p-4 A. MesserK. TwardowskiB. ErdmannJ. RehmkeG. K. Uphues     
 
EUGEN DREHER
Über Wahrnehmung und Denken
[Vortrag gehalten im Mai 1878 in der
Philosophischen Gesellschaft zu Berlin]


"Wie wenig die wahrgenommene Außenwelt mit der wirklich vorhandenen übereinstimmt, zeigt schon der Umstand, daß es in der wirklichen Außenwelt weder Licht noch Farbe gibt; wohl aber Äthervibrationen bestimmter Schwingungszahl; daß ferner die wirkliche Außenwelt tonlos ist, statt des Tones hingegen Lufterzitterungen aufzuweisen hat. Die ganze Welt der Empfindungen, die uns die Sinne vorzaubern, löst sich so in eine Mengen von Bewegungsformen der Materie auf, wobei diese Bewegungen als solche nichts gemeinsam haben mit den Erregungen, die sie im Bewußtsein wachrufen."

"Nur die Beziehungen der Zeit, des Raumes, der Gleichheit, und die davon abgeleiteten der Zahl, der Größe, der Gesetzmäßigkeit, kurz das Mathematische, sind der äußeren und inneren Welt gemeinsam, und in diesen kann in der Tat eine volle Übereinstimmung der Vorstellungen mit den abgebildeten Dingen erstrebt werden."

"Wir blicken auf ein Kornfeld, dessen Halme vom Wind geschaukelt werden, es scheint uns, als ob die Halme in einer wirklich fortschreitenden Wellenbewegung begriffen wären. Hier haben wir in der Tat ganz getrennte Dinge, nämlich die einzelnen Halme, die im Zusammenhang gedacht, wohl eine fortschreitende Welle liefern könnten, durch einen Schluß als eine solche wirklich aufgefaßt. Wir sehen also, daß die Bewegung aus Ruhestadien zusammengesetzt aufzufassen ist, die wir mit Hilfe der Anschauungsform der Zeit verbinden, und erkennen so, daß Zeit etwas uns Angehöriges, der Außenwelt aber Fremdes ist."

"Vergegenwärtigen wir uns, wie, durch Sinneswahrnehmung veranlaßt, Wünsche, Gedanken usw. in uns wachgerufen werden, so müssen wir zwar zugeben, daß die Wahrnehmung mit ein Grund des entstandenen Wunsches oder Gedankens war, können aber keineswegs den strengen Kausalnexus zwischen Wahrnehmung und Gedanken nachweisen, durch welchen wir uns die Phänomene der materiellen Welt unterwerfen, und können noch viel weniger eine materielle Beziehung, d. h. eine örtliche zwischen ihnen erkennen."


V o r w o r t

In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde von JOHANNES MÜLLER, einem, wie Sie alle wissen, der Hauptbegründer der modernen Physiologie, ein Gesetz der Tätigkeit der sensiblen Nerven aufgestellt, dessen große Tragweite zu erfassen erst der gegenwärtigen Zeit vorbehalten ist. Es ist dies das Gedaetz von den "spezifischen Sinnesenergien". - Da uns die Sinneswahrnehmungen als Ausgangspunkte für alle philosophischen Spekulationen dienen, so ist ein richtiges Verständnis des angeführten Gesetzes nicht allein für Naturwissenschaft und Psychologie, sondern auch für unsere gesamte Erkenntnislehre von höchster Wichtigkeit. Es soll jetzt meine Aufgabe sein, Ihnen in gedrängter Kürze einen Blick in  die  Reiche des Wissens zu eröffnen, zu denen das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien die nicht zu umgehende Brücke schlägt. -

Sie alle wissen, daß uns die Außenwelt durch die Erzitterung gewisser eiweißartiger Fasern, die wir sensible Nerven nennen, zu Bewußtsein kommt. Die  einen  dieser Fäden vermitteln uns  Licht eindrücke,  andere Ton empfindungen, wieder andere  Tast wahrnehmungen usw. Bei nicht eingehender Betrachtung gewinnt es so den Anschein, als sei die Funktion der Nerven derartig, daß die Fasern des  einen  Systems, etwa die des  Seh nerven, uns nur  Äthervibrationen  von bestimmten Wellenlängen, die wir als Licht empfinden, zur Perzeption bringen; die eines anderen Systems hingegen, etwa die des  Gehör nerven, uns nur vom Vorhandensein gewisser Arten von  Luft schwingungen, die wir als  Ton  empfinden, in Kenntnis setzten usw.

Die scheinbare Bestätigung dieser Ansicht liegt in  dem  Umstand, daß wir von vornherein die  Ursache  der genannten Nervenerregungen  unbewußt  in die Außenwelt verlegen, und  so  zu einer Vorstellung des außerhalb von uns Gegebenen gelangen.

JOHANNES MÜLLER zeigte aber, daß den Sinneswahrnehmungen keineswegs ein außerhalb von uns vorhandenes Substrat zugrunde liegen braucht, insofern nämlich  jeder  Nerv, in seinem  eigenen  Sinn reagiert, was auch die Ursache seiner Erregung sein mag. So sind es nicht allein die auf die Netzhaut anschlagenden Äthervibrationen, die uns Licht und Farbe zu Bewußtsein bringen, sondern auch eine durch Stoß, Blutdruck, usw. veranlaßte Erregung des Sehnerven ruft gleichfalls genannte Empfindungen wach; daher der vulgäre Ausdruck: "Feuer aus den Augen schlagen." In entsprechender Weise entsteht eine Tonempfindung, ebensowohl durch gewisse Luftschwingungen, die an unser Cortisches Organ anschlagen, als auch durch irgendeine andere Erschütterung, von der der Gehörnerv getroffen wird. So tritt das sogenannte Ohrenbrausen und Ohrenklingen auf, wenn das vorbeiströmende Blut auf den Nerv einen erheblichen Druck ausübt. Entsprechendes gilt von den übrigen Sinnen.

Diese Erkenntnis ist insofern von  großer  Wichtigkeit, als sie lehrt, daß wir die Außenwelt als  solche  gar nicht wahrnehmen, sondern vielmehr die  Erregungszustände,  d. h. die Molekularbewegungen unserer Nerven selbst, denen wir, je nach dem Teil des Zentralorgans, in dem sie verlaufen, eine verschiedene Auslegung geben.

Die Auslegungen innerhalb  eines  Nervensystems sind jedoch mannigfacher Natur. So knüpft sich an die Erregung des Sehnervs nicht allein die Vorstellung von den verschiedenen Graden der  Helligkeit,  sondern auch die Empfindung der Farbe. In der Farbwahrnehmung lassen sich wiederum  drei  gesonderte Arten von Wahrnehmungen nachweisen, und zwar die von  rot, gelb  und  blau.  Eine erweiterte Auffassung des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien würde verlangen, daß zur Vermittlung der genannten  vier  Arten von  Licht wahrnehmungen auch  vier  Nervenapparate im Sehnerv gegeben sein müssen, die  lokalisiert  die einzelnen Perzeptionen vermitteln. Der anatomische Nachweis dieser durch die Theorie vorausgesehenen Nervenelemente ist dann auch dem berühmten (mikroskopischen) Anatomen MAX SCHULTZE in Bonn gelungen. (1) Auf den Gehörnerven angewendet, würde das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien erfordern, daß für jede Art der Tonempfindung im Gehörnerven eine Faser vorhanden ist. -

Analysieren Sie die Schallempfindungen, so gelangen Sie zu gewissen Elementarschallwahrnehmungen, die wir Töne nennen. Diese unterscheiden sich voneinander durch die Höhe, bzw. durch ihre Tiefe, d. h. durch ihre Schwingungszahl. Hiernach müßte dann für jeden Ton  bestimmter  Schwingungszahl auch eine  besondere  Nervenfaser gegeben sein, die ihren Erregungszustand  isoliert  dem Bewußtsein übermittelt. In den zahlreichen Tasten des Cortischen Organes erkennen wir dann auch, gemäß einer geistvollen Hypothese von HELMHOLTZ, die isolierten Telegraphendrähte, welche  Töne  bestimmter Schwingungszahl der Zentralstation, dem Gehirn, zuführen (2).

Sie alle kennen das vom Physiker "Sirene" genannte Instrument, welches er dazu gebraucht, um Töne verschiedenster Schwingungszahl hervorzubringen. Beim Experimentieren mit demselben, vor einem zahlreichen Auditorium, zeigt es sich deutlich, daß die Grenze der Wahrnehmbarkeit der Töne, sowohl hinsichtlich Höhe wie Tiefe, bei den verschiedenen Menschen eine sehr verschiedene ist. Während die  einen  bei stark  gesteigerter,  oder stark  verminderter  Schwingungszahl noch  deutliche  Töne wahrnehmen, ist bei den  anderen  für diese Lufterschütterungen die Tonempfindung gänzlich erloschen. So wird wegen zu großer Höhe des Tones von gewissen Leuten das Quieken der Fledermaus, das Zirpen der Grille, ja sogar das viel tiefer gelegene Gezwitscher der Sperlinge gar nicht gehört. Nach der angeführten HELMHOLTZschen Hypothese müssen wir annehmen, daß ihnen die auf die angegebenen Töne reagierenden Fasern des Cortischen Organes gänzlich fehlen.

Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien verlangt so in seiner ganzen Verallgemeinerung, daß für jede  Elementarwahrnehmungsform  eine besondere Nervenfaser vorhanden ist, welche, wie sie auch in Erregung gesetzt sein mag, immer nur einen Reiz  spezifischer  Art im Bewußtsein wachruft. Die zusammengesetzten Wahrnehmungen (Empfindungen) würden sich so aus dem gleichzeitigen Zusammenwirken verschiedener Nervenfasern herleiten lassen. Das Wohlgefallen an konsonierenden [mitklingenden - wp] Tönen beruth demnach auf dem angenehmen Kombinationseffekt gleichzeitig angeschlagener Töne von bestimmten Schwingungsverhältnissen; die Wahrnehmung des violetten Lichts würde sich als gemischte Wahrnehmung von rotem und blauem Licht dartun; die limonadenartige Geschmacksempfindung als eine Kombinationswirkung von einer saueren und von einer süßen Geschmacksempfindung usw.

So ergibt sicht dann,  daß eine jede komplizierte Sinneswahrnehmung eine zweifache ist, und zwar erstens die Wahrnehmung der einzelnen Komponenten als solcher, und zweitens die Wahrnehmung der aus den Komponenten Resultierenden,  das ist die Wahrnehmung des Kombinationseffektes. Erst bei größerer Mannigfaltigkeit der Faktoren können die einzelnen Komponenten als solche nicht mehr gut wahrgenommen werden, es tritt alsdann die Wahrnehmung des Gesamteffektes in den Vordergrund. So vernehmen wir beispielsweise beim Zusammenklingen von vielen Tönen verschiedenster Schwingungszahl, nicht mehr die einzelnen Töne als solche deutlich, sondern wir hören vorwiegend nur das Geräusch, welches aus ihrem Zusammenwirken resultiert.

Es ist, wie vorher erwähnt, der Psyche eigentümlich, den Grund aller Erregungen, die ihr durch die Sinne zugeführt werden,  unbewußt  nach außen zu verlegen. Diese von der Psyche unbewußt in die Außenwelt hineingeworfenen Konstruktionen sind dasjenige, was uns vom "Ding-ansich" wie es KANT nennt, vom Nicht-Ich FICHTEs, das ist von der  Außenwelt  (im Gegensatz zum Geist) zu Bewußtsein kommt. Dieses  Bild,  oder richtiger gesagt: dieses  Symbol dieses Zeichen von der Außenwelt nimmt der gewöhnliche Mensch dann auch für die wirkliche Außenwelt und gründet, von der unerschütterlichen Wahrheit seiner Prämisse überzeugt, hierauf seine Schlüsse und Folgerungen. Wie wenig jedoch diese  wahrgenommene  Außenwelt mit der  wirklich vorhandenen  übereinstimmt, zeigt schon der Umstand, daß es, gemäß unserer Forschung, in der wirklichen Außenwelt weder Licht noch Farbe gibt; wohl aber  Äthervibrationen  bestimmter Schwingungszahl; daß ferner die wirkliche Außenwelt  tonlos  ist, statt des Tones hingegen  Lufterzitterungen  aufzuweisen hat. Die ganze Welt der Empfindungen, die uns die Sinne vorzaubern, löst sich so in eine Mengen von Bewegungsformen der Materie auf, wobei diese  Bewegungen als solche  nichts gemeinsam haben mit  den Erregungen,  die sie im Bewußtsein wachrufen. Denn was hätte wohl beispielsweise eine bestimmte Bewegungsform des Äthers mit dem Begriff  rot,  mit welchem wir sie bezeichnen, zu schaffen!

Es bleibt somit nichts anderes übrig, als alle Wahrnehmungen, die uns die Sinne von Außenwelt zuführen, wie vorher gesagt, als  Symbole  oder Zeichen des wirklich außerhalb von uns Gegebenen aufzufassen. Es ist wohl überflüssig, zu erwähnen, daß das außerhalb von uns Gegebene auch unseren Körper mit in sich einschließt; dies geht schon daraus hervor, daß es gleichfalls die Aussagen meiner Sinne sind, auf welche hin ich mir das Bild meines Körpers zurechtkonstruiere.

Ich erwähnte vorher, daß es der Psyche  eigentümlich  ist, den Grund aller Sinnesreize in die Außenwelt zu verlegen. Dies zuzugeben, wird es auch verständlich, daß die Psyche den Grund von Nervenerregungen auch selbst dann nach außen verlegt, wenn der Nervenreiz seine Ursache im Nerv oder im Zentralorgan selber hat. So kann die Psyche zur Vorstellung einer Außenwelt gelangen, die mit derjenigen, die den Körper umgibt, nichts Gemeinsames hat. Ich brauche hier nur an die Traumbilder zu erinnern, deren Lebendigkeit oft eine so gewaltige ist, daß sie kaum hinter der Wirklichkeit zurückstehen.  Nachher  werde ich Gelegenheit finden, näher auf das Traumleben einzugehen; ich kehre jetzt zur einfachen Sinneswahrnehmung zurück. -

Analysieren wir jede unserer Sinneswahrnehmungen, so ergibt sich, daß sich an jede derselebn außer der ihr spezifisch zukommenden  Empfingungs form auch noch die  Anschauungs form von  Raum  und  Zeit  knüpft, oder besser gesagt, ohne hinzutritt von Raum und Zeit erscheint die Sinneswahrnehmung unmöglich. So ist Raum und Zeit das gemeinsame Gewand, in welches sich alle Sinneswahrnehmungen trotz ihrer spezifischen Verschiedenheiten einkleiden. Es liegt hier nahe, zu folgern, daß Raum und Zeit dasjenige sind, was die Außenwelt mit der Psyche gemeinsam haben. Erstere  handelt, d. h. bewegt  sich in Raum und Zeit; letztere  nimmt wahr  und  denkt  in Raum und Zeit. Am Schluß seiner optischen Studien erklärt dann HELMHOLTZ auch:
    "Nur die Beziehungen der Zeit, des Raumes, der Gleichheit, und die davon abgeleiteten der Zahl, der Größe, der Gesetzmäßigkeit, kurz das Mathematische, sind der äußeren und inneren Welt gemeinsam, und in  diesen  kann in der Tat eine  volle  Übereinstimmung der Vorstellungen mit den abgebildeten Dingen erstrebt werden."
So verdienstvoll auch immer die Leistungen von HELMHOLTZ auf dem Gebiet der Theorie der Sinneswahrnehmungen sind, so muß ich mich dennoch zu der Ansicht KANTs bekennen und Raum und Zeit als  Anschauungsformen  der Psyche auffassen. Eine kurze Betrachtung wird schon genügen, um zu zeigen, wie hinfällig die von HELMHOLTZ vermeinte Übereinstimmung hinsichtlich Raum und Zeit zwischen Außenwelt und Psyche ist. Denken wir uns, es wäre das absolute Nichts vorhanden und es gefiele jetzt einer Allmacht, nichts weiter als  zwei  Atome irgendeines Elements zu schaffen, so würde mit dem Schöpfungsakt der  bloßen  Materie schon das  Auseinanderliegen  der Atome gegeben sein, was also besagt, daß der die beiden Atome trennende Raum keine wirklich reale Größe ist. Hiernach müssen wir zugestehen, daß der Raum eine  reine  Anschauungsform der Psyche von der Außenwelt ist. Da nun aber die Psyche diese ihre Anschauungsform durch die Erscheinungswelt stets bestätigt findet, so muß dem zur Erfassung der Außenwelt  Hinzugetanen  auch etwas in der Außenwelt wirklich  Vorhandenes  entsprechen. Der Begriff der  Einheit der Zweiheit, überhaupt der Vielheit hätte nie entstehen können, wenn nicht der Anschauungsform des Raumes eine reale Größe in der Außenwelt zugrunde läge. Ein Schwefelatom unterscheidet sich lediglich dadurch von einem anderen Schwefelatom, daß seine Stelle im Raum eine andere ist. Würden wir beiden Atomen dieselbe Stelle im Raum anweisen können, so würden wir es bei der Undurchdringlichkeit der Materie  nicht  mit  zwei  sondern mit  einem  Atom zu tun zu haben. Wir erkennen so, daß uns der Raum eine Vorstellung von der  Individualität  der Dinge verschafft. Ich betone jedoch gleich, daß diese  Anschauungsform  des Raumes, welche uns die Sinneswahrnehmung erschließt, nicht mit dem  Begriff  des Raumes zu verwechseln ist, da letzterer erst aus der Sinneswahrnehmung abstrahiert wird. Die Anschauungsform des Raumes wohnt der Psyche latent inne, geweckt wird sie durch einen Nervenreiz, den die Psyche  unabhängig  vom Bewußtsein  für  letzteres zurechtgestaltet, der dann das Zurechtgestaltete empfindet.

Der  Begriff  des Raumes hingegen ist der Psyche nicht angeboren; er hat sich  bewußt  durch ein Reflektieren über Sinneswahrnehmungen herausgebildet. Der Verlauf des Vortrages wird Veranlassung bieten, auf das soeben Erörterte zurückzukommen.

Was nun die zweite Anschauungsform der Psyche, nämlich die der Zeit anbelangt, so wird eine Betrachtung ebenfalls dartun, daß eine solche, wie wir sie in der Empfindung tragen, im Weltall nicht vorhanden sein kann. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als wenn die Vorstellung der Zeit durch die in der Außenwelt vor sich gehenden Veränderungen wachgerufen würde, und da Veränderung im materiellen Sinne gleichbedeutend mit Bewegung ist, so scheint die  Bewegung  der Grund der Vorstellung einer Zeit zu sein. Dem ist jedoch nicht so. Wir haben nämlich zwei Arten von Bewegungen zu unterscheiden, die wir nie und nimmer wahrnehmen, verstehen oder definieren könnten, wenn dies nicht die in uns liegende Anschauungsform der Zeit ermöglichen würde. Ich meine die gleichförmige und die ungleichförmige Bewegung. Wann ist nun eine Bewegung gleichförmig? Der theoretische Mechaniker antwortet uns: Eine Bewegung ist dann gleichförmig, wenn der bewegte Körper in stets gleichen Abschniten stets gleiche Räume zurücklegt. Wann sind aber Zeitabschnitte einander gleich? Wir können nichts weiter sagen, als daß Zeitabschnitte dann einander gleich sind, wenn sich gleichförmig bewegende Körper in ihnen gleiche Räume zurücklegen. Wir gebrauchen so zur Erklärung der Bewegung die Zeit und zur Erklärung der Zeit wiederum die Bewegung; drehen uns also mit unseren Definitionen in einem Zirkel.

Was verbürgt uns denn nun die Gleichförmigkeit einer Bewegung? Die Vergleiche verschiedenartigster Bewegungen, darauf gegründete Spekulationen könnten höchstens Annäherungsresultat liefern. Ich bemerke noch, daß es höchst wahrscheinlich ist, daß es im ganzen Weltenraum keine einzige vollkommen gleichförmige Bewegung gibt. Selbst die Rotation unserer Erde um ihre Achse lehrt uns die Theorie als eine ungleichförmige Bewegung kennen.

Und doch haben wir alle Vorstellung einer gleichförmigen Bewegung. Woher stammt diese? Aus dem  uns  innewohnenden  Gefühl  der Zeit, die wir als eine  uns  angehörige Anschauungsform in gleiche Teile zerlegen können. Das musikalische Taktgefühl, durch welches wir die fortschreitende Linie der Zeit  bewußt  gleichmäßig zerschneiden, die Freude an rhythmischen Bewegungen, wie sie vor allem der Musiker benutzt, um unsere Seele auf dem bald bewegten, bald geebneten Ozean der Gefühle hin und her zu schaukeln, geben einen unabweisbaren Beleg, daß die Zeit eine angeborene Anschauungsform der Psyche ist, die im Gegensatz zu der des Raumes jedoch als bewußt verlaufend aufzufassen ist. Mit Hilfe dieser Anschauungsform verknüpfen wir unter Mitwirkung des Schlusses verschiedene Zustände der Dinge und gelangen so zur Vorstellung der Bewegung, wobei sich letztere, wie gesagt, auf den ersten Blick als eine durch die Sinne gegebene Tatsache darstellt. Und in der Tat läßt es sich experimentell zeigen, daß wir stets zur Vorstellung der Bewegung durch einen Schluß gelangen, welcher Zeit und Raum als Prämisse voraussetzt. Einige nicht zu entfernt liegende Experimente werden dies zur Genüge klar legen. Man betrachte mit einer schlechtgeschliffenen Brennlinse, die ihrer Natur gemäß Zerrbilder liefert, ein beliebiges Porträt, und drehe jetzt die Linse um ihre Achse. Durch die Drehung der Linse wird es den Anschein gewinnen, als ob das Porträt Bewegungen ausführt. Wir verbinden hierbei die verschiedenen Verzerrungsbilder, die uns durch das Drehen der Linse zur Anschauung gelangen, mit Hilfe der Anschauungsform der Zeit zu einem Bewegungen ausführenden Gegenstand. Wir blicken auf ein Kornfeld, dessen Halme vom Wind geschaukelt werden, es scheint uns, als ob die Halme in einer wirklich fortschreitenden Wellenbewegung begriffen wären. Hier haben wir in der Tat ganz getrennte Dinge, nämlich die einzelnen Halme, die im Zusammenhang gedacht, wohl eine fortschreitende Welle liefern könnten, durch einen Schluß als eine solche wirklich aufgefaßt.

Wir bringen ein mit zahlreichen Speichen versehenes, in einem dunklen Zimmer befindliches Rad in eine möglichst schnelle Bewegung und beleuchten es dann durch einen elektrischen Funken. Das Rad wird vollkommen still zu stehen scheinen, so deutlich grenzen sich die einzelnen Speichen, die sonst bei der rapiden Drehung ineinander zu fließen scheinen, voneinander ab. Die Dauer des elektrischen Funken ist nämlich eine äußerst geringe, so daß in dem durch Licht erhellten Zeitintervall der Forschritt der Speiche nicht bemerkbar ist. Doch denken wir uns jetzt die Dauer des elektrischen Funkens immer kleiner werden, so müssen wir schließlich zu einem Zeitabschnitt der Beleuchtung gelangen, der mit derjenigen Zeitgröße zusammenfallen würde, die wir als Gegenwart bezeichnen. In dieser Zeitgröße, wenn man sie überhaupt noch so nennen darf, in diesem Zeitdifferenzial, würden alsdann freilich die Speichen still stehen müssen, da ja schon ihre minimalste Bewegung die Gegenwart überschreiten würde. Wir sehen also, daß die Bewegung, auch rein theoretisch aufgefaßt, aus Ruhestadien zusammengesetzt aufzufassen ist, die wir mit Hilfe der Anschauungsform der Zeit verbinden, und erkennen so, daß  Zeit  etwas  uns  Angehöriges, der  Außenwelt  aber Fremdes ist.

Die angestellten Betrachtungen lehren uns, daß wir ohne die Anschauungsformen von Raum und Zeit  dasjenge,  von dem wir gezwungen sind, es für das Grundprinzip der gesamten materiellen Welt zu halten, nämlich Raumerfüllung und Bewegung gar nicht erfassen würden.

Nur dann, wenn es dem Physiker gelungen ist, die Erscheinungen auf Bewegungen zurückzuführen, ist seine Aufgabe vollkommen gelöst. Nur die Bewegung erschließt dem Forscher den Kausalnexus der materiellen Welt, d. h. also: in den gegenwärtigen Verhältnissen den allein bestimmenden  Grund  für alle zukünftigen, wie die notwendige  Folge  aller vergangenen zu sehen. Der Begriff der Raumerfüllung und der der Bewegung, der Schlüssel, wie gesagt, für alle Phänomene  materieller  Natur, findet jedoch auf diejenigen Vorgänge, die wir seelische oder geistige nennen, keine Anwendung. Weder unsere Empfindungen, noch unsere Gedanken vermögen wir in die Formel der Bewegung einzukleiden. Keine verbindende Brücke zwischen Ursache und Wirkung vermag bei seelischen Vorgängen der Begriff der Bewegung zu schlagen. Vergegenwärtigen wir uns, wie, durch Sinneswahrnehmung veranlaßt, Wünsche, Gedanken usw. in uns wachgerufen werden, so müssen wir zwar zugeben, daß die Wahrnehmung  mit  ein  Grund  des entstandenen Wunsches oder Gedankens war, können aber keineswegs den strengen Kausalnexus zwischen Wahrnehmung und Gedanken nachweisen, durch welchen wir uns die Phänomene der materiellen Welt unterwerfen, und können noch viel weniger eine materielle Beziehung, d. h. eine örtliche zwischen ihnen erkennen. Die Empfindungsformen, so wie die Denkformen sind absolut verschiedener Natur von den Bewegungsformen. Nichts hat das Gefühl des Schmerzes, nichts hat das der Lust, nichts die Anerkennung eines Denkaxioms mit Bewegungsvorgängen gemeinsam. Da wir gemäß unserer Denkorganisation zwei  total  verschiedene Arten von Prozessen unterscheiden müssen, nämlich geistige und materielle, so schließen wir hieraus, daß auch zwei ganz verschiedene Arten von Substanzen dasein müssen, aus denen beide Tätigkeiten entspringen, nämlich Geist und Materie. Diese Weltanschauung nennen wir die  "dualistische",  im Gegensatz zu derjenigen Weltanschauung, die Geist und Materie als die Attribute einer beiden zugrunde liegenden Einheit auffaßt. Wenn nun letztere, die  "monistische"  Weltanschauung verlangt, daß wir annehmen, daß die beiden genannten Arten von grundauf verschiedener Tätigkeit aus ein und derselben Wurzel sprießen, so müssen wir dies als unseren Denkformen zuwiderlaufend zurückweisen. Wir schließen nämlich auf die  Dinge  aus ihren Eigenschaften; treten uns also Eigenschaften entgegen, die sich einander ausschließen, wie Raumerfüllung und Nichtraumerfüllung, so müssen wir daraus das Vorhandensein von  zwei  Dingen, und zwar von einem  Raumerfüllenden,  der  Materie,  und einem  Nichtraumerfüllenden,  dem  Geist  folgern. Es liegt nahe, einzuwenden, daß uns ja die Natur belehrt, daß derselbe Gegenstand mit verschiedenen, nicht vereint zu denkenden Eigenschaften begabt sein kann. Die Kerze, die da brennt, leuchtet nicht allein, sondern sie wärmt auch, und Leuchten und Wärmen sind sich ausschließende Eigenschaften, die, wenn wir sie auf Äthervibrationen zurückführen, verlangen würden, daß die Flamme  gleichzeitig  wirklich zwei Bewegungen ausführt, was ja unmöglich ist. Dem wäre auch in der Tat so, wenn die Kerze wirklich leuchten und wärmen würde. Aber Licht, wie Wärme sind Empfindungen, die  uns  eigen sind, von denen die Außenwelt nichts weiß. Ja noch mehr, dieselbe Ätherschwingung, die durch die brennende Kerze wachgerufen wird, kann ich, je nachdem sie meinen Sehnerv oder meine Wärmenerven trifft, als Licht oder Wärme empfinden. Wir sahen ja zu Anfang schon, daß nach dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien die verschiedenen Vorstellungen und Empfindungen uns durch gesonderte Nerven vermittelt werden.

Wie wenig stimmen aber die Aussagen der verschiedenen Nerven überein! Ich  Sehe  eine Glocke vibrieren, und  höre  sie gleichzeitig tönen. Das Sehbild und das Tonbild der Glocke haben nichts miteinander gemein. Es bedurfte erst des Schlusses, um mich zu überzeugen, daß ein leuchtender Körper auch tönen kann. Dem gewöhnlichen Menschen fällt der Widerspruch innerhalb der einzelnen Sinnesaussagen gar nicht auf. Daß derselbe Gegenstand leuchten, wärmen, tönen usw. kann, davon glaubt er sich durch die Erfahrung überzeugt zu haben, und  überträgt  so die  Trugbilder  seiner Sinne auf einen Gegenstand, oder richtiger gesagt, setzt die Trugbilder seiner Sinne zu  einer Einheit  zusammen, ohne gewahr zu werden, daß diese sich gar nicht vertragen.

Der Denker löst das Problem dadurch, daß er in der leuchtenden, wie in der wärmenden Kerze die  bewegte  Materie sieht. Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien macht es ihm dann verständlich, daß derselbe Gegenstand gleichzeitig leuchten und wärmen kann. -

Jede Sinneswahrnehmung ergibt sich aus dem Erörterten als das Resultat zweier Faktoren, und zwar erstens einer materiellen Veränderung, d. h. einer Bewegung des Zentralorgans, und zweitens einer physischen Tätigkeit, die diese Erregung in eine ihr eigentümlich zukommende Sprache übersetzt.

Hier wirft sich nun die Frage auf, wie etwas Materielles, die Erzitterung der Nerven auf etwas Immaterielles, die Psyche einwirken kann. Wie kann die raumerfüllende Materie die jede Raumerfüllung entbehrende Psyche erregen? Wir erinnern hier, daß der  Raum  als solcher, wie ihn das in uns liegende Denken aus Sinneswahrnehmungen abstrahiert, gar nicht der Materie zukommt. Die räumliche Vorstellung der Außenwelt ist nur eine Trennung von der inneren Welt. Fassen wir also die Materie unter den Begriff der Raumerfüllung, so dichten wir etwas Geistes an. Mir scheint es nun, daß die Lösung des scheinbaren Widerspruchs der gegenseitigen Einwirkung von Geist und Materie, der schwächste Punkt der dualistischen Weltanschauung, darin gesucht werden muß,  daß wir der Materie etwas aus dem Geist Entnommenes zusprechen, während wir andererseits dem Geist dieses absprechen. 

Weit davon entfernt, daß uns das eben Erörterte eine Einsicht vom Zusammenhang der beiden Grundprinzipien von Geist und Materie verschafft, dient es nur dazu, zu zeigen, daß die dualistische Auffassung, bei voller Berechtigung, ihrer  eigenen Natur  gemäß auf Widersprüche stoßen muß, und dies, um das bisher Dargelegte kurz zu fassen, aus dem Grund,  weil wir die Dinge nicht so denken können, wie sie wirklich sind. 

Wenn wir die Seele an den Stoff gebunden sehen und zugestehen müssen, daß sich beide in innigster Wechselwirkung beeinflussen, so daß die stofflichen Vorgänge uns den unfehlbaren Maßstab für die Intensität der geistigen Prozesse liefern, so ist der Schluß, falls diese Sinneswahrnehmung mit dem  Wesen  der Dinge zusammenfällt,  unvermeidlich,  daß Geist und Materie ein und dieselbe Einheit ist. Der Dualismus von Geist und Materie würde nur ein subjektiver, d. h. ein in uns liegender, der Sache jedoch fremder sein. Hier würde sich aber dann die Frage aufdrängen, wie kommen wir dazu, die  Einheit  der Welt,  zu der wir ja selbst gehören,  durch eine dualistische Auffassung zu spalten?

Ich kann hierauf nur antworten,  wäre dieser Dualismus nicht in der Welt begründet, so würden wir auch nie zu ihm gekommen sein;  eine Einheit mit dem Universum bildend, würden wir materielle wie geistige Vorgänge als aus demselben Prinzip fließend erkennen und sie auch unter  denselben  Formen fassen. - Doch wir wollen einmal mit den Monisten annehmen, daß Geist und Materie verschiedene Ausflüsse ein und derselben Einheit sind, wollen annehmen, um es in der modernen Denkweise klarer zu sagen, daß allen Atomen Bewußtsein innewohnt, so würden wir doch nie imstande sein, aus dem Bewußtsein der einzelnen Teile das  individuelle  Bewußtsein herzuleiten. Das individuelle Bewußtsein, d. h. das Ich, ist aber ür uns der Brennpunkt des ganzen Seins. Wir können von Nichts wissen, was nicht vom Ich erst empfunden oder gedacht wäre. Selbst das Unbewußte der eigenen Psyche muß erst von einem Bewußtsein empfunden sein, bevor wir überhaupt das Unbewußte im Seelenleben anerkennen können.

Im Widerspruch mit einer monistischen Anschaung steht ferner die Einheit des Ichs, d. h. die Tatsache, daß  ich  es bin, der da sieht, hört, fühlt usw., trotzdem daß doch der Verlauf der diesen Tätigkeiten entsprechenden Nerven verschieden ist. Gleichfalls stellt sich die Individualität des Ich, die trotz des Stoffwechsels und trotz des Wechsels der Vorstellungsbilder dieselbe bleibt, als mit monistischer Ansicht unvereinbar dar; denn, ich betone es, nicht das Ich ändert sich, sondern nur der Kreis seiner Vorstellungsbilder. Bemerkt sei noch, daß die monistische Weltanschauung dem Denktrieb des Menschen zu gewähren sucht, was das Denken zu fordern berechtigt ist, nämlich Wahrheit. Sie schmeichelt der Eigenliebe des Menschen sofern sie lehrt, daß Nichts sich der menschlichen Erkenntnis entzieht, stößt jedoch dadurch das Gefühl ab, daß sie das  Aufgaben  der  Individualität,  stattdessen die Anerkennung des  Allgemeinen  und die  Unterwerfung  unter dasselbe verlangt. Die dualistische Weltauffassung hingegen raubt dem Menschen die Hoffnung, die ungetrübte Wahrheit zu erkennen, fordert von ihm die seinen Stolz demütigende Anerkennung der Schranken seines Geistes, schmeichelt jedoch dem Gefühl, sofern sie die  Individualität  als das  Wirkliche,  das  Allgemeine  als den Schein auffassen lehrt.

Doch kehren wir nach dieser kleinen durch den Stoff entschuldigten Abschweifung wieder zu den Sinneswahrnehmungen zurück! Wir sahen vorher, daß jede derselben aus zwei Faktoren resultiert und zwar aus einem materiellen und einem geistigen. Der geistige Faktor löst sich jedoch bei näherer Betrachtung wieder in zwei Faktoren auf, und zwar in einen  unbewußten  und in einen  bewußten.  Der unbewußte psychische Prozeß der Sinneswahrnehmung konstruiert erst letztere für das Bewußtsein zurecht. Er ist es, dem wir die  Vorstellung  von der Außenwelt verdanken, da nämlich, wie schon zu Anfang bemerkt, unbewußte psychische Tätigkeiten den  Grund  der Nervenerregung in die Außenwelt verlegen.

Hierdurch geschieht es dann, daß der Nervenreiz nicht dort empfunden wird, wo er wirklich verläuft, sondern außerhalb des Zentralorgans wahrgenommen wird. So verlegen wir das Bild der Sonne aus unserem Sehhügel hinaus in den Himmelsraum;  bewußt  nehmen wir dasselbe dort auch wahr. Das Ich, d. h. das individuelle Bewußtsein erfaßt so die Konstruktionen der unbewußten Tätigkeiten durch den Erregungszustand, in welchen es durch sie versetzt wird. So gehen dann die  unbewußten  psychischen Prozesse den  bewußten  vorher.

Diese uns unbewußt die Außenwelt zurechtlegenden psychischen Tätigkeiten sind es dann auch, welche die Dinge in die Anschauungsform des Raums kleiden und sie in dieser Veränderung dem Bewußtseins oder besser gesagt, dem individuellen Bewußtsein vorführen. Mit Recht konnte FRIES in seiner Psychologie von einer der Seele unbewußt innewohnenden Mathematik sprechen. Aber das Schaffen dieser unbewußten Tätigkeiten ist nicht allein mathematischer Natur. Gedächtnisbilder wie Phantasiebilder greifen (selbstverständlich unabhängig vom Bewußtsein) in die Gestaltungsprozesse ein, ändern sie vielfach ab und geben auch häufig selbst Veranlassung zu eigenen Gestaltungen. Es würde mich hier zu weit führen auf die Natur des Unbewußten im Seelenleben einzugehen; ich muß mich hier begnügen das Gesagte  experimentell  zu begründen und werde "bewußt" und "unbewußt" als Gegensätze in  unserem  Seelenleben, unbekümmert um das Wesen des Unbewußten, einander gegenüberstellen. (3)

Sie sehen hier ein Medaillon, das Basrelief einer Petrusbüste. Hier diese Photographie ist eine stereoskoptische Aufnahme desselben. Betrachten Sie jetzt die Photographie unter dem Stereoskop, so wird ein unverkennbares Relief, wie es ja das Original erfordert, in Erscheinung treten. Jetzt zerschneide ich die Photographie in ihrer Mitte und lege die Bilder  vertauscht  in das Stereoskop, so daß das für das linke Auge bestimmte Bild in das rechte fällt, und umgekehrt. Bringen Sie jetzt beide Bilder durch das Stereoskop zu einer genügenden Deckung, so werden Sie wieder den reliefartigen Eindrück, ähnlich wie vorher, erhalten. Derselbe ist jedoch nicht bleibend. Das Relief sinkt ganz allmählich ein, wird flächenhaft, und auch jetzt noch nicht am Ende des Gestaltungsprozesses angelangt, geht es schließlich, wenngleich sehr langsam in ein deutliches Sousrelief, in eine Hohlform von bedeutend größerer Vertiefung als vorangegangener Erhebung über. Bei dem zuletzt angestellten Versuch nimmt es Wunder, daß dieselbe materialle Erregung verschiedene Auslegungen zu erfahren vermag. Unter denselben materiellen Umständen kann die Vorstellung von Erhabenheit und Vertiefung zustande. Zuerst war es die uns  unbewußt  naheliegende Vorstellung von einem Relief, welche uns dort eine Erhebung vorspiegelte, wo wir von rechtswegen eine Vertiefung sehen sollten; zuletzt aber siegte die beim  binokularen Sehen  sich vollziehende "Parallaxenkonstruktion", woraus dann diejenige Figur resultiert, die sachgemäß in Erscheinung treten muß, das ist die Hohlform der Petrusbüste. Denn, um es kurz zu machen, sei hier nur gesagt, daß wir beim binokularen Sehen bei der Deckung körperlich zu verschmelzender Bilder  schließlich  den Gegenstand zu sehen bekommen, der, wenn er wirklich in der Außenwelt vorhanden wäre, in unsere Augen diejenigen Bilder werfen würde, die sich jetzt auf den Netzhäuten befinden. Auf den vorliegenden Fall angewendet, würde dies besagen:  nur  ein  Sousrelief  wie wir es zuletzt gesehen haben, würde in unseren Augen auf korrespondieren Teile der Netzhäute Bilder werfen, die denen gleich sind, die wir zuletzt zur Deckung gebracht haben. Während der Zeit, wo die Erhebung mit einer Vertiefung kämpfte, stritten  unbewußte Vorstellungen  mit mathematisch sich  vollziehenden  unbewußten psychischen Konstruktionen. Erstere, zu Anfang siegreich, mußten schließlich den letzteren weichen.

Daß uns nun die wirkliche Vorstellung eines Relief  unbewußt  näher liegt als die eines  Sousreliefs,  dafür spricht entscheidend nachfolgender Versuch: Ich habe hier die Hohlform, das Sousrelief des Ihnen vorher gezeigten Medaillons. Betrachten Sie dasselbe jetzt längere Zeit hindurch mit  einem  Auge, so werden Sie deutlich die Erscheinung gewinnen, daß Sie es nicht mit einer  Form,  sondern mit einem  Relief  zu tun haben. Die durch die häufige Anschauung  lebhaftere  Vorstellung von Reliefs verdrängt  unbewußt  die des Sousreliefs (4).

Ich habe hier ferner eine kleine Zimmeruhr mit zwei gleichen Pendeln, von denen das eine in einer dicht hinter dem anderen gelegenen Parallelebene schwingt. Der Ausschlagswinkel der Pendel ist gleich, jedoch ist ihre Gangart derartig, daß, wenn das eine Pendel seine Schwingung von links nach rechts ausführt, das andere in entgegengesetzter Richtung schwingt. Das wechselvolle Spiel, welches die Pendellinsen bei dieser Gangart, wo das Auge geneigt ist, die Schwingungsebenen zu verwechseln, darbieten, gibt gleichfalls einen Beleg für den Eingriff unbewußtser Urteile und Vorstellungen in Sinneswahrnehmungen. Sie glauben einmal deutlich zu sehen, daß die Pendel aufeinander anstoßen und nach erfolgtem Anstoß wieder voneinander abprallen; können ferner aber auch sehen, daß sich beide Pendellinsen in einer zur Schwingungsebene langgestreckten Kugelellipse entweider von links nach rechts, oder auch beide von rechts nach links bewegen. Jetzt streiche ich die eine Pendelscheibe schwarz an und überlasse von neuem die Pendel ihrer Gangart. Sie sehen, daß mit dem Anstrich der einen Pendellinse die Täuschung des Zusammenschlagens und die des darauf erfolgenden Abprallesn aufhört. Dies geschieht aus dem Grund, weil bei der jetzt stattfindenden Verschiedenheit der Pendellinsen ihre Vertauschung unmöglich ist, und somit der unbewußte  Schluß,  daß die Pendel nach erfolgtem Zusammenstoß voneinander abprallen, wegfällt. Die Täuschung in Bezug auf die Rotation der Pendel bleibt jedoch bestehen, da diese durch eine unbewußte  Vorstellung,  (Anschauung) wachgerufen wird.

Diese falschen Vorstellungen, die gewöhnlich schlechthin Sinnestäuschungen genannt werden, resultieren, wie gesagt, aus dem Eingreifen unbewußter Schlüsse, unbewußter Urteile, unbewußter Vorstellungen usw. in die Sinneswahrnehmungen. Ihnen verdanken wir es, daß wir mit  einem  Auge körperlich sehen, daß wir ferner, gleichviel ob mit einem oder mit zwei Augen, nur einigermaßen entfernt gelegene Gegenstände noch körperlich zu sehen bekommen. Sie sind es auch, die uns die Genüsse an den Werken der Malerei erschließen, denn, ohne das Eingreifen dieser unbewußten Vorstellungen würde sich nichts von Perspektive im Gemälde gestalten. Näheres über das Eingreifen dieser Tätigkeiten darzulegen, verbietet mir das gestellte Thema.

Vor allem aber ist es die Phantasie, die die Sinneserregungen in der wunderbarsten Weise zu deuten vermag. Je unbestimmter, je schwankender der Sinnesreiz ist, desto mehr gewinnt die Phantasie an Spielraum, desto freier und kühner werden ihre Auslegungen. Wer wüßte nicht, welche abenteuerlichen Auslegungen ein verschwommener Schatten zuläßt!

Vergegenwärtigen wir uns jetzt den Zustand vor dem Einschlafen.

Die von der Außenwelt herrührenden Sinnesreize wirken wegen ihrer geringen durch die Ermattung der Nerven bedingten Intensität nur noch schwach auf das Bewußtsein, wobei letzteres selbst schon zu ermüdet ist, um sich mit aus ihm selbst entspringenden Vorstellungen zu beschäftigen.

Werden nun auch beim Herannahen des Schlafes die Äthervibrationen unfähig, den Sehnerv zu erregen, treffen auch sonst sehr gut vernommene Luftschwingungen vergeblich den Hörnerv, so ist dessen ungeachtet der Kreislauf des Blutes imstande, das Nervensystem in Erregung zu versetzen. Die Phantasie, nicht mehr durch das Bewußtsein gezügelt, wirft sich auf diese Reize und verarbeitet sie mit ihrer grotesken Gestaltungskraft. Der Grund der Nervenschwingung wird wir immer nach außen verlegt, und gemäß dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien finden die einzelnen Nervenaffektionen ihre spezifische Deutung, und so baut sich, uns unbewußt, das bunte Traumbild aus den phantastischen Auslegungen der Nervenreize auf. Dieses Traumbild nun gelangt in das Bewußtsein und bietet letzterem Stoff zu empfinden, wie zu denken. Wie sehr aber die  Erschaffung  des Traumbildes dem Bewußtsein fremd ist, zeigt schon der Umstand, daß das Bewußtsein diese Kinder der Phantasie nicht als die seinigen anerkennt, sondern sie vielmehr als vollkommen fremde behandelt, indem es sie unberechtigt mit der Außenwelt identifiziert. So geschieht es dann, daß die Seele während des Traumes durch ihre eigenen Gestaltungen und Einbildungen in einem ähnlichen Grad bewegt wird, wie wenn das von ihr Erdichtete Wahrheit wäre. Nirgendwo anders läßt sich das Auseinanderfließen von  bewußt  und  unbewußt  im Seelenleben klarer legen als am Traum. Die Schaffung eines Traumes geschieht  unbewußt;  die Empfindung desselben  bewußt.  In wie wenig einheitlichem Sinn Unbewußtes und Bewußtes im Traumleben zusammenarbeiten, zeigt fernder das Fakturm, daß das Traumbild falsche Gedächtnisbilder in das Bewußtsein werfen kann.

Ich werde das Ebengesagte durch eine kurze Angabe eines durch seinen imposanten Eindruck mir noch deutlich im Gedächtnis zurückgebliebenen Traumes erörtern. Vor circa 12 Jahren träumte mir, ich würde in einem Boot längs der Küste von Ceylon fahren. Die untergehende Sonne vergoldete mit ihrer orangenfarbigen Glut die gigantischen Kreidefelsen der Küste, so daß es den Anschein hatte, als ob ein rotglühendes, riesiges Gestein dem glatten schwarzblauen Meeresspiegel entragt. Daß ich mich im Traum wirklich auf dem Meer vor Ceylon glaubte, ist nicht auffallend. Wunderbar ist jedoch, daß ich mich dabei deutlich entsann, (ohne es erlebt, oder früher geträumt zu haben) wie ich vor nicht allzu langer Zeit dieselbe Küste unter anderen Verhältnissen umfahren hatte. Damals, so schwebte es mir deutlich vor, war das Meer bei Sturm und Gewitter in gewaltiger Aufregung. Dunkle Nacht lag über den Felsen, eine Nacht, die durch das grelle Licht der Blitze unterbrochen wurde, die die weißen Felsen in einer das Auge blendenden Beleuchtung erscheinen ließen. Der einzige Grund, den ich für dieses Traumbild angeben kann, ist, daß ich damals in den Vorlesungen über Mineralogie gehört hatte, daß sich auf jener Insel Kreidefelsen befinden, die Marmor einschließen, der durch die Umwandlung jenes Gesteins durch vulkanische Kräfte entstanden ist. -

Vielfach habe ich später über diesen Traum nachgedacht. Die Anerkennung des Unbewußten im Seelenleben, gegen welche ich mich sehr lange sträubte, hat mir den angeführten Traum befriedigend erklärt. Die Erklärung ist folgende: Das Bewußtsein hat es nicht immer in seiner Macht  Gedächtnisbilder, (die in der Seele unbewußt aufbewahrt werden)  nach Gefallen hervorzurufen; unter Umständen muß es sich stattdessen mit  Phantasiebildern  begnügen, die es in Ermangelung richtiger Gedächtnisbilder für wahr hält. Eine Art des Wahnsinns bestätigt die gemachte Erklärung auf das Unwiderleglichste und zeigt gleichzeitig die  psychologische,  aber keineswegs physiologische Verwandtschaft zwischen Wahnsinn und Traumleben.

Es gibt einen durch lichte Intervalle unterbrochenen Wahnsinn, wo dadurch eine Störung im Bewußtsein eintritt, daß ganz entsprechend dem angeführten Traum, unbewußt falsche Gedächtnisbilder, richtiger gesagt reine Phantasiebilder in das Bewußtsein gelangen. Hierdurch scheint es dann dem Beobachter, als ob ein doppeltes Ich, ein gestörtes und ein ungestörtes beim Patienten vorhanden sei, während im Grunde genommen dasselbe Ich das eine mal einen Kreis von richtigen Rückerinnerungen, das andere mal einen von unrichtigen hat. Daß diese seltsame Erscheinung zu verschiedenen Deutungen Veranlassung gab, liegt klar.

Der Wahnsinn, der wie gesagt, vom psyschologischen Standpunkt aus dem Traum so nah verwandt ist, hat mit dem Traum auch noch das Übereinstimmende, daß er die Veranlassung zu Sinneswahrnehmungen geben kann, denen keine reale Außenwelt entspricht. Doch während im Traum die Pforten der Sinne geschlossen sind, macht sich die Wahnvorstellung, Halluzination oder Vision genannt, bei geöffneten, sonst richtig funktionierenden Sinnen und bei einem vollkommen wachen Zustand gelten. Sie alle haben von den bald angenehmen, bald unheimlichen Halluzinationen gehört, denen vor allem religiöse Schwärmer unterworfen sind. Bei sonst klarem Bewußtsein sehen sie die sonderbarsten Dinge, wie etwa den Herrgott oder den Teufel usw.; ja sie sehen ihn nicht allein, sondern sie hören sie auch reden, führen sogar Unterhaltungen mit ihnen. Mehrfach wird auch der Tastsinn in die Wahnvorstellung hineingezogen. Der im vorigen Jahrhundert lebende schwedische Ingenieur SWEDENBORG berichtet, daß er häufig Zwiegespräche mit Gott führt; desgleichen referiert er über die Unterhaltungen, die er mit den Geistern der Abgeschiedenen gehabt hat. Und dabei war SWEDENBORG im Übrigen vollkommen vernünftig, nicht allein ein praktischer Ingenieur, sondern auch ein theoretisch gebildeter Geist. Trotz seines sonst rechtlichen Lebenswandels würde man ihn, da er seinen Wahnbildern hohe Bedeutung beilegte, und diese auch von anderen für sie beanspruchte, für einen Betrüger halten, hätte nicht die Wissenschaft gelehrt, diese Gestaltungen als die Resultate  unbewußter  geistiger Prozesse aufzufassen. KANT wußte noch nicht recht, wie er sich diesen Dingen gegenüber verhalten sollte. Die Neuzeit wird, so hoffen wir, anhand der Naturwissenschaft und der experimentellen Psychologie mehr und mehr den Schleier lüften, der über das Unbewußte im Seelenleben geworfen ist.

Wenn ich sagte, wir  hoffen,  so hat das seine volle Bedeutung; denn, um offen zu sprechen, die Wissenschaft, d. h. selbstverständlich die Mehrzahl ihrer augenblicklichen Vertreter, ist auf dem besten Weg, Wahngebilden menschlicher Einbildungskraft Vorschub zu leisten und sie durch scheinbar wissenschaftliche Erläuterungen zu stützen. Der Glaube an Klopf- und Schreibgeister greift leider, wie wir alle wissen, von Tag zu Tag mehr um sich, und zu meinem Bedauern muß ich sagen, ein nicht unbedeutender Teil hervorragender Gelehrter ist demselben zugetan und tut das Mögliche, um die Existenz dieser Spukgeister plausibel zu machen. - Vor allem sind es Probleme der Mathematik, die mit der Tagesfrage des Dämonenglaubens in der epochemachendsten Weise verbunden werden. Der Unbefangene wird fragen: Was haben Probleme der Mathematik, der sichersten Lehre menschlicher Erkenntnis, mit dem abgeschmackten Glauben an Klopfgeister, dieser kindlichen Fiktion unaufgehellter Köpfe, zu schaffen?

Und doch sind es gerade mit die größten Mathematiker gewesen, die, ohne es zu ahnen, eine Brücke von der Wissenschaft zum Aberglauben geschlagen haben.  Die vierte Dimension des Raumes  ist heute ein geflügeltes Wort. In der vierten Dimension des Raumes soll sich das Ungeahnteste, das Unglaublichste zutragen; hier soll die Lösung aller Widersprüche, auf die wir bei der Erforschung der Dinge naturgemäß stoßen, zu finden sein usw. Leider ist jedoch die vierte Dimension des Raumes der bei weitem größten Mehrzahl der Menschen, die Wesen  dreidimensionaler  Natur sind, verschlossen. Wenn nun auch dem gewöhnlichen Menschen seine Sinne nur eine  dreidimensionale  Welt vorspiegeln, so führt doch die Betrachtung,  so lehren vorzügliche Mathematiker,  zur Anerkennung des Vorhandenseins der  vierten  Dimension des Raumes. Um dies klarzulegen, muß ich etwas in die Elemente der Mathematik zurückgreifen.

Durch die geradlinige Bewegung des Punktes entsteht die Linie. Die Linie repräsentiert uns  eine  Dimension des Raumes, nämlich seine Länge. Wesen, deren ganze räumliche Vorstellung sich auf die einer  Linie  erstrecken würde, die so eine lineare wäre, würden als  eindimensionale  Wesen bezeichnet werden müssen. Die Anschauung der Fläche (Ebene), sowie die der Körperlichkeit wäre für sie nicht vorhanden. (Die Körperlichkeit der Dinge würde für sie auf einer Linie projiziert sein.) Durch die Bewegung der Linie in einer ihrer eigenen Richtung nicht gleichen Richtung entsteht die Fläche (Ebene). Die Fläche repräsentiert uns  zwei  Dimensionen des Raumes, und zwar Länge und Breite. Wesen, deren ganze räumliche Anschauung sich auf die einer Fläche beschränken würde, müßten als zweidimensionale Wesen bezeichnet werden. Für sie würde die Höhendimension nicht existieren. Ihre Anschauung würde somit flächenhaft sein, welche flächenhafte Anschauung eben eine Projektion der dreidimensionalen Welt wäre.

Durch die Bewegung der Fläche in einer Richtung, die ihrer eigenen nicht gleich ist, entsteht der Körper. Im Körper sind die drei Dimensionen des Raumes gegeben, die wir als Länge, Breite und Höhe bezeichnen. Mögen wir einen Körper nun auch bewegen, wie wir wollen, immer gelangen wir wieder zu einem Körper, d. h. zu einem geometrischen Gebilde, welches die angegebenen drei Dimensionen besitzt. Wesen, deren räumliche Vorstellung in diesen drei Dimensionen verläuft, nennen wir dreidimensionale Wesen. Zu diesen gehören wir  gewöhnlichen  Menschenkinder. Unsere Sinne erschließen und eben keine fernere Dimension des Raumes. Nun gibt es aber nach der Meinung mehrerer Mathematiker Erscheinungen im  dreidimensionalen  Raum, die zur Annahme des Vorhandenseins einer vierten Dimension desselben führen.

Ich habe hier ein gleichschenkliches Dreieck, dessen Winkel in der Spitze jedoch kein Rechter sein darf. Ich teile jetzt dasselbe durch eine Halbierung des Winkels in der Spitze in zwei konkruente Dreiecke. Die Kongruenz dieser Dreiecke belege ich Ihnen dadurch, daß ich das eine Dreieck auf das andere klappe, denn zum Begriff der Kongruenz gehört es, daß beide Figuren als dieselbe Stelle des Raums einnehmend gedacht werden können.

Um die Dreiecke jedoch zur Deckung bringen zu können, mußte ich die  dritte  Dimension des Raumes benutzen. Es wäre mir absolut unmöglich gewesen, die Dreiecke, ohne die Ebene des Tisches zu verlassen, in der sie lagen, zur Deckung zu bringen. Kein Hin- und Herschieben hätte hierzu genützt. Ein  zweidimensionales  Wesen würde wohl begreifen können, daß, da in beiden Dreiecken zwei Seiten und der eingeschlossene Winkel gleich sind, die Dreiecke auch kongruent sein müssen, würde jedoch nicht imstande sein, da ihm die dritte Dimension des Raumes verschlossen ist, die Dreiecke wirklich zur Kongruenz zu bringen. Dieses Wesen könnte so  wohl  die  Überzeugung  von ihrer Kongruenz haben, ohne daß es jedoch die  Anschauung  davon hätte.

Uns geht es vielen dreidimensionalen geometrischen Gebilden gegenüber gerade so. Hier haben Sie ein paar vollkommen gleiche Tetraeder, Sphenoide genannt, eine Kristallform, in der beispielsweise Kupferkies kristallisiert. Dieselben sind nicht in der Vorstellung zur Deckung zu bringen, ebensowenig wie unsere beiden Hände, oder diese beiden sich ergänzenden Begonienblätter, die obgleich dem Wesen nach kongruent, dennoch nicht zur Kongruenz gebracht werden können. Der alleinige Unterschied der genannten gleichen Körper besteht in der Anlagerung ihrer einzelnen Teile; denn während bei dem einen Körper die Teile von links nach rechts geordnet sind, findet beim anderen eine Anlagerung von rechts nach links statt. So ist dann der eine Körper das  Spiegelbild  des anderen.

Sollen wir nun bei diesen Figuren den Begriff der  Kongruenz  aufgeben? Oder sollen wir im Rückblick auf das  zweidimensionale  Wesen zugestehen, es gibt noch eine  vierte  Dimension des Raumes, durch welche geführt, der eine Körper sich mit dem anderen decken würde? Ein großer Teil der Mathematiker neigt sich der Annahme einer vierten Dimension zu; einige ziehen für die Existenz derselben lebhaft zu Felde. Nach ihnen sollen es unsere blöden Sinne sein, die uns die  vierdimensionale  Welt (bzw. die  n-dimensionale)  als eine  dreidimensionale  erscheinen lassen.

Jeder uns wahrnehmbare Körper ist, so lehren sie, die dreidimensionale Projektion eines  vierdimensionalen Hyperkörpers. 

Diese Aufstellungen werden noch durch scheinbar darwinistische Spekulationen gestützt. - Die Abstammungslehre lehrt, wie Sie ja alle wissen, daß sich die Sinneswahrnehmungen bei den einzelnen Wesen im Laufe der Zeit herausgebildet haben. Nicht allein vervollkommnete sich in den enormen Zeiträumen die einzelne Sinneswahrnehmung als solche, sondern zu den alten Sinneswahrnehmungen traten allmählich  neue  hinzu. So gab es einst eine Zeit auf unserer Erde, wo letztere bereits von Tieren bewohnt war, ohne daß jedoch ein  Auge  vorhanden gewesen wäre, das  Licht  empfunden hätte, weil eben die Sehwahrnehmung sich noch nicht herausgebildet hatte.

Wie sich nun im Laufe der Generationen die Sinneswahrnehmungen herausbildeten, so sollte ein Gleiches auch die Anschauungsform des Raumes getan haben. Zuerst soll es nur  eindimensionale  Wesen gegeben haben, später  zweidimensionale,  schließlich  dreidimensionale  und in Zukunft, so hoffen jene, wird es wohl  n-dimensionale  geben.

Von anderer Seite geht man sogar noch weiter; man stellt die Denkaxiome für ein-, zwei- und dreidimensionale Wesen fest und sucht die Unzuträglichkeit der Axiome der dreidimensionalen Wesen darzulegen; konstruiert sich Räume zurecht, die in ihren  gleichartig gedachten  Teilen  nicht gleichartig  sind, mach aus dem  Weltenraum  einen  Pseudoraum,  der es dem Lichtstrahl verwehrt, seinen gradlinigen Lauf zu nehmen und der ihn zwingt in krummer Richtung dahinzuschießen, kurz: man gefällt sich in Phantasien, die bei weitem an Abenteuerlichkeit die eines SCHELLING übertreffen.

Die Erscheinungswelt mit der kalten Strenge ihrer Gesetze würde bald diese Träumereien zu Fall bringen, wenn nicht ein günstiges Geschick, wie gewisse Gelehrte glauben, hätte Wesen zustande kommen lassen, die schon jetzt  vierdimensionaler  Natur sind. Diesen außergewöhnlichen Menschen ist es dann auch vergönnt, Dinge zu sehen und zu hören, die anderen Sterblichen verborgen bleiben. Sie sind es eben, an denen sich die gemachten Spekulationen erproben und bewähren sollen.
    Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
    Dein Sinn ist zu, Dein Herz ist tot!
rufen uns jene zu. Lern die Notwendigkeit der  vierten  Dimension des Raumes einsehen, und Du wirst verstehen, wie Mr.  Slade,  das amerikanische Medium, mit einer Zuhilfenahme derselben die unglaublichsten Dinge ausführt; denn Mr.  Slade,  der Geisterbeschwörer, ist eben ein vierdimensionales Wesen, oder gebietet zumindest über Wesen, die vierdimensionaler Natur sind! -

So weit wären wir dann schließlich in unserem Zeitalter gekommen, in einem Zeitalter, welches sich mit so rechtem Selbstbehagen das Zeitalter der Aufklärung nennt, daß ein vermeintliches Medium mit seinem Klopftisch mehr vermag als ein Gelehrter mit seinem auf das glänzendste ausgestattete Lehrinstitut!

Noch erörtere ich schließlich, daß wir keinen Grund haben, eine vierte Dimension des Raumes anzunehmen. Wir sahen vorher, daß alle unsere Sinneswahrnehmungen sich in die Auffassungsform von Raum und Zeit kleiden; wir sahen ferner, daß die Bewegung als das Grundprinzip aller materiellen Vorgänge aufzufassen ist. Jede Bewegung, wie kompliziert sie auch sein mag, läßt sich stets auf den Begriff des dreidimensionalen Raums beziehen, woraus dann folgt, daß die Annahme einer vierten Dimension des Raumes für Bewegungserscheinungen überflüssig ist. - Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien lehrte uns, daß durch den Hinzutritt neuer Nervenfasern wohl neue Empfindungsformen erschlossen werden können, lehrt aber nichts davon, daß mit neuen Wahrnehmungsformen auch die Anschauungsform vom Raum oder gar noch von der Zeit einer qualitativen Erweiterung fähig ist; denn warum sollte nicht auch die Anschauungsform der in einer Linie fortschreitenden Zeit eine Erweiterung zu einer flächenhaften, schließlich zu einer körperhaften Zeit zulassen?

Versetzen Sie sich jetzt in das Wesen derjenigen Wahrnehmungsform, die sowohl der gesamten beseelten Natur gemeinsam ist, wie sie andererseits die ursprünglichste aller Wahrnehmungsformen ist, - ich meine die  Tastwahrnehmung,  so erkennen Sie, daß diese, um  überhaupt etwas zu leisten,  dreidimensionaler Natur sein muß. Da es aber vor allem die Tastwahrnehmung ist, der alle Wesen die Anerkennung und das Verständnis einer Außenwelt verdenken, so erweist sich die Annahme von ein- oder zweidimensionalen Wesen als dem Gesetz der (relativen) Überseinstimmung zwischen innerer und äußerer Welt zuwiderlaufend, als unhaltbar.

Aus denselben Gründen fällt auch die Annahme von Wesen vier- oder n-dimensionaler Natur.

Gerade die Abstammungslehre führt dazu, anzunehmen, daß Raum und Zeit die unwandelbaren Anschauungsformen sind, die sich durch alle Sinneswahrnehmungen hindurchziehen, die allen empfindenden Wesen gemeinsam  sind,  und auch bei einer ferneren Entwicklung bleiben  werden.  Anders verhält es sich jedoch mit den Empfindungsformen, die den einzelnen Sinnen  spezifisch  sind. Die werden, so hoffen wir, hinsichtlich ihrer Qualität wie Quantität in unseren Nachkommen wachsen, so daß den zukünftigen Geschlechtern diese Welt mit reicheren Attributen geschmückt erscheinen wird, als sie uns heute erscheint.



LITERATUR - Eugen Dreher, Über Wahrnehmung und Denken, Verhandlungen der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 15
    Anmerkungen
    1) In "Beiträge zur Theorie der Farbenwahrnehmung" aus "Die Kunst in ihrer Beziehung zur Psychologie und Naturwissenschaft", Berlin 1878, dritte Auflage, habe ich versucht aufgrund umfassender Experimente die Gesetze der  Licht wahrnehmung darzulegen.
    2) Hiergegen ließe sich einwenden, daß für die Natur eines Tones nicht allein seine Höhe, sondern auch seine Färbung (spezifischer Klang) maßgebend ist. So kann beispielsweise durch ein Klavier wie durch eine Klarinette ein Ton von gleicher Höhe und gleicher Stärke angegeben werden, ohne daß die durch die beiden Instrumente hervorgebrachten Töne die gleiche Empfindung wachrufen. Das Spezifische der Klangwirkung beruth nach HELMHOLTZ (mit Ausschluß ungleicher Nebentöne) auf der verschiedenartigen  Schwingungsform  schallerzeugender Körper, und schallleitender Medien, entsprechend den Wasserwellen, die bei gleicher Höhe und Länge doch eine verschiedene Form haben können. Wie jedoch die "Klangfarbe" vermittelt wird, weiß man bis jetzt nicht. Möglich daß dieselbe Faser des Cortischen Organs alle Klangfarben eines Tones vermittelt, in welchem Fall das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien eine Einschränkung erfahren müßte.
    3) Ich bemerke hier, daß LEIBNIZ das Unbewußte als einen unendlich kleinen Grad des Bewußtseins auffaßt, welcher der Ansicht von HELMHOLTZ beitritt. FRIES faßt dasselbe als ein metaphysisches Prinzip auf, welches dem Bewußtsein zur Vervollständigung des Seelenlebens beigesellt ist. SCHOPENHAUER und HARTMANN erkennen im Unbewußten die Lebenskraft, die sich unter bestimmten Umständen selber bewußt wird, und so zum Bewußtsein Veranlassung gibt. Viele Physiologen leiten hingegen das Unbewußte aus der selbständigen psychischen Tätigkeit gewisser Nervenzentren her. Meine Ansichten hierüber habe ich in meinem Werk "Der Darwinismus und seine Stellung in der Philosophie", Berlin 1877, auseinandergesetzt.
    4) In Bezug auf die nähere Erläuterung dieser Experimente und der aus ihnen gewonnenen Theorie verweise ich auf meine Arbeiten im "Archiv für Anatomie und Physiologie" von DUBOIS-REYMOND, Jahrgang 1875 und 76 und in "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", Jahrgang 1878 und 79.