"Die Natur einer Sache bedeutet uns bald die geheime Grundkraft, der alle ihre einzelnen Beschaffenheiten und Wirkungen entströmen, bald nur die geordnete Verfassung ihrer einzelnen Teile; sie erscheint uns bald als eine Art geistiger Macht, die nach bestimmten Zielen hin und gemäß bestimmten Zwecken tätig ist, bald als ein Inbegriff bloß mechanischer Antriebe und Wirksamkeiten."
"Ein Kursus der Philosophie ist für mich nur eine Narrheit in Folio und sein Studium nur ein anstrengender Müßiggang. Die Dinge werden hier in Begriffsatome zerbröckelt und ihre Substanzen in einen Äther der Einbildung verflüchtigt. Der Verstand, der in dieser Luft zu leben vermag, ist ein Chamäleon, eine bloße aufgeblasene Hülse."
Robert Boyle
Die Lehre COLLIERs hat uns bereits unmittelbar in die Nähe der Probleme geführt, die in der Naturwissenschaft NEWTONs ihre einheitliche systematische Formung erhalten haben. Für die philosophische Kritik der Erkenntnis boten diese Probleme zunächst ein völlig neues Material dar, das die Fragestellung fortan in einer eindeutig bestimmten Richtung erhielt und das ihr eine klare Begrenzung gab. Aber nicht lediglich in diesem positiven Sinn ist die Physik NEWTONs für die Gesamtentwicklung der Philosophie wichtig und förderlich geworden. Auch die metaphysischen Schwierigkeiten, die sie barg und die sie selber in ihrer konkreten geschichtlichen Gestalt nicht völlig zu bewältigen vermochte, haben der kritischen Analyse als immer erneuter Antrieb gedient. Die Lehre KANTs bildet nur den letzten Abschluß dieses geistigen Gesamtprozesses. Bevor wir uns indessen dieser Entwicklung zuwenden, müssen wir kurz die logischen Motive berühren, die auch außerhalb der Lehre und der Persönlichkeit NEWTONs im allgemeinen Fortgang der Naturwissenschaft der Epoche zutage treten. Hier ist es vor allem ROBERT BOYLE, der, als der eigentliche Repräsentant der empirischen Forschung der Zeit, auch ihre philosophische Denkweise zum charakteristischen Ausdruck bringt. BOYLEs Schriften halten sich durchaus außerhalb des Umkreises der eigentlich metaphysischen Fragen; aber sie zielen dennoch mit vollem Bewußtsein auf eine Berichtigung und Umgestaltung des herkömmlichen Naturbegriffs hin, durch welche dieser einer neuen theoretischen Auffassung und Behandlung zugänglich gemacht wird. -
BOYLEs Schrift "De ipsa Natura", die alle seine kritischen Bestrebungen zusammenfaßt, beginnt mit der Verwunderung darüber, daß man bisher über allgemeinen Lobeserhebungen, mit denen man die Natur bedacht hat, versäumt habe, eine klare und eindeutige logische Definition von ihr zu gewinnen. Man spricht völlig unbefangen von der Natur, als einem einheitlichen, für sich bestehenen Urwesen und übersieht darüber, daß der Sprachgebrauch des gemeinen Lebens, wie der Wissenschaft das Wort in einer Weite und Unbestimmtheit gebraucht, die es schließlich um allen klaren logischen Sinn bringt. Die Natur einer Sache bedeutet uns bald die geheime Grundkraft, der alle ihre einzelnen Beschaffenheiten und Wirkungen entströmen, bald nur die geordnete Verfassung ihrer einzelnen Teile; sie erscheint uns bald als eine Art geistiger Macht, die nach bestimmten Zielen hin und gemäß bestimmten Zwecken tätig ist, bald als ein Inbegriff bloß mechanischer Antriebe und Wirksamkeiten (1). So wird zu einem einzelnen und einfachen Ding gemacht, was doch nur der Ausdruck und Reflex verschiedenartiger, einander mannigfach kreuzender und widerstreitender gedanklicher Betrachtungsweisen ist. Dem gegenüber gesteht BOYLE, soweit von der gewohnten Heerstraße des Denkens abgewichen zu sein, daß er häufig das Paradoxon hin und her erwogen hat: ob überhaupt die Natur ein Gegenstand oder vielmehr ein bloßer Name; ob sie ein reales existierendes Etwas oder nur ein Begriffswesen ist, das die Menschen erdacht haben, um eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen in einem einzigen abgekürzten Ausdruck zu bezeichnen. Wenn etwa - um ein Beispiel anzuführen - vom tierischen Verdauungsvermögen die Rede ist, so werden diejenigen, die ihre Worte sorgsam prüfen und abwägen, darunter keine vom menschlichen Körper losgelöste Wesenheit verstehen, sondern nur das Ganze der chemischen und physiologischen Bedingungen , die für den Prozeß der Verdauung bestimmend und erforderlich sind (2). Folgen wir diesem Vorbild, so werden wir allgemein in der Natur nicht länger eine selbständige kraftbegabte Potenz sehen, sondern in ihr lediglich eine "ideale" Begriffsschöpfung erkennen. BOYLE vollendet hier in einem scharfen Ausdruck, was KEPLER und GALILEI in ihrem Kampf gegen ARISTOTELES begonnen hatten; er entkleidet die Natur ihres innerlichen "substantiellen" Daseins, um sie lediglich als das geordnete Ganz der Erscheinungen selbst zu denken. Freilich ist selbst diese entscheidende Umformung von theologischen Motiven und Zusammenhängen noch nicht gelöst; noch wird die absolute Macht der Natur bekämpft und eingeschränkt, um damit alles Sein und Wirken auf Gott allein zurückzuführen. Aber der idealistische Zug, der der gesamten modernen Wissenschaft von ihren ersten Anfängen an innewohnt, tritt selbst in dieser Verkleidung noch deutlich zutage.
"Wenn wir sagen, daß die Natur handelt, so meinen wir damit nicht sowohl, daß ein Vorgang kraft der Natur, als vielmehr, daß er gemäß der Natur vonstatten geht. Die Natur ist hier also nicht als eine distinkte und abgesonderte Tätigkeit, sondern gleichsam als die Regel oder vielmehr als das System der Regeln zu betrachten, gemäß welchen die tätigen Kräfte und die Körper, auf welche sie wirken, vom großen Urheber der Dinge zum Handeln und Leiden bestimmt werden." (3)
Der materiale Begriff der Natur ist damit in den formalen, die Natur als Sache in die Natur als Inbegriff der Regeln aufgehoben. -
Joseph Glanvill
Die theoretische Grundansicht, von der BOYLEs empirische Forschung geleitet wird, hat ihre explizite Darstellung und nähere Ausführung in den Schriften JOSEPH GLANVILLs gefunden. Es ist durchaus irrig, wenn man GLANVILL - durch den Titel seines Hauptwerks, der "Scepsis scientifica", getäuscht - allgemein als "Skeptiker" betrachtet und beurteilt hat. Seine Skepsis richtet sich - wie er selbst gegenüber falschen Deutungen, die sie schon beiden Zeitgenossen erfuhr, nachdrücklich hervorhebt (4) - lediglich gegen die überlieferte Schulphilosophie. Ihr stellt er die echte Methode der induktiven Forschung gegenüber, als deren eigentlichen Meister er BOYLE verehrt (5). Der Kontrast zwischen der scholastischen Ansicht der Natur, die die Welt mit bloßen Wortwesen bevölkert, und dem echten empirischen Verfahren, das lediglich auf die exakte Feststellung der Phänomene selbst geht, bildet das durchgängige Thema von GLANVILLs Schriften. Immer von Neuem wird hier auf die Londoner Royal Society, als auf die wahrhafte Verkörperung eines neuen Wissensideals hingewiesen, das einen unermeßlichen Fortschritt eröffnet, während der bloße "Begriffsweg" (the Notional way) zu ewiger Unfruchtbarkeit verurteilt bleibt (6).
"Ein Kursus der Philosophie ist für mich nur eine Narrheit in Folio und sein Studium nur ein anstrengender Müßiggang. Die Dinge werden hier in Begriffsatome zerbröckelt und ihre Substanzen in einen Äther der Einbildung verflüchtigt. Der Verstand, der in dieser Luft zu leben vermag, ist ein Chamäleon, eine bloße aufgeblasene Hülse."
Im Gegensatz hierzu geht das Ziel, das die freie Forschung der neueren Zeit sich gestellt hat, nicht darauf, neue Theorien und Begriffe in die Philosophie einzuführen, sondern als ihre erste und vornehmliche Aufgabe betrachtet sie es, sorgsam zu untersuchen und genau zu berichten, wie sich die Dinge de facto verhalten. Ihr Geschäft besteht nicht im Disputieren, sondern im Handeln; ihr Endzweck geht darauf, die Philosophie von leeren Bildern und Schöpfungen der Phantasie zu befreien und sie auf die offenkundigen Gegenstände der Sinne einzuschränken (7). Die dogmatische Schulphilosophie ist es, die uns im eigentlichen Sinn zur Skepsis verurteilt, da sie die Erscheinungen zuletzt in "dunkle Qualitäten" auflöst (8), während die empirische Naturbetrachtung das Gebiet des Bekannten und Gegebenen nirgend verläßt.
"Wenn diese Methode in der Weise fortschreitet, wie sie begonnen hat, so wird sie die Welt mit Wundern erfüllen. Ich zweifle nicht, daß sich für die Nachwelt manche Dinge, die jetzt bloße Gerüchte sind, in praktische Wirklichkeiten gewandelt haben werden, daß in wenigen Menschenaltern eine Reise nach dem Mond nicht seltsamer sein wird, als heute eine Reise nach Amerika ... Diejenigen, die nur nach der Enge früherer Prinzipien und Grundsätze urteilen, werden freilich über diese paradoxen Erwartungen lächeln: aber unzweifelhaft waren die großen Entdeckungen, die in den letzten Jahrzehnten der Welt eine neue Gestalt gegeben haben, früheren Epochen nicht minder lächerlich. Und wie wir heute die Ungläubigkeit der Alten verdammen, so wird auch die Nachwelt Ursache genug haben, mitleidig auf die unsere herabzusehen. Es gibt, trotz aller Beschränktheit oberflächlicher Beobachter, Seelen mit einem weiteren Gesichtskreis, die eine größere vernünftige Gläubigkeit besitzen. Wer mit der Fruchtbarkeit der Cartesischen Prinzipien und den unermüdlichen und scharfsinnigen Bemühungen so vieler wahrer Philosophen vertraut ist, wird an nichts verzweifeln." (9)
Man sieht: dies ist nicht die Sprache des "Skeptikers"; es ist die Glaubenserklärung der Erfahrungswissenschaft, die fortan, innerhalb ihres eigentümlichen Gebietes, keine Schranken und Hemmnisse mehr anerkennt. -
Diese Fruchtbarkeit wird freilich damit erkauft, daß wir auf die Frage nach den metaphysischen "Gründen" der Phänomene endgültig verzichten lernen. Die "Ursächlichkeit" kann und darf uns nichts anderes bedeuten, als das empirische Beisammen und die empirische Sukzession der Erscheinungen. Jeder Schritt, der hierüber hinausführt, würde uns in Dunkle und Unbekannte, in das Gebiet der bloßen fiktiven Begriffswesen zurückleiten. Auf welche Weise die Wirkung in der Ursache enthalten und durch sie gesetzt ist: dies läßt sich auf keine Weise logisch deutlich machen. Daß die Seele, daß ein rein geistiges Wesen den Körper zu bewegen vermag: dies ist ebenso schwer zu begreifen, wie daß ein bloßer Wunsch Berge versetzen sollte. Weder die innere, noch die äußere Wahrnehmung, die für uns die einzigen Quellen der Erkenntnis sind, vermag uns hier einen einzigen Schritt vorwärts zu bringen.
"Wenn jemand anderer Meinung ist, so laßt ihn nur sorgsam seine Vorstellungen prüfen: und wenn er alsdann irgendein bestimmtes Verständnis von den Beschaffenheiten des Seins in sich findet, das er weder aus dem äußeren, noch aus dem inneren Sinn geschöpft hat, so will ich glauben, daß so jemand Chimären zu Wirklichkeiten machen kann." (10)
So leitet GLANVILL, der ursprünglich von DESCARTES ausgegangen war und der in ihm, trotz mancher Abweichungen im Einzelnen, noch immer den eigentlichen "Großsiegelbewahrer der Natur" erblickt (11) auf der anderen Seite unmittelbar zur Problemstellung LOCKEs und HUMEs über. Aber sein Beispiel lehrt zugleich, daß die bloße Hingabe an die empirische Erforschung der Tatsachen ohne die tiefere Kritik des Verstandes gegen die Gefahren der Transzendenz nicht dauernd zu schützen vermag. GLANVILL selbst ist, so energisch und unablässig er die Rechte der Erfahrung verficht, durch eine merkwürdige Paradoxie der Geschichte, gleichzeitig zu einem der eifrigsten Verteidiger des Hexenglaubens geworden, den er noch einmal im Bewußtsein Zeitgenossen zu befestigen und mit neuen "tatsächlichen" Beweisen zu stützen versucht hat (12). An diesem Punkt ist seine wissenschaftliche "Skepsis" erlahmt. Nichts zeigt deutlicher, als dieses Zusammentreffen, daß die bloße empirische Beobachtung, solange sie sich noch nicht ihrer letzten Prinzipien und Gründe versichert hat, für die wahrhaft philosophische und wissenschaftliche Aufklärung unzureichend bleibt. Das Verständnis dieser Prinzipien aber konnte erst gewonnen werden, nachdem die Wissenschaft selbst, in der Lehre NEWTONs, sich ihre einheitliche systematische Verfassung erarbeitet hatte.
LITERATUR - Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, Berlin 1907
Anmerkungen 1) ROBERT BOYLE, De ipsa Natura sive libera in receptam Naturae Notionem Disquisitio, London 1687 (Zuerst englisch: 1682; der Entwurf der Schrift geht bis auf das Jahr 1666 zurück). Siehe besonders Seite 14f. 2) a. a. O., Sectio quarta, Seite 30 3) De ipsa Natura, Sectio septima, Seite 122 4) siehe besonders GLANVILLs Schrift "Scriptuum nihil est: or, the Authors Defence of the Vanity of Dogmatizing against the Exceptions of the learned Thom. Albius (THOMAS WHITE) in his Late "Sciri", London 1665. - Vgl. ferner die Verteidigungsschrift GLANVILLs gegen THOMAS WHITE: "Of Scepticism and Certainty" (Essay on several important Subjects in Philosophy and Religion, London 1676, Essay II). 5) Über GLANVILLs Stellung zu BOYLE und zur empirischen Naturforschung der Zeit siehe bes. seine Schrift: Plus Ultra: Or the Progress and Advancement of Knowledge since the days of Aristotle. Occasioned by an Conference with one of the notional way. London 1668, bes. Kap. XII, Seite 83f und 92f. - siehe Essays III: Modern Improvements of Usefull Knowledge. 6) siehe bes. GLANVILL, Scepsis Scientifica: or Confest Ignorance, the way to Science, London 1665, Seite 176; Essay IV, Seite 36f; Essay II, Seite 44f 7) Essay III, Seite 37 8) siehe "Scepsis Scientifica", Kap. XX, Seite 127 9) "Scepsis Scientifica", Kap. XXI, Seite 134f 10) "Scepsis Scientifica", Kap. IV, § 2, Seite 17f 11) Für GLANVILLs Verhältnis zu DESCARTES vgl. die enthusiastischen Urteile: "Scepsis Scientifica", Seite 133, 155, 183; und bes. "Sciri tuum nihil est", Seite 5: "If that great Man, possibly one of the greatest that ever was must be believed a Sceptic, who would not ambitiously affect the title"? 12) Über GLANVILLs Stellung zum Hexenglauben und seinen "Sadducismus triumphatus" vgl. LECKY, Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa, deutsche Ausgabe, Leipzig 1873, Seite 85f.