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Die Hoffnungslosigkeit aller Psychologie [3/4]
Der Kampf der Triebe. Es ist wohl anzunehmen, daß alle Menschen alle dem Menschen zukommenden Triebe haben, aber die verschiedenen Charaktere sind deshalb so verschieden, weil nicht nur ein Trieb bei A sehr stark, bei B sehr schwach sein kann, sondern auch das Ergebnis abhängt vom Verhältnis der Triebe untereinander. Große Eitelkeit z. B. wird sich anders darstellen bei großer Klugheit, als bei geringer Klugheit. Man spricht von harmonischen und unharmonischen Charakteren, je nachdem die Triebe gut zusammenzustimmen scheinen oder nicht. Aber ein Kampf der Triebe untereinander findet überall statt. Man sollte meinen, der eigentliche Urtrieb, der Lebenstrieb müßte immer der stärkste sein. Aber schon beim Tier läßt die erregte Kampflust oder das geschlechtliche Verlangen die Gefahr vergessen, so daß nicht selten das Tier dem Tod geradezu in den Rachen läuft. Den Menschen läßt Pflichtgefühl oder Mitleid, nicht weniger aber auch Eitelkeit, Furcht vor Spott und dgl. dem Tod trotzen. Wenn man von einem Widerstreit der Motive spricht, oder ähnliche Ausdrücke gebraucht, so handelt es sich immer um den Streit der Triebe. Diese eigentümlichen inneren Kämpfe haben natürlich der Beobachtung nicht entgehen können, und wenn auch die moralisierende Auffassung eine gewisse Einseitigkeit mitgebracht hat, so hat man doch schon frühzeitig mit treffenden Worten von der Sache gesprochen. Der Apostel PAULUS sagt, "daß die Gedanken sich untereinander verklagen", und daß "zwei Gesetze in ihm wohnen", und GOETHE spricht von "zwei Seelen ach in meiner Brust". Jeder Unbefangene kann dabei nicht umhin, die nach verschiedenen Seiten gehenden Antriebe zu personifizieren, ja RACINE sagt geradezu, in ihm seien zwei Menschen. Je genauer man das Triebleben verfolgt, umso mehr erscheinen einem die Triebe wie selbständige Wesen, von denen jedes Herz und Kopf hat. Es ist durchaus nicht angebracht, Einen, der das offen ausspricht, lächerlich zu machen, da es sich doch nur um eine anschauliche Darstellung handelt, und im Grunde niemand von den geheimnisvollen Kräften unseres Innern etwas Rechtes weiß. Die Wahrnehmung. So wenig wie ein seelisches Leben ohne den Hintergrund der Triebe denkbar ist, ebensowenig könnten die Triebe ohne Werkzeuge zurecht kommen. Daß eins aufs andere wirkt, setzt zunächst die Wahrnehmung voraus. Wahrnehmen heißt, die Empfindungen auf einen Gegenstand beziehen. Es wird wohl von Allen zugegeben, daß eine Erklärung der Empfindungen nicht möglich ist, denn unser ganzes Wissen besteht darin, daß auf gewisse Veränderungen der Sinnesorgane gewisse Empfindungen folgen. Zu sagen, wie das zugeht, das kann niemand von der Psychologie verlangen. Diese pflegt dann auch von den Empfindungen auszugehen und weitläufig zu untersuchen, wie die Empfindungen zur Wahrnehmung werden. Die empirische Psychologie uns darüber belehren soll, was wir innerlich erleben, so sollte sie auch in diesem Fall von der Erfahrung ausgehen. Jedoch, der Redliche muß bekennen, daß er nicht weiß, wie er dazu kommt, etwas wahrzunehmen. Er mag seine Erfahrung durchforschen, wie er will, er wird finden, daß er immer etwas gesehen, gehört usw. hat, daß seine Wahrnehmungen immer von vornherein fertig gewesen sind. Man kann rot sehen, aber das ist immer das Erste, und nur durch künstliche Bemühungen gelangen wir dahin, vom Objekt zu abstrahieren, unsere Wahrnehmung zu zerteilen und die Empfindung als solche zu betrachten. Wenn also der Psychologe lehrt, daß wir die Empfindungen verschmelzen und aus ihnen Wahrnehmungen aufbauen, so trägt er Spekulationen vor, aber keine Ergebnisse der Erfahrung. Aus dem Reich der Phantasie stammt auch alles, was uns über die "Entstehung" der Raumanschauung erzählt wird. Nach Form und Inhalt ist uns die Wahrnehmung fertig gegeben, sie wird nicht aufgebaut, sondern wir versuchen nur hinterher, sie zu zerlegen. Sollte sie wirklich aufgebaut werden, so sind wir an der Sache unschuldig, wir gleichen dann Leuten, die im Zimmer sitzen, denen die arrangierte Speiseschüssel vorgesetzt wird, und die nicht in die Küche gucken können. Auch die Beziehung auf den Gegenstand ist uns völlig rätselhaft. SCHOPENHAUER hat bekanntlich von einer "intuitiven" Anwendung der Kausalität gesprochen, so als suchten wir nach einer Ursache unserer Empfindungen und schaffen dadurch das Objekt. Andere haben von "unbewußten Schlüssen" geredet, was ungefähr dasselbe besagen will. Natürlich ist von einem Nachweis keine Rede, es heißt nur: es muß so sein, denn wie sollten wir sonst zum Richtigen kommen? Die Annahme von unbewußten Schlüssen überhaupt mag uns bei den sogenannten Sinnestäuschungen sehr einleuchtend vorkommen, aber wenn sie gemacht werden, so geschieht es hinter einer Türe, die uns für immer verschlossen ist. Wir, und zwar der Gelehrte ebenso wie das Kind, empfangen die Wahrnehmung als fertiges Geschenk. Mit anderen Worten, alles, was vor der Wahrnehmung liegen mag, ist keine Tätigkeit des uns bekannten Ich, somit kein Gegenstand der empirischen Psychologie. Es ist ja begreiflich, daß die langsame Reifung des Menschen Theoretiker zu der wunderlichen Meinung führen konnte, der Mensch vervollkommene nicht nur seine Wahrnehmung durch Übung, sondern er lerne erst durch Übung wahrnehmen. Wäre es so, dann müßten die Tiere, die gleich nach der Geburt die sie interessierenden Gegenstände ganz vortrefflich wahrnehmen, entschieden geistig befähigter sein als der Mensch. Wahrscheinlich sind in dem Maße, wie die Sinnesorgane und ihr Verhältnis zueinander verschieden sind, die sinnlichen Wahrnehmungen der Tiere von den unsrigen und untereinander verschieden. Aber das ist doch eine Nebensache. Niemand kann bezweifeln, daß die Tiere gerade so wie wir Gegenstände im Raum wahrnehmen. SCHOPENHAUER hat den Mut, allen Tieren die Kategorie der Kausalität zuzuschreiben. Aber, sagt er, es geschieht "intuitiv", d. h. anschauungsweise (intueor). Da es sich gerade um die Anschauung handelt, kommt eine Tautologie heraus, aber die wirkliche Übersetzung von intuitiv heißt: "ich weiß nicht wie". Die Willkür. Das Ergebnis ist, daß wir die Wahrnehmung nicht begreifen. Wir wissen nicht, wie etwas in uns hereinkommt, aber fast noch weniger wissen wir darüber, wie etwas hinausgeht. Das heißt: wir begreifen die Entstehung einer Bewegung nicht. Man unterscheidet unwillkürliche und willkürliche Bewegungen, es hat aber seine Schwierigkeiten, zu sagen, was denn willkürlich ist. Da sind zunächst Bewegungen des Körpers, von denen wir für gewöhnnlich gar nichts wissen, die wir höchstens mit den Sinnen von außen erfassen, oder deren Folge wir fühlen können: der Kreislauf des Blutes und seine Änderungen, die Bewegungen des Verdauungsrohres (abgesehen von Anfang und Ende), die Bewegungen der Drüsensäfte, usw. Man bezeichnet wohl diese Bewegungen als schlechthin unwillkürliche oder dem Willen entzogene. Jedoch ist das nicht ganz richtig, denn die Beobachtungen an Hypnotisierten beweisen (abgesehen von anderen Erfahrungen), daß auch hier das Wollen in gewissem Grad eingreifen kann. Man kann z. B. die Rötung bestimmter Hautstellen, den Stuhlgang und den Monatfluß zu bestimmter Zeit durch das Wort hervorrufen. Auch von den Bewegungen, die durch die sogenannten willkürlichen Muskeln bewirkt werden, vollzieht sich ein Teil ganz unwillkürlich und kann nur in geringem Grad absichtlich abgeändert werden: wie die als Reflexe bezeichneten Bewegungen und die Atmung. Im Grunde gleichen der Atmung viele der als willkürlich geltenden Bewegungen, d. h. sie unterliegen dem Willen bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit, gehen aber, wenn die Aufmerksamkeit anderweitig beschäftigt ist, auch gut vor sich. Luft brauchen wir immer, also geht die Atmung immer fort, und bei willkürlicher Unterbrechung zwingt der Lufthunger schon nach einer Anzahl von Sekunden zum Weiteratmen. Speise brauchen wir nur von Zeit zu Zeit, aber nach einiger Zeit zwingt der Speisehunger ebenso wie der Lufthunger, und wir essen und trinken dann durchaus instinktiv. Das Neugeborene schluckt genauso gut wie der Erwachsene, und der Erwachsene (wenn er nicht Physiologie studiert hat) weiß ebenso wenig wie das Neugeborene, wa er beim Essen und Trinken tut. Das Gehen gilt in höherem Grad für willkürlich, weil das Kind es scheinbar erst lernt. Aber niemand glaubt doch, daß das Kind sich eine Vorstellung davon macht, wie es seine Beine benutzen soll, und der Mensch kann sein Leben lang herumlaufen, ohne je an seine Beine zu denken. Man beachte überhaupt, daß ein natürlicher Mensch, von Ausnahmefällen abgesehen, nie an seine Bewegungen denkt. Er sieht nach allen Seiten und weiß nicht, daß er seine Augen bewegt, er spricht und hat keine Ahnung von seinem Kehlkopf, er benutzt seine Hände, denkt aber nur an das Ziel oder Ergebnis der Arbeit. Nun bleiben etwa noch die künstlichen Bewegungen, die mit Mühe eingeübt werden, wie Schreiben, Klavierspielen, Tanzen, Turnen. Hier könnte man zumindest in einem Sinn von einer Bewegungsvorstellung sprechen, insofern als der Lehrer die Bewegung vormacht, und der Schüler die angeschaute nachmacht. Es ist bekannt, daß auch diese Bewegungen verhältnismäßig rasch zu unwillkürlichen werden. Wir erwerben Fertigkeit durch Übung, wie es aber dabei zugeht, das wissen wir nicht. Der sich selbst Beobachtende sieht mit Erstaunen, wie der Wunsch, es richtig zu machen, bei den Wiederholungen auf dunklen Wegen die Glieder erzieht. Man mag nur an irgendeine Bewegung denken, willkürlich oder nicht, bei einer jeden kehrt das wieder, daß wir gar keine Ahnung davon haben, wie sie zustande kommt. Verfolgen wir die Sache von innen, denken wir uns z. B. eine Frucht, die den Wunsch erregt, sie zu pflücken und zu essen. Wir können dabei den Gedanken haben, ich will die Hand nach ihr ausstrecken, aber wenn wir etwa wegbleiben, die Hand streckt sich einfach aus und erfüllt unseren Wunsch. Passen wir auf, so ist das einzige, was bei der Bewegung innerlich vor sich geht, ein Gefühl davon, eine Reihe von Empfindungen, die wir in Arm und Hand verlegen. Als Mediziner wissen wir, daß bei unseren Bewegungen in der Regel eine große Zahl von Muskeln zur Zusammenziehung gebracht werden muß, und daß jeder Muskel einen genau abgemessenen Antrieb erhalten muß. Es müssen also nicht nur die richtigen Muskeln ausgewählt werden, sondern es erfordert auch jeder eine besondere Behandlung, und zwar muß oft von Augenblich zu Augenblick gewechselt werden. Wer führt diese enorme Leistung aus, wer wählt und mißt hier? Man stelle sich z. B. eine schwierige Bergbesteigung vor und bedenke, welche Arbeit hier bei der Innervation [Entstehung von Nervenimpulsen - wp] zu leisten ist. Der Steigende selbst aber weiß nicht, was geschieht, er denkt an den Weg und seine Schwierigkeiten. Wenn ein Physiologe in aller Ruhe das Rezept der Innervation aufschreiben sollte, welche Muskeln, wieviel auf jeden und in welchem Tempo, er käme wohl recht mangelhaft zustande. Jetzt muß eine Spalte übersprungen werden. Der Steigende wirft einen Blick auf die Formation des Bodens und springt. Der Physiologe sagt hinterher, ja die Empfindungen, die von den Gedenkenden, den Sehnen, den Muskeln usw. ausgehen, die regeln die Stärke der Bewegung. Aber sind es die Empfindungen, die der Springende hat? Irgendetwas fühlt er schon, aber entwirft er etwa einen Plan aufgrund seiner Empfindungen? Er hat sie ja erst, wenn er springt. Aber, sagt der Physiologe, er hat die Erinnerung an frühere Empfindungen. In Wirklichkeit hat der Mensch, d. h. sein Ich, höchstens eine ganz verschwommene Erinnerung an das, was er bei früheren Sprüngen gefühlt hat; und zudem hat er den Sprung, um den es sich handelt, und von dem vielleicht sein Leben abhängt, noch nie gemacht, wie könnte er aufgrund andersartiger Erinnerungen genau das Richtige, die von der individuellen Situation geforderte Innervation blitzschnell herausfinden? Man denke an andere Beispiele, an einen geschickten Klavierspieler, der ein Stück presto vom Blatt spielt, an einen Sänger, der seine Partie vom Blatt sing, an einen Fechter, an Einen, der aus einem brennenden Haus flieht, usw. Hat man sich einmal die Sache klar gemacht, so wird man auch der allereinfachsten Bewegung gegebüber begreifen, daß wir dabei nicht wissen, was wir tun. Es kann gar kein Zweifel darüber sein, daß die Bewegung beim Tier ebenso entsteht wie beim Menschen. Der Unterschied kann nur in dem liegen, was der Bewegung vorausgeht, wie der Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Wahrnehmung darin liegt, was auf die eigentliche Wahrnehmung folgt. Wir haben wieder den Nebenunterschied, daß sich das Tier rascher entwickelt als der Mensch, daß daher viele Tiere gleich nach der Geburt geschickt herumlaufen, ein Unterschied, der den oberflächlichen Beobachter veranlassen mag, die "instinktive" Tierbewegung der "erlernten" Menschenbewegung entgegenzustellen, während er in Wahrheit dartut, daß es ein wirkliches "Erlernen" gar nicht gibt, da das langsam Entfaltete dem rasch Entfalteten gleicht. Auch im Hinblick auf Vollkommenheit kann man die menschliche Bewegung nicht von der tierischen abtrennen. Jene kann nur einerseits mehr durch den Gedanken gemeistert werden und ist andererseits vielseitiger. Aber in ihrem beschränkten Gebiet erreichen viele Tiere größere Geschicklichkeit als der Mensch, von Stärke und Ausdauer nicht zu reden. Die Innervation einer Gemse oder wilden Ziege beim Springen, eines Mauerseglers oder eines Falken beim Fliegen übertrifft alle menschlichen Leistungen. Wer sich scheut, faule Ausreden zu gebrauchen, daher nicht von "verwickelten Reflexen" spricht, der muß in Bewunderung still stehen und auf eine Erklärung verzichten. Das Denken. Zwischen der rätselhaften Wahrnehmung und der räteselhaften Bewegung liegt das im engeren Sinne geistige Tun. Man kann das Innere einem Glasgefäß vergleichen, dessen Inhalt in den oberen Schichten klar und durchsichtig, in den unteren mehr und mehr trüb und undurchsichtig ist. Klar kommt uns das Logische vor; sich einen inneren Vorgang klar machen, d. h. ihn in eine logische Form bringen. Bekanntlich braucht man die Logik nicht zu lernen, sondern jeder hat sie, wenn er auch ihren Namen nie gehört hat. Ohne daß wir es gemerkt hätten, ist sie in uns gewachsen, und zwar ist sie für und gänzlich verwachsen mit der Sprache. Wenn man sagt, das Denken in Begriffen muß doch vor der Sprache dagewesen sein, so ist dagegen nichts einzuwenden, aber wir können uns einen Begriff ohne sprachliche Form durchaus nicht denken, und das Innere eines sprachlosen Menschen (etwa eines unerzogenen Taubstummen) ist uns ganz unbegreiflich. Wie es bei der Entwicklung des Menschengeschlechts zugegangen ist, kann man nicht wissen, aber wahrscheinlich haben die entstehenden logischen Formen die Sprache sozusagen herausgetrieben und sich mit ihr umkleidet, wie der Krebs mit seinen Schalen. Mag es gewesen sein, wie es will, wir, die der Besinnung fähigen Menschen kennen keine nackte Logik. Deshalb sagen wir auch mit Recht: Wenn die Tiere in Begriffen denken könnten wie wir, so würden sie auch sprechen wie wir. Nebenbei gesagt, wer einmal über das Wunderwerk der Sprache, über Wortform und Syntax ernsthaft nachgedacht hat, der sollte für alle zeiten vor der darwinistischen Rohheit mit ihren zufälligen Variationen gesichert sein. Wir nennen die Logik eine Wissenschaft und sagen, sie gebe die Normen des Denkens. Aber sie beruth nicht wie andere Wissenschaften auf besonderen Erfahrungen, sie ist nur ein Besinnen darauf, wie wirklich gedacht wird, und sie schafft keine Normen, sondern sie stellt nur die sowieso geltenden zusammen. Ob etwas gedacht werden kann oder muß, das entscheidet der einfache Versuch; der "Wilde" denkt gerade so logisch wie der Gelehrte, der sich auf den Satz vom Widerspruch und auf die anderen metalogischen Sätze, wenn er will, beruft. Sowie aber die Logik psychologisch bearbeitet werden soll, versagt die Psychologie auch hier. Es gibt keine Antwort auf die Frage: Wie entsteht aus Anschauungen und Erinnerungen der Begriff? Wir werden dabei nur mit Wortbrühe begossen. Da spricht man von schematischen Zwischenformen zwischen der anschaulichen Vorstellung und dem uns nur im Namen gegebenen Begriff, aber gesehen hat diese Nebel noch niemand. Man mag sich anstellen, wie man will, der Graben zwischen dem irgendwie Anschaulichen und dem Wort, das gar nichts Anschauliches enthält, das wieder nur mit Worten definiert werden kann, bleibt immer unausgefüllt. Wie wir zu den Beziehungsbegriffen, zu den Kategorien, zu den sogenannten "reinen Anschauungen" kommen, wie Mathematik möglich ist, usw.., von all dem weiß die Psychologie nichts. Wenn ein Psychologe Hypothesen über diese Dinge ausspricht, so treibt er eben nicht mehr empirische Psychologie, denn diese soll aufzeigen, nachweisen und keine unbeweisbaren Möglichkeiten ausdenken. Eine logische Folge erscheint uns als klar, aber es wird dabei vorausgesetzt, daß die Glieder stetig zusammenhängen. Wenn man jedoch das eigene Denken sorgfältig beobachtet, so sieht man bald, daß ein lückenloser Zusammenhang in der Regel nicht vorhanden ist, daß wir mehr oder weniger in Sprüngen denken, wie etwa Kinder, die eine Treppe hinauf und hinunterlaufen, gern mehrere Stufen auf einmal nehmen. Nur da, wo besondere Schwierigkeiten bestehen, oder wo etwas nachgeprüft werden muß, werden die Formen in der Weise ausgefüllt, die die Logik beschreibt. Daß Schlüsse in extenso gezogen werden, das wird im Leben recht selten vorkommen, jedenfalls viel seltener, als man der Schule nach denken sollte. Was geschieht nun bei den Sprüngen des Denkens? Wir wissen es nicht. Man könnte meinen, die fehlenden Glieder werden so rasch gedacht, daß wir uns hinterher nicht auf sie besinnen können. Das Denken kann gewiß beschleunigt werden, aber eine gewisse Zeit braucht die Verknüpfung der Begriffe doch. Nun springt aber oft das Ergebnis des Denkens geradezu blitzartig hervor, und zwar geht diesem Ereignis ein Gefühl der Spannung voraus, erst eine eigentümliche Leere, und dann ist es da. Ein Gefühl der Gedankenjagd haben wir dabei gar nicht. Eine andere Art ist der plötzliche Einfall. Wir haben früher einen Gedankengang verfolgt, ohne ihn zu Ende zu führen. Dann sind andere Tätigkeiten dazwischen getreten und zwischen diesen oder auch früh nach dem Erwachen, nach kürzerer oder längerer Zeit fällt uns mit einem Mal der Schluß oder das Ziel des abgebrochenen Gedankenganges ein. Für uns ist "des Denkens Faden gerissen", aber der glückliche Erfolg zeigt freilich, daß er in Wirklichkeit doch nicht zerrissen gewesen ist. Nicht selten ist vordem der Gedankengang deshalb abgebrochen worden, weil die Schwierigkeiten zu groß zu sein schienen. Dann ist also gerade das Schwierigste so getan worden, daß wir nichts davon wissen. Man sagt dann wohl, die Gedanken sind reif geworden, aber wie? Beschleunigung würde nichts dabei geholfen haben. An diese könnte man eher denken, wenn heftige Gemütsbewegungen das Denken begleiten, wenn z. B. ein Entschluß in Todesangst gefaßt wird. Wenn Rettung erreicht werden soll, so müssen die in Betracht kommenden Möglichkeiten erwogen werden. Für gewöhnlich wäre dazu nicht wenig Zeit nötig, in der Not ist mit einem Mal der Entschluß da. Was ihm vorausgegangen ist, davon kann keine Rechenschaft gegeben werden, aber folgendes spricht dafür, daß nicht nur rascher, sondern überhaupt anders als sonst gedacht worden ist. Der Erfolg zeigt nämlich (nicht immer natürlich, aber zuweilen), daß die Leistung dem ruhigen Menschen überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Geschwindigkeit allein aber kann das nicht machen. Es scheint, daß gerade dann, wenn etwas Besonderes geliefert werden soll, unser gewöhnliches Denken nicht mehr genügt. Es geht etwas in der Tiefe vor sich, wir aber sehen nur die Lücke. Bekannt und viel besprochen sind die Fälle, in denen oft wiederholte Gedankengänge lückenhaft werden. Es ist dann so, als ob der Vater Vernunft das Kind erst Schritt für Schritt geleitet hätte, dann aber sich mit einer Anregung begnügte und das Kind allein laufen ließ, während er sich anderen Dingen zuwendet. Es beschließt z. B. Einer, an einen Ort zu gehen, den er schon oft besucht hat, er nimmt Hut und Stock, verliert sich dann im Nachdenken über eine Frage, die ihn an dem Tag besonders beschäftigt. Er kommt an seinem Ort an, weiß, was er unterwegs gedacht hat, weiß aber nicht, daß er die Haustür geöffnet und geschlossen, den richtigen Weg eingeschlagen hat, Hindernissen ausgewichen ist, an bestimmten Stellen die Richtung gewechselt hat. Oder es kommt vor, daß Einer ganz richtig abschreibt, dabei aber etwas anderes denkt, und hinterher vom Inhalt des Geschriebenen nichts weiß. Über ähnliche Erscheinungen ließe sich sehr viel sagen, hier jedoch handelt es sich nur darum, darauf hinzuweisen, daß auch unser Denken in Begriffen Lücken zeigt, daß durchgängige Klarheit auch auf diesem klarsten Gebiet des seelischen Lebens nicht zu finden ist. Das Gefühl. Man pflegt dem Denken das Fühlen gegenüberzustellen. Man kann es als ein Denken ohne Begriffe bezeichnen und das einzelne Gefühl als ein Urteil. Die Berechtigung dazu ergibt sich daraus, daß man in einer seelischen Folge Gefühle durch Urteile ersetzen kann, ohne das Ergebnis zu ändern, und daß dieselben Handlungen zustande kommen, wenn die Stelle eines Urteils von einem Gefühl ersetzt worden ist. Genauer gesagt sind die Gefühle bejahende oder verneinende Urteile und zwar sind lustvolle Gefühle jenes, unlustvolle dieses. Es liegt auf der Hand, daß Lust, Wollen, Bejahen nur Formen desselben Vorgangs sind, und daß sie als Abstracta in der Welt einen Gegenstand brauchen, daß es nicht Lust ansich oder Wollen ansich, sondern nur Lust an oder zu etwas Bestimmten gibt. Als billigende oder mißbilligende Urteile begleiten Gefühle die anderen seelischen Vorgänge. Wenn man in höchst unpassender Weise von einem "Gefühlstone" der Empfindungen spricht, so will man sagen, daß der Gegenstand der Wahrnehmung vom Ich bejaht oder verneint wird, oder daß eine nach dem Inhalt der Empfindung verschiedene Lust oder Unlust entsteht. Man sieht, nebenbei gesagt, wie falsch es ist, den Schmerz mit den Empfindungen in eine Reihe zu stellen und so zu tun, als ob es einen Schmerz ansich gäbe. Nur weil wir von der Unlust überwältigt werden und das Objektive (Stechen, Brennen usw.) vernachlässigen, spricht man von einem Schmerz schlechthin. In ähnlicher Weise bezeichnet man zuweilen die höchsten Grade der Lust, besonders die Wollust, unter Nichtansetzung des Objektiven als Lust schlechthin. Weil der Schmerz Mißbilligung, nicht Empfindung ist, spricht die Sprache mit Recht von Seelenschmerzen. Im Allgemeinen macht die Sprache keinen großen Unterschied zwischen Empfindung und Gefühl, wahrscheinlich deshalb, weil bald mehr das Objektive (der Inhalt), bald mehr das Subjektive (die Billigung) ins Auge gefaßt wird. Immerhin ist die in der Psychologie übliche Unterscheidung zweckmäßig. Spannung z. B. ist eine Empfindung, die von angenehmen oder unangenehmen Gefühlen begleitet sein kann. Schlimm genug, daß man so etwas sagen muß. Wie die Wahrnehmung, so begleiten auch das Denken Gefühle, Lust die Zusammenstimmung, Unlust den Widerspruch, ja im Deutschen wird die Unlust des Widerspruchs geradezu als die Not bezeichnet, da notwendig eben das ist, was den Widerspruch abwendet. Abgesehen von den logischen Gefühlen, weckt der Inhalt des Gedachten Gefühle, je nachdem dieser oder jener Trieb erregt wird. Die Poesie z. B. ist nichts anderes als die Kunst, durch Worte unsere Triebe anklingen zu lassen und damit starke Gefühle zu erregen. Eine wunderbare Leistung ist die sprachliche Bestimmung der Gefühle: Liebe, Bewunderung, Verehrung, Dankbarkeit, Haß, Zorn, Rache, Neid usw. Wie steht es nun mit der vielbeklagten Unklarheit, Rätselhaftigkeit der Gefühle, die dieses Gebilde zu Schmerzenskindern der Psychologie macht? Man muß da wieder fragen, wie wir denn dazu kommen, überhaupt ein selbständiges Geühl zu deuten, d. h. in ein Urteil zu übersetzen. Das eine ist ja dem anderen so wenig ähnlich wie möglich. Nach menschlicher Auffassung können wir nur durch die Erfahrung dazu kommen, dadurch, daß sich bestimmte Handlungen an bestimmte Gefühle anschließen. Besonders der ersten Liebesgefühle geheimnisvolles Wesen ist ein unerschöpfliches Thema. Der junge Mensch fühlt und fühlt, und weiß nicht was. Erst dadurch, daß er Erfahrungen macht, lernt er sich verstehen und auch den Grad des Gefühls auslegen, z. B. ob es heißt: dein Anblick macht mir Freude, oder: ich möchte dich ein wenig anfühlen, oder: ich möchte dich auffressen. So lernt man erst allmählich auch den Neid verstehen, die Eitelkeit und anderes mehr. Wievieles tun wir, ohne zu begreifen, daß das Gefühl, das uns bewegt, in Begriffen lautet: ich möchte gelobt werden. Soweit wie die Gefühle bei Allen vorkommen, tragen sie einen Namen, und man kann über sie reden. Dagegen haben neue Gefühle tatsächlich einen rätselhaften Charakter. Sie sind sehr lebhaft, so kann uns unser unwillkürliches Tun aufklären. Sind sie aber schwach, oder werden sie durch Gegengefühle gesperrt, so mögen wir uns den Kopf zerbrechen. Wie oft z. B. befällt uns beim Anblick neuer Menschen ein Gefühl, das wir nicht verstehen, das sich aber der Vorsichtige als Warnung dienen läßt. Ferner entstehen Schwierigkeiten durch die Verknüpfung von Gefühlen. Diese können einander begegnen, kreuzen, bekämpfen, durchdringen, und das Ergebnis behält etwas Unklares. Aber trotz der Schwierigkeit des Verständnisses gehören die Gefühle nicht zu den eigentlich "dunklen Punkten" des Seelenlebens, weil wir uns ihre Entstehung und ihrer Art gut erinnern können, wie sie sozusagen deutlich vor uns sehen. Unterscheiden. Dagegen die Vorgänge ohne Worte, die wir als Vergleichen, Unterscheiden, Auswählen oder ähnlich bezeichnen, sind kaum zu fassen. Wir bekommen zwar das Ergebnis in die Hand, können aber nicht recht sagen, wie es zugegangen ist. Wenn der Mensch beobachtet, der Jäger in der Natur, der Korrektor in der Schrift, der Offizier beim Exerzieren, das Weib im Verkehr der Geschlechter, so fallen ihm ganz geringe Unterschiede auf, und blitzschnell hat er ihre Bedeutung erfaßt. Die Sinnesschärfe spielt dabei nur eine Nebenrolle, die Übung steigert die Fähigkeit (auf unbegreifliche Weise), aber sie macht sie nicht. Wie sehen an den Tieren, daß sie (natürlich in ihrem Bereich) mindestens ebenso scharf beobachten wie der Mensch, und fragen uns da erst recht, wie stellen sie es an? Einer meiner Hunde (5) hatte in der Küche beobachtet, daß der Zughund der Waschfrau gefüttert wurde, und hatte sich in seinem Hundeneid offenbar darüber geärgert. Gewöhnlich war er in meinem Zimmer im ersten Stock und lag dann ruhig in seinem Korb. Das Zimmer war durch Türen und Doppelfenster abgeschlossen. Auf der lebhaften Straße fuhren unaufhörlich Pferdewagen, Kinderwagen, Buchhändler-Karren, Hundewagen, gingen sehr viele Menschen und nicht wenige Hunde. All das kümmert meinen Hund gar nicht, aber wenn er knurrend den Kopf hob, so wußte ich, jetzt biegt der Waschfrau-Hund um die Straßenecke. Jedesmal war es richtig, und ich konnte trotz aller Mühe das richtige Geräusch nicht herausfinden. Es werden also, sobald ein Interesse dahinter steht, die feinsten Unterschiede richtig und rasch erfaßt. Man denke auch an die dressierten Tiere, die sich nach kaum wahrnehmbaren Bewegungen ihres Erziehers richten. Mit dem öden Wort Assoziation kommt man natürlich nicht aus. Es tritt nämlich zum richtigen Vergleichen sofort auch das richtige Handeln. Man nehme die Jagd. Mensch und Tier verhalten sich da fast ganz gleich, d. h. wenn der Mensch ein guter Jäger ist. Auf die Erkenntnis muß sofort der Entschluß folgen, denn sonst ist die Beute verloren. Wollte man von einem sicheren Instinkt im alten Sinn reden, so wäre zu erwidern, daß jede Jagd eine andere ist, das Handeln muß sich nach dem einzelnen Fall richten. Wollte man vom geschwinden Denken des geschulten Mannes reden, so wäre zu sagen, daß er doch nichts anderes leistet, als das Raubtier. Kurz, der Psychologe ist wiederum in Not. Gedächtnis. Ein weiteres Gebiet ist die Lehre vom Gedächtnis. Wir erinnern uns, und wir vergessen, aber warum es bald so geht, bald anders, warum unser Wille bald sein Ziel erreicht, bald nicht, und wer im zweiten Fall eigentlich über die Erinnerungen verfügt, das wissen wir nicht. KANT schrieb, als er seinen Diener LAMPE weggeschickt hatte, auf einen Zettel: "Lampe muß vergessen werden!" Daß aber das Vergessen eine sehr schwere Kunst ist, das zeigt schon der alte Wunsch nach dem Trank Die Konzeption. Zu erinnern ist auch an die Phantasie-Arbeit in der Tiefe. Wie dem Denker die Lösung seiner Fragen "einfällt", so empfängt der Künstler die Idee seines Kunstwerks scheinbar als Geschenk. Gerade diese Eigentümlichkeit der künstlerischen Tätigkeit ist oft besprochen worden, und man hat sie vielfach als Eingebung des Genius, als Inspiration bezeichnet. Jedoch ist hier, wie bei der Gedankenarbeit, der Erfolg nicht zu haben ohne vorausgehende Arbeit. Der Künstler hat sich vorher am Stoff abgemüht, hat seinen Willen ganz auf sein Ziel gerichtet, und das, was ihm dann nach der Ruhe einfällt, ist durch seine Arbeit vorbereitet. Aber freilich die Vollendung, die glückliche Zusammenfügung ist, ohne daß er das wüßte, wie, hinter seinem Rücken vor sich gegangen. Auch abgesehen von den "Konzeptionen" im eigentlichen Sinn ist es bei wissenschaftlicher und künstlerischer Tätigkeit so, daß die geistige Arbeit auch dann fortschreitet, wenn das Bewußtsein nicht auf sie gerichtet ist. Wenn nur die Pausen nicht allzulang sind, so findet sich der Arbeiter bei der Wiederaufnahme seiner Tätigkeit gefördert. Es ist, als ob jemand inzwischen daran gearbeitet hätte, und das Märchen von den Heinzelmännchen drückt dieses Gefühl sehr anmutig aus.
5) Man verzeihe mir, daß ich immer auf meine Hunde zurückkomme, aber ich möchte die Beispiele aus der eigenen Erfahrung nehmen und auf Beobachtungen hinweisen, die jeder machen kann, nicht auf Anekdoten, wie sie in den Zeitungen stehen. |