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GEORG NEUDECKER
Das Grundproblem
der Erkenntnistheorie

[3/3]

"Man brauchte nur in der Erkenntnistheorie Herbarts seine Metaphysik der Realen durch lauter Tatsachen ersetzen, die jeder sucht, wo er sie zu finden glaubt, so kam das natürliche Denken endlich wissenschaftlich zur Geltung, der spekulativen Phantasterei schien für immer das Handwerk gelegt und durch die Einführung der wissenschaftlichen Methode in die Philosophie endlich auch dieser der lang entbehrte Wert wirklicher Wissenschaft gesichert."

"Ohne ein Ich gäbe es Gewißheit und Wissen und Denken, logische Möglichkeit und Unmöglichkeit nicht. Sowie man darum vom Ich etwas abbröckelt oder es gar fallen läßt, ist alles zerstört und aufgehoben. Identität und Widerspruch und das Denken kraft Identität kann es nur geben, wenn und weil es den Ichgedanken gibt, daß das Denken jedes Denkbare nur fassen kann, wenn ein Selbst ist als Grund, der dem Denken vorausgeht. Wer daher den Ichgedanken eine Täuschung nennt, für den gibt es auch keine Wahrheit, und wenn das nicht, so auch keine Täuschung: nichts bleibt als der absoluteste Nihilismus. Um auch nur von Täuschung zu reden, um überhaupt irgendetwas, sei es auch das Negativste, sagen und behaupten zu können, muß zuerst die Selbstgewißheit sein."

"Wer zwei seiende Ich setzt, ein erkennendes und ein dem Sein nach anderes als erkanntes, dem fällt das Erkennen in einen bodenlosen Abgrund, nämlich beziehungslos zwischen seine zwei Seienden hinein, die folglich dann auch nicht mehr das erkennende Ich und das erkannte sind."

"Der Positivismus, der sich beständig mit seinen Tatsachen brüstet und mit ihnen um sich wirft, sollte sich doch einmal darauf besinnen, was ihn denn befähigt von Tatsachen zu reden. Aber freilich mit einem solchen Besinnen begänne ja das Spekulieren, d. h. die Philosophie!!"

Wäre der Identitätssatz nur in jener Nötigung begründet, so bliebe auch an ihm ein "Rest des bloß Tatsächlichen, dessen innerer Zusammenhang unverständlich" wäre. Freilich meint LOTZE, wie es zugeht, wie es gemacht wird oder aus welchem inwendigen Zusammenhang es folgt, daß A sich selbst gleich ist, das wissen wir weder, noch wird jemand glauben, daß eine solche Frage überhaupt noch Sinn hat (Logik, Seite 595). Aber, meine ich, ebendies ist ja das ganz Merkwürdige und daher sehr Erklärungsbedürftige, daß, obwohl und wenn wir das alles "nicht wissen", uns angesichts dessen keine solche Frage in den Sinn kommt, und wie wir "glauben" können, sie habe keinen Sinn mehr. Was in jenen geschraubten Wendungen steckt, die alle nur die sogenannte "Selbstverständlichkeit" zu umschreiben suchen, das ist das unabweisbare Gefühl davon, daß das Zwingende der Geltung jenes Satzes nicht bloß auf der für uns tatsächlichen Unausführbarkeit des Versuchs sein Gegenteil zu denken beruth, aber auch nicht schlechthin grund- und also sinnlos ist, sondern seinen Grund hat in einem "inwendigen Zusammenhang" jenes Satzes mit einem ansich zwar auch bloß Tatsächlichen, dessen inhaltliche Natur aber allein von der Art ist, daß seine bloße Tatsächlichkeit eben die unmittelbare sachliche Verwirklichung des Zusammenhangs von Denken und Sein ist. Im Bewußtwerden dieses Zusammenhangs aber besteht das Aufleuchten der sogenannten Gewißheit. Und dieses einzigartige Tatsächliche ist eben der die Selbstgewißheit setzende Ichgedanke. Welcherlei Bedenken und Schwierigkeiten man auch und in ihm entdeckt haben will - wir werden sie alsbald alle und ebenso die Einwendungen in reifliche Erwägung ziehen, die gegen unsere Auffassung und Ausnützung desselben vorgebracht werden können -, im Ichgedanken oder Selbstbewußtsein und nur in ihm ist das Denkende und das Gedachte realiter, der Sach nach eins, d. h. das Sein dieses Gedachten ist dasselbige mit dem des es Denkenden. Das Ich, dessen ich als des meinigen mir bewußt bind, das ich als das meinige denke (vorstelle), dessen Sein ist kein anderes als das Sein des es Denkenden (Vorstellenden); dadurch ja ist das Selbstbewußtsein das, was es ist. Wer - mit welchem Recht werden wir sehen - dieses Verhalten nur als unvermeidliche Täuschung zugibt, muß eben doch auf diesen "Schein" alles gründen. Wenn und wo sich dies nicht ereignet, daß das Gedachte das Denkende ist (dem Sein nach) und die allem Bewußtsein wesentliche Scheidung, Auseinanderhaltung eines Einen und Anderen an diesem Punkt nur mehr im formellen Unterschied des Gedachtseins des Einen und Denkendseins des Anderen bei der materiellen Identität beider besteht, d. h. also, wenn und wo kein Selbstbewußtsein ist, das Denkende nicht selbst sein eigenes Gedachtes (nur nicht, wie wir sehen werden, als Denkendes) wird, wie sollte denn da ein Vorstellen oder Denken vorstellend oder denkend es zu einem nicht bloß Vorgestellten oder Gedachten bringen können, oder zu einem nicht bloß zwangsweise Vorzustellenden und zu Denkenden? Es könnte immer nur denkend ein auch bloß gedachtes Sein, vorausgesetzt daß es irgendwie diesen Gedanken des Seins gewinnen könnte, seinem mancherlei Gedachten hinzudenken oder hinzuzudenken durch einen unbegriffenen Zwang genötigt sein. Und auch die "Wirklichkeit des Geltenden" wird den Anspruch auf einen "unabhängigen" Erkenntniswert, der ihr Sinn ist, nur auf den Zusammenhang von Denken und Sein gründen können, dessen Verwirklichung ohne Ichgedanken und Selbstbewußtsein unvollziehbar ist. Kurz: es gibt weder eine unmittelbar gewisse Empfindung noch ein unmittelbar Geltendes: die Gewißheit beider ist nur mittelbar und hat das Selbstbewußtsein als das einzig unmittelbar und ansich Gewisse zur Voraussetzung, ohne die es zu einem Bewußtsein von Erkenntniswert und Geltung, zu einem Wissen und dem Mittel dazu, einem eigentlichen Denken gar nicht kommen kann.

Gegen diese Behauptung nun bestehen freilich alte und neue Anklagen und Zweifel. Schon seit AUGUSTINUS, sagt man, ist oft, am nachdrücklichsten von DESCARTES, an die Selbstgewißheit angeknüpft worden mit dem berühmten Satz: cogito, ergo sum, als dem kurzen Ausdruck derselben. Aber immer hat er sich als eine ebenso zweifellose wie vollkommen unfruchtbare Wahrheit erwiesen; nicht der kleinste Schritt zur Begründung irgendeine Erkenntnistheorie ist aus ihm allein, ohne die Zuziehung anderer von ihm unabhängiger Gedanken möglich gewesen. Nicht die nackte Tatsache, daß wir bewußt sein oder denken, lehrt uns die uns zugängliche Wahrheit kennen, sondern was wir denken, ist nicht nur das Ursprünglichste, was uns gegeben ist, sondern auch das Einzige, woraus folgen kann, was wir denken sollen. Und eben weil jene Tatsache der cogitatio, die unmittelbare Gewißheit der Selbsterfahrung, mit jedem Zweifel und Irrtum auf gleiche Weise verknüpft ist wie mit jedem wahren Wissen, kann sie unmöglich dazu dienen, Wahres von Unwahrem zu unterscheiden (LOTZE, Logik, Seite 514f). - Allein in dieser kurzen Abweisung steckt nicht wenig Mißverständnis. Allerdings, "nicht die nackte Tatsache, daß wir bewußt sind oder denken, lehrt uns die uns zugängliche Wahrheit kennen", aber - was macht denn, daß uns Wahrheit überhaupt "zugänglich" ist? Hat die "Wahrheit" irgendein vom Denken und Wissen isoliertes "ansich", daß sie irgendwo als Fertiges nur auf Einlaß in erkennende Subjekte wartet oder sich zu diesen verhält wie zu Modellen die Masse? Oder gibt es nicht vielmehr dies: Wahrheit und Unwahrheit nämlich, Gültiges und Ungültiges erst, wenn und weil Selbstgewißheit als "nackte Tatsache" ist, so daß doch in der Tat nur sie "dient", Wahres von Unwahrem zu unterscheiden, weil es sonst Gewißheit und Ungewißheit und damit auch jenen Unterschied überhaupt nicht gäbe? Nicht Quelle dessen, was als wahr zu gelten hat, ist die Selbstgewißheit, wohl aber Grund seines als wahr geltens. Dies hat nun freilich DESCARTES wie so viele nach ihm nicht gebührend auseinandergehalten, ja das Selbstbewußtsein eigentlich von der sogenannten inneren Wahrnehmung gar nicht unterschieden, und deshalb blieb sein Obersatz erkenntnistheoretisch allerdings ziemlich "unfruchtbar". Unter seinem "cogito" begriff er zugleich alles, was mit Bewußtsein in uns vorgeht, sofern wir uns dessen bewußt sein, also alle "modi" des cogitare, das Wollen, Vorstellen und Empfinden (26). Infolge davon fand er für das "ich", die Personalendung, die er in seinem Obersatz festhielt, keine fruchtbare Verwertung. Dies war das "nicht Förderliche", und nicht, was LOTZE wesentliche Unterschiede verwischend am Satz des DESCARTES getadelt hat, die "Abstraktion", womit er "von all den einzelnen Zuständen, die als solche die unmittelbare Gewißheit der Selbsterfahrung besitzen, nur ihren allgemeinen Charakter hervorhebt: den der cogitatio, d. h. jenes Bewußtseins in weitester Bedeutung, durch welches sich sehr verschiedene Zustände der Seele, Empfinden und Vorstellen, Fühlen und Wollen gemeinsam von dem unterscheiden, was wir uns als Zustände eines selbstlosen, unbeseelten Wesens glauben denken zu können." Das cogitare ist durchaus nicht das "Gemeinsame", wodurch seelische Zustände ebendies sind im Unterschied von physischen, ist durchaus nicht das "allgemeine" Bewußtsein, das in die einzelnen Zustände "eingeht", in ihnen ist; vielmehr kann es erst durch ein auf diese gerichtetes cogitare ein wirkliches "Bewußtsein" (Wissen) von ihnen geben. Nur hätte DESCARTES die in der Personalendung liegende Voraussetzung dieses cogitare genauer untersuchen sollen, den die sogenannte innere Wahrnehmung erst ermöglichenden Grund ausscheiden, so den Zusammenhang von Denken und Sein aufsuchen und dadurch seinen Standpunkt sichern sollen: er hätte das als einfach vorausgesetzte cogito auf seine Einfachheit hin prüfen sollen. -

KANT war es, der in dieser Richtung einen wesentlichen Fortschritt brachte und der erkenntnistheoretischen Verwertung des Selbstbewußtseins eine, wie es schien, fruchtbare Wendung gab. Um objektive, d. h. vom Einzelsubjekt unabhängige Gültigkeit, ein allgemein und notwendig gültiges Wissen zu gewinnen, unterscheidet er eine objektive Einheit des Bewußtseins, die sogenannte reine, ursprüngliche Apperzeption von der subjektiven Einheit der empirischen Apperzeption, das reine vom empirischen Ich, ein Ich und das Ich. Letzteres setzt als einen "Aktus der Spontaneität" die Vorstellung: Ich denke, die alle anderen muß begleiten können und objektive Bedingung aller Erkenntnis ist, weil jede Anschauung unter ihr stehen muß, "um für mich Objekt zu werden". - Während DESCARTES in seinem cogito die Mannigfaltigkeit des empirischen Ich mit dem allgemeinen identischen "Ich denke" des reinen Ich identifiziert hatte, scheidet KANT die einzelnen empirisch bestimmten Iche als "Bestimmungen des inneren Sinnes" von dem sie "begleitenden" und erst ermöglichenden Selbstbewußtsein, in welchem ich mir meiner selbst bewußt bin, "nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir bewußt bin, sondern nur daß ich bin." Diese Vorstellung, sagt er, ist ein (bloße, leeres) Denken, nicht ein Anschauen und darum auch keine Erkenntnis. Denn nur die Spontaneität meines Denkens, d. h. des Bestimmens (Setzung des Objekts überhaupt durch die Kategorien) stelle ich mir damit vor, aber nicht das Bestimmende, wozu noch "eine andere Selbstanschauung" als die des mannigfaltigen empirischen Selbst, das auch Erscheinung ist, gehören würde.

So konstruiert KANT die Erkenntnis aus der Spontaneität des Denkens und der Rezeptivität der Eindrücke als Einheit von Begriff und Anschauung. Wie steht es nun mit der Wahrheit und Gewißheit dieser Erkenntnis? Das Reale, der Grund der Erscheinung, d. h. des (durch Raum und Zeit) "Bestimmbaren" wie der Grund des Bestimmens: "das Bestimmende"; der positive Grund der Erscheinung wie des Wissens ist der kantischen Erkenntnis unerreichbar, und damit fehlt ihr im Grunde beides: die Wahrheit und die Gewißheit. Um wenigstens die Möglichkeit der "Erscheinung" zu erklären, läßt er zwar mit oft getadelter Inkonsequenz im Gebrauch der Kausalität das unerkennbare "Ding-ansich" den äußeren (und inneren) Sinn affizieren; an die Stelle wirklicher Gewißheit aber tritt die "Apriorität", die subjektive Allgemeinheit und Notwendigkeit deduziert aus der "bloßen logischen Funktion", dem "bloßen Deknen" des Bewußtseins seiner selbst, in welchem durch das (reine) Ich das Subjekt des Bewußtseins bloß "als Objekt ansich" bezeichnet und "nur wie ein jedes Objekt überhaupt" gedacht wird unter Abstraktion von jeder Art von Anschauung. - Hier steckt der "verhängnisvolle" Irrtum KANTs! Seine Analyse des Selbstbewußtseins ist ungenügend, läßt einen ungegliederten, unausgegorenen Rest zurück. Vom mannigfaltigen Ich, von dem durch eine Affizierung des inneren Sinnes gesetzten Inhalt der "Anschauung" scheidet er als bloße Form der Einheit des Bewußtseins die leere Allgemeinheit des "reinen" Ich, des alle Vorstellungen "begleitenden": Ich denke. Das Ich im "reinen Ich" geht aber eigentlich ganz verloren, ist nur Bewußtsein "der Identität einer Funktion", bloß die Form des Subjekts und dann freilich zugleich "Objekt überhaupt", Objekt ansich (27), weil "Bewußtsein ansich". Allerdings zwar, nur insofern ich als was auch immer vorstellend, als wie auch immer zuständlich mich weiß, denke, können die einzelnen Vorstellungen gedacht, d. h. wirklich gewußt werden und sind - mit KANT zu reden - "etwas für mich". KANTs Ausdruck: begleitendes "Ich denke" statuiert aber nur ein unbestimmtes Nebeneinander des Ich denke und der einzelnen Vorstellungen ohne einen Aufschluß darüber, wie aus ihm für letztere das hervorgehen soll, was offenbar auch KANT im Auge hatte, die Erhebung nämlich zum Wissen von ihnen. Er lehrt zwar, daß alles Mannigfaltige der Anschauung eine "notwendige Beziehung auf das: Ich denke" hat, aber unterließ es leider die Natur derselben näher zu bestimmen; und von den zahlreichen Kommentaren, welche die neueste "Kantphilologie", die sich nach Philologenmanier um die unwichtigsten Kleinigkeiten kümmert, ans Licht geboren, hat meines Wissens keiner diesen wichtigen Punkt klargestellt oder zu beleuchten für nötig erachtet. Man findet nur langweilig den Zweck, die Leistung dieser "Beziehung" wiederholt, nämlich um die Anschauung als ein "Objekt für mich" denken zu können.

Auch LOTZE betonte es, wie wir schon früher erwähnten, daß die Ereignisse des Denkens und Wissens nur in der tatsächlichen und erfahrungsmäßigen Form "beständiger Zurückbeziehung auf ein Subjekt (Ich)" ursprünglich gewiß und gegeben sind. Wie aber dieser Wendung die Zweideutigkeit anklebt, als könnten sie möglicherweise auch in einer anderen erfahrbaren Form "gewiß" sein, und als könnte eben dieses ihr "gewißsein" auch anders gemacht werden, entstehen oder stattfinden als durch und in jener (wenn auch nicht wiederum gedachten und immer ausdrücklich zum Bewußtsein kommenden) "Zurückbeziehung" auf ein sich selbst erfassendes Ich mittels der (Denk-)Tätigkeit eben dieses Ichs, so führte KANTs transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe; weil er das Selbstbewußtsein zu einem bloßen, leeren Denken, zur Identität einer Funktion verflüchtigte, nicht zu wirklicher Gewißheit und zu wirklichem Wissen, sondern bloß zu subjektiv allgemein-notwendigen "Urteilen", kam kurz gesagt aus der Subjektivität des bloßen Denkens oder richtiger gedachtwerdens nicht heraus und fand keinen Übergang vom Denken zum Sein, weil er den lebendigen, unmittelbar wirklichen Zusammenhang beider im Selbstbewußtsein nicht gebührend würdigte. Dies ist aber das Schicksal eines jeden Idealismus, er mag transzendental, teleologisch oder wie auch immer heißen. Er kann das Sein, die objektive Realität nur durch einen kühnen Sprung oder Machtspruch erreichen, oder muß frischweg die Identität von Denken und Sein dekretieren und sich offen oder verschämt zum Absolutismus potenzieren.

Tief dagegen unter der Höhe der kantischen Grundlegung des Wissensbegriffs steht die Naivität der gegenwärtigen "wissenschaftlichen Philosophie", welche KANTs Scheidung der reinen von der empirischen Apperzeption eine "das Tatsächliche verdunkelnde Unterscheidung" schelten zu müssen glaubt. Wird doch dadurch immer wieder die Meinung erweckt, als wenn vor aller inneren Erfahrung ein Selbstbewußtsein gegeben sein könnte. Und da dies nicht der Fall ist, und offenbar auch KANTs Meinung nicht vorhanden ist, so fällt die sogenannte reine Apperzeption durchaus mit der "apperzeptiven" Willenstätigkeit zusammen, "die fortwährend in der denkende Verknüpfung der Vorstellungen zur Äußerung kommt und die ohne den Verlauf der Vorstellungen völlig gegenstandslos wird". (28) - Armer KANT, der sich da abmühen mochte, wo "das natürliche Denken" so gar keine Schwierigkeiten sieht; der fürchten konnte, ein "so vielfarbiges verschiedenes Selbst" zu haben, wie er bewußte Vorstellungen hat, wenn er das Mannigfaltige derselben nicht in einem Bewußtsein "begreifen" kann; der die "denkende Verknüpfung" nicht mit einer heillosen petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] einfach dem Vorstellen zugesellen zu dürfen, sondern sie erklären zu müssen glaubte; dem es endlich auch keine ganz überflüssige Frage schien, wie denn, wenn das Ich "in nichts anderem besteht als im Vorstellen, Fühlen und Denken, das jeder unmittelbar in sich findet", eben dieses Vorstellen, Fühlen und Denken gewußt werden, wie denn dieses gedankelos Hinzugefügte "unmittelbar in sich finden" wirklich sein und werden kann. - Doch kehren wir zurück zur Betrachtung der geschichtlichen Versuche einer erkenntnistheoretischen Verwertung der Selbstgewißheit!

Es folgte rasch der Sprung ins Absolute. KANTs zaghaft "begleitendes" Ich wird bei J. G. FICHTE ein absolutes, nicht ein gegebenes, sondern ein in der ursprünglichen "Tathandlung" sich selbst setzendes Ich, dessen Sein bloß darin besteht, daß es sich selbst als seiend setzt. Die Forderung, die Notwendigkeit dieses Gedankens, daß das Sein des Ich (also auch des unsrigen, dessen wir ja allein bewußt sein) "Selbstproduktion" (29), sein Sichselbstanschauen ist, anzuerkennen, beruth jedoch auf einer puren Fiktion. Nicht das Sein des Ich ist seine Selbstproduktion, sondern nur sein Ichsein, die "Ichheit" seines Seins. Und diese Ichheit entsteht, wird verwirklicht, indem das Denkende sich denkt, d. h. in seinem Bewußtsein ein Gedachtes setzt, das seinem Sein nach kein anderes als das denkende ist. Wenn KANT das reine Ich (das denkende) die Person, das empirische Ich (das gedachte) "die Sache, gleich anderen Gegenständen außerhalb von mir" genannt hatte, so übersah er, daß das, was er mit dem Ausdruck "Person" meinte, dies nur ist, wenn und weil das objektive, gedachte Ich nicht eine Sache gleich anderen Gegenständen außerhalb von mir, sondern darin ihnen ungleich ist, daß es seinem Sein nach identisch mit dem es denkenden und nur als gedachtes, also nur hinsichtlich des Erkennens von ihm verschieden und den anderen denkbaren gleich ist. Denn wäre dieses Gedachte dem Sein nach verschieden vom Denkenden, so gäbe es kein Selbstbewußtsein, wäre es als Gedachtes nicht verschieden, so gäbe es kein Selbstbewußtsein, in beiden Fällen kein Ich, und wenn dies nicht so ist, so gäbe es keine Gewißheit, kein Wissen und darum auch kein eigentliches Denken, sofern dieses den Unterschied von wahr und unwahr, ein "Gültiges" involviert. Man mag es "setzen" oder "anschauen" nennen, oder wie auch immer den Ausdruck für die Denktätigkeit variieren: will man nicht aller Logik den Abschied geben, so setzt diese Tätigkeit immer das Sein eines Subjektes voraus, dessen Tätigkeit sie ist, und FICHTE selbst vermag daher den Gedanken des sein Sein setzenden Ich nicht auszusprechen ohne sich widersprechen zu müssen. Indem er nämlich sagt: "es setzt sich selbst als seiend", muß er das Sein des setzenden voraussetzen, damit eben dieses Sein "als" seiend gedacht werden kann.

Darin haben die Empiristen und Positivisten unbestreitbar Recht, daß wir uns nicht nach FICHTE selber setzen, sondern uns nur "finden" (30); wenn sie nur auch begreifen würden, daß auch dieses "sich finden" noch eine ganz merkwürdige Leistung von fundamentaler Bedeutung ist. Wie nämlich das Denken allerdings immer nur Gedachtes, Gedanken und nie das Sein des Gedachten setzt, vielmehr dieses, d. h. die "objektive Realität" wenn überhaupt, so jedenfalls nur mittelbar gewinnen kann, so setzen auch nicht die vom Positivisten vorausgesetzten (seienden) Dinge das Denken und Wissen, wenn nicht ihnen und allem Erfahrbaren aus ihm unableitbar ein innerer Anfang in der Selbstgewißheit gegenübersteht. Statt zu einer gerechten, die Äquipollenz [Gleichgeltung - wp] der Glieder dieses Gegensatzes anerkennenden Synthese im Wissensbegriff vorzudringen bleiben jene beiden Richtungen in einer unfruchtbaren Einseitigkeit stecken.

Nachdem die erstere, idealistische die bekannten Stadien ihres Entwicklungsganges durchlaufen hatte, vollzog sich der Umschwung zu dem jetzt herrschenden, die meisten jünteren Kräfte sich dienstbar machenden anti-metaphysischen und spekulationsfeindlichen Positivismus durch das Mittelglied des HERBART'schen Realismus. Man brauchte nur in der Erkenntnistheorie HERBARTs seine Metaphysik der Realen durch lauter "Tatsachen" ersetzen, die jeder sucht, wo er sie zu finden glaubt, so kam das "natürliche Denken" endlich wissenschaftlich zur Geltung, der spekulativen Phantasterei schien für immer das Handwerk gelegt und durch die Einführung der wissenschaftlichen Methode in die Philosophie endlich auch dieser der lang entbehrte Wert wirklicher Wissenschaft gesichert. In der Tat konnte HERBARTs Statistik und Mechanik des Vorstellens den zweifelhaften Zierrat jener Metaphysik leicht entraten; die neue Psychophysik und physiologische Psychologie versprachen ihr einen solideren und zeitgemäßeren Unterbau. Das, womit Philosophie als eigene Wissenschaft mit eigener Aufgabe und eigener Methode steht und fällt, hatte ja HERBART selber weggeworfen, nämlich das Ich und dessen Bedeutung für die Erkenntnistheorie.

Die von ihm erhobene Anklage auf einen unheilbaren Widerspruch im Ich ist ihm nachgesprochen worden (31). Daß das Ichsubjekt mit dem Ichobjekt in dieser Nichtidentität identisch sein soll, steht mit dem ersten Denkgesetz in einem unlösbaren Konflikt. - Nun ist es ja freilich unbestreitbar, daß zwei Dinge nicht unmittelbar ein und dasselbe Ding sein können, daß sie nicht dasselbe sind, sofern sie verschieden, und nicht verschieden, sofern sie dasselbe, also nicht zwei, sondern eins sein; und behaupten, daß Verschiedenes als solches ein und dasselbe sein kann, heißt allerdings den Satz des Widerspruchs aufheben und allem wirklichen Denken eine Ende machen. Nun hat aber schon KANT erklärt: "Das Ich des Menschen ist zwar der Form (der Vorstellungsart) nach, nicht aber der Materie (dem Inhalt) nach zweifach", und hat nur leider dies mißverständlich so gemeint, das das subjektive (reine) Ich materiell (dem Sein nach) gleich Null und nur formell etwas, "Einheit einer Funktion" ist, da doch die richtige Auffassung so nahe lagt, daß nämlich die materielle Einheit des Ich in der realen Identität des Ichsubjekts und Ichobjekts besteht. Er bemerkte nicht, daß, wenn das reine Ich dem Sein nach Null wäre, das objektive Ich, an dessen phänomenalem Sein er festhielt, kein Ich wäre. Im Selbstbewußtsein handelt es sich also gar nicht um "zwei Dinge", sondern nur um eines, das eben deswegen kein "Ding", sondern ein Selbst, eine "Person" ist, weil innerhalb seiner Einheit (dem Sein nach) durch seine Tätigkeit die formale Unterscheidung seiner von sich verwirklicht wird, was im buchstäblichen Sinn der Ursprung, das Entspringen dessen ist, was wir Gewißheit nennen.

Wenn man daher mit großer Sicherheit den gelassenen Ausspruch tut:
    "die Annahme, daß ein Gegenstand unmittelbar selbst auch seine Vorstellung ist, oder eine Vorstellung unmittelbar selbst ihr Gegenstand, ist ungereimt und unzulässig"
und damit glaubt, die logische Unmöglichkeit des Selbstbewußtseins in unserem Sinn dargelegt zu haben, so hat man einen kräftigen Hieb ins Blaue geführt. Denn fürs Erste ist das Ich eben kein "Gegenstand", fürs Zweite ist ja auch im Selbstbewußtsein die "Vorstellung", nämlich das Ichobjekt, nicht "unmittelbar selber" ihr "Gegenstand", nämlich das Ichsubjekt, sondern bleibt in alle Ewigkeit von ihm verschieden, weil es sonst aufhören würde, Objekt zu sein. Dem Sein nach dagegen ist allerdings diese "Vorstellung" unmittelbar selber dieser "Gegenstand", weil dieser letztere nur darum und dadurch nicht Gegenstand, sondern ein Ich ist. Ohne dieses Ich aber, um es immer wieder nachdrücklichst zu wiederholen, gäbe es Gewißheit und Wissen und Denken, logische Möglichkeit und Unmöglichkeit nicht (32). Sowie man darum vom Ich etwas abbröckelt oder es gar fallen läßt, ist alles zerstört und aufgehoben. Statt für den Bestand des Satzes vom Widerspruch und für das Denken eine Gefahr von Seiten des Subjektobjekts im Ich zu fürchten, sollte man sich endlich zu der Einsicht erheben, daß es Identität und Widerspruch und das Denken kraft ihrer nur geben kann, wenn und weil es den Ichgedanken gibt, daß das Denken jedes Denkbare sub specie [unter dem Vorwand - wp] seiner "Selbstgleichheit" nur fassen kann, wenn ein Selbst ist als Grund, der dem Denken vorausgeht. Wer daher den Ichgedanken eine "Täuschung" nennt, für den gibt es auch keine Wahrheit, und wenn das nicht, so auch keine Täuschung: nichts bleibt als der absoluteste Nihilismus. Um auch nur von Täuschung zu reden, um überhaupt irgendetwas, sei es auch das Negativste, sagen und behaupten zu können, muß zuerst die Selbstgewißheit sein.

So erklärt es sich dann auch, daß, wer die reale Identität des Subjekts und Objekts im Ich leugnet und zwei "Dinge" stattdessen setzt oder das Subjekt dem Sein nach für Null nimmt und nur etwas etwas Formales gelten läßt, sich einer unvermeidlichen petitio principii schuldig machen muß und ihr schlechterdings nicht entrinnen kann. Wenn man sagt (wie SPIR a. a. O.):
    "Ich erkenne mich selbst heißt: das Erkennende, das Subjekt in mir (!) erkennt das Objekt als sich selbst, d. h. es erkennt den gegebenen realen Inhalt als seinen eigenen (!) Inhalt, die gegebenen inneren Zustände als seine eigenen Zustände, obgleich in Wahrheit das Vorstellende in uns (!) nicht selbst das Fühlende und Wollende ist",
so erinnert das lebhaft an jene merkwürdige Stelle in der "Kritik der reinen Vernunft", wo KANT von einem "beständigen Zirkel" redet,
    "in welchem wir uns herumdrehen, indem wir uns seiner (des Ich) Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgendetwas von ihm zu urteilen, eine Unbequemlichkeit (!), die davon nicht zu trennen ist, weil das Bewußtsein ansich (dieses war für ihn das Ichsubjekt) nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern ein Form derselben überhaupt."
Wie ehrlich gesteht KANT es ein, daß wir das Ich als Voraussetzung nicht los werden; nur hielt er sie nicht als Ich fest, und daher der "Zirkel" und die leidige "Unbequemlichkeit"!

Die Deutung des Ichsubjekts und Ichobjekts als zweier verschiedener Dinge pflegt sich darauf zu berufen, daß ja das Subjekt in uns, das Denkende und Erkennende, etwas seinem Wesen nach Allgemeines, das Objekt in uns dagegen, das Fühlende, Wollende, individueller Natur ist. Aber - was soll denn das heißen: "ein seinem Wesen nach Allgemeinheit"? Man meint damit offenbar: dem Sein nach, da man ja "zwei Dinge" statuiert hat. Und ebendamit führt man sich auch selbst ad absurdum: denn was sollte das "Ding" sein, dessen Sein in der Allgemeinheit besteht? - Nicht dem Sein nach ist das Ichsubjekt allgemein, was ein Ungedanke wäre, sondern hinsichtlich der Erkenntnis und ist eben dadurch Subjekt, das Identische, worauf alles bezogen werden muß, um Objekt zu werden. Wer zwei Seiende setzt, ein Erkennendes und ein dem Sein nach anderes als Erkanntes, dem fällt das Erkennen in einen bodenlosen Abgrund, nämlich beziehungslos zwischen seine zwei Seienden hinein, die folglich dann auch nicht mehr das Erkennende und das Erkannte sind. Behält man, weil man eben schlechterdings nichts anders kann, diese Ausdrücke doch bei, so setzt man mit stiller Subreption [Erschleichung - wp] im "Erkennenden" den primitiven Zusammenhang von Denken und Sein voraus, der erst überhaupt von Erkennen reden läßt und der nicht anders wirklich wird als nur in der Form eines Ich als "Subjekt-Objekt". Der Zweifel an der realen Identität beider hebt die Möglichkeit der Erkenntnis auf. Wer diese einzige, wirklich unmittelbare Gewißheit bezweifelt und die ängstliche Frage aufwirft, woher wir denn wissen, daß das vorgestellte, gedachte Ich, das wir das unsrige nennen, und das in uns Denkende ein und dasselbe sind, und ob nicht das letztere vielleicht ein ganz anderes, etwa Gott oder die Weltseele, der Weltgeist, die Urphantasie und dgl. ist, dem kann man nur antworten: daher wissen wir es, weil es das Ich und Wir überhaupt gibt, weil diese (nur nicht im Sinne von FICHTEs absoluter) "Tathandlung" eine Tatsache (33) ist, weil nur wenn jene Identität ist, es das Fragen und Zweifeln geben kann, weil wir ohnedem acu von wissen und nicht-wissen nichts wissen, also auch jene Frage nicht stellen könnten. Darum eben ist ja das Ich des Selbstbewußtseins das einzige Unmittelbare, es allein nicht nochmal beweisbar oder beweisbedürftig, sondern Grund aller Beweisbarkeit, als "innerer Anfang" eine unableitbare Voraussetzung.

Nur muß man die reale Identität auch dort suchen, wo sie ist, und darf nicht mit einem Denker, dem übrigens das Verdienst zuzusprechen ist, die Bedeutung des Selbstbewußtseins für das Problem des Wissens nachdrücklich betont zu haben, das subjektive Ich, ohne es selbst zu merken, unter der Hand wieder fallen gelassen. In seiner weitläufig angelegten Untersuchung über den Ursprung des "Bewußtseins" aus dem Selbstbewußtsein behauptet ULRICI (34), daß, wenn
    "die Seele sich als vorstellendes (unterscheidendes) Ich von sich als vorgestelltem Ich unterscheidet, sie damit doch nicht unmittelbar sich selbst, als unterscheidendes Ich, sondern unmittelbar nur ihre unterscheidende Tätigkeit ins Auge faßt, indem sie dieselbe als Tätigkeit von sich als dem tatsächlichen Agens unterscheidet. Dieser Unterschied ist allerdings ein rein formaler. Denn das tätige Agens ist, was es ist, nur in und durch seine Tätigkeit: durch sie und ihre Beschaffenheit ist dergestalt bedingt und bestimmt, daß es ganz in sie aufgeht und nur in ihr besteht ..., daß materialiter zwischen der Seele als unterscheidendem Agens und ihrer unterscheidenden Tätigkeit (Kraft) kein Unterschied besteht. Und erst indem sie dieser Identität inne wird, faßt sie sich als vorstellendes Ich, das sich selber als vorstellendes Ich vorstellt."
An dieser Darstellung erscheint mir nun zunächst völlig unbegreiflich, wie denn, wenn das unterscheidende Agens und die unterscheidende Tätigkeit materialiter identisch sind, das "Innewerden" dieser Identität ins Werk gesetzt werden soll. Besteht die reale Identität nicht zwischen dem denkenden und dem gedachten Ich, sondern zwischen dem Agens und seiner Tätigkeit, wie, wo und für wen soll denn das stattfinden können, was "formaler Unterschied" heißt, und wodurch doch offenbar das Innewerden vermittelt sein muß? Und in der Tat läßt ULRICI sich ein Vorstellen ereignen, in welchem der formale Unterschied aufgehoben ist, wenn er das vorstellende Agens sich als vorstellendes vorstellen, wenn er die mit ihrem Agens realiter identische Tätigkeit unmittelbar als unterscheidende Tätigkeit sich erfassen läßt. Er scheint den Widerspruch nicht zu bemerken, der darin liegt, daß das Unterscheiden sich (als reine Tätigkeit) unterscheidet, das Sehen sich sieht, das Schreiben sich schreibt und das Essen sich ißt. So fällt auch ULRICIs Auffassung auf dem "Höhepunkt des Selbstbewußtseins" wieder in die alles wirkliche und wahrhafte "Bewußtsein" vernichtende und aufhebende Immanenz zurück. Infolge der Identifizierung von Agens und Tätigkeit bleibt schließlich nur das Unterscheiden übrig als ein unbegriffenes und unbegreifliches Geschehen, und wenn es heißt, das Agens unterscheidet "sich" von seinem Unterscheiden, so besteht das Ich unmöglich in diesem Vorgang und dieser unmögliche Vorgang enthält nichts von einem Ich. ULRICIs Analyse führt darum auch zu einem wirklichen Wissen, sondern bloß zu einem Unterscheiden, dem es recht eigentlich "am Subjekt wie am Objekt fehlt". Er hatte zuerst richtig erklärt, daß die Seele sich nicht "unmittelbar" selbst als unterscheidendes Ich erfaßt, glaubte aber dann auf dem Umweg einer doch ebenso unmöglichen "unmittelbaren" Selbsterfassung der unterscheidenden Tätigkeit als solcher eine unmittelbare positive Selbstvorstellung des vorstellenden ich als solchem gewinnen zu können. Und es ist doch eine unbestreitbare Wahrheit, die schon KANT gelehrt hat, daß wir vom vorstellenden, subjektiven oder "reinen" Ich keine unmittelbare positive Anschauung haben können, daß das Ich nicht "als vorstellendes sich immanent gegenständlich (a. a. O., Seite 323) sein kann, weil das gegenständlich gewordene eben darum nicht vorstellend wäre. Es liegt ja im Begriff des Bewußtseins und Vorstellens, daß der Gegensatz von Subjekt und Objekt in infinitum bestehen bleibt. Daher ist, auch wenn das "reine" Ich gedacht wird, ein Denkendes und ein - nur als denkend - Gedachtes und drittens das, wodurch der "formale Unterschied" ist, die Denktätigkeit, die wohl auch gedacht werden kann, aber auch nur von der denkenden Tätigkeit, die als solche gleichfalls ewig außerhalb des Gedachten bleibt. ULRICI irrt daher auch, wenn er meint, das Ich sei nur der Ausdruck für die sich selber vorstellende Seele und diese sei nur Ich nicht als empfindend, fühlend, begehrend, sondern nur als sich (die vorstellende Seele) vorstellend. Das letztere gibt es nicht, ist unmöglich, also kann auch das Ich, das es gibt, nicht darin bestehen. Und hier wird schließlich der eigentliche methodische Grundfehler deutlich sichtbar, der darin liegt, daß ULRICI seine Bestimmung des Selbstbewußtseins auf einen problematischen, auf die Atomtheorie gestützten Seelenbegriff gründet, erkenntnistheoretisch aber bei der hypothetischen, aus der unterscheidenden Tätigkeit der Seele konstruierten Denknotwendigkeit stehen bleibt, statt die Gewißheit und Denknotwendigkeit aus dem Selbstbewußtsein zu begreifen und aus dem richtig bestimmten Ich einen diesen Anfang des Wissens nicht wieder aufhebenden oder ihm widersprechenden Seelenbegriff abzuleiten. Weder die seltene Schärfe seines Denkens noch der überlegene Reichtum seines Wissens konnten es verhindern, daß auch er es büßen mußte dem Zug der Zeit folgend zur Grundlage der Philosophie eine Psychologie gemacht zu haben, die sich enger an die auch bloß "singuläre" naturwissenschaftliche Methode anschloß, als den vitalen Interessen der Wissenschaft vom Wissen förderlich ist.

Diese reale Identität von Agens und Tätigkeit wäre wieder nur eine neue Wendung für die alte Identifizierung von Sein und Denken, eine neue Formel des alten Dogmas von der Immanenz des Denkens, diesem zähesten idolon tribus [Idol des Herkommens - wp] des modernen Denkens, das auch ULRICI nicht überwunden hat. Seine Unhaltbarkeit hat, denke ich, unsere kritische Untersuchung, die keiner Schwierigkeit aus dem Weg ging und keinem Einwand die Antwort schuldig blieb, nachgewiesen. Ihrem Ergebnis, wonach das Selbstbewußtsein die unmittelbare Verwirklichung der Gewißheit ist und das Denken, das nie Sein ist oder setzt, nur mittels des Ich Wissen wird, auf dem Ich also die Aufhebung des Dogmatismus beruth, diesem Ergebnis könnte nur die blöde Leugnung, daß es so etwas, ein solches Wunder gibt, widersprechen, nicht ohne mit und in ihren Widerspruch für das Geleugnete wieder Zeugnis geben zu müssen. Und mag immerhin den Schlüssen, die man zu einem metaphysischen Gebrauch auf dieses Ich zu stützen sich gedrungen sieht, die größte kritische Vorsicht anzuraten sein, es selbst scheint eine unwidersprechliche Voraussetzung. Die Denkgesetzlichkeit (im Unterschied von der Vorstellungs- oder Anschauungsgesetzlichkeit) ist die Form des notwendigen Zusammenhangs des Gedachten mit dem Ich, dieses selbst aber ist der Zusammenhang von Denken und Sein, und darum liegt in der denkgesetzlichen Zurückführung eines Gedachten auf das Ich die Möglichkeit einer objektiven Gewißheit, der Erhebung des Denkens zum Wissen, der Erfahrung zur Erkenntnis. So gewinnt man auch nur durch die richtige Fassung des Ich die gerechte Mitte zwischen Paralogismen [Widersprüchen - wp] des WOLFFschen Dogmatismus und KANTs skeptischen Subjektivismus.

Daß in der Gegenwart jedoch wenig Neigung besteht, das Resultat unserer Untersuchung anzuerkennen, zeigt freilich ein flüchtiger Blick auf die Mehrzahl großer und kleiner Produkte der gegenwärtigen philosophischen Arbeit. In die Rumpelkammer des längst gerichteten "Ontologismus" wird erbarmungslos verwiesen, wer im reinen Ich mehr sucht als einen vom "gegebenen" empirischen Ich abstrahierten Begriff; und nur unkritischen, verstockten Eigensinn würden wir verraten, wenn wir wiederum erinnern wollten, daß dann das empirische Ich eben kein Ich wäre und wir überhaupt vom "Empirischen" als solchem keinen "Begriff" haben könnten. - Accelerabit damnationem nostram! [beschleunigte Verdammung unsererseits! - wp]

Bei einer solchen Sachlage, wo über der staunenden Bewunderung der glänzenden Fortschritte des Naturwissens, das nur nicht weiß, wie es denn Wissen sein kann, über der Vertiefung in gelehrte historisch-philologische Detailforschung und über dem bis zur Langweiligkeit gepredigten "Respekt vor den Tatsachen" der Sinn und das Interesse für die philosphisch wichtigen und entscheidenden Fragen und Probleme weithin stumpf geworden ist, kann es darum auch nicht Wunder nehmen, wenn derjenige Denker, der die Auffassung und erkenntnistheoretische Verwertung des Selbstbewußtseins, die wir im Vorstehenden zu begründen und entgegenstehenden Ansichten gegenüber zu rechtfertigen suchten, zuerst als Fundament der Philosophie erkannte und feststellte und damit den Dogmatismus und KANTs Subjektivismus zugleich überwand, für seine philosophische Leistung kein Verständnis findet. Die Geschichtsschreiber der Philosophie, die für die Weisheit der kleinsten Dissertation Gedächtnis und Bewunderung haben, wissen nichts von diesem Verdienst MARTIN DEUTINGERs, und begreiflicherweise noch weniger davon, wie er auf diesen neuen erkenntnistheoretischen Obersatz eine neue Denklehre, Ästhetik und Moralphilosophie gründete, die ja immerhin vielfach verbessert, erweitert und ergänzt, besonders aber verständlicher dargestellt zu werden bedürftig sein mögen, aber in jenem Obersatz gegenüber alten Mängeln und Gegensätzen ein gemeinsames und unanfechtbares Reformprinzip besitzen (35). Auch die Aufgabe einer solchen Verbesserung und einer vollständigeren und verständlicheren Begründung hat übrigens zum guten Teil LUDWIG KASTNER im "Rückblick" zum ersten Band seiner Monographie "Deutingers Leben und Schriften" bereits trefflich gelöst. Allein man wärmt lieber immer wieder aufs Neue den Sensualismus eines PROTAGORAS und die Erkenntnistheorie der alten Stoiker zusammen mit den Verbesserungen LOCKEs und CONDILLACs auf und baut darauf eine wurmstichige "Vorstellungslogik" oder flickt lieber an KANTs Kritizismus herum ohne den eigentlich wunden Punkt an demselben auch nur zu ahnen, als daß man vorurteilslos der Aufgabe einer erneuten kritischen Prüfung der letzten erkenntnistheoretischen Voraussetzung sich unterziehen würde. Die gegenwärtig in den logischen Reformbestrebungen herrschende Zerfahrenheit wird aber schlechterdings nicht überwunden werden können, solange man durch einen falschen oder einseitigen Wissensbegriff irregeführt die wesentliche Natur des menschlichen Denkens richtig zu bestimmen und zu erkennen außerstande ist. Gerade hier wird kein Scharfsinn, keine noch so "wunderbare Abstraktionskraft" und kein Reichtum naturwissenschaftlicher Kenntnisse vom Fleck helfen. Man wird sich schließlich doch zu der Einsicht bequemen müssen, daß ein wirkliches Denken (im Unterschied vom bloßen Vorstellen und der Mannigfaltigkeit seiner Assoziationen, Reproduktionen und apperzeptiven Synthesen) es nur aufgrund des Selbstbewußtseins gibt, alles "Forschen" das Ich voraussetzt und die Denkgesetze samt allen Denkformen nur aus ihm begriffen und erklärt werden können. Statt in ihnen nur feinere Erzeugnisse des psychischen Mechanismus zu erblicken oder sie als Auswirkung herkunftsloser Aprioritäten dem niedrigeren Vorstellungslauf unbestimmt überzuordnen wird man dann in der Synthese, in der Stiftung einer mittelbaren Einheit der individuellen Vorstellung und des "inneren Anfangs" die durch die wesentliche Beschaffenheit der menschlichen Doppelnatur bestimmte Eigentümlichkeit des begrifflichen Denkens erkennen. Für die Logik, die in neuerer Zeit mitunter gar sonderbare Blüten üppig hat spießen lassen, schafft unser Obersatz erst einen sicheren und gesunden Boden, indem er alten Schutt und Schmarotzerranken wegräumt. Auch auch für die Gestaltung der Psychologie ist er entscheidend, ja ermöglicht erst eine solche als philosophische Disziplin. Denn will Psychologie nicht bloß eine Registrierung von Beobachtungen und Tatsachen, sondern eine Theorie derselben sein, soll sie die Erfahrung erklären, so wird sie für den Zusammenhang ihrer Tatsachen die notwendige, nicht bloß hypothetische Gewißheit, also die wissenschaftliche Begründung nur durch eine Zurückführung auf die Selbstgewißheit als das ansich Gewisse gewinnen können und wird sich in ihrer Gesamtauffassung des psychischen Lebens von dieser prinzipiellen Voraussetzung leiten lassen müssen. Wenn man sie auf eine metaphysische Hypothese gründet wie HERBART und seine engeren Schüler, in einer empirischen "Psychologie ohne Seele" nach naturwissenschaftlicher Methode die Gesetze der Sukzession der psychischen Phänomene aufsucht wie die "wissenschaftlichen Philosophen", oder zu dieser naturwissenschaftlichen Behandlung als metaphysisches Postulat noch eine von den Gegner völlig unnütz und für die wirkliche Erklärung unfruchtbar gescholtene Seele hinzufügt wie LOTZE, so fehlt diesen Behandlungsarten in ganz gleicher Weise der nachgewiesene Zusammenhang ihrer Erklärungen mit dem letzten Erkenntnisgrund, d. h. die notwendige Gewißheit, also das spezifisch Philosophische. Nur in diesem vermißten Zusammenhang aber liegt die wissenschaftliche Bürgschaft für die richtige "Interpretation des Inhalts, den die Breite der Beobachtung darbietet" (36). Es ist bei dem gerade auf psychologischem Gebiet herrschenden Methodenstreit und bei der weiten Verbreitung der Meinung, die in der empirischen Psychologie das eigentliche Fundament wissenschaftlicher Philosophie erblickt, höcht zeitgemäß an diese Abhängigkeit auch der Psychologie vom wahren Fundament aller Wissenschaft nachdrücklich zu erinnern und auch hinsichtlich ihrer einer philosophischen Aufgabe das bestrittene Existenzrecht zu wahren.

Denjenigen, welche vielleicht zwar zuzugeben geneigt sind, daß Stichhaltiges gegen die Begründung unseres Obersatzes schwerlich vorzubringen ist, ihm dafür aber als einer völlig unfruchtbaren Wahrheit umso eifriger allen materiellen Einfluß auf die Forschung und eigentliche Wissenschaft abzusprechen versucht sein mögen, seien die kurzen Andeutungen über die Neugestaltung zur Erwägung empfohlen, welche aus ihm als dem einheitlichen Prinzip der philosophischen Methode notwendig erwächst. Dieses selbst aber und seine Begründung zu prüfen, zu widerlegen oder anzuerkennen sind alle ernsten Freunde der Wahrheit aufgefordert, alle zunächst, die redliche Denkbemühung zu abweichenden, hier bekämpften Überzeugungen geführt, alle endlich, denen der Wert einer Anschauung nicht je nach ihrer Übereinstimmung oder ihrem Widerstreit mit der Mode, der gerade herrschenden Meinung des Tages, den im Augenblick gangbaren Redensarten a priori feststeht, sondern von der Triftigkeit der Beweisführung abhängt.
LITERATUR - Georg Neudecker, Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, Nördlingen 1881
    Anmerkungen
    27) Auch der dunkle Ausdruck "Wesen ansich", womit das reine Ich einmal bezeichnet wird, dürfte nichts anders meinen, denn ebendadurch wird ja das Ich zum "Vehikel der Kategorien" und des logischen Verstandesgebrauchs überhaupt, und mehr will ja die "Kritik der reinen Vernunft" nicht darin sehen.
    28) WUNDT, Logik, Seite 415f.
    29) Neuestens hat JULIUS BERGMANN, "Reine Logik", Seite 75f, wieder diesen Obersatz zu vertreten gesucht.
    30) vgl. z. B. LAAS, Die Kausalität des Ich, drei Artikel in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie"; ferner dessen Buch "Idealismus und Positivismus".
    31) Jüngst wieder, vermehrt durch andere Bedenken, von AFRIKAN SPIR, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Jahrgang IV, 3 in dem Artikel "Von der Natur und Einheit des Ich". Der Verfasser hat am Schluß desselben die Aufforderung ergehen lassen, seine Lehren so klar und bündig zu widerlegen wie er sie dargelegt hat. Was den entscheidensten Punkt betrifft, glaube ich dieser Aufforderung hier nachgekommen zu sein.
    32) Es gibt freilich eine Naivität von ganz unbesiegbarer Schwerhörigkeit. Auf meine Behauptung, auch die "Aprioritäten" z. B. der Satz vom Widerspruch müßten von einer höheren Voraussetzung, der Selbstgewißheit, abhängig gedacht werden, und nur weil diese ist und damit wirkliches Denken, gibt es das "Gelten" jenes Satzes, erwiderte mir ein "Philosoph": "ein Denken gäbe es auch, wenn jener Satz nicht gelten würde, nur eben lauter falsches!" - Welchen Sinn das "falsch" noch haben könnte, und welchen ein Denken, das lauter Falsches denkt, diese Frage kam dem Glücklichen gar nicht in den Sinn!
    33) Und zwar die eigentliche Tatsache! Der Positivismus, der sich beständig mit seinen Tatsachen brüstet und mit ihnen um sich wirft, sollte sich doch einmal darauf besinnen, was ihn denn befähigt von Tatsachen zu reden. Aber freilich mit einem solchen Besinnen begänne ja das "Spekulieren", d. h. die Philosophie!!
    34) ULRICI, Gott und der Mensch, Teil 1, Leib und Seele, Leipzig 1866, Seite 322f.
    35) Die philosophische Grundlegung von DEUTINGERs Ästhetik habe ich in meinen kritischen "Studien zur Geschichte der deutschen Ästhetik" (Würzburg 1878) zu würdigen gesucht, ohne dort den erkenntnistheoretischen Obersatz, mit dem sie in einem strengen Zusammenhang steht, klarlegen oder näher begründen zu können. Vorliegende Schrift liefert diese Ergänzung und beseitigt wohl von selbst die Mehrzahl der mißverständlichen Einwendungen, welche im Übrigen anerkennende Rezensenten gegen die Bedeutung erhoben, die ich DEUTINGERs Kunstlehre eingeräumt habe. Ich hoffe, auch Herr BÉNARD wird, wenn er über die Trageweite jenes Obersatzes und seine Triftigkeit nachgedacht hat, nicht mehr "rien de bien original ni de féfond" [nichts sehr Originelles oder Grundlegendes - wp] (Revue philosophique, August 1880) in jener Kunstphilosophie erblicken. Denn deutlich zumindest und verständlich genug dürfte oben der prinzipielle Unterschied zwischen KANT (SCHILLER) und DEUTINGER herausgetreten sein und der gleiche Unterschied besteht zwischen der "Kritik der Urteilskraft" einschließlich von SCHILLERs Weiterbildung und DEUTINGERs Kunstlehre.
    36) LOTZE, Metaphysik, 1879, Seite 472f.