doch fest, daß kein Mensch das Eis am Nordpol oder das im nächsten Jahre entstehende Eis beobachtet hat; aber auch dieses Eis ist ja unter der Behauptung der Wissenschaft inbegriffen, welche alle Eis gilt. Unser Problem läßt sich mit andern Worten folgendermaßen formulieren: Wie gelangen wir in der Realwissenschaft vom Einzelnen oder Häufigen zum Allgemeinen? In der formellen Wissenschaft ist dieser Übergang leicht genug zu verstehen. Denn hier habe ich meine Objekte selbst geschaffen, sie mit gewissen Eigenschaften ausgestattet und angenommen, daß sie diese stets unwandelbar beibehalten und sich unter gegebenen Umständen das eine Mal genauso wie das andere Mal verhalten sollen. Habe ich in einem einzelnen Fall gefunden, daß dies oder jenes geschehen wird, so kann ich also meinen eigenen Voraussetzungen zufolge keck behaupten, daß dasselbe künftig in allen ganz ähnlichen Fällen geschehen wird. In der realen Wissenschaft dagegen habe ich meine Objekte vorgefunden und weiß daher nichts von deren unwandelbarem Verhalten. Indessen sieht man leicht, daß jedes Wissen davon, wie sich das Eis künftig verhalten wird, und also jede allgemeine Behauptung, wie sich das Eis überhaupt verhalten wird, mir gänzlich abgeschnitten sein wird, wenn das Eis ein Objekt ist, das sich nach eigenem Gutdünken bald so und bald so verhält. Soll ich auch hier etwas über die Zukunft aussagen können - und das ist wesentlich das Ziel der Wissenschaft -, so muß es feststehen, daß das Eis und jedes andere Objekt, mit dem ich zu tun habe, ein Etwas ist, das sich unter den nämlichen Bedingungen das eine Mal genauso wie das andere Mal verhält. Die Dinge müssen mit anderen Worten ein konstantes Verhalten bewahren; jedes Ding muß sein und bleiben, was es ist, solange die Bedingungen die nämlichen sind, und jede Veränderung muß einer neuen Gruppe von Bedingungen zu verdanken sein oder muß, wie es heißt, ihre Ursache haben. Dies ist die Grundbedingung aller Wirklichkeitswissenschaft, all unserer Realerkenntnis. 6. Die Behauptung: Jede Veränderung hat ihre Ursache heißt der Satz der Ursächlichkeit oder der Kausalsatz; die Behauptung: Jedes Ding ist und bleibt, was es ist, solange die Bedingunen die nämlichen sind, heißt der Identitätssatz. Wie man leicht sieht, sind diese beiden Sätze nur verschiedene Ausdrücke ein und derselben Behauptung, der Behauptung vom konstanten Verhalten der Dinge oder von deren fortwährendem Übereinstimmen mit sich selbst. Die Bedingung, um eine Wissenschaft von der Wirklichkeit aufbauen zu können, ist also die, daß der Kausal- oder Identitätssatz hier gelten muß, ein Grundgesetz der Wirklichkeit, eine Formel sein muß, nach welcher sich die Dinge verhalten. Wo der Kausalsatz nicht Gesetz ist, da wird Erkenntnis unmöglich. Inwiefern ist nun der Kausalsatz ein Gesetz für unsere Welt? Jeder Mensch nimmt dieses an. Frägt man aber nach dem Grund dieser Annahme, so wird man bald die eine, bald eine andere Antwort erhalten. 7. Bald hat man gemeint, der Kausalzusammenhang des Daseins lasse sich geradezu beobachten oder erfahren. Dies ist jedoch ein Irrtum; denn unter der Ursache eines Ereignisses müssen wir dem Vorhergehenden zufolge eine Gruppe von Bedingungen verstehen, welche jedesmal, ehe das betreffende Ereignis eintreten kann, zugegen sein muß, und die niemals zugegen sein kann, ohne daß das Ereignis sofort eintritt. Kausalzusammenhang bedeutet also: konstanter zeitlicher Zusammenhang oder allgemeiner zeitlicher Zusammenhang; die Erfahrung kann mir aber höchstens den häufigen zeitlichen Zusammenhang geben. Ich habe vielleicht hundertmal erfahren, daß ich eine Empfindung von Schmerz erhalte, wenn ich den Finger in das Licht stecke; daß dieser aber auch jedesmal, wenn ich es künftig versuche, geschehen wird, das kann die Beobachung oder die Erfahrung mir nicht sagen. 8. Man hat ferner gemeint, die Erfahrung zeige uns allerdings nicht geradezu den Kausalzusammenhang der Welt; sie lehre uns aber, daß gewisse Ereignisse häufig aufeinander folgen, und es werde uns hierdurch außerordentlich wahrscheinlich, daß solche Ereignisse stets aufeinander folgen werden, daß also nicht nur ein häufiger, sondern ein konstanter zeitlicher Zusammenhang und folglich ein Kausalzusammenhang zwischen denselben stattfinde. Habe ich mich hundertmal gebrannt, wenn ich dem Feuer zu nahe komme, so werde ich hierdurch außerordentlich gewiß, daß ich mich auch künftig brennen werde, wenn ich demselben zu nahe komme; ich glaube mit anderen Worten, daß zwischen den beden Ereignissen eine konstante Verbindung stattfindet, und daß ersteres folglich nie eintreten kann, ohne daß letzteres hinterher folgt. Diese Erklärung fällt jedoch bei einer schärferen Prüfung zu Boden. Das Wahre derselben ist dies, daß wir allerdings gewöhnlich eine große Neigung bekommen, zwei Ereignisse als im Kausalzusammenhang stehend aufzufassen, sobald sie einen häufigen zeitlichen Zusammenhang gezeigt haben. Sehen wir näher nach, so entdecken wir jedoch, daß es nicht der häufige zeitliche Zusammenhang selbst ist, der einen bleibenden Glauben an einen Kausalzusammenhang in uns hervorruft. Eine vorübergehende Neigung kann die Häufigkeit zwar hervorrufen; indem wir uns nun aber nach der Berechtigung dieser Neigung fragen, finden wir bald, daß tausend Fälle uns nichts mehr als ein einziger beweisen, wenn wir nicht schon vorher die Regelmäßigkeit oder, was ganz dasselbe ist, den Kausalzusammenhang voraussetzen. So macht der Umstand, daß er Wind einen ganzen Monat hindurch östlich gewesen ist, es mir nicht im geringsten wahrscheinlicher, daß er morgen östlich sein wird, als wenn er nur einen einzigen Tag östlich gewesen wäre. Mit anderen Worten: Erst durch unsere Voraussetzung der Regelmäßigkeit oder des Kausalzusammenhangs erhalten die tausend Fälle das Übergewicht über den einzelnen. Um aber die Regelmäßigkeit oder den Kausalzusammenhang darzutun, läßt sich die Häufigkeit nicht gebrauchen. 9. Es würde überhaupt übel um unseren Kausalitätsglauben stehen, wenn dieser nur der Erfahrung seinen Ursprung verdanken sollte. Denn hielten wir uns an die Erfahrung allein, so würden wir weit öfter zu dem Resultat gelangen, daß eine Veränderung der Ursache ermangelt, als zu dem, daß sie eine solche hat. Ich verhalte mich heute ebenso wie gestern und vorgestern und doch erkranke ich! Ein Haus stürzt ein, obgleich niemand es anrührte und keine Spur von Wind wehte! Der Apfel fällt zur Erde, obwohl niemand ihn durch einen Druck oder einen Ruck in Bewegung setzte! Jedermann kann Beispiele genug von solchen scheinbar freien Veränderungen finden. Die Erfahrung zeigt uns hier gar keine Ursachen, und wenn wir dennoch dabei beharren, daß es eine solche geben muß, und deshalb in dergleichen Fällen ungesehene Ursachen hinzudichten, wie z. B. die Anziehungskraft der Erde, die innere Baufälligkeit des Hauses usw., so zeigt uns das, daß unser Kausalitätsbedürfnis ein sehr starkes Bedürfnis in uns ist, und zugleich, daß dieses Bedürfnis kein Resultat unserer Erfahrung sein kann. 10. Man hat deshalb eine andere Erklärung aufgestellt, indem man sagt: Unser Kausalitätsglaube ist nicht der Erfahrung zu verdanken, sondern er ist ein uns angeborener Instinkt. Aber auch diese Erklärung ist nicht haltbar; denn kein Instinkt kann mir etwas von der Beschaffenheit des Daseins darlegen, und da kein Instinkt den Menschen vollständig zwingt, so würden wir offenbar bald Zweifel an der Berechtigung unseres Kausalitätsglaubens bekommen, wenn dieser nur einem Instinkt zu verdanken wäre. Da nun jeder normale Mensch sich fest auf den Kausalzusammenhang des Daseins verläßt, müssen wir also eine neue Erklärung suchen. 11. Und diese liegt nicht fern: Der Mensch ist in eine Umwelt gestellt, von welher er auf zahllose Weisen abhängig ist. Um seine Existenz zu behaupten, muß er mit dieser Umwelt kämpfen; um mit derselben kämpfen zu können, muß er suchen, sie zu verstehen. Bald entdecken wir aber, daß die einzige Bedingung, unter welcher es uns möglich wird, die Umwelt zu begreifen, zu erkennen, die ist, daß das Verhalten der Dinge konstant ist, daß jedem bestimmten Vorher ein ganz bestimmtes Hinterher entspricht, kurz: daß der Identitäts- oder Kausalsatz hier Gesetz ist, und da wir nun der erwähnten Erkenntnis durchaus nicht entraten können, so fassen wir mit der Stärke des Selbsterhaltungstriebes die Hoffnung, daß die Bedingung erfüllt sei, daß das Dasein wirklich Regelmäßigkeit oder Kausalzusammenhang besitzt, und der Kausalsatz wird auf diese Weise nicht nur die formulierte Bedingung all unserer Realerkenntnis, sondern zugleich die bestimmt formulierte Hoffnung, daß die Bedingung erfüllt ist, nicht ein Resultat, sondern ein Postulat, eine Anfangsbehauptung, mit welcher wir zu all unserem Forschen schreiten. Aus der Erfahrung ist der Satz nicht entsprungen; er ist auch kein angeborener Satz; erst spät lernen die Menschen Sätze aufstellen; er ist nicht einmal ein direkt angeborener Instinkt; er hat aber die Stärke des Instinkts, weil er mit Notwendigkeit aus einem Instinkt, aus unserem Selbsterhaltungstrieb, oder dem aus diesem hervorgegangenen Erkenntnisdrang entspringt. 12. Indem wir aber auf diese Weise mit der festen Voraussetzung: Jede Veränderung hat ihre Ursache! oder: Das Verhalten der Dinge ist konstant! zu all unserem Forschen schreiten, wird es uns möglich, über die in 5. erwähnte Schwierigkeit hinauszukommen oder in der Realwissenschaft vom Einzelnen zum Allgemeinen zu gelangen. Denn wir brauchen also nur einen einzelnen Fall zu untersuchen und uns recht zu vergewissern, welche Umstände hier vorhanden sind; kraft des Kausalgesetzes können wir dann behaupten, daß die wahrgenommenen Eigentümlichkeiten jedesmal, wenn die nämlichen Umstände vorhanden sind, eintreten werden. Noch sicherer ist es natürlich, viele Fälle zu untersuchen, weil wir hierdurch einen weit besseren Überblick darüber gewinnen, welche Umstände großen Einfluß, und welche geringeren oder gar keinen Einfluß auf die Eigentümlichkeiten haben, die wir besonders vor Augen halten. So finden wir z. B., daß sowohl das Eis des Salzwassers wie auch das des Süßwassers ungefähr neun Zehntel des spezifischen Gewichts des Wassers hat, und wir finden zugleich, daß wir unter dem spezifischen Gewicht des "Wassers" hier z. B. das spezifische Gewicht reinen Süßwassers eines bestimmten Wärmegrades verstehen müssen, da das spezifische Gewicht des Wassers sich sowohl mit dem Wärmegrad als auch mit der Menge des hinzugesetzten Salzes verändert. 13. Man teil die Realwissenschaften gewöhnlich in zwei Gruppen: in die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften. Erstere behandeln die Natur oder einzelne Seiten oder Kreise derselben. So haben wir z. B. die Physik und die Chemie, die Mineralogie, Botanik und Zoologie, die Anatomie (oder die Lehre vom Bau der Organismen) und die Physiologie (oder die Lehre von den organischen Tätigkeiten) usw. Die Geisteswissenschaften behandeln den menschlichen Geist und dessen verschiedene Erzeugnisse. Als Beispiele können wir die Psychologie oder die Seelenlehre, die Lehre vom Seelenleben, namentlich dem menschlichen, nennen, die Erkenntnislehre oder die Lehre vom rechten Forschen, die Ästhetik oder die Lehre vom Schönen, von der Kunst und Poesie, die Ethik oder die Lehre vom rechten Handeln, dem rechten Betragen; ferner die Rechtslehre, die Staatslehre, die Soziallehre usw. Mit einer dieser Geisteswissenschaften, mit der Psychologie wird uns das Folgende etwas näher bekannt machen. Vorerst wollen wir jedoch eine der formellen Wissenschaften, die bei all unserem Forschen zur Verwendung kommt, die Denklehre oder Logik nämlich, in Kürze betrachten. Da wir jede andere Wissenschaft mit Hilfe der Logik aufbauen, ist es am natürlichsten, zuerst dieselbe zu betrachten. (1)
1) Vgl. KROMAN, Unsere Naturerkenntnis, Kopenhaugen 1883, Kap. 1 - 3 und 14. |