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Nietzsche und der Pragmatismus
I. Jedenfalls aber ist durch die amerikanische Pragmatismusbewegung ein Problem in den Mittelpunkt der Diskussion geschoben worden, das bisher niemals so ein zentrales Interesse erregt hat, die Frage nach dem Wesen der Wahrheit. Nun hat man neuerdings von drei verschiedenen Seiten dieses Problem angefaßt. Alle diese Forscher kommen darin überein, daß die logischen Werte als biologische anzusehen sind. Ich will die drei verschiedenen Auffassungen des Wahrheitsproblems als die pragmatistische (im engeren Sinn), die humanistische und die "des Als-Ob" bezeichnen. Die pragmatistische Wahrheitstheorie (im engeren Sinn) lehrt, daß das einzige Kriterium für den Wahrheitswert einer Theorie ihre Brauchbarkeit ist. (4) Damit ist nun nicht der grobe Utilitarismus im Sinne des Geldverdienens gemeint, wie es Gegner oft ausgelegt haben, nein, gerade auf das, was MACH "die Anpassung der Gedanken aneinander" nennt, legt JAMES den "größten Nachdruck, und Brauchbarkeit ist ihm neben der Bedeutung für die biologische Erhaltung auch vor allem die innere Harmonie der Gedankenwelt. Fügt in diese sich eine Theorie klärend und erweiternd ein, so ist sie wahr; tut sie das nicht, so muß eine Revision vorgenommen werden, eine Anpassung, als deren Endzweck die Stabilität eintritt, die als "Wahrheit" bewertet wird. Wahrheit ist also nach dieser Lehre ein biologischer Wert, der der Erhaltung und inneren Harmonie des Subjektes dient. Die humanistische Wahrheitstheorie, wie sie speziell von dem JAMES-Schüler F. C. S. SCHILLER (5) ausgebaut wurde, betont nur eine andere Seite der pragmatischen. Sie stimmt dieser vollkomen zu, hebt nur statt der objektiven, utilitaristischen Seite mehr die subjektiv-teleologische Seite hervor. Sie betont vor allem den "menschlichen", d. h. von Trieben und Gefühlen durchtränkten Charakter jeder Wahrheit und bekämpft leidenschaftlich das Abstrakte in der reinen Logik. Was ich oben als eine dritte Fassung des Wahrheitsproblems angeführt habe, hängt historisch nur lose mit den beiden früheren zusammen und ist doch aus derselben Wurzel, einer biologischen Auffassung unseres Erkenntnisvermögens entsprungen. Die Philosophie des Als-Ob (6) ist etwas durchaus Selbständiges und betont die große Wichtigkeit, die für unser Leben bewußt-falsche Theorien haben können. So berührt sie sich, obwohl sie in manchem fast das Gegenteil aussagt, mit dem Pragmatismus, ohne jedoch den Begriff "Wahrheit" auf die bewußten Fiktionen auszudehnen. Das Ziel der vorliegenden Untersuchungen wird es nun sein, zu zeigen, wie sich die drei verschiedenen Seiten des Wahrheitsproblems in den Schriften FRIEDRICH NIETZSCHEs (7) völlig klar erfaßt und formuliert nebeneinander finden und wie sie sich in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung gestalten. Dabei ist zu bemerken, daß für das Problem des Als-Ob bereits VAIHINGER selber in gründlichster Weise den Parallelismus aufgedeckt hat, in dem sich die Gedanken NIETZSCHEs zu seinen eigenen bewegt haben. Es bleiben also vor allem die pragmatistische und humanistische Seite und auf diese werde ich hier den Hauptnachdruck legen. Es hat zwar schon ein französischer Gelehrter (ebenso wie ich selber früher bereits wiederholt diese Übereinstimmung betont habe) den Pragmatismus NIETZSCHEs dargestellt. Indessen ist seine Wiedergabe der Gedanken NIETZSCHEs zu wenig systematisch, auch sind die historischen Wandlungen nicht gründlich behandelt, was allerdings auch nicht in der Absicht der Verfassers lag, dem es mehr darauf ankam, die Wurzeln nachzuweisen, aus denen NIETZSCHEs Anschauung erwachsen ist. Meine Untersuchungen werden daher einen ganz anderen Weg gehen. Was übrigens die Resultate BERTHELOTs anlangt (8), daß NIETZSCHEs Pragmatismus einmal der deutschen Romantik, andererseits dem modernen, naturwissenschaftlich orientierten Utilitarismus entstammt, so ist dem im großen und ganzen zuzustimmen, wenn auch die letzteren Einflüsse weit weniger ins Gewicht fallen und mehr als willkommene Bestätigung für bereits vorhandene Tendenzen denn als wirkliche Anreger von NIETZSCHE aufgenommen wurden. Der Begriff Romantik andererseits, in dem weiten Sinne, wie ihn die Franzosen im Gegensatz zum deutschen Gebrauch verwenden, ist so vage, daß eine wirklich klare Erkenntnis daraus nicht zu gewinnen ist. Es werden damit zu gleicher Zeit EMERSON wie HÖLDERLIN, SCHOPENHAUER wie WAGNER umspannt. Ich ziehe es vor, im folgenden die ästhetische, oder wie NIETZSCHE selber sagt, dionysische Gesamtstimmung seines Wesens hervorzukehren, die ihn von früh an auf rauschartige Lebenssteigerung, Zurückdrängung des logischen Denkens auf Kosen einer Erhöhung des gesamten Lebensgefühls gerichtet sein ließ und der ihn von jeher das rein Intellektuelle dem biologisch Wertvollen unterordnen ließ. Dieser letztere Grundzug des ganzen Menschen NIETZSCHE tritt schon in seinen frühesten Schriften ganz deutlich hervor; er wird dann etwas zurückgedrängt, obwohl er unter der positivistisch-intellektualistischen Oberfläche deutlich erkennbar weiter besteht, wie ich nachweisen werde; endlich in der dritten und entscheidenden Periode ringt sich das echte pragmatistisch-voluntaristisch gerichtete Temperament in aller Klarheit wieder durch, und es wird ein Pragmatismus von höchster Konsequenz und detaillierter Durchbildung verkündet bereits zu einer Zeit, als sich in Amerika erst die ersten leisen Vorboten hervorwagten. Dabei ist von vornherein festzustellen, daß irgendwelche direkte oder nachweisbare indirekte Beziehungen zwischen NIETZSCHE und Amerika nicht bestehen. Die wichtigsten Arbeiten NIETZSCHEs sind erst in seinem Nachlaß ans Licht gekommen, während in den zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften mehr gelegentlich und nirgends systematisch das Wahrheitsproblem gestreift ist. Es ist im Interesse der Kenntnis vom echten Wesen dieses reichen Philosophengeistes überhaupt sehr zu bedauern, daß er selber nur die Schriften mehr negativ-polemischen Charakters veröffentlich hat, während er seine positiv- systembildenden Schriftenn - wenigstens auf erkenntnistheoretischem Gebiet - nicht mehr hat veröffentlichen können, obwohl der Nachlaß ein ziemlich geschlossenes Bild seines Denken auch nach dieser Seite hin gibt. So konnte JAMES in der Zeit, als er seinen Pragmatismus ausbildete, NIETZSCHEs diesbezüglichen Arbeiten noch nicht kennen. Wahrscheinlich hätte er dann in einem anderen Ton von NIETZSCHE gesprochen, den er nur gelegentlich mitleidsvoll "poor Nietzsche" nennt. Denn in diesem Nachlaß ist bereits im Jahre 1873 der ganze Pragmatismus explizit enthalten, während die erste Arbeit von PEIRCE, der der Richtung den Namen gab, im Jahre 1878 erschien, in einer amerikanischen Revue versteckt. Und während JAMES seine noch recht unentschiedenen Essays über "The will to believe" (9) ausarbeitete, hatte NIETZSCHE bereits ein völlig ausgearbeitetes System dieser Gedanken, die in JAMES 20 Jahre später erst ganz ausreiften. Es ist eine Pflicht der historischen Gerechtigkeit das festzustellen. Zugleich aber läßt sich gerade an NIETZSCHEs Stellung zum Wahrheitsproblem am deutlichsten dartun, wie merkwürdig konstant dieser fälschlich für sprunghaft gehaltene Philosoph in seinem Denken war. - Gewiß hat er später oft in heftigsten Ausdrücken frühere eigene Ansichten bekämpft. Aber wir haben hier innerhalb des Individuums denselben Fall, den das Leben so oft zwischen verschiedenen Individuen zeigt: daß nämlich der Streit um kleine Nuancen, bei sonstiger Gemeinschaft viel gehässiger und erbitterter geführt zu werden pflegt, als der Kampf bei völliger Verschiedenheit der Ausgangspunkte. Bereits in der "Geburt der Tragödie", dieser Schrift, die ein seltsam frühes Programm für alle späteren Hauptgedanken NIETZSCHEs ist, finden sich auch die Keime des NIETZSCHEschen Pragmatismus. Tritt dies auch gemäß dem ästhetisch-dithyrambischen Gesamtcharakter der Schrift mehr in der Stimmung und in der allgemeinen Tendenz denn in klaren logischen Formulierungen heraus, so springt doch bereits jetzt klar in die Augen, wie NIETZSCHE den theoretischen Menschen, als dessen Typus EURIPIDES und SOKRATES gelten, gering schätzt gegenüber dem künstlerischen, der auf eine Steigerung des Lebens ausgeht, nicht auf "Verständnis" wie jener. "Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt nach der Enthüllung noch Hülle bleibt, genießt und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel im Prozeß einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthüllung." (10) Welchem von beiden Typen die Sympathie des Verfassers gehört, kann nicht zweifelhaft sein und schon könnte als Motto über dem Ganzen das Leitwort stehen, was er später so oft angewandt hat: Fiat vita, pereat veritas [Es werde Leben, auch wenn die Wahrheit dabei zugrunde geht. - wp] Dieselbe Wertung durchzieht alle Schriften dieser Epoche, besonders z. B. das Nachlaßfragment "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" (1873). Auch hier gilt die ganze Sympathie des Verfassers den Vorsokratikern, "die die Wahrheit in Intuitionen erfaßten und nicht an der Strickleiter der Logik erkletterten" (11). Besonders die Planskizzen zu der nicht ausgeführten Fortsetzung sind interessant, denn sie deuten an, wie der junge NIETZSCHE den Kampf gegen SOKRATES und den Intellektualismus zu führen dachte. Da heißt es bündig: "An Sokrates alles Fabeln; die Begriffe sind nicht fest, auch nicht wichtig". (12) und weiter heißt es da: "Das Erkennen hat für das Wohl des Menschen nicht soviel Bedeutung wie das Glauben. Selbst beim Finden einer Wahrheit, z. B. einer mathematischen, ist die Freude das Produkt seines unbedingten Vertrauens, er kann darauf bauen. Wenn man den Glauben hat, so kann man die Wahrheit entbehren. (13) Man sieht, wie klar schon der junge NIETZSCHE erkannte, daß keine "absolute Wahrheit" möglich ist, eine Erkenntnis, die ihn niemals verlassen hat. Ganz besonders interessant aber ist für die erkenntnistheoretische Entwicklung das kleine Fragment aus dem Sommer 1873 "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne", das eine, wenn auch nicht abgeschlossene, so doch zusammenhängende Darstellung bringt, zu der ferner noch eine ganze Sammlung kleinerer Fragmente kommt, die teils voraufgehen, teils die Fortsetzung skizzieren. Der Intellekt wird als ein Hilfsmittel, und zwar ein recht dürftiges, hingestellt, das dem Menschen zur Selbsterhaltung dient. Die "Wahrheit" ist ein soziales Produkt, das erfunden ist, um eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge" zu liefern (14). Wahrheit ist jedoch nichts Absolutes, nichts, was uns das Wesen der Dinge erkennen lehrt, sondern ist "ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz, eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebraucht in einem Volk fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Jllusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind -" (15). Nur durch dieses Vergessen aber gelangt der Mensch zum Gefühl der Wahrheit. "Es ist uns nichts ansich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen, d. h. in seinen Relationen zu anderen Naturgesetzen, die uns wieder nur als Summen von Relationen bekannt sind. Als verweisen alle diese Relationen immer nur wieder aufeinander und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Sukzessionsverhältnisse, die uns am Sternenlauf und im chemischen Prozeß so imponiert, fällt im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen, so daß wir damit uns selber imponieren." (16) Deutlich also treten in dieser frühen Schrift bereits die pragmatische wie die humanistische Seite des Wahrheitsproblems zutage. Allerdings sind die erkenntnistheoretischen Probleme trotz der entgegengesetzten Behauptung des Titels noch stark vermischt mit moralischen. Vielleicht hätte NIETZSCHE das bei genauerer Durcharbeitung des Fragments selber noch erkannt. Denn es tritt deutlich zutage, daß sich ihm in die logische Gegenüberstellung: Wahrheit und Irrtum beständig jene andere von ihm hier moralisch gefaßte Wahrheit und Lüge hineinmengt. Gewiß hat auch diese Antithese im Sinne eines Als-Ob, der bewußten Fiktion, ihre große erkenntnistheoretische Bedeutung. NIETZSCHE jedoch, der z. B. den nächsten Nutzen des Erkenntnisvermögens in der Verstellung sieht, faßt also das Problem doch von der moralischen Seite. Daneben allerdings ist dem Verfasser der "Geburt der Trägödie" auch das Ästhetische klar bewußt und so stellt er zuletzt dem "vernünftigen", d. h. durch Logik geleiteten Menschen den "intuitiven" Menschen gegenüber, der nicht in vertrockneten Metaphern und Abstraktionen denkt, sondern aus seinen Intuitionen eine beständig "entströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung erfährt, und er kommt damit auf einen Hauptgedanken der "Geburt der Trägödie" zurück. Es ist besonders bedauerlich, daß diese wichtige Schrift nicht zu Ende geführt ist. Der Wahrheitsbegriff hätte in den weiteren Untersuchungen noch wichtige Beleuchtungen erfahren, wie die Entwürfe zeigen. Vor allem wäre der bewußte Jllusionismus stark betont worden. (17) Aber auch die pragmatistische und humanistische Seite der Wahrheitstheorie wären noch weiter durchdacht worden. So wäre die Abhängigkeit der Logik von der Sprache nachgewiesen worden. Der Gedanke, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, wird erweitert dahin, daß es notwendig ist, ihn sich dann als hart und festgeworden zu denken, weil sonst die Strenge der Naturgesetze aufhört. Denn diese sind lauter Relationen zueinander und zum Menschen. Und ferner wäre da der Gedanke ausgeführt worden, daß es keinen Trieb nach Erkenntnis und Wahrheit, sondern nur einen Willen nach Glauben an die Wahrheit gibt. "Solange man Wahrheit in der Welt sucht, steht man unter der Herrschaft des Triebes: der aber will Lust und nicht Wahrheit, er will den Glauben an die Wahrheit, also die Lustwirkungen dieses Glaubens." (18) Damit sind jedoch die Anregungen NIETZSCHEs zum Wahrheitsproblem längst nicht erschöpft. Nur eine Anzahl von Aphorismen seien noch angeführt, die alle diese Probleme berühren. Zunächst sind eine ganze Reihe der pragmatistischen Seite des Wahrheitsproblems gewidmet. Da wird ausgeführt, daß die "Wahrheiten" sich durch ihre Wirkungen beweisen, nicht durch logische Beweise, und daß das Wahrheitsstreben durch den Kampf um eine heilige Überzeugung in die Welt gekommen ist. (19) Über Entstehung und soziale Bedeutung der Wahrheit handelt eine weitere Stelle. (20) Der metaphorische Charakter und die Relativität unseres Erkennens werden ebenfalls weiter ausgeführt (21), ferner die Frage nach dem Zweck und der Entstehung der Erkenntnis (22) Ebenso wird auch die humanistische Seite des Wahrheitsproblems noch weiter berührt. So läßt sich z. B. der anthropomorphische Charakter aller Weltkonstruktionen beweisen (23). Das Erkennen wird als ein Messen an einem Maßstab dargestellt (24), der Konsensus der Menschen rührt von der Gleichartigkeit ihres Perzeptionsapparates her (25). Das Weltbild ist nur eine Widerspiegelung und es gibt ein Streben, den Spiegel immer adäquater zu machen. So läßt sich eine allmähliche Befreiung vom alten Anthropomorpischen erkennen (26), so läßt sich das Streben des Philosophen als eine Assimilation, als eine Metamorphose der Welt in den Menschen beschreiben (27). Alle diese Erkenntnisse standen bereits ausgearbeitet hinter dem jungen NIETZSCHE, als er seine "Unzeitgemäßen Betrachtungen" schrieb. Naturgemäß gaben diese, auf ein breiteres Publikum berechneten Essays weniger Gelegenheit zu logisch-fachmännischen Betrachtungen, trotzdem ist es derselbe Geist, der besonders aus der zweiten und dritten "Unzeitgemäßen" spricht. Es ist dieselbe dionysische, auf höchste Lebenssteigerung gerichtete Stimmung, die wir schon früher fanden und die alle Erkenntnis nur als ein Mittel zur Lebenserhaltung, oder besser zur Lebenssteigerung ansehen lehrt. Darum wendet NIETZSCHE sich gegen den historischen-überhistorischen Betrieb der Wissenschaften und fordert, daß Historie zum Zweck des Lebens getrieben werde. Nicht anders tritt uns NIETZSCHE in "Schopenhauer als Erzieher" entgegen, wo er eine theoretische Widerlegung einer Philosophie für etwas Unmögliches, ein bloßes Spiel mit Worten erklärt und behauptet, die einzige Kritik einer Philosophie, die etwas bewiese, sei der Versuch danach zu leben (28). Daß er natürlich nicht den Utilitarismus im banalen Sinn als Beweis für die Wahrheit gelten läßt, wird oft genug scharf ausgesprochen. (29) Alles in allem ist der Pragmatismus NIETZSCHEs in seiner frühesten Periode, so klar sich darin auch die fundamentalen Sätze aussprechen, doch noch recht unklar und unkritisch. Das ästhetische, dionysische Interesse überwiegt und umnebelt noch den klaren Blick. Darum mischen sich mit jenen Erkenntnissen, die später wiederkehren, auch solche, die später für alle Zeiten abgetan werden. So ist die Lehre von der Intuition, ja der Inspiration, in dieser noch von RICHARD WAGNER stark abhängigen Zeit ein Element der vorwiegend ästhetischen Orientierung dem Leben gegenüber, die später zurücktritt. Es bestehen in dieser Zeit zwei Elemente in NIETZSCHEs Denken nebeneinander, das schwärmerisch-dionysische und kritisch-philosophische, die noch nicht zur Harmonie gekommen sind. Eine Krise war unausbleiblich. Sie kam und in ihr versuchte NIETZSCHE eine gewaltsame Ausrottung jenes dionysischen Dranges. Es gelang nicht: er war zu stark und vielleicht auch die kritisch-intellektualistische Tendenz zu schwach. Der Versuch einer Verdrängung mißlang und so kam es zuletzt zu einer Versöhnung der beiden Tendenzen in der dritten Periode, die die Gedanken des ersten in kritisch-geläuterter Form weiterführt. NIETZSCHEs Entwicklung mit ihren drei Perioden, die sich ziemlich klar absondern, sieht aus wie ein Musterbeispiel der bekannten Theorie HEGEL über die Entwicklung. Ist die erste Periode die Stufe der Position, so ist die zweite die der Negation. Hier wird die Erkenntnis, die in der ersten Zeit dem Willen zum Leben ganz nachgesetzt worden war, viel stärker in den Vordergrund gedrängt. Die dritte Periode endlich würde die Stufe der Synthese darstellen, genau nach dem HEGELschen Schema. Indessen ist die Verneinng der ersten in der zweiten Periode doch nicht so stark, wie man es zuweilen hingestellt hat. Man pflegt die zweite Periode die positivistische oder die intellektualistische zu nennen; indessen wäre es vielleicht exakter, mit einem abschwächenden Komparativ als von der intellektualistischeren zu reden. Denn wie ich nachher an Beispielen dartun werden, liegt die Sache durchaus nicht etwa so, daß nun ein ganz anderes philosophierenes Ich erschiene, nein, es bleibt das alte leidenschaftliche, dionysische, ästhetische Ich, das sich nur gewaltsam in intellektualistische Bahnen zwingen will, das aber oft schmerzlich seufzt unter dem harten Joch. In der Tat ist es nur der bewußte Wille, der sich gewendet hat, nicht die innerlichsten Triebe und Leidenschaften, deren Bedeutung für die Philosophie NIETZSCHE aber in dieser Zeit niemals verkennt. Und wenn er auch oft in heftigsten Ausdrücken die Vorherrschaft des Intellekts proklamiert, der Unterton ist doch geblieben, und der Intellektualismus dieser Epoche ist etwas recht Äußerliches, ein Joch, das der Philosophe später endgültig wieder abstreift. - Im Grunde bleibt die Wahrheitstheorie ganz die gleiche wie in der ersten Periode, nur ist NIETZSCHE skeptischer und kritischer in der Wertung der einzelnen Wahrheiten. Aber vom Glauben an eine absolute Wahrheit ist er weit entfernt. Deutlich spricht er es im Anfang von "Menschliches-Allzumenschliches" aus, daß es keine absoluten Wahrheiten gibt. (30) Und ebenso findet sich die pragmatistische Wahrheitsdefinition klar und deutlich (31). "Die gewohnten Gedanken sind deshalb so hoch geachtet, ja zur Pflicht gemacht, weil sie eine Art Bewährung haben; mit ihnen ist der Mensch nicht zugrunde gegangen. Das "Nicht-zugrunde-gehen" gilt als der Beweis für die Wahrheit eines Gedankens. Wahr heißt: "für die Existenz des Menschen zweckmäßig". Da wir aber die Existenzbedingungen des Menschen sehr ungenau kennen, so ist, streng genommen, auch die Entscheidung über wahr und unwahr nur auf den Erfolg zu gründen. Woran ich zugrunde gehe, das ist für mich nicht wahr, d. h. es ist eine falsche Relation meines Wesens zu anderen Dingen. Denn es gibt ur individuelle Wahrheiten - eine absolute Relation ist Unsinn (32). Indessen unterscheidet sich doch diese Periode von der ersten sehr wesentlich, wenn auch nicht in der Grundanschauung, so doch in der Tendenz. Und diese geht auf das Finden dauerhafterer, festerer, soliderer Wahrheiten. Es wird ein Wert unterschied zwischen den verschiedenen Überzeugungen gemacht, nicht etwa bloß nach ihrer ästhetischen, lebenssteigernden Qualität, sondern nach ihrer Aussicht auf Stabilität, darum hat der Intellekt hier seine Vordergrundstellung, weil er kritisch die dauerhaften Wahrheiten von den Augenblickserkenntnissen sondern kann. So wird das Wort "Wahrheit" hier in einem prägnanteren Sinn gebraucht, d. h. eine Erkenntnis, die unabhängig von der Augenblickswirkung ist, ja die sogar Schmerzen und Leiden bereiten kann und nur insorfern ein Wert ist, als sie späterhin und für eine größere Allgemeinen Nutzen und Sicherheit verspricht. Auch diese allgemeine Wahrheit ist subjektiv, auch hier ist der Mensch das Maß, aber nicht mehr der Einzelmensch mit seinen Momentangefühlen, sondern der Typus Mensch, der allerdings auch nichts Ewiges ist, aber dennoch gewisse konstante Eigenschaften, Bedürfnisse und Beziehungen hat. So wird es z. B. als Merkmal einer höheren Kultur gepriesen, "die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden werden, höher zu schätzen als die beglückenden und blendenden Irrtümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. - Aber das Mühsam-Errungene, Gewisse, Dauernde und deshalb für jede weitere Erkenntnis noch Folgenreiche ist doch das Höhere (33). Indessen, wenn man den Typus des Menschen als Subjekt der Erkenntnis annimmt, so darf doch nie vergessen werden, daß auch er keine aeterna veritas [ewige Wahrheit - wp] ist (34), sondern ein höchst wandelbares, der Entwicklung unterworfenes Wesen." Ein wichtiger Schritt zum Intellektualismus hin von der ästhetisierenden ersten Periode weg ist auch die Verwerfung der Intuition, die dort über den wissenschaftlichen Methoden gestanden hatte. "Die Erkenntnis mit einem Schlag, die Intuitionen sind keine Erkenntnisse, sondern Vorstellungen von hoher Lebhaftigkeit: so wenig eine Halluzination Wahrheit ist." (35) - "Jenes heiße brennende Gefühl der Verzückten: dies ist die Wahrheit, dieses mit den Händen greifen und mit Augen sehen bei denen, über welche die Phantasie Herr geworden ist, das Tasten an der neuen anderen Welt - ist ein Krankheit des Intellekts, kein Weg der Erkenntnis." (36) So sehen wir NIETZSCHE in dieser Periode der Absicht nach durchaus als Intellektualisten. So kann er sich von der Wissenschaft notieren: Alle Kräfte in ihren Dienst! (37) - Aber dem innersten Gefühl nach ist er nicht intellektualistisch. Nirgends ist ihm die Erkenntnis ein Wert ansich. Überall, an hundert Stellen in dieser Zeit bricht es heraus, wie er selber unter der strengen intellektualistischen Methode, die er sich vorgesetzt hat, leidet und wie er immer und überall nach einem tieferen Sinn und Wert der Erkenntnis sucht, die ihn allein nicht befriedigt. "Wir sind gegen uns fast grausam," ruft er den Künstlern als wissenschaftlicher Mensch zu, "aber um der Früchte willen, die ihr und allen haben sollt!" (38) Er ist stolz zuweilen auf diese Grausamkeit, er preist sie als Männlichkeit. "Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesamte Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie sich endlich an die höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mitteilungen von Wahrheiten verloren hat." (39) In dieser "Grausamkeit gegen sich selber" tut NIETZSCHE dann zuweilen gar stolz: "Wenn die Wissenschaft Nutzen und Fördernis bringt, so tut sie das wie die Natur, ohne es gewollt zu haben." Und er fährt fort: "Wem es aber beim Anhauch einer solchen Betrachtungsart gar zu winterlich zumute wird, der hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich: er möge sich jedoch umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschläge nottun, und Menschen, welche so auf Glut und Geist, zusammengeknetet sind, daß sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug für sich finden." (40) Ist es nicht fast belustigend, daß er in demselben Atem, mit dem er eben die Zwecklosigkeit des Erkennens gepredigt hatte, gerade in dieser Zwecklosigkeit, dieser Kälte einen neuen Zweck erkennt? Das aber ist es, was aus fast all den Stellen, wo er in dieser Zeit von der "Wahrheit" redet, herausklingt: ein unterdrücktes Klagen über die Kälte des reinen Denkens, ein sich Mut machen und ein beständiges Suchen nach neuen Lebenswerten in diesem Denken, das eben seine alten Lebenswerte zerstört. So wird ihm die Philosophie, wie allen Philosophen vor ihm, zur "Apologie der Erkenntnis" (41). Ein neuer Wert wird für die Philosophie nicht nur im Befriedigen von Bedürfnissen, auch im Beseitigen falscher Bedürfnisse erkannt. (42). So wird die Erkenntnis, die wahnzerstörende, zu süßester Lockung. (43) Wieviel verschiedende Lust aus dem Erkennen sprießt, zählt ein langes Verzeichnis auf. (44) Und wieviel schöne Worte braucht er, um sich selbst vom Reiz der Erkenntnis zu überzeugen! (45) Oder mit wieviel Sophistik muß er sich vor sich selber verteidigen, daß er noch nicht ganz Erkenntnis geworden ist, daß sein "Ich" sich noch meldet! (46) Freilich ist "der Trieb zur Erkenntnis noch jung und roh und loglich, gegen die älteren und reicher entwickelten Triebe gehalten, häßlich und beleidigend: alles sind es einmal gewesen! Aber ich will ihn als Passion behandeln und als etwas, womit die einzelne Seele beiseite gehen kann, um hilfreich und versöhnlich auf die Welt zurückzublicken: einstweilen tut Weltentsagung wieder not, aber keine asketische!" (47) Überall schöpft er Gründe zur Berechtigung und Verteidigung dieses Erkenntnistriebes (48). Und er tröstet sich: "Ich meinte, das Wissen töte die Kraft, den Instinkt, es lasse kein Handeln aus sich wachsen. Wahr ist nur, daß einem neuen Wissen zunächst kein eingeübter Mechanismus zu Gebote steht, noch weniger eine angenehme, leidenschaftliche Gewöhnung! Aber all das kann wachsen! Ob es gleich heißt auf Bäume warten, die eine spätere Generation abpflücken wird - nicht wir! Das ist die Resignation des Wissenden! Er ist ärmer und kraftloser geworden, ungeschickter zum Handeln, gleichsam seiner Glieder beraubt - er ist ein Seher und blind und taub geworden! (49) Heroismus ist es, der Heroismus der Entsagung gegenüber den schönen Trugbildern der Metaphysik und Religion, den die Erkenntnis fordert." (50) Liest man alle diese Stellen (und noch viele andere Passagen sind in ähnlicher Tonart geschrieben), so wird man nicht darüber im Zweifel sein, daß hier nicht ein wirklicher Intellektualist redet, sondern einer, der Intellektualist sein möchte, der im tiefsten Grund jedoch etwas ganz anderes ist, nämlich ein Pragmatist, dem es nicht so sehr auf die Erkenntnis selber, sondern auf ihre Folgen ankommt. Mag er auch noch so sehr dagegen wettern, daß man in den Folgen einer Theorie einen Beweis für die Wahrheit sieht (51), in Wirklichkeit ist doch für sein Gefühl auch eine Erkenntnis gerechtfertigt, wenn sie wertvolle Folgen zeitigt. Er ist nur kritischer diesen Folgen gegenüber, aber er stellt doch die Forderung auf: das Wohl der Menschheit mußt der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung nach Wahrheit sein (nicht der leitende Gedanke, aber der, welcher gewisse Grenzen zieht) (52). Wir könnten also diese Periode vielleicht die des kritischen Pragmatismus nennen, indem dem Intellekt die Oberaufsicht zuerteilt wird, darüber zu entscheiden, ob etwas als Wahrheit anerkannt werden soll oder nicht.' Aber ganz falsch wäre es, nur darum, weil uns NIETZSCHE selber fortwährend den Erkenntnistrieb empfiehlt, ihm zu glauben, er wäre jetzt wirklich ein Intellektualist und Positivist geworden! Im tiefsten Grund ist er durchaus ein Pragmatist auch in dieser Zeit, wo er gegen diese seine tiefste Natur ankämpft. Schon im Jahre 1869 hatte NIETZSCHE an Freund DEUSSEN geschrieben: "Eine Philosophie, die wir aus reinem Erkenntnistrieb annehmen, wird uns nie ganz zu eigen, weil sie nie unser eigen war. Die rechte Philosophie jedes einzelnen ist anamnesis" [Erinnerung - wp] -. Er hat's erlebt. In der dritten Periode seines Denkens macht er sich frei von den positivistischen Einflüssen, d. h. das dionysisch-pragmatische Temperamnt ringt sich wieder durch, und nur als dienende Mächte behält er positivistische Erkenntnisse bei. Sie treten ganz in den Dienst seiner ethischen Ideen, sie sind ihm nur Mittel, um die Autonomie seines schöpferischen Willens zu rechtfertigen. Der Pragmatismus wie der Humanismus sind ihm niemals Zwecke in sich, sie sind nur die erkenntnistheoretischen Fundamente für sein schöpferisches Denken, das nach neuen Werten sucht und das darum vor allem die Bedingtheit und Vergänglichkeit der alten Werte nachweisen muß. Aus diesem Grund wird die Wahrheit als "pragmatisch" und "humanistisch" erwiesen und der Wert der Fiktionen ins hellste Licht geschoben. Zunächst das pragmatistische Problem: Mit aller Klarheit und Schroffheit wird jetzt ausgesprochen, daß es keinen reinen Erkenntnistrieb gibt, daß "Wahrheit" solche Theorien heißen, die sich als nützlich erweisen, und daß infolgedessen alle Wahrheit relativ ist, kurz, daß es keine "Wahrheit", sondern nur Wahrheiten gibt. Ich kann natürlich aus dem überreichen Material nur einzelne typische Sätze geben: vollständig sein, würde hier fast bedeuten, den halben Nachlaß kopieren. "Sinn der Erkenntnis hier ist, wie bei gut oder schön, der Begriff streng und eng anthropozentrisch und biologisch zu nehmen. Damit eine bestimmte Art sich erhält und wächst in ihrer Macht, muß sie in ihrer Konzeption der Realität so viel Berechenbares und Gleichbleibendes erfassen, daß daraufhin ein Schema ihres Verhaltens konstruiert werden kann. - Die Nützlickeit der Erhaltung - nicht irgendein abstrakt-theoretisches Bedürfnis, nicht betrogen zu werden - steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnisorgane." (53) "Die bestgeglaubten apriorischen Wahrheiten sind für mich - Annahmen bis auf weiteres." (54) "Das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren Wahrheit." (55) "Es gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen -: und folglich gibt es vielerlei Wahrheiten, und folglich gibt es keine Wahrheit." (56) - All das sind Sätze, die wortwörtlich in den Schriften von JAMES stehen könnten, teils sogar wirklich stehen und die mit aller Bestimmtheit bereits den "Pragmatismus" formulieren. Freilich geht NIETZSCHE in seinem Skeptizismus noch bedeutend über JAMES hinaus. Er macht keinen grundsätzliche Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum, ja er betont wiederholt, daß auch die Täuschung ihren Wert haben kann, ein Satz, der besonders diejenigen Pragmatisten, die für die Religion JAMES' Thesen in allzuweiter Weise ausschlachten wollen, nachdenklich stimmen muß. "Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil (57). Wahrheit: das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht notwendig einen Gegensatz zum Irrtum, sondern in den grundsätzlichen Fällen nur eine Stellung verschiedener Irrtümer zueinander: etwa, daß der eine älter, tiefer als der andere ist, vielleicht sogar unausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer Art nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrtümer uns nicht dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen an solchen Tyrannen beseitigt und widerlegt werden können." (58) - Von dieser Erkenntnis aus, daß auch der Irrtum, die Fiktion lebenserhaltend sein kann, kommt NIETZSCHE dann zu seiner Anerkennung solcher lebensfördernder Fiktionen, des nützlichen Scheins, was durch VAIHINGER bereits ausführlich dargestellt worden ist -. Um freilich dahin zu gelangen, stützt er sich auch ausführlich auf jene andere Form der Wahrheitstheorie, die neuerdings den Namen "Humanismus" erhalten hat. Er wird nicht müde zu wiederholen, daß nicht ein abstrakter Erkenntnisdrang, sondern Instinkte, Triebe, Bequemlichkeit, vor allem aber der "Wille zur Macht" zu Erkenntnissen und Wahrheiten geführt haben. Auch hier ist die Auswahl der diesbezüglichen Stellen übergroß. "Hinter dem Bewußtsein arbeiten die Triebe". (59) " - - Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Wertschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben". (60) "Es gibt keine unmittelbaren Tatsachen! Es steht mit Gefühlen und Gedanken ebenso: indem ich mir ihrer bewußt werde, mache ich einen Auszug, eine Vereinfachung, einen Versuch der Gestaltung: das eben ist bewußt werden: ein ganz aktives Zurechtmachen." (61) Alles das sind Sätze, die der Humanist F. C. S. SCHILLER unterschreiben wird und die Kernsätze für seine Philosophie ausmachen. - NIETZSCHE geht dann noch weiter in seiner Theorie vom gestaltenden, formenden Intellekt. Er läßt auch die Kategorien aus dem Bedürfnis entstanden sein. "Es handelt sich nicht um metaphysische Wahrheiten bei Substanz, Objekt, Sein, Werden." (62) - "Es ist das Bedürfnis, nicht zu erkennen, sondern zu subsumieren, zu schematisieren, zum Zweck der Verständigung, der Berechung." (63) Die Art nun, wie das Denken mit seinem Rohstoff verfährt, wird mit Vorliebe als ein Schematisieren, ein Gleichsetzen, ein Simplifizieren beschrieben. Die Theorie, die unter dem Namen der "Denkökonomie", wie sie MACH und RICHARD AVENARIUS befürwortet haben, neuerdings soviel von sich reden gemacht hat, ist an vielen Stellen bereits deutlich ausgesprochen (64). Vor allem das Gleichsetzen von Ungleichem im Begriff ist überaus wichtig. "Wie ein Feldherr von vielen Dingen nichts erfahren will und erfahren darf, um nicht die Gesamtüberschau zu verlieren: so muß es auch in unserem bewußten Geist vor allem einen ausschließenden, wegscheuchenden Trieb geben, einen auslesenden Trieb, welcher sich nur gewisse Fakta vorführen läßt. Das Bewußtsein ist die Hand, mit der der Organismus am weitesten um sich greift: es muß eine feste Hand sein. Unsere Logik, unser Zeitseinn, Raumsinn sind ungeheure Abbreviaturfähigkeiten, zum Zweck des Befehlens. Ein Begriff ist eine Erfindung, der nichts ganz entspricht, aber vieles ein wenig: ein solcher Satz, zwei Dinge, einem dritten gleich, sind sich selber gleich' setzt erstens Dinge, zweitens Gleichheiten voraus: Beides gibt es nicht. Aber mit dieser erfundenen starren Begriffs- und Zahlenwelt gewinnt der Mensch ein Mittel, sich ungeheurer Mengen von Tatsachen zu bemächtigen und seinem Gedächtnis einzuschreiben. Die Reduktion der Erfahrungen auf Zeichen, und die immer größere Menge von Dingen, welche also gefaßt werden kann: ist seine höchste Kraft." (65) - Man sieht, worauf alles hinaus will: auf denselben Punkt, wohin auch die ethischen und kulturphilosophischen Betrachtungen NIETZSCHEs kulminieren, den Willen zur Macht. Und hierin liegt ann auch der wesentlichste Punkt, wenn er hinausgeht über die Pragmatisten und Humanisten: nicht bloß auf Erhaltung des Lebens geht die Erkenntnis, sondern auf Steigerung und Ausbreitung, wofür NIETZSCHE den nicht unbedingt glücklichen Terminus Macht geprägt hat. Und ohne Zweifel ist soviel richtig: Die bloße Lebens erhaltung würde niemals den Fortschritt, den Drang zu immer neuen Wahrheiten erklären, wenn wir nicht als tiefstes biologisches Prinzip die Steigerung und Ausbreitung des Typus setzen. Indessen sind das Betrachtungen, die uns von unseren Thema wegführen. Was ich hier feststellen wollte, ist der einen Punkt vor allem, an dem die Geschichte der Philosophie nicht vorüber gehen kann: daß nämlich bei NIETZSCHE bereits in aller Deutlichkeit ausgesprochen jene Gedanken finden, die sich in Amerika als Pragmatismus, in England als Humanismus zum System ausgewachsen haben, und die auch in Deutschland vor allem in der biologischen Erkenntnistheorie von MACH, AVENARIUS, JERUSALEM, SIMMEL, VAIHINGER und anderen viele Verwandte haben. Was ich zu zeigen versucht habe, ist, daß es sich jedoch bei NIETZSCHE nicht etwa um vorübergehende Apercus [geistreiche Bemerkungen - wp] handelt; vielmehr hängt seine Wahrheitstheorie tief mit jenen ethischen, ästhetischen und psychologischen Anschauungen zusammen.' Alles aber ist nicht etwa ein glänzendes Irrlichtern hierhin und dorthin, wie man lange gemeint hat, sondern es sind Bausteine zu einem durchaus einheitlichen Gebäude, an dessen Vollendung der Autor nur durch ein jähes und tragisches Schicksal gehindert worden ist. Von seinen erkenntnistheoretischen Anschauungen hat dasselbe zu gelten, was von seinen ethischen gilt. Wie diese nicht etwa eine willkürliche subjektive Theorie sind, sondern (wenn auch oft übertrieben) nur die Formulierung einer aristokratischen Moral, die tatsächlich zu allen Zeiten, nur nicht formuliert, gegolten hat, so ist es auch mit seiner Erkenntnistheorie: sie ist die Formulierung einer Anschauung, die tatsächlich im Leben wie in der Wissenschaft fast immer gegolten hat:' derjenigen, daß die Wahrheit sich "bewähren", d. h. wirken und nützliche Wert schaffen müsse. - Ob man vom philosophischen Standpunkt diese Theorie annimmt oder ablehnt, hängt von der philosophischen Stellungnahme des einzelnen ab. Dem Umstand, daß wir es mit der Formulierung eines ungeheuer wichtigen, tatsächlichen Denkmodus zu tun haben, tut das keinen Eintrag. ![]()
1) Das ist, bedeutend ausführlicher noch, als von den Pragmatisten selber, besonders durch LUDWIG STEIN nachgewiesen worden (Philosophische Strömungen der Gegenwart, 1908, Seite 33f. Vgl. dazu: Archiv für systematische Philosophie, Bd. XIV., Seite 143 - 155. Auf NIETZSCHE selber verweist ein kleiner Aufsatz STEINs, der genau zur selben Zeit im Druck erschien, als diese Abhandlung abgeschlossen war. (Archiv für systematische Philosophie, 1912, Heft IV. 2) Vgl. besonders die Schriften von RICHARD AVENARIUS, ERNST MACH, WILHELM OSTWALD, WILHELM JERUSALEM. 3) NIETZSCHE, Fröhliche Wissenschaft, Aphor. 261 4) Vgl. besonders WILLIAM JAMES, Pragmatismus, 1907 (dt. von WILHELM JERUSALEM), The Meaning of Truth, 1909, und andere Schriften desselben Verfasser. Dazu meinen Aufsatz "William James und der Pragmatismus", Philosophische Wochenschrift, 1908. 5) FERDINAND CANNING SCOTT SCHILLER, Humanism, 1904 und "New Studies in Humanism", 1907, dt. in einer Auswahl "Humanismus", Leipzig 1911. 6) HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-Ob, Berlin 1911 7) Ich zitiere in der Hauptsache so, daß man nach meinen Angaben sich in der großen Ausgabe wie in der Taschenausgabe orientieren kann. Für den Nachlaß zitiere ich ausschließlich Bd. IX - XIV der großen Ausgabe, für den "Willen zur Macht" jedoch nicht Bd. XV der großen, sondern Bd. IX und X der Taschenausgabe (TA), da diese jetzt die beste und reichhaltigste Ausgabe für dieses Werk ist. 8) RENÉ BERTHELOT, Sur le Pragmatisme de Nietzsche, Revue de Metaphysique et de Morale, 1908, Seite 403 - 447 9) Später gesammelt und übersetzt als "Der Wille zum Glauben", Stuttgart. 10) NIETZSCHE, Geburt der Trägödie, Kap. XV 11) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 47 12) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 103 13) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Aphorismus 11 14) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 192 15) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 196f 16) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 201f 17) Dazu VAIHINGER, Philosophie des Als-Ob, Seite 773f 18) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 125 19) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 139 20) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 171f 21) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 161 22) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 146 23) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 152 24) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 153 25) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 153 26) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 172 27) Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, besonders Kap. I und II. 28) NIETZSCHE, Unzeitgemäße Betrachtungen, Schopenhauer als Erzieher, Kap. VIII 29) ebd. Kap. VIII 30) Menschliches-Allzumenschliches, Aphorismus 2 31) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 186 32) NIETZSCHE, Werke Bd. III, Aphorismus 3 33) NIETZSCHE, Werke Bd. III, Aphorismus 2 34) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 165 35) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 164 36) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 167 37) NIETZSCHE, Werke Bd. X, Seite 168 38) NIETZSCHE, Werke Bd. III, Aphorismus 3 39) NIETZSCHE, Werke Bd. III, Aphorismus 38 40) NIETZSCHE, Werke Bd. III, Aphorismus 6, dazu auch Aphor. 7 41) NIETZSCHE, Werke Bd. III, Aphorismus 27 und auch Aphor. 251 42) NIETZSCHE, Werke Bd. V, Aphorismus 450 43) NIETZSCHE, Werke Bd. III, Aphorismus 252 44) NIETZSCHE, Werke Bd. III, Aphorismus 292 45) NIETZSCHE, Werke Bd. IV, Aphorismus 98 46) NIETZSCHE, Werke Bd. XI, Seite 169 47) NIETZSCHE, Werke Bd. XI, Seite 169 und 170 48) NIETZSCHE, Werke Bd. XI, Seite 171 49) NIETZSCHE, Werke Bd. XI, Seite 170 und 172 50) NIETZSCHE, Werke Bd. V, Aphorismus 37 51) NIETZSCHE, Werke Bd. V, Aphorismus 73 52) NIETZSCHE, Werke Bd. XI, Seite 16 53) Taschenbuchausgabe Bd. X, Aphorismus 480 54) Taschenbuchausgabe Bd. X, Aphorismus 497 55) Taschenbuchausgabe Bd. X, Aphorismus 507 56) Taschenbuchausgabe Bd. X, Aphorismus 540 57) NIETZSCHE, Werke Bd. VIII, Aphorismus 4 58) Taschenbuchausgabe Bd. IX, Aphorismus 535 59) NIETZSCHE, Werke Bd. XIII, Seite 25 60) NIETZSCHE, Werke Bd. VIII, Aph. 3 61) NIETZSCHE, Werke Bd. XIV, Seite 72 62) Taschenbuchausgabe Bd. IX, Aphorismus 513 63) Taschenbuchausgabe Bd. IX, Aphorismus 515 64) Taschenbuchausgabe Bd. IX, Aphorismus 537 und 538; Werke Bd. XIV, Seite 44 65) NIETZSCHE, Werke Bd. XIV, Seite 46. Vgl. ebd. Seite 34 und 35, sowie Taschenbuchausgabe Bd. IX, Aphorismus 511. 512, 513 und andere mehr. |