p-4Laura BridgmanHelen KellerStumme StimmenLaura Bridgman   
 
HELEN KELLER
Meine Welt
[1/2]

Ich bin geneigt, jenen Philosophen zu glauben, welche behaupten, daß wir nichts kennen als unsere eigenen Gefühle und Begriffe.

Vor einigen Monaten erschien in einer Zeitung, die die Veröffentlichung des "Mathilda-Ziegler Magazine for the blind" ankündigte, folgende Bemerkung:
    "Manche Gedichte und Geschichten müssen ausgelassen werden, weil sie von Sehen handeln. Anspielungen auf Mondstrahlen, Regenbogen, Sternenlicht, Wolken und schöne Landschaften dürfen nicht gedruckt werden, weil sie dem Blinden sein trauriges Schicksal besonders bitter zum Bewußtsein bringen würden."
Das heißt also: Ich darf nicht von schönen Häusern und Gärten sprechen, weil ich arm bin. Ich darf nicht von Paris und Westindien lesen, weil ich diese Gegenden nicht in ihrer Wirklichkeit aufsuchen kann. Ich darf nicht vom Himmel träumen, weil ich vielleicht niemals hineinkommen werde. Und doch treibt mich ein waghalsiger Geist, Worte von Gesicht und Klang zu gebrauchen, deren Bedeutung ich nur durch Analogie und Phantasie erraten kann.

Dieses gewagte Spiel ist nun aber gerade das halbe Entzücken, die eigentliche Lustigkeit des Alltagslebens. Ich erglühe, indem ich von glänzenden Erscheinungen lese, die nur das Auge wahrnehmen kann. Anspielungen auf Mondschein und Wolken verschärfen nicht die Empfindung meines Unglücks, sondern sie tragen meine Seele über die enge Wirklichkeit meines traurigen Geschickes hinaus.

Die Kritiker haben ihr Vergnügen daran, uns zu sagen, was wir nicht können. Sie nehmen an, daß Blindheit und Taubheit uns vollständig von jenen Dingen absondern, die der Sehende und der Hörende genieße, und folgern daraus, wir haben kein moralisches Recht, von Schönheit, Himmelserscheinungen, Bergen, Vogelsang und Farben zu reden. Sie erklären, sogar die Empfindungen, die wir durch den Tastsinn wirklich haben, seien nur "stellvertretende" - wie wenn unsere Freunde die Sonne für uns fühlten!

Sie leugnen a priori, was sie nicht gesehen haben und was ich doch gefühlt habe. Einige wackere Zweifler gehen sogar so weit, meine Existenz zu leugnen. Um nun wenigstens selber zu wissen, daß ich existiere, nehme ich Zuflucht zu DESCARTES Methode:  Ich denke, also bin ich.  So steht denn metaphysisch meine Existenz fest, und ich schiebe den Zweiflern die Mühe zu, meine Nichtexistenz zu beweisen.

Wenn wir bedenken, wie wenig vom Wesen des Geistes ergründet ist, ist es dann nicht erstaunlich, daß ein Mensch sich herausnimmt, festzustellen, was einer wissen kann oder nicht wissen kann? Ich gebe zu, es sind in einer sichtbaren Welt unzählige Wunder, von denen ich keine Ahnung habe. Desgleichen aber, mein selbstbewußter Kritikus, gibt es Myriaden von Empfindungen, die ich wahrnehme, und von denen du dir nicht träumen lässest.

Notwendigkeit verleiht dem Auge eine kostbare Sehkraft, und ebenso gibt sie dem ganzen Körper eine kostbare Fühlkraft. Zuweilen ist es mir, als bestände mein ganzes leibliches Fleisch aus lauter Augen, welche nach ihrem Belieben in eine Welt hinausschauen, die täglich neu geschaffen wird. Das Schweigen und die Dunkelheit, die mich angeblich einschließen, öffnen sehr gastlich meine Tür unzähligen Empfindungen, die mich zerstreuen, belehren, ermahnen und erheitern.

Mit meinen drei zuverlässigen Führern: Gefühl, Geruch und Geschmack, mach ich manchen Streifzug in das Grenzland der Erfahrung, das in Sicht der Stadt des Lichtes gelegen ist. Die Natur paßt sich dem Bedürfnis eines jeden an. Ist das Auge zerstört, sodaß es das schöne Antlitz des Tages nicht sieht, so wird der Tastsinn schärfer und unterscheidet deutlicher. Die Natur unternimmt es, durch Übung die verbleibenden Sinne zu stärken und zu vermehren. Darum hören Blinde oft leichter und deutlicher als andere Leute. Der Geruchssinn wird beinahe eine neue Fähigkeit, um verworrene und unbestimmte Erscheinungen zu erkennen. So helfen und unterstützen nac einem unwandelbaren Gesetz die Sinne einander.

Es kommt mir nicht zu, zu sagen, ob wir besser mit der Hand oder mit dem Auge sehen. Ich weiß nur, daß die Welt, die ich mit meinen Fingern sehe, lebendig, farbenfroh und befriedigend ist. Der Tastsinn bringt dem Blinden manche Gewißheiten, deren unsere glücklicheren Mitmenschen entbehren müssen, weil ihr Gefühl nicht ausgebildet ist. Wenn sie sich etwas ansehen, stecken sie ihre Hände in die Taschen.

Dies ist ohne Zweifel ein Grund, warum ihr Wissen oft so unbestimmt, ungenau und zwecklos ist. Freilich ist wahrscheinlich unsere Kenntnis von Erscheinungen, die außerhalb des Bereiches unserer Hand liegen, ebenso unvollkommen. Aber wir sehen sie doch auf alle Fälle durch einen goldenen Nebel der Phantasie.

Doch an dem, was wir berühren können, ist nichts Nebelhaftes oder Ungewisses. Durch den Tastsinn kenne ich die Gesichter von Freunden, die unbeschränkte Mannigfaltigkeit gerader und krummer Linien, alle Oberflächen, die üppige Fülle des Bodens, die zarten Gestalten der Blumen, die edlen Formen der Bäume und die Wucht gewaltiger Winde.

Außer Gegenständen, Oberflächen und atmosphärischen Veränderungen nehme ich noch zahllose Schwingungen wahr. Die Erschütterungen und Stöße, die überall im Hause zu verspüren sind, teilen mir viele Kenntnisse von alltäglichen Vorgängen mit.


Schritte und Erschütterungen
Schritte, habe ich entdeckt, unterscheiden sich taktmäßig je nach dem Alter, dem Geschlecht und dem Charakter der Gehenden. Es ist unmöglich, das Getrappel eines Kindes mit dem Tritt einer erwachsenen Person zu verwechseln. Der Schritt des jungen Mannes, stark und frei, unterscheidet sich von dem schweren bedächtigen Tritt eines Mannes in mittleren Jahren und von dem Gang eines alten Mannes, dessen Füße den Boden entlang schlurfen oder langsam und strauchelnd ihn berühren.

Über den bloßen Fußboden schreitet ein Mädchen mit einem schnellen, elastischen Rhythmus, der von dem schweren Schritt einer älteren Frau ganz verschieden ist. Ich habe gelacht über das Knarren neuer Schuhe und das Getrampel einer dicken Köchin, die in der Küche einen Hopser tanzte. Eines Tages erregte im Speisesaal eines Hotels eine Dissonanz meine Aufmerksamkeit.

Ich saß still und horchte mit meinen Füßen. Da fand ich, daß zwei Kellner hin und her gingen, aber nicht im gleichen Schritt. Ein Orchester spielte, und ich konnte die musikalischen Wellen fühlen, wie sie über den Fußboden flossen. Der eine von den Kellnern ging nach dem Takt der Musik, anmutig und leicht, während der andere auf die Musik nicht achtete und nach dem falschen Rhythmus eines Mißklanges in seinem Innern von Tisch zu Tisch eilte. Ihre Schritte erinnerten mich an das mutige Schlachtroß, das mit einem Karrengaul zusammengespannt war.

Oftmals verraten Schritte bis zu einem gewissen Grade Charakter und Stimmung des Gehenden. Ich fühle in ihnen Festigkeit und Unentschlossenheit, Übereilung und Bedachtsamkeit, Tätigkeit und Faulheit, Ermüdung, Sorglosigkeit, Furchtsamkeit, Ärger und Kummer. Besonders an Personen, mit denen ich vertraut bin, bemerke ich diese Stimmungen und Charakterzüge.

Es gibt fühlbare Schwingungen, die nicht zum Tastbereich der Haut gehören. Sie durchdringen Haut, Nerven, Knochen wie Schmerz, Wärme und Kälte. Trommelschlag durchdringt mich von der Brust bis zu den Schulterblättern. Das Klirren des Eisenbahnzuges, das Knirschen der Maschine packen mich an und ich fühle es wie den Handschlag eines alten Seebären nach lange nachher.

Wenn Schwingungen und Bewegungen eine gewisse Zeit lang zusammen auf mich wirken, ist es mir, wie wenn die Erde fortläuft, während ich stillstehe. Wenn ich aus dem Zuge steige, dreht sich der Bahnsteig um mich herum, und ich finde es schwierig, mit festen Schritten zu gehen.

Jedes Atom meines Körpers ist ein Vibroskop. Aber meine Wahrnehmungen sind nicht unfehlbar. Ich strecke die Hand aus, und meine Finger treffen auf etwas Haariges, das hin und her hüpft, sich zusammenkauert, wie wenn es springen wollte und sich wie ein Tier benimmt. Aus Vorsicht warte ich einen Augenblick. Dann berühre ich es fester und finde, daß es ein Pelzrock ist, der im Winde flackert und hin und her schlägt.

Mir scheint, gerade wie euch, die Erde unbeweglich zu sein, und die Sonne scheint sich zu bewegen; denn die Strahlen der Abendsonne entfernen sich mehr und mehr, indem sie mein Gesicht berühren, bis die Luft kühl wird. Dies macht mir begreiflich, daß die Küste vor euch zurückzuweichen scheint, indem ihr von ihr wegfahrt. Darum finde ich es auch nicht unglaublich, wenn ihr sagt, daß parallele Linien sich zu treffen und Himmel und Erde sich zu berühren scheinen. Meine wenigen Sinne enthüllten mir schon vor längerer Zeit ihre Unvollkommenheit und Unzuverlässigkeit.

Die Sinne sind nicht nur unzuverlässig, sondern so mancher Sprachgebrauch zeigt uns an, daß es Leuten mit fünf Sinnen schwer wird, deren Verrichtungen auseinander zu halten. Ich vernehme, daß wir Ansichten hören, Töne sehen, Musik empfinden. Man sagt mir, Töne haben Farben. Ich hatte angenommen, Takt beruhe auf feiner Wahrnehmung; es stellt sich heraus, daß er eine Sache des Geschmacks ist.

Nach der reichlichen Anwendung des Wortes zu urteilen scheint Geschmack der wichtigste von allen Sinnen zu sein. Geschmack herrscht über die großen und kleinen Herkömmlichkeiten des Lebens. Sicherlich ist die Sprache der Sinne voll von Widersprüchen, und meine Mitmenschen, die fünf Türen in ihrem Hause haben, fühlen sich darin nicht sicherer heimisch, als ich mich in dem meinigen fühle. Darf ich also nicht auch auf Entschuldigung rechnen, wenn es diesem Bericht über meine Empfindungen etwas an Bestimmtheit fehlt?


Geruch ist ein gefallener Engel
Aus irgendeinem unerklärlichen Grunde nimmt der Geruchssinn unter seinen Brüder nicht den hohen Rang ein, den er verdient. Er hat etwas von einem gefallenen Engel an sich. Wenn er uns mit Waldgeruch erquickt, uns mit den Düften lieblicher Gärten umschmeichelt, dann sprechen wir gerne von ihm. Aber wenn er uns vor Schädlichem in unserer Nachbarschaft warnt, dann wird er behandelt, wie wenn der Teufel die Oberhand über den Engel gewonnen hätte: er wird in die tiefste Finsternis hinabgestoßen, für seinen treuen Dienst bestraft.

Es ist sehr schwierig, Wörter in ihrer wahren Bedeutung anzuwenden, wenn man die Vorurteile der Menschheit zur Sprache bringt, und ich finde es fast unmöglich, über Geruchswahrnehmungen etwas zu sagen, was zugleich wundervoll und wahrhaftig wäre.

Nach meiner Erfahrung ist der Geruch von der höchsten Bedeutung; auch finde ich eine hohes Zeugnis für den Adel des Sinnes, den wir vernachlässigt und entwürdigt haben. Ich bezweifle, daß das Gesicht eine köstlichere Empfindung gewähren kann als der Geruchssinn durch die Düfte, die aus sonndurchwärmten, windbewegten Zweigen strömen, oder durch die Flut von Wohlgerüchen, welche Woge auf Woge anschwillt, zusammensinkt, sich wiederholt und die weite Welt mit unsichtbarer Süße erfüllt.

Ein Hauch aus dem Weltall läßt uns Welten träumen, die wir nie gesehen haben, ruft uns in einem Nu ganze Zeiträume teuerster Erinnerungen zurück. Niemals rieche ich Maßliebchen, ohne wieder jene Morgenstunden voll Begeisterung zu durchleben, in denen meine Lehrerin und ich über die Felder wanderten, während ich neue Wörter und die Namen von Dingen lernte.

Der Geruch ist ein mächtiger Hexenmeister, der uns über Tausende von Meilen und über alle die Jahre fortträgt, die wir schon durchlebt haben. Der Duft von Früchten läßt mich zu meinem Heim im Süden entschweben, zu meiner kindlichen Ausgelassenheit unter den Pfirsichbäumen. Andere Düfte, die im Augenblick vorbeifluten, ergreifen mein Herz, daß es sich fröhlich weitet oder in kummervoller Erinnerung sich zusammenzieht. Selbst wenn ich nur an Gerüche denke, ist meine Nase voll von Düften, die in mir süße Erinnerungen an vergangene Sommer und an ferne reifende Kornfelder wachrufen.

In der Abendruhe gibt es weniger Schwingungen als bei Tage, und dann empfange ich meine Wahrnehmungen in höherem Maße durch den Geruchssinn. Der Schwefelgeruch eines Streichhölzchens sagt mir, daß die Lampen angezündet werden. Später bemerke ich eine irrende Fährte von Geruch, der hin und her flackert und dann verschwindet. Dies ist das Signal für die Nachtruhe: Die Lichter sind ausgelöscht.

Wahrnehmungen des Tastsinns sind beständig und endgültig. Gerüche sind beständig und endgültig. Gerüche sind flüchtig und irren vom Weg ab; sie wechseln in ihren Abstufungen und Schattierungen; sie sind bald hier, bald da. Es ist noch etwas anderes am Geruch, was mir eine Empfindung für Entfernung gibt. Ich möchte es Horizont nennen - die Linie, wo Geruch und Phantasie auf der äußersten Grenze des Duftes sich begegnen.

Der Geruch gibt mir mehr als Gefühl oder Berührung einen Begriff von der Art, wie Gesicht und Gehör wahrscheinlich ihre Funktionen verrichten. Das Gefühl scheint dem berührten Gegenstand anzuhaften, weil eine Berührung von Oberflächen erfolgt. Beim Geruch habe ich keine Empfindung von einem Hervortreten des Gegenstandes. Der Geruch scheint nicht dem mit dem Geruchsorgan wahrgenommenen Gegenstande zu eigen zu sein, sondern diesem Organ.

Da ich einen Baum von ferne rieche, so ist es mir begreiflich, daß jemand ihn sieht, ohne ihn zu berühren. Ich wundere mich nicht über die Tatsache, daß der Sehende den Baum als ein flaches Bild auf seiner Netzhaut empfängt, denn mein Geruch nimmt den Baum als eine dünne Sphäre ohne Fülle oder Inhalt wahr.

An und für sich sind Gerüche nichtssagend. Ich muß erst durch Ideenverbindung lernen, nach ihnen Entfernungen, Örtlichkeiten, Handlungen zu beurteilen und auf Nebenumstände zu schließen, bei denen sie in Wirksamkeit zu treten pflegen. Wie man mir sagt, ziehen die übrigen Menschen genau ebenso ihre Schlüsse aus Farbe, Licht und Klang.


Trügerischer Personengeruch
Ausdünstungen sagen mir viel Neues vom Menschen. Oft erkenne ich daran die Arbeit, womit sie beschäftigt sind. Gerüche von Holz, Eisen, Farben, Gewürzen heften sich den Kleidern derer an, die damit zu tun haben. So kann ich den Tischler vom Eisenarbeiter unterscheiden, den Künstler vom Maurer oder Apotheker.

Wenn jemand schnell von einem Ort zum andern geht, bekomme ich einen Geruchseindruck von dem Ort, wo er gewesen ist: der Küche, dem Garten oder der Krankenstube. Angenehme Gedanken an Frische und guten Geschmack gewinne ich durch die Gerüche von Seife, Toilettenwasser, sauberen Kleidern, Handschuhen, wollenen und seidenen Stoffen.

Ich besitze allerdings nicht den allwissenden Spürsinn des Hundes oder des wilden Tieres. Nur Lahme und Blinde brauchen meine geschickte Verfolgung zu fürchten; denn außer Wasser, kalten Fährten und verwirrenden, kreuzenden Spuren gibt es noch manches andere, was mich irre leitet.

Soviel ist jedoch sicher: menschliche Gerüche sind so mannigfaltig und so leicht zu unterscheiden wie Hände und Gesichter. Die teuren Gerüche derer, die ich liebe, sind so bestimmt, so unverkennbar, daß nichts sie völlig verwischen kann. Sollten auch viele Jahre verstreichen, bis ich einen vertrauten Freund wiedersehe, ich glaube, ich würde im Herzen Afrikas augenblicklich seinen Geruch erkennen, ebenso schnell wie mein bellendes Brudergeschöpf.

Vor langer Zeit küßte mich einmal im Menschengedränge eines Bahnhofes eine vorübereilende Dame. Ich hatte nicht einmal ihr Kleid berührt. Aber sie hinterließ mir mit ihrem Kuß einen Duft, der mir eine schnelle Vorstellung von ihr gab. Es ist viele Jahre her, seit sie mich küßte. aber ihr Geruch ist noch frisch in meinem Gedächtnis.

Es ist schwierig, die Sache an sich, den trügerischen Personengeruch in Worten auszudrücken. Es scheint für Gerüche keinen angemessenen Wortschatz zu geben; ich muß daher zu Umschreibungen und Gleichnissen meine Zuflucht nehmen.

Gewisse Leute haben einen unbestimmten, unkörperlichen Geruch, der umherschwebt; er spottet jedes Versuches, ihn unter einen bestimmten Begriff zu bringen. Zuweilen begegne ich Leuten, denen ein unterscheidender Personengeruch fehlt; ich finde solche Menschen selten lebhaft oder unterhaltend. Andererseits besitzen Leute mit stark ausgeprägtem Geruch oft große Lebhaftigkeit, Willens- und Geisteskraft.

Was ich über Geruch, besonders Personengeruch, geschrieben habe, wird vielleicht als das unnormale Gefühl eines Menschen angesehen werden, der von der "wirklichen, schönen Welt, die das Auge wahrnimmt", keinen Begriff haben kann. Es gibt Farbenblinde und Leute, die für Tonwerte taub sind. Die allermeisten aber sind geruchsblind und -taub. Wir sollten eine musikalische Komposition nicht auf das Zeugnis eines Ohres hin verdammen, das nicht eine Note von der anderen zu unterscheiden weiß, und wir sollten nicht ein Gemälde nach dem Wahrspruch eines farbenblinden Kritikers beurteilen.

Die Geruchswahrnehmungen, die mein Leben mit Freude und Belehrung erfüllen, es frei und weit machen, sie sind nicht etwa weniger lieblich, bloß weil eben ein Kritiker, der den breiten, hellen Weg der Gesichtswahrnehmung wandelt, seinen Geruchssinn nicht ausgebildet hat. Ohne die scheuen, flüchtigen, oft unbemerkten Empfindungen, aber auch Gewißheiten, die ich durch Geruch, Geschmack und Gefühl erhalte, wär ich gezwungen, meinen Begriff vom Weltall ganz und gar nur von Anderen zu empfangen. Mir würde die Alchemie fehlen, durch die ich jetzt Licht, Farbe und den PROTEUSschen Funken in meine Welt bringe.

Die sinnfälligen Wirklichkeit, die sich mit meiner tastenden Einbildungskraft verwebt und dadurch diese befestigt, würde zerstört werden. Die feste Erde würde unter meinen Füßen schmelzen und sich im Weltraum verlieren. Die Gegenstände, die meinen Händen teuer sind, würden formlose, tote Dinge werden, und ich würde als ein unsichtbares Gespenst unter ihnen wandeln.


Relative Werte der Sinne
Ich hatte einmal etliche Tage lang Geruch und Geschmack verloren. Es kam mir unglaublich vor, wie ich so völlig von allen Gerüchen getrennt war, wie ich die Luft einsog und niemals auch nur den geringsten Duft wahrnahm. Dieses Gefühl glich wahrscheinlich, wenngleich in geringerem Grad, dem eines Menschen, der zum ersten Mal seine Sehkraft verliert und es gar nicht erwarten kann, das Licht wiederzusehen, der jeden Tag, jede Minute darauf hofft.

Ich wußte, daß ich nach einer gewissen Zeit wieder würde riechen können. Und doch - nachdem die Verwunderung vorbei war, kroch ein Gefühl von Einsamkeit über mich her, von einer Einsamkeit, so ungeheuer wie die Luft, deren Zehntausende von Düften mir fehlten. Die zahlreichen, zarten Wonnen, die durch den Geruch mein eigen werden, sie waren nun für eine Zeit lang zu trüben Erinnerungen geworden. Als ich den verlorenen Sinn zurückerlangte, da weitete sich mein Herz vor Freude.

Der Verlust des Geruchssinnes für ein paar Tage gab mir einen klareren Begriff denn je, was es heißt, plötzlich hoffnungslos zu erblinden. Mit einer geringen Anstrengung meiner Einbildungskraft begriff ich, wie es sein muß, wenn ein undurchdringlicher Vorhang plötzlich Tageslicht, Sterne und das Himmelsgewölbe selbst verhüllt. Ich sehe, wie die Augen des Blinden nach dem Lichte streben, indes er ängstlich die altbekannten Wege zu gehen sucht, bis endlich die ewig unveränderte Leere rings um ihn herum ihm die Gewißheit einprägt, daß die Dunkelheit Wirklichkeit ist.

Der zeitweilige Verlust des Geruchssinnes bewies mir außerdem, daß das Fehlen eines Sinnes die geistigen Fähigkeiten nicht zu beeinflußen braucht und daß es die bildliche Vorstellung von der Welt nicht verzerrt. Und so ziehe ich den Schluß, daß Blindheit und Taubheit nicht die innere Ordnung des Intellektes zu stören brauchen. Ich weiß, daß ich, selbst wenn es für mich keine Gerüche gäbe, trotzdem noch einen beträchtlichen Teil der Welt besitzen würde. Eine Fülle von Neuem und Überraschendem würde sich mir auftun, Erlebnisse würden in der Dunkelheit sich häufen.

In meiner Bewertung der Sinne stelle ich den Geruch ein wenig tiefer als das Ohr, das Gefühl aber viel höher als das Auge. Da finde ich nun, daß große Künstler und Philosophen in dieser Hinsicht mit mir übereinstimmen. DIDEROT sagt:
    "Ich fand, daß von allen Sinnen das Gesicht der oberflächlichste war, das Gehör der stolzeste, der Geruch der wollüstigste, der Geschmack der abergläubigste und unbeständigste, das Gefühl der tiefste und philosophischste."
Die Dichter haben uns gesagt, wie voll von Wundern die Nacht ist. Auch die Nacht der Blindheit hat ihre Wunder. Die einzige lichtlose Nacht ist die Nacht der Unwissenheit und Gefühllosigkeit. Ob blind oder sehend: wir unterscheiden uns von einander nicht durch unsere Sinne, sondern durch den Gebrauch, den wir von ihnen machen, durch die Einbildungskraft und den Mut, womit wir Weisheit jenseits unserer Sinne suchen.

Es ist schwieriger, Unwissenheit denken zu lehren, als einen geistig begabten Blinden die Größe des Niagara sehen zu lehren. Ich bin neben Leuten geschritten, deren Augen voll von Licht sind, und die doch nicht sehen, nichts in Wald, Meer oder Himmel nichts in den Straßen der Weltstadt, nichts in Büchern. Welch eine witzlose Maskerade ist solches Sehen! Es wäre weit besser, mit Verstand und Gefühl in ewiger Nacht der Blindheit zu wandeln, als sich so mit der bloßen Verrichtung des körperlichen Sehens zu begnügen! Sie haben Sonnenuntergang, haben Morgenhimmel, haben den Purpur der Berge - und ihre Seele geht durch diese Zauberwelt und sieht von aller Schönheit nichts.

Das Unglück blind zu sein, ist unermeßlich, unersetzlich. Aber es beraubt uns nicht unseres Anteils an den Dingen, auf die es ankommt: an Hilfsbereitschaft, Freundschaft, Humor, Phantasie, Weisheit. Der geheime innere Wille, der weist dem Geschick des Menschen die Bahn. Es steht in der Macht unseres Willens, gut zu sein, zu lieben und geliebt zu werden und zu denken, damit wir weiser werden.

Ein Blinder, der Geist hat, tritt dem Unbekannten entgegen, ringt damit - und was anderes tut die Welt sehender Menschen? Der Blinde hat Einbildungskraft, Mitgefühl, Menschlichkeit, und diese unausrottbaren Eigenschaften zwingen ihn, gewissermaßen durch Stellvertretung sich einen Sinn anzueignen, den er nicht hat. Stößt er auf Wörter, die sich auf Farbe, Licht, Physiognomik beziehen, so rät und sucht er so lange, bis er durch analoge Schlüsse von den Sinnen, die er hat, ihre Bedeutung herausbekommen hat.

Ich habe eine natürliche Neigung, zu denken und Schlüsse zu ziehen, wie wenn ich fünf Sinne hätte statt meiner drei. Auf diese Neigung habe ich gar keinen Einfluß; sie ist unwillkürlich, instinktiv, haftet meinem Wesen an. Ich kann meinen Geist nicht zwingen, "ich fühle" zu sagen statt "ich sehe" oder "ich höre". Prüfe ich das Wort "fühlen" genauer, so stellt sich heraus, daß es nicht weniger konventionell ist als "sehen" und "hören", wenn ich Wörter suche, die die Einwirkung der äußerlichen Welt auf meine drei körperlichen Sinne ganz genau bezeichnen sollen.

Wenn ein Mensch sein Bein verliert, treibt ihn sein Gehirn immer noch an, zu gebrauchen, was er nicht mehr hat, und wovon er doch fühlt, daß es noch da ist. Ist vielleicht das Gehirn so beschaffen, daß es seine Tätigkeit, wodurch die Sinne des Gesichts und des Gehörs belebt werden, noch fortsetzt, nachdem Auge und Ohr zerstört sind?

Unsere Blindheit ändert kein Jota an dem Verlaufe innerer Wirklichkeiten. Für uns gilt so gut wie für die Sehenden die Wahrheit, daß zu der allerschönsten Welt immer nur die Phantasie führt. Wünschest du etwas zu sein, was du nicht bist - etwas Schönes, Edles, Gutes - so schließe deine Augen, und für die kurzen Sekunden eines Traumes bist du, was du zu sein begehrst.
LITERATUR - Helen Keller, Meine Welt, Stuttgart 1912